aerzteblatt.de/dossiers Die Zeitschrift der Ärzteschaft | Gegründet 1872 www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung 2011 INHALT EMBRYONENFORSCHUNG Der Beginn des Lebens Die Debatte über Präimplantationsdiagnostik und die Forschung an und mit Embryonen Seit der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PID)“ im Jahr 2000 hat sich das Deutsche Ärzteblatt intensiv an der Debatte über PID, die Forschung an und mit Embryonen sowie die Gewinnung von Stammzellen beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. In diesem Dossier spiegeln die Beiträge der DÄ-Redakteurinnen und -Redakteure, aber auch Aufsätze und Kommentare von Ärzten, Politikern, Juristen sowie Theologen ▄ die Meinungsvielfalt zu dieser Thematik wider. BEITRÄGE AUS DEM JAHR 2011 2 Präimplantationsdiagnostik: Der Bundestag braucht Zeit 19 Norbert Jachertz 3 4 Gisela Klinkhammer Präimplantationsdiagnostik: Die Kirchen sind uneinig Gisela Klinkhammer 20 Präimplantationsdiagnostik: Wissenschaftler ziehen Parallele zur Pränataldiagnostik Eva Richter-Kuhlmann Reaktionen auf die PID-Entscheidung: Zustimmung und Kritik Stammzellforschung: Wie man eine Herzinsuffizienz verhindern will Ulrike Gebhardt 23 Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik (PID) Bundesärztekammer 5 Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof: Keine Patentierung menschlicher Embryonen Peter Liese 6 31 Präimplantationsdiagnostik: Kohärenz statt brechender Dämme Peter Dabrock, Jens Ried Präimplantationsdiagnostik: „Ethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaft auf Probe“ Gisela Klinkhammer, Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann 8 Präimplantationsdiagnostik: Zwischen begrenzter Freigabe und vollständigem Verbot Gisela Klinkhammer 9 12 14 Interview Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz DOSSIER EMBRYONENFORSCHUNG Präimplantationsdiagnostik: Im Entscheidungsdilemma Chefredakteur: Heinz Stüwe, Köln Eva Richter-Kuhlmann (verantwortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen) Präimplantationsdiagnostik: Zulassung der PID in engen Grenzen Chefs vom Dienst: Gisela Klinkhammer, Herbert Moll Gisela Klinkhammer 17 Zulassung der Präimplantationsdiagnostik: Paradigmenwechsel Eva Richter-Kuhlmann 1 IMPRESSUM Deutsches .. Arzteblatt Redaktion: Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet) Technische Redaktion: Michael Peters Schlussredaktion: Inge Rizk, Christine Menz-Hackenberg Verlag: Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln aerzteblatt.de DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 1–2, 10. Januar 2011 KOMMENTAR Norbert Jachertz M an mache sich nichts vor, die „Liste“ kommt, wenn die Präimplantationsdiagnostik (PID) zugelassen wird. Entweder offen wie in Großbritannien oder kaschiert wie in Frankreich. Beide kennen einen Katalog der Indikationen. Der englische kann bei der HFEA, der Human Fertilisation and Embryology Authority, eingesehen werden. Die Franzosen sprechen lieber von einer Aufstellung der für PID verfügbaren Tests. In der Praxis läuft’s auf dasselbe hinaus: Beim Verdacht auf die aufgelisteten Erkran- noch gar zu beantworten ist, bisher ausgespart. Stattdessen informierte er sich am 16. Dezember 2010, wie PID anderswo praktiziert wird und wohin die Reise geht. Das beschrieben Emely Jackson von der HFEA, Patrick Gaudray vom französischen Ethikrat, Paul Devroey, ein belgischer PID-Protagonist, und Luca Gianaroli von der European Society of Human Reproduction and Embryology. Alle ausgewiesene Experten, die wissen, was läuft. Und glaubt man ihnen, dann läuft mit PID alles bestens. derzeit 30 bis 40 Tests, darunter so umstrittene wie die auf einzelne Krebsarten, künftig möglich etwa hundert. ● Gesucht wird nicht nur nach monogenetischen Defekten, sondern weit mehr noch – 61 Prozent aller Testungen – nach chromosomalen Anomalien. ● Um den einen einzigen tadellosen Embryo herauszufinden, der erfolgversprechend transferiert werden kann, müssen zuvor viele Embryonen getestet werden. Zurzeit stammen die Zellen von Embryonen des zweiten und PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Der Bundestag braucht Zeit kungen oder Behinderungen ist PID zulässig. Ob sie dann auch durchgeführt wird, hängt vom Einzelfall ab. Dafür haben beide Länder sehr komplizierte Verfahren entwickelt. Sie gleichen sich in den großen Zügen: Der Gesetzgeber lässt PID prinzipiell zu, regelt aber keine Details. Damit beauftragt er eine Agentur. Die erstellt und aktualisiert die Liste, lizenziert einige wenige „Zentren“, schreibt das Zusammenspiel der Experten – Genetiker, Morphologen, Fertilisationsmediziner, Psychologen, Ethiker – vor und legt das Beratungsprozedere für die Paare fest. Der extrem hohe Aufwand für relativ wenige Betroffene – 182 Paare in Großbritannien, 278 in Frankreich, jeweils 2008 – deutet schon darauf hin, dass PID alles andere als „normal“ ist. Der Selektionscharakter