Thieme: Duale Reihe – Physiologie

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19.4 Zentrale Hörbahn und kortikale Repräsentation
zahl von Nervenzellen aktiviert. Dieses Prinzip ermöglicht die Erfassung von verschiedenen Schalldruckpegeln über einen so breiten Bereich, wie es das menschliche Ohr gewährleistet (s. S. 676).
Richtungsinformation: Sie wird ermöglicht, indem Unterschiede zwischen auditorischen Signalen aus dem rechten und linken Innenohr zentral verglichen werden (binaurale Wechselwirkung, s. S. 692).
Ein Prinzip der auditorischen Verarbeitung im Gehirn ist, dass diese Informationen
nicht in separaten Kanälen getrennt verarbeitet werden. Vielmehr ist die zentrale
Hörbahn so angelegt, dass viele Aspekte eines Geräuschs gleichzeitig analysiert und
als komplexe Information zur nächsten Verarbeitungsebene weitergegeben werden.
Letztlich führt diese Art der Informationsverarbeitung dazu, dass ein einzelnes
Neuron in der Hörrinde nur dann aktiviert wird, wenn ein Geräusch gleichzeitig eine
Reihe unterschiedlicher Kriterien erfüllt (z. B. eine bestimmte Frequenz, Lautstärke
und Richtung). Für die Analyse komplexer Geräusche – wie Sprache – ist diese Art
von integrierter Informationsverarbeitung vermutlich unbedingt erforderlich.
19.4.2 Stationen der Hörbahn
19.4.2 Stationen der Hörbahn
Von der ersten Ebene der Hörbahn an ist das Prinzip der Zusammenführung von
unterschiedlichen Informationen erkennbar: Die Axone der etwa 20 afferenten
Neurone, mit denen eine einzelne innere Haarzelle Synapsen ausbildet (s.o.), ziehen
im Hörnerv (akustischer Anteil des N. vestibulocochlearis = VIII. Hirnnerv) zu
verschiedenen Kochleariskernen (Ncll. cochleares anterior und posterior). Dies ist
der Beginn eines neuronalen Netzes im Hirnstamm (Abb. 19.10). Einen Überblick
über die verschiedenen Funktionen der einzelnen Stationen der Hörbahn gibt
Tab. 19.4.
Die im Hörnerv (akustischer Anteil des N.
vestibulocochlearis = VIII. Hirnnerv) verlaufenden afferenten Axone enden in den Kochleariskernen des Hirnstamms (Abb. 19.10). Zu
den Funktionen der Hörbahn-Stationen siehe
Tab. 19.4.
19.10
Anatomischer Aufbau der Hörbahn
19.10
Corpus
geniculatum med.
Insel
Radiatio
acustica
Sulcus lateralis
primäre
HörrindeArea 41,
Gyri temporales
transversi
(Heschl)
Gyri temporales
transversi
(Heschl)
Radiatio
acustica
Temporallappen
Brachium
colliculi
inferior
Nucleus
corporis geniculati
Colliculus
inferiormedialis
Nucleus colliculi inferioris
Mittelhirn
Kommissur der Colliculi inferiores
Gyri temporales transversi
(Heschl)
Ncl. lemnisci lateralis
Lemniscus lateralis
Nuclei lemnisci lateralis
Lemniscus lateralis
Nucleus
cochlearis
posterior
200 Hz
20 000 Hz Striae
indirekte
Hörbahn
Ncl. cochlearis
posterior
cochleares
posteriores
Ductus cochlearis
direkte Hörbahn
Ncl. cochlearis anterior
N. vestibulocochlearis
Nucleus olivaris
Ganglion cochleare superior
Nucleus corporis
trapezoidei
Corti-Organ
Corti-Organ
innere Haarzellen
Kerne
des Corpus
Ganglion spirale
trapezoideum
N. cochlearis Ncll. olivares superiores
Nucleus
Rautenhirn
cochlearis anterior
Verlauf der Hörbahn vom Innenohr über den Hirnstamm bis zur Großhirnrinde.
