114 8 Sehstörungen Einseitige langsam progrediente Visusminderungen Bei über Tage bis Wochen zunehmender Visusminderung empfehlen wir nachfolgende Diagnostik (Abb. 8.2). Ophthalmologische Erkrankungen Bei einseitiger über viele Monate progredienter Sehstörung im höheren Lebensalter ist zunächst eine ophthalmologische Erkrankung zu vermuten. Man suche vor allem nach einer Katarakt, einem Glaukom oder einer einseitig beginnenden senilen Makuladegeneration. Tumoren des N. opticus Beim Optikusgliom handelt es sich um ein pilozytisches Astrozytom des N. opticus, das über das Chiasma auch auf den anderen Sehnerven übergreifen kann. Initial tritt in der Regel eine Optikusatrophie mit Visusabfall ein. Der Tumor führt meist erst im späteren Stadium zu Kopfschmerzen und Exophthalmus. In der Regel führen Raumforderungen des N. opticus zu einer Amplitudenminderung und deformierten VEP mit geringen oder mäßigen Latenzverzögerungen. Im MRT zeigt sich eine Schwellung des N. opticus mit Kontrastmittelanreicherung. Das Foster-Kennedy-Syndrom bezeichnet eine ipsilaterale Optikusatrophie mit kontralateraler Stauungspapille bei ipsilateraler lange bestehender Raumforderung. Leber-Optikusatrophie Die Leber-Optikusatrophie (oder „Leber hereditary Optic Neuropathy“, LHON) kann einseitig beginnen, betrifft im Verlauf jedoch nahezu immer auch das andere Auge (s. u.) (Abb. 8.2). Beidseitige akut oder subakut auftretende Visusminderungen Hier werden die Erkrankungen aufgeführt, die plötzlich, innerhalb von Stunden bis maximal wenigen Tagen auftreten. In seltenen Fällen kann die Krankheitsentwicklung jedoch länger dauern. Es empfiehlt sich das in Abbildung 8.3 dargestellte diagnostische Vorgehen. Beidseitige Ischämie des Posteriorstromgebietes Bei einer schlagartig einsetzenden beidseitigen Visusminderung oder sogar Erblindung ohne ophthalmologisches Korrelat sollte bei vaskulärem Risikoprofil an eine frische Ischämie in der Sehrinde beidseits (z. B. bei Basilaristhrombose, Top-of-the-Basilar-Syndrome) oder einen frischen, einseitigen Posteriorinfarkt bei vorbestehendem altem Posteriorinfarkt auf der Gegenseite gedacht werden CT; MRT Labor: Lues Borrelien HIV Autoimmunerkrankung ophthalmologische Untersuchung: Normalbefund (oder Stauungspapille) Liquoruntersuchung: Pleozytose OKB Erregernachweis Antikörper Neuritis nervi optici Liquoruntersuchung: Pleozytose OKB Erregernachweis Antikörper entzündliche ZNS-Beteiligung Abb. 8.2 Diagnostisches Vorgehen beim Leitsymptom „progredienter einseitiger Visusverlust“. progredienter einseitiger Visusverlust zerebrale Raumforderung (z. B. Optikusgliom, Abszess, Granulom) VEP psychogene Ursache ischämische Optikopathie; Leberoptikusatrophie isolierte Neuritis nervi optici ohne Erregernachweis Diagnostisches Vorgehen. 115 Kopfschmerz; Adipositas; erhöhter Liquordruck Stauungspapille CT; MRT hohes Lebensalter; vaskuläre Risikofaktoren; pathologische Dopplerbefunde Kopfschmerzen; Migräneanamnese rasche Rückbildung Liquoruntersuchung: Pleozytose OKB Erregernachweis Antikörper rasche Rückbildung Abb. 8.3 Diagnostisches Vorgehen beim Leitsymptom „akuter oder subakuter beidseitiger Visusverlust“. Pseudotumor cerebri CT; MRT akuter oder subakuter beidseitiger Visusverlust Raumforderung; größere Blutung Posteriorinfarkte; kleine Blutung; ADEM; reversible posteriore Leukenzephalopathie retinale Migräne; LOMA Toxine; Medikamente Neuritis nervi optici Kopfschmerzen; Migräneanamnese Ischämie im Posteriorstromgebiet; PION; EPH-Gestose; psychogene Ursache toxische Optikusneuropathie TIA im Posteriorstromgebiet; psychoge Ursache retinale Migräne 116 8 Sehstörungen Diagnostisches Vorgehen. („kortikale Blindheit“). Die Symptomatik kann passager als TIA-Symptomatik auftreten oder auch als dauerhafte Schädigung bestehen bleiben. Die Pupillenreaktionen sind trotz hochgradiger Sehminderung oder -verlust unauffällig. Pseudotumor cerebri Der Pseudotumor cerebri tritt vor allem bei jungen (20.–40. Lebensjahr) adipösen Frauen auf. Es kommt zu einem erhöhten intrakraniellen Druck ohne lokale Zeichen einer intrakraniellen Raumforderung. Zu den Leitsymptomen gehören neben den Sehstörungen, die sich auch in einer Einengung des Gesichtsfeldes äußern können, Kopfschmerzen und Stauungspapillen. Gelegentlich klagen die Patienten über ein- oder beidseitiges Verschwommensehen für die Dauer von ca. 1 Minute. Es werden auch Photopsien und Doppelbilder berichtet. Die CT oder MRT (Sensitivität 43,5 %, Spezifität 90–100 %; EbM-Level 2) sollte eine intrakranielle Raumforderung ausschließen. Es finden sich häufig ein enges Ventrikelsystem sowie ein Empty-Sella-Syndrom als Zeichen des gesteigerten intrakraniellen Drucks. Die Ventrikel können aber auch normal weit sein. Die lumbale Liquordruckmessung ergibt in vielen Fällen einen erhöhten Druck (> 25 cm H2O im Liegen spricht für einen pathologischen Befund) (Sensitivität 80–90 % bei geringer Spezifität; EbM-Level 5). Eine Besserung der Kopfschmerzen kann sich nach der Lumbalpunktion einstellen. Eine Sinusthrombose muss mittels CT- oder MRT-Angiographie ausgeschlossen werden. Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM) Beidseitige Visusminderung, Fieber und Kopfschmerzen sollten an eine ADEM denken lassen. Verwirrtheitszustände und Vigilanzstörungen in Verbindung mit anderen neurologischen Symptomen sind ebenfalls typisch. Eine Zellzahlerhöhung im Liquor (bei meist fehlenden oder nur passager positiven oligoklonalen Banden) sowie große konfluierende, überwiegend kontrastmittelanreichernde Demyelinisierungsherde im MRT erhärten die Diagnose. Toxische Optikopathien Methylalkoholvergiftungen, aber auch Medikamente wie Chinin, Chloroquin und Phenothiazinderivate können innerhalb kürzester Zeit (1–2 Tage) zu einer beidseitigen hochgradigen Visusminderung führen, wobei Zentralskotome charakteristisch sind. Psychogene Erblindung Sind alle Zusatzbefunde unauffällig und bestehen zudem psychopathologische Auffälligkeiten, muss eine psychische Verursachung in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden, besonders wenn der Patient über einen sog. ein- oder beidseitigen „Tunnelblick“, eine aktuelle psychische Belastung und sehr fluktuierende Symptome berichtet (Abb. 8.3). 117