ist auch den Anwendern bewusst. Sie reden nur nicht gern davon, sondern lieber von ihren organisatorischen Vorkehrungen. Immerhin hat der französische Ethikrat einmal darüber beraten, ob PID als „eugenisch“ anzusehen ist. Man konnte sich nicht einigen. Der Deutsche Ethikrat hat diese ethische Grundsatzfrage, die ja in Deutschland weder einfach zu stellen Der Ethikrat hatte freilich keine Kritiker eingeladen. Erstaunlich. Doch auch ohne Gegenmeinungen, die Anhörung ließ so viele Fragen zurück, dass der Deutsche Bundestag sich gut überlegen sollte, ob er die PID eilends gesetzlich regeln sollte. Er muss zwar irgendwann tätig werden, nachdem ihm der Bundesgerichtshof das Kuckucksei ins Nest gelegt hat, aber er könnte Zeit gewinnen, indem er PID erneut und diesmal eindeutig untersagt. Bis auf weiteres. Eile ist nicht geboten. Durch Abwarten wird niemand geschädigt. Einige Paare müssten zwar ihren Kinderwunsch verschieben oder aufgeben. Das ist bitter. Doch ihnen geschähe damit kein Unrecht. Andererseits steht mit PID ethisch viel auf dem Spiel. Das Expertenhearing bestätigte nämlich einmal mehr: ● PID geht einher mit hohem „Embryonenverbrauch“ sowie steter Ausweitung der „Selektion“. Das liegt daran, dass die Methode nicht allein dazu dient, Paaren ein gesundes Kind zu bescheren, sondern vor allem auch die (bisher bescheidenen) Implantationschancen zu verbessern – optimaler Embryo, optimale Chance. ● Die Liste der Indikationen wird lang und länger. Klinisch relevant sind dritten Tages, demnächst häufiger auch von Blastozysten; sie liefern mehr Zellgewebe. ● Die Zahl der Embryonen muss für PID weitaus höher sein, als in Deutschland bisher erlaubt ist. Sieben und mehr, statt drei. Pro Zyklus. Macht bei drei Zyklen 21, bei fünf oder sechs, die für Frauen ab circa 30 Jahren angestrebt werden, 35 und 42 oder mehr. ● Verdächtige Embryonen werden vernichtet, gute (im Idealfall ein einziger) implantiert, gute überschüssige eingefroren und für eine spätere Implantation bei wem auch immer oder für andere Zwecke aufgehoben. Sofern diese erlaubt sind. ● PID ersetzt nicht PND (Pränataldiagnostik). Vielfach wird in der Schwangerschaft vorsichtshalber zusätzlich mit PND „nachgetestet“, obwohl der implantierte Embryo an sich gut aussah. In Frankreich zum Beispiel sind die Zahlen der Pränataldiagnosen (29 779) und der darauffolgenden Spätabtreibungen (6 876, jeweils für 2008) hoch und leicht steigend, trotz der relativ großzügigen PID-Praxis. Fazit: Der deutsche Gesetzgeber sollte nüchtern die Realitäten prüfen und wissen, worauf er sich einlässt. 2 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 3, 21. Januar 2011 keiten schaffe, Embryonen mit möglichen Behinderungen oder Anlagen zu möglichen Krankheiten durch Selektion auszuscheiden und zu töten, dann werde dies auch geschehen. „Ja, es entsteht ein – vielleicht auch nur unterschwelliger – Druck, Menschen mit Behinderungen oder Eigenheiten nicht mehr zu akzeptieren. Unsere Gesellschaft würde dadurch nicht glücklicher, aber weniger menschlich“, sagte Zollitsch in seiner Weihnachtspredigt in Freiburg. PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Die Kirchen sind uneinig Während sich die katholische Deutsche Bischofskonferenz für ein Verbot der PID ausspricht, halten Vertreter der evangelischen Kirche eine offene Debatte für notwendig. b die Präimplantationsdiagnostik (PID) in engen Grenzen künftig zugelassen werden soll, darüber sind sich nicht nur Politiker quer durch alle Parteien uneinig, auch die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland vertreten in diesem Punkt unterschiedliche Ansichten. So sprach sich der Kölner Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner, scharf gegen eine Zulassung der dung für falsch. „Wahr ist einzig und allein: Der Mensch darf ab dem Zeitpunkt seiner Zeugung niemals getötet werden.“ Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg hat daraufhin Meisner zum Rücktritt aufgefordert. „Ein Mann, der so argumentiert, sollte sich aus dem Amt zurückziehen“, betonte Schorlemmer. Der biblische Kindermord von He- PID aus. „PID zieht immer Selektion und Tötung nach sich. Wer PID zulässt, sagt Nein zum Leben und damit Nein zum Schöpfer und damit Nein zu Gott selbst“, sagte der Kölner Erzbischof in seiner Predigt zum „Fest der Unschuldigen Kinder“. rodes sei ein Genozid an gesunden Kindern, ein Vergleich mit der PID daher „geradezu absurd“. Der Kölner Kardinal diffamiere die Befürworter der PID „auf üble Weise“. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, verzichtet auf derartige Vergleiche, lehnt jedoch ebenfalls die Präimplantationsdiagnostik ab. „Auch wenn eine Präimplantationsdiagnostik zunächst nur wenige Paare betreffen würde, besteht die Gefahr eines Dammbruchs, wenn sich der Mensch zum Herrn über andere Menschen macht und bestimmt, welches Leben sich entwickeln darf und welches nicht.