aus: Behrends u. a., Duale Reihe Physiologie (ISBN 9783131384119) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
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19 Auditorisches System, Stimme und Sprache
19.4
19.4
Wesentliche Funktionen der einzelnen Stationen der Hörbahn
Station der Hörbahn
Ncll. cochleares anterior
und posterior
Ncll. olivares superiores
Ncl. lemniscus lateralis
Colliculus inferior
Corpus geniculatum
mediale
primäre Hörrinde
sekundäre Hörrinde
▶ Klinik.
physiologische Funktion
Aufnahme des über den auditorischen Anteil des N.
vestibulocochlearis geleiteten afferenten Signals aus
dem Ganglion spirale der ipsilateralen Kochlea
erste Musteranalyse
Analyse der zeitlichen Verzögerung und der Intensitätsunterschiede zwischen den Signalen aus beiden
Kochleae
v. a. Weiterleitung der Axone zu den Colliculi inferiores
Ortung von Schallquellen
Integration auditorischer mit visuellen und somatosensorischen Informationen
Weiterleitung zum Thalamus
Weiterleitung zur primären Hörrinde
mehrdimensionale Verarbeitung der akustischen Information
Verknüpfung mit kognitiven Inhalten wie Bedeutung,
Erinnerung oder Zusammenhängen
▶ Klinik.
Schädigungen im Bereich der Hörbahn bezeichnet man als retrokochleäre Hörstörungen. Die häufigste erkennbare Ursache ist ein sog. Akustikusneurinom.
Hierbei handelt es sich um einen gutartigen Tumor, der von den Schwann-Zellen
des VIII. Hirnnervs ausgeht. Durch Kompression des Hörnervs kommt es dabei entweder plötzlich (Hörsturz) oder langsam fortschreitend zur einseitigen Schallempfindungsstörung. Auch das Auftreten von auditorischen Empfindungen ohne äußeren Reiz (Tinnitus) ist möglich. Zusätzlich kann es zu vestibulären Symptomen wie
Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen kommen. Diagnostisch findet man meist
neben den für eine Schallempfindungsstörung typischen pathologischen Befunden
bei subjektiven Hörprüfungen (s. S. 678) auch eine Latenzverlängerung bei der Ableitung akustisch evozierter Potenziale (s. S. 692). Mittels MRT (Magnetresonanztomografie) lässt sich die Lage des Tumors im inneren Gehörgang oder Kleinhirnbrückenwinkel nachweisen (Abb. 19.11 a). Je nach Größe des Tumors ist in der
Regel eine operative Entfernung angezeigt (Abb. 19.11 b).
A. cerebelli
inferior
anterior
N. facialis
(VII. Hirnnerv)
Hirnnerven
IX-XI
Akustikusneurinom
a
b
19.11
MRT-Befund (a) und Operationssitus (b) eines Akustikusneurinoms
a Typischer MRT-Befund eines Akustikusneurinoms: ein im rechten Kleinhirnbrückenwinkel
gelegener, stark kontrastmittelaufnehmender Tumor (Pfeil), der dem Felsenbein anliegt.
b Beim Blick durch das Operationsmikroskop zeigt sich ein scharf begrenzter, kugelförmiger
Tumor des VIII. Hirnnervs, der von einer Kapsel umgeben wird und dem N. facialis unmittelbar anliegt.
aus: Behrends u. a., Duale Reihe Physiologie (ISBN 9783131384119) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
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19.4 Zentrale Hörbahn und kortikale Repräsentation
Während die Axone nachgeschalteter Neurone aus dem hinteren Kochleariskern alle
auf die Gegenseite kreuzen, ziehen aus dem vorderen Kochleariskern sowohl Fasern
zu den ipsilateralen als auch zu den kontralateralen oberen Olivenkernen (Ncll.
olivares superiores, Abb. 19.10). Bereits hier werden also Informationen aus beiden
Ohren zusammengefasst – die Voraussetzung für das binaurale Hören und die
Ermittlung der Richtung einer Schallquelle. Die Richtungsinformation wird anhand
von Laufzeitunterschieden berechnet (s. u.).