“ Wenn man durch PID die Möglich- Medizinische Entwicklung Foto: ddp O Pfuscht man mit PID Gott ins Handwerk? Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider (links), und der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, sind sich da nicht einig. 3 Gefahr eines Dammbruchs Auf scharfe Kritik stieß er mit seinem Vergleich zwischen der PID und dem Kindermord von Bethlehem: „Auch Herodes hat damals eine Selektion vorgenommen.“ Zwar räumte der Kardinal selbst ein, dass es politisch unkorrekt sei, diesen Vergleich zu ziehen, weil die Befürworter von PID um ihre Entscheidung gerungen hätten, dennoch hält er die Entschei- Während die katholische Kirche also nach wie vor ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik fordert, spricht sich die Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für eine begrenzte Zulassung dieses Gentests an Embryonen aus. So hält der EKD-Ratsvorsitzende, Nikolaus Schneider, eine offene Debatte für notwendig. Er plädiert dafür, dass die evangelische Kirche in Deutschland nicht einfach an ihrer im Jahr 2003 beschlossenen Forderung nach einem Verbot der PID festhalten solle. Die Diskussion müsse erneut geführt werden, weil zum einen die medizinische Entwicklung weitergegangen sei, erklärte Schneider, und zum anderen kämen „ihm die Mütter zu wenig vor in dieser ethischen Debatte“. Es sei zu kurz geschlossen, „wenn mit absoluter Gewissheit postuliert wird: Geburtenverhütung, pränatale Diagnostik, künstliche Befruchtung und die Präimplantationsdiagnostik pfuschen Gott ins Handwerk“. Auch der protestantische Berliner Bischof Markus Dröge hat sich für eine differenzierte Nutzung der Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. „Beides muss möglich sein: dass Eltern aus leidvollen Erfahrungen sagen, wir möchten eine PID, und dass andere Eltern auch einem behinderten Kind den Weg ins Leben ermöglichen wollen und für diese Entscheidung Respekt und Unterstützung erfahren“, sagte Dröge dem „Tagesspiegel“. Er warnte allerdings davor, dass in der Gesellschaft das Verständnis für Behinderte, Arme und Kranke abnehme. ▄ Gisela Klinkhammer DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 4, 28. Januar 2011 PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Wissenschaftler ziehen Parallele zur Pränataldiagnostik Vertreter der Leopoldina unterstützen die Zulassung der PID. uf den Rollstuhl angewiesen ist Mario – wie viele von der Duchenne-Muskeldystrophie betroffene Kinder – seit dem Schulalter. Seine inzwischen fehlgestellten Gelenke schmerzen, die schwache Atemmuskulatur verursacht Infektionen. Obwohl Marios Eltern um sein Leben kämpfen, wird ihr Sohn das 40. Lebensjahr wohl nicht erreichen. Vertreter deutscher Wissenschaftsakademien sind sich mehrheitlich einig: Paare, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, erneut Kinder mit einer solch schweren genetisch bedingten Erkrankung zu bekommen, sollten die Möglichkeit haben, in Deutschland eine Präimplantationsdiagnostik (PID) durchführen zu lassen. Mit ihrer am 18. Januar vorgelegten Stellungnahme unterstützt eine Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Befürworter der PID. Der Gesetzgeber solle die umstrittene genetische Diagnostik „für monokausale erbliche Krankheiten“ unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, heißt es darin. Als eine „ethisch klare Konfliktlösung“ sehen die Vertreter der Akademien den Verzicht der betroffenen Paare auf ein eigenes Kind an. Allerdings könne diesen Verzicht möglicherweise eine Religionsgemeinschaft empfehlen, jedoch nicht der Staat verordnen, meinen die Ärzte, Juristen und Ethiker, die das 30-seitige Papier verfassten. Im Mittelpunkt müsse die Entscheidung der Frau stehen: „Ein einfaches Ergebnis kann es in dieser Frage nicht geben. Es geht darum, eine Gewis- A sensentscheidung der Frau zu ermöglichen“, betonte der Leiter der Arbeitsgruppe PID der Leopoldina, Prof. Dr. med. Hans-Peter Zenner. Nur so könne eine Schwangerschaft auf Probe, ein späterer Schwangerschaftsabbruch oder ein Medizintourismus in Länder, in denen die PID erlaubt ist, vermieden werden. Die Zulassung der PID möchte die Arbeitsgruppe jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sehen: So sollte eine Untersuchung ausschließlich an nichttotipotenten Zellen des Embryos durchgeführt zu ist allein der Aufwand zu groß“, sagte Prof. Dr. med. Wolfgang Würfel, Vizepräsident der DGGEF, dem Deutschen Ärzteblatt. Die Gründe für den geringen Einsatz seien nicht nur ethischer, sondern auch praktischer Natur. „Erfahrungen im Ausland zeigen, dass für eine PID, so wie sie derzeit diskutiert wird, etwa 20 Eizellen gewonnen werden müssen, eine Voraussetzung, die bei vielen älteren Frauen nicht mehr gegeben ist.“ Lediglich bei fünf bis zehn von 100 über 40-jährigen Frauen sei so etwas überhaupt realisierbar. „Der in jeder Hinsicht hohe Aufwand der PID lässt nicht Die Gewissensentscheidung wenige Paare davor zurückschrecken“, erklärte Würfel. der Frau sollte Aber die Entscheidung für nicht durch ein Gesetz oder gegen eine PID müssten verboten werden. Paare immer selbst treffen. Zudem weist die DGGEF Hans-Peter Zenner, Leopoldina darauf hin, dass die PID keine genuine Frage der Rewerden und ihn nicht schädigen, so produktionsmedizin darstellt. „Der dass er ausgetragen werden könne. Einsatz der PID steht und fällt mit Die PID dürfe zudem ohne Aus- der Verfügbarkeit von Humangenenahme nur zur Diagnostik einer tikern, die seltene monogene Erunheilbaren schweren erblichen krankungen wie die DuchenneKrankheit eingesetzt werden und Muskeldystrophie an einer Zelle dianiemals zu eugenischen Zwecken. gnostizieren können, und wird desEine Anwendung von PID für De- halb auf wenige Zentren in Deutschsignerbabys oder sogenannte Ret- land begrenzt bleiben“, prognostungsbabys für erkrankte Geschwis- tizierte Würfel. „Die genetische ter soll damit ausgeschlossen wer- Untersuchung von einzelnen Zellen den. Ferner soll eine „Sachverstän- eines heranwachsenden Lebens ist digen-Stelle“ die Richtlinie für die in erster Linie eine humangenetiPID in Deutschland erarbeiten und sche Frage. Im Kern ist die PID nach Antrag die Durchführung je- Verfahren wie der Chorionzottender PID prüfen sowie die Eltern biopsie, der Amniozentese oder der beraten. Plazentese gleichzustellen“, erläuUnter den Voraussetzungen sieht terte der Reproduktionsmediziner. die Arbeitsgruppe keine Gefahr der In den nächsten Wochen und Mo„schleichenden Ausweitung“ der naten will sich der Bundestag intenPID. Diese Ansicht vertritt auch die siv mit der PID befassen und noch Deutsche Gesellschaft für gynäko- vor der Sommerpause ohne Fraktilogische Endokrinologie und Fort- onszwang darüber entscheiden. ▄ pflanzungsmedizin (DGGEF). „DaDr. med. Eva Richter-Kuhlmann „ “ 4 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 7, 18. Februar 2011 KOMMENTAR Dr. med. Peter Liese, CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament D er Europäische Gerichtshof (EuGH) wird in wenigen Wochen eine weitreichende Entscheidung treffen. Es geht um die Frage, ob es für menschliche Embryonen exklusive kommerzielle Vermarktungsrechte gibt. 1999 genehmigte das Deutsche Patentamt einen Antrag des Stammzellforschers Oliver Brüstle auf die Patentierung von Zellen aus geklonten menschlichen Embryonen. Greenpeace hat 2004 aus ethischen Gründen gegen das Patent vor dem Bundespatentgericht ge- Verbot der Patentierung einer kommerziellen und industriellen Nutzung von menschlichen Embryonen grundsätzlich erst 14 Tage nach der Befruchtung gelten soll. Er fordert, dass der EuGH und der BGH einer Auslegung der EU-Richtlinie zustimmen sollen, nach der jegliche Verwertung von Embryonen bis zu diesem Zeitpunkt zulässig ist. Als Europaabgeordneter, der an der Erarbeitung der Richtlinie beteiligt war, muss ich diese Interpretation der Richtlinie mit Nachdruck zurückweisen. Alle aber per Definition ein Instrument des Wirtschaftsrechts. Es soll die kommerziellen Interessen des Erfinders schützen und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. Forschung ohne kommerzielle Nutzung ist selbstverständlich auch ohne ein Patent möglich, aber den kommerziellen Anreiz zur Verwendung von Embryonen wollte der Gesetzgeber ausdrücklich ausschließen. Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass Brüstle in der deutschen Debatte um die Freigabe der embryonalen Stammzellfor- VERFAHREN VOR DEM EUROPÄISCHEN GERICHTSHOF Keine Patentierung menschlicher Embryonen klagt und 2006 in wesentlichen Punkten Recht bekommen. Demnach verstößt das erteilte Patent gegen den Ausschluss der kommerziellen Verwertung menschlicher Embryonen von der Patentierung. Der Patentinhaber hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Im Jahr 2009 hat der Bundesgerichtshof (BGH) den Fall an den EuGH überwiesen, der nun auf der Grundlage der EU-Biopatentrichtlinie aus dem Jahr 1998 entscheidet. Deren Artikel 5 Absatz 1 lautet: „Der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile . . . können keine patentierbaren Erfindungen darstellen.“ In Artikel 6 Absatz 2 heißt es darüber hinaus, „dass die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“ nicht patentierbar sei. Von embryonalen Stammzellen und daraus gewonnenen Zellen ist in der Richtlinie wörtlich nicht die Rede, da es zum Zeitpunkt der Erarbeitung dieser Richtlinie diese Technologie noch nicht gab. Der BGH hat insbesondere um Vorabentscheidung über die Leitfrage ersucht, was unter dem Begriff „menschliche Embryonen“ zu verstehen ist. Der Patentinhaber argumentiert, dass das 5 Beteiligten an dem Gesetzgebungsverfahren gingen selbstverständlich davon aus, dass wir über die Frage zu entscheiden haben, ob menschliche Embryonen in der Petrischale patentierbar sind oder nicht. In den entsprechenden Begleitdokumenten, zum Beispiel in der Erklärung des Ministerrates gegenüber dem Europäischen Parlament (beide