Nach unterschiedlichem Faserverlauf (z. T. über die Ncll. lemnisci lateralis als
„Zwischenstation“) sind die unteren Hügel (Colliculi inferiores) der Vierhügelplatte
im Mittelhirn die nächste obligate Umschaltstelle der Hörbahn. Diese Strukturen
gehören zum auditiven Reflexzentrum, wo Körperbewegungen gesteuert werden,
die durch Geräusche ausgelöst werden. In jedem Colliculus inferior übernehmen
Neurone das Hörsignal und leiten es ohne Überkreuzung zum Thalamus, wo sie im
ipsilateralen mittleren Kniehöcker (Corpus geniculatum mediale) enden. Da aber die
beiden Colliculi inferiores miteinander verbunden sind, wird auch auf dieser
Verschaltungsebene dafür gesorgt, dass jede Hemisphäre Hörinformation aus
beiden Ohren erhält. Aus den thalamischen Kernen, die als Verschaltungszentrum
der Sinnesinformation auf dem Weg zur Großhirnrinde (und damit zum
Bewusstsein) dienen, ziehen die Axone der Hörbahn als Radiatio acustica zur
primären Hörrinde in den Gyri temporales transversi des Schläfenlappens.
Wie schon eingangs erwähnt, zeigen die Neurone in der primären Hörrinde eine
komplexe Spezialisierung (Abb. 19.12). Tonotopie (räumliche Anordnung gemäß der
Frequenzselektivität, s. S. 688) ist dabei nur eines von mehreren Kriterien. Manche
Neurone werden von Signalen aus beiden Ohren aktiviert (EE-Zellen), andere
werden nur vom ipsilateralen Ohr aktiviert, vom kontralateralen aber gehemmt (EIZellen, → binaurale Wechselwirkung, s. S. 692). Auch nach ihrer Reaktionsempfindlichkeit (→ Aktivierungsschwelle) und -geschwindigkeit (→ Latenz) können die
Neurone der Hörrinde klassifiziert werden.
19.12
Von dort laufen Fasern nachgeschalteter
Neurone u. a. sowohl zu den ipsi- als auch zu
den kontralateralen oberen Olivenkernen
(Abb. 19.10), wo die Richtungsinformation
aus Laufzeitunterschieden berechnet wird.
Die Hörbahn verläuft z. T. über die Schleifenkerne zu den Colliculi inferiores der Vierhügelplatte im Mittelhirn. Hier werden schallinduzierte motorische Reflexe gesteuert. Über
die mittleren Kniehöcker (Corpus geniculatum mediale) des Thalamus erreicht die
Hörbahn die primäre Hörrinde im Schläfenlappen.
Die Neurone der primären Hörrinde zeigen
neben Tonotopie weitere Spezialisierungen
(Abb. 19.12), z. B. binaurale Wechselwirkung,
Aktivierungsschwelle und Latenzzeit.
Primäre Hörrinde
I
II
hoch
niedrig
Reaktion auf Signale vom
kontralateralen Ohr
(binaurale Wechselwirkung)
EE
III und IV
Empfindlichkeit
(Aktivierungsschwelle)
EI
primäre
Hörrinde
lang
sekundäre
Hörrinde
kurz
eng
Latenzzeit
Frequenzspektrum
breit
V
VI
a
tiefe
Frequenzen
hohe
Frequenzen
Selektivität für bestimmte
Frequenzen (Tonotopie)
b
a Lage der primären Hörrinde im oberen Teil des Schläfenlappens.
b Schematische Darstellung der sechs Schichten der Hörrinde. Die Eingänge aus dem Thalamus münden in den Schichten III und IV, die hier
weit auseinandergezogen dargestellt sind. Die Neurone dieser Schichten erhalten komplexe Informationen aus der Hörbahn. Mehrere Parameter kennzeichnen die Eigenschaften dieser Neurone und sind hier grafisch getrennt dargestellt: Empfindlichkeit (Aktivierungsschwelle),
Reaktion auf Signale vom kontralateralen Ohr (erregend: EE; inhibierend: EI), Latenzzeit, Breite des Frequenzspektrums, Frequenzselektivität
(Tonotopie). Die Funktion eines jeden Neurons in einer Kolumne ist durch eine Kombination dieser fünf Parameter gekennzeichnet.
aus: Behrends u. a., Duale Reihe Physiologie (ISBN 9783131384119) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
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