Institutionen mussten gleichberechtigt über die Richtlinie entscheiden) wird eine Reihe von Begriffen klargestellt. Es wurde beispielsweise deutlich gemacht, dass jede Form des Klonens von Menschen von der Patentierbarkeit ausgenommen ist – nicht nur, wie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen, das reproduktive Klonen. Auch das sogenannte Embryonensplitting sollte von der Patentierbarkeit ausgenommen werden, und dies ist nach dem Stand der Wissenschaft bekanntlich nur in einem sehr frühen Stadium, keinesfalls nach dem 14. Tag möglich. Patentinhaber Brüstle und seine Anwälte argumentieren weiterhin, dass die Richtlinie nur die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen und kommerziellen Zwecken ausschließt. Im konkreten Fall solle das Patent nicht unbedingt zu kommerziellen Zwecken genutzt werden. Das Patent ist schung immer nur mit den Interessen der Patienten argumentiert hat. Bis 2004 war der Öffentlichkeit nicht bekannt, dass er längst Patente angemeldet hatte, das heißt ein Interesse an der kommerziellen Nutzung hatte. Zuletzt muss der Europäische Gerichtshof noch die Frage entscheiden, ob sich das Patentierungsverbot auch auf die embryonalen Stammzellen und daraus gewonnene Zellen, zum Beispiel wie im Fall von Brüstle auf neuronale Vorläuferzellen, bezieht. In dieser Frage hat das Europäische Parlament in einer Resolution im Jahr 2005 eindeutig Stellung genommen. Da nach dem jetzigen Stand der Technik menschliche embryonale Stammzellen nur durch die Zerstörung von Embryonen gewonnen werden können, verstößt auch ein Patent auf embryonale Stammzellen und daraus gewonnene Zellen gegen Artikel 6 Abs. 2 C der Richtlinie. Strenge ethische Grenzen, gerade im Bereich des Embryonenschutzes, waren für die Mehrheit der Abgeordneten im Europäischen Parlament eine unabdingbare Voraussetzung dafür, die Richtlinie anzunehmen. Eine Interpretation, wie sie Brüstle und seine Anwälte vorlegen, widerspricht daher dramatisch der Intention des Gesetzgebers. Foto: Action Press DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 9, 4. März 2011 PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK „Ethisch weniger problematisch als eine Schwangerschaft auf Probe“ In einem Entwurf für ein Memorandum erläutert die Bundesärztekammer, unter welchen Voraussetzungen eine PID angeboten werden kann. ie Bundesärztekammer (BÄK) vertritt in einem vom Vorstand verabschiedeten „Entwurf für ein Memorandum zur PID“ die Auffassung, dass eine Präimplantationsdiagnostik (PID) nach gegenwärtigem Erkenntnisstand unter bestimmten Voraussetzungen angeboten werden kann. Sie kommt dem Papier zufolge für anamnestisch stark belastete Paare infrage, für deren Nachkommen ein hohes Risiko einer familiär bekannten und schwerwiegenden genetisch bedingten Erkrankung besteht. Es sei ethisch als zulässig anzusehen, wenn sich ein Paar unter bestimmten Voraussetzungen für eine PID entscheide und wenn ein Arzt dieses Verfahren dann durchführe. Denn „unter Gesichtspunkten der Zumutbarkeit für die Frau und des Entwicklungsstandes des vorgeburtlichen Lebens ist die In-vitro-Befruchtung ,auf Probe‘ (PID) in bestimmten Fällen ethisch weniger problematisch als eine ,Schwangerschaft auf Probe‘ (Pränataldiagnostik, PND) mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch“. D „Wir haben uns sorgfältig mit allen ethischen und rechtlichen Pround Kontra-Argumenten der PID auseinandergesetzt“, erklärt Prof. Dr. med. Hermann Hepp, federführendes Mitglied der Arbeitsgruppe „Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, dem Deutschen Ärzteblatt. „Schließlich haben wir uns dazu entschieden, besonders schwere Fälle aus dem Pool der Pränataldiagnostik herauszunehmen und den Widerspruch ,PND und Abtreibung: ja – PID: nein‘ aufzulösen.“ Für unabdingbar halten der Gynäkologe und die Mitglieder der interdisziplinären Kommission vor jeder PID die ergebnisoffene Beratung des betroffenen Paares. Die Beratung „soll die Patientenautonomie unterstützen und eine authentische, verantwortungsbewusste Entscheidung ermöglichen“. Wie bereits im BÄK-Diskussionsentwurf aus dem Jahr 2000 wird auch im Memorandum eine Zulassung der PID als mit dem gültigen Embryo- nenschutzgesetz kompatibel angesehen. Erneut rückt die Interpretation des § 1 Abs. 1 Nr. 5 Embryonenschutzgesetz („Dreierregel“) in das Zentrum der juristischen Diskussion. Dieser Paragraf sollte dahingehend geändert werden, „dass dem Arzt aufgegeben wird, die Zahl der zu befruchtenden Eizellen so festzulegen, dass das Risiko des Entstehens überzähliger Embryonen geringer ist als das Risiko, keine ausreichende Anzahl transfergeeigneter Embryonen zur Verfügung zu haben“. Ferner sieht das Memorandum vor, dass bei den Landesärztekammern angesiedelte interdisziplinär aus Ärzten der Humangenetik, Reproduktionsmedizin, Pädiatrie und anderen Disziplinen sowie Ethikern und Vertretern aus Selbsthilfe- und Behindertenverbänden zusammengesetzte Kommissionen in jedem Einzelfall über eine Zulassung der PID entscheiden sollen. „Es wird noch juristisch zu klären sein, wie verbindlich eine solche ,Genehmigung‘ sein kann“, erläutert Hepp. Geklärt werden müsse außerdem, ob 6 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG ein Paar klagen kann, falls eine PID nach seiner Meinung ungerechtfertigt abgelehnt wird. „Dies ist spätestens dann erforderlich, wenn klar ist, ob der Gesetzgeber die PID im eng begrenzten Rahmen und kontrolliert überhaupt zulassen wird. Die BÄK wird dann gefordert sein, Richtlinien zur Durchführung der PID zu erstellen“, erklärt der Gynäkologe. Auch die Zahl der Zentren, an denen eine PID vorgenommen werden dürfe, müsse dann festgelegt werden. „Die Ärzteschaft will Verantwortung übernehmen“, betont auch Prof. Dr. med. Jan Schulze, Mitglied des BÄK-Vorstands und der PID-Arbeitsgruppe. Bei einer gesetzlichen Zulassung der PID wolle die Bundesärztekammer in einer (Muster-)Richtlinie die Regelungen zum Indikationsspektrum, zur personellen und apparativen Ausstattung, zur medizinischen und psychosozialen Beratung sowie zur Lizenzierung der PID-Zentren treffen. Die BÄK beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit der PID. Im Jahr 2000 hatte sie durch ihren Wissenschaftlichen Beirat einen „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorgelegt (DÄ, Heft 9/2000), für den ebenfalls Hepp federführend zuständig war. Die damaligen Positionen hält er sachlich nach wie vor für tragfähig. Eine ergänzende Stellungnahme aus dem Jahr 2001 arbeitete die dadurch ausgelöste öffentliche Diskussion auf. Die Politik beschäftigte sich inzwischen ebenfalls mit der Frage, ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar sei. Die damalige Bundesgesundheitsministerin, Andrea Fischer, sprach sich dafür aus, die PID in einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz explizit zu verbieten. Ministerialrat a.D. Dr. jur. Rudolf Neidert (DÄ, Heft 51–52/2000) plädierte dagegen dafür, dass eine rechtliche Re- KURZINTERVIEW Prof. Dr. med. Hermann Hepp, Wissenschaftlicher Beirat der BÄK Herr Professor Hepp, was hat Sie und Ihre Arbeitsgruppe bewogen, ein Memorandum zur PID noch vor der Entscheidung im Bundestag über deren mögliche Zulassung zu verfassen? Hepp: Ausgangspunkt unserer Arbeit war das Urteil des Bundesgerichtshofs vom Juli 2010. Der Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer bat uns, im Einvernehmen mit dem Gesamtvorstand der BÄK, in einem engen Zeitfenster ein Memorandum zur PID zu verfassen. Dieses dient zunächst der internen Beratung des Vorstandes der BÄK – und darüber hinaus der Information der Gesellschaft und der Ärzteschaft über die Position des Vorstandes in dieser sehr komplexen Thematik. 7 Viele Bundestagsabgeordnete sind sich noch nicht im Klaren darüber, ob man die PID zulassen sollte. Liegt es in Ihrer Absicht, mit diesem Memorandum auch deren Entscheidungsfindung zu beeinflussen? Hepp: Jede Stellungnahme zu diesem gesellschaftlich und gesundheitspolitisch wichtigen Thema wird die für Gesetzgebung verantwortlichen Abgeordneten positiv und oder negativ beeinflussen. Jeder ist aber frei in seiner Entscheidung. Deshalb wird es bei der Abstimmung über die Zulassung der PID auch keinen Fraktionszwang im Deutschen Bundestag geben. Erwarten Sie auf Ihr Memorandum Widerspruch? Auch innerhalb der Ärzteschaft? Hepp: Selbstverständlich erwarte ich Widerspruch innerhalb der Ärzteschaft – so wie wir auch Widerspruch im Bereich der Abgeordneten des Deutschen Bundestages erleben werden. Wahrscheinlich wird auf dem nächsten Deutschen Ärztetag das Thema PID wieder diskutiert. 2002 sprach sich das Ärzteparlament knapp gegen die Zulassung der PID aus. Welches Ergebnis erwarten Sie in diesem Jahr? Hepp: Aufgrund der vorliegenden Datenlage vom europäischen Konsortium der Reproduktionsmedizin zur PID gehe ich davon aus, dass viele Argumente, die vor zehn Jahren gegen die PID sprachen, heute viel differenzierter und in einem völlig anderen Licht gesehen werden. Ich persönlich gehe davon aus, dass das Ärzteparlament mehrheitlich für die begrenzte Zulassung der PID plädiert. gelung dieser Diagnostik von einer engen genetischen Indikation ausgehen sollte, so wie es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer vorgeschlagen habe. Der 105. Deutsche Ärztetag in Rostock 2002 hat sich dieser Argumentation allerdings nicht angeschlossen und mit 91 Ja-Stimmen bei 82 Nein-Stimmen und einigen Enthaltungen eine Ablehnung der PID beschlossen. Im selben Jahr legte auch die damalige EnqueteKommission des Deutschen Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“ Empfehlungen vor, in denen sich eine Mehrheit dafür aussprach, „die PID in Deutschland nicht zuzulassen und das im Embryonenschutzgesetz enthaltene Verbot der In-vitro-Fertilisation zu diagnostischen Zwecken ausdrücklich im Hinblick auf die PID zu präzisieren“. Der Nationale Ethikrat setzte sich ein Jahr später mehrheitlich für eine „eng begrenzte Zulassung der PID“ ein. In zahlreichen Ländern in Europa ist die PID inzwischen zulässig, worauf auch das Memorandum eingeht. „Die Methode der Präimplantationsdiagnostik ist seit 20 Jahren außerhalb Deutschlands etabliert“, heißt es dort. Nach PID sei es zu einer Schwangerschaftsrate von 26 Prozent pro Embryotransfer gekommen, was weitgehend der normalen Schwangerschaftsrate nach In-vitro-Fertilisation entspreche. Die Rate an kongenitalen Fehlbildungen sei nach PID nicht erhöht. Die internationale Erfahrung spreche auch gegen die Befürchtung eines Dammbruchs. Neuer Handlungsbedarf hat sich durch ein im vergangenen Jahr ergangenes Urteil des Bundesgerichtshofs ergeben, das auf Wertungswidersprüche hinwies und die PID an pluripotenten Zellen erlaubte. Danach liegt es jetzt am Gesetzgeber, einen neuen Rahmen zu setzen. Bisher liegen drei Gesetzentwürfe vor. Zwei sehen eine restriktive Zulassung vor, einer spricht sich für ein Verbot aus. Für die Abstimmung im Bundestag ist der ▄ Fraktionszwang aufgehoben. Gisela Klinkhammer Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 14, 8. April 2011 PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Zwischen begrenzter Freigabe und vollständigem Verbot Über drei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe soll noch vor der Sommerpause im Deutschen Bundestag entschieden werden. ürfen Embryonen, bevor sie ner Schwangerschaft, also etwa in terstützer dieses Gruppenantrags für eine künstliche Befruch- der Forschung oder der kosmeti- für nicht vertretbar: „Zum einen tung verwendet werden, auf Erb- schen Industrie zu verwenden, könn- besteht keine Schwangerschaft, krankheiten untersucht werden? te stärker werden. Die PID würde ei- zum anderen dient die PID der Auf diese Frage müssen die Abge- ne eugenische Auswahl zu einem Selektion von Embryonen aufordneten des Deutschen Bundesta- Teil des ärztlichen Behandlungsauf- grund bestimmter Merkmale. Es ges eine Antwort finden. Der Bun- trags machen. Die Unterstützer des gibt zwar ein Recht auf Fortdesgerichtshof hatte die Präimplan- Antrags sehen keinen Wertungs- pflanzung, das aus dem Recht auf tationsdiagnostik (PID) im Juni widerspruch zur Abtreibungsrege- freie Entfaltung der Persönlichkeit 2010 bei pluripotenten Zellen für lung, da Schwangerschaftsabbrüche folgt, aber kein Recht auf ein Kind zulässig erlaubt, was jetzt eine in den ersten zwölf Wochen nicht mit bestimmten Merkmalen.“ Das Klarstellung durch den Gesetzgeber nur auf eine Behinderung des Kin- Kriterium für die Zulassung soll erfordert. Der Bundestag will in des abzielten: „Sie haben damit kei- nicht ein bestimmtes Krankheitsbild beim Embryo sein, sondern Kürze über die Zulässigkeit dieser nen selektiven Charakter.“ die (Über-)LebensfähigMethode entscheiden. keit des Embryos. Inzwischen liegen drei Bei der Abstimmung über PID Die gesundheitspolifraktionsübergreifende tische Sprecherin der Gesetzentwürfe vor. vor der Sommerpause FDP, Ulrike Flach, und Ein Gesetzentwurf, im Deutschen Bundestag ist der parlamentarische der unter anderem von der Fraktionszwang aufgehoben. Staatssekretär Peter Hintder gesundheitspolitize (CDU) plädieren in schen Sprecherin von Die Abgeordneten, die den Ge- ihrem Gesetzentwurf für eine beBündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender, und dem Vorsitzenden des Mar- setzentwurf des SPD-Ethikexper- grenzte Freigabe der PID. Über die burger Bundes, Rudolf Henke, un- ten René Röspel und der Spre- Durchführung der PID sei in jedem terstützt wird, sieht ein vollständiges cherin für Bildungspolitik der Einzelfall gesondert zu entscheiVerbot der Präimplantationsdiagnos- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den. „Dieser Einzelfall liegt dann tik vor. Sie begründen dies unter an- Priska Hinz, unterstützen, spre- vor, wenn ein für die PID geschulderem mit medizinischen Bedenken. chen sich für eine „eng begrenzte ter Arzt als Angehöriger eines liDas Verfahren biete erhebliche Risi- Zulassung“ der Präimplantations- zenzierten Zentrums für Fortpflanken für Mutter und Kind. Der An- diagnostik aus. „In diesen Fällen zungsmedizin eine hohe Wahrteil der Mehrlingsschwangerschaften muss bei den Eltern oder einem El- scheinlichkeit attestiert, dass das nach PID sei zudem stark erhöht. Für ternteil eine humangenetisch dia- von dem Paar gezeugte Kind von die erfolgreiche Durchführung einer gnostizierte Disposition vorliegen, einer besonders schweren ErbPräimplantationsdiagnostik würden die mit einer hohen Wahrschein- krankheit betroffen sein wird oder in der Regel acht bis neun Embryo- lichkeit zu Fehl- oder Totgeburten eine Fehl- beziehungsweise Totnen benötigt. Das müsste zwangs- oder zum Tod des Kindes im ersten geburt zu erwarten ist. Die PID läufig eine Änderung des Embryo- Lebensjahr führen kann.“ Beweg- darf nur nach Zustimmung einer nenschutzgesetzes nach sich ziehen, grund für die Zulassung seien die interdisziplinär zusammengesetzten um die Herstellung von mehr als Leiden und die berechtigten Inter- Ethikkommission zu dem Zweck drei Embryonen pro Zyklus zu er- essen der Paare, deren genetische durchgeführt werden, die Anlagen möglichen. Da von den Embryonen Vorbelastung zu Fehl- oder Totge- für dieses Leiden zu ermitteln.“ Das nur etwa zwölf Prozent letztendlich burten führen könne. Vorausset- Gesetz verzichte bewusst auf eine in die Gebärmutter übertragen wür- zungen sind eine verpflichtende Auflistung von Krankheiten als Inden, entstehe eine erhebliche Zahl Beratung und das positive Votum dikation für eine PID. Bei der Ab„überzähliger“ Embryonen. Der einer Ethikkommission. Eine Zu- stimmung vor der Sommerpause ist Wunsch, diese Embryonen für ande- lassung der PID analog zur Präna- der Fraktionszwang aufgehoben. ▄ re Zwecke als zur Herbeiführung ei- taldiagnostik (PND) halten die UnGisela Klinkhammer D 8 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 15, 15. April 2011 INTERVIEW Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz „Mit Präimplantationsdiagnostik würde eine Grenze überschritten“ Kurz vor der ersten Lesung im Bundestag nimmt der Freiburger Erzbischof Stellung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und zu weiteren ethischen Fragen wie der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Herr Erzbischof, die katholische Kirche und auch Sie selbst wenden sich strikt gegen die Einführung der Präimplantationsdiagnostik. Warum? Nun würde die PID nach derzeitigem Stand nur für wenige Paare infrage kommen. Wäre es nicht vertretbar, den betroffenen Paaren trotz Ihrer grundsätzlichen Einwände mit PID zu einem gesunden Kind zu verhelfen? Zollitsch: Ich kann die Ängste und die Zerrissenheit betroffener Eltern sehr gut nachvollziehen. Dennoch muss ich sagen, da wird eine Grenze überschritten. Und PID heißt doch nichts anderes als Selektion. 9 Fotos: Ropi Zollitsch: Für die katholische Kirche ist es klar, dass das menschliche Leben mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle beginnt. Wenn ich jetzt anfange, selbst zu entscheiden, welche Embryonen eingepflanzt werden und weiterleben dürfen und welche nicht, mache ich mich zum Herrn über Leben und Tod, denn ich entscheide, wer leben und wer nicht leben darf. Jedes menschliche Leben ist von Gott geschaffen und schützenswert. Auch behinderte Menschen haben ein uneingeschränktes Recht auf Leben. PID wäre ein Dammbruch, weil die Menschen selbst bestimmen würden, was lebenswert und was nicht lebenswert ist. Damit dürfen wir gar nicht erst anfangen. Jedem Menschen ist von Beginn seines Lebens an von Gott dieselbe Würde geschenkt. Diese dürfen wir als Menschen nicht übertreten. Robert Zollitsch berichtete von regelmäßigen Gesprächen der Deutschen Bischofskonferenz mit der Bundesärztekammer. Im Mai ist ein weiteres Gespräch geplant. Außerdem wird, wenn die Grenze überschritten wird, nicht mehr zu verhindern sein, dass auch aus anderen Gesichtspunkten PID angewandt wird. Wer darf sich denn das Recht herausnehmen, die Kriterien festzulegen, ob lebenswert oder nicht? Es geht letztlich darum, dass es nicht Sache des Menschen ist zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht. Würden Sie den betreffenden Eltern dann sagen, sie müssten auf ein Kind verzichten? Zollitsch: So sehr ich den Wunsch nach einem gesunden Kind verstehen kann: Es gibt kein Recht auf ein Kind, und es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind. Wenn Eltern wissen, dass sie ohne das Risiko, das sie fürchten und vermeiden wollen, kein Kind bekommen können, dann DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG müssten sie auch bereit sein, auf ein Kind zu verzichten oder den Weg der Adoption zu gehen. Sehen Sie denn darin keinen Widerspruch, den Test des Embryos in der Petrischale zu verbieten, pränatale Diagnostik im Mutterleib mit der möglichen Folge einer Spätabtreibung aber zu gestatten? Zollitsch: Sie wissen ja, dass wir die Abtreibung – zu welchem Zeitpunkt auch immer – ablehnen, weil auch ein Schwangerschaftsabbruch die Tötung eines Kindes bedeutet. Die Folge der pränatalen Diagnostik darf nicht die Abtreibung sein. Dürfen katholische Ärzte sich überhaupt an pränataler Diagnostik beteiligen? Zollitsch: Nicht jede vorgeburtliche Diagnostik löst die Entscheidung zur Abtreibung aus. Es gibt manche durchaus positiv bewertbare Folgen einer solchen Diagnostik. Ich denke etwa daran, dass man kindliche Krankheiten erkennen kann, die eine Entbindung an bestimmten Zentren und eine sofortige Behandlung nach der Geburt erfordern. Was macht ein katholischer Arzt, von dem nach einem problematischen Ergebnis der Pränataldiagnostik eine Abtreibung erwartet wird? Zollitsch: Ein katholischer Arzt wird von allem Anfang an klarstellen, dass er keinen Abbruch durchführt. Wenn Eltern nach Kenntnis des Ergebnisses der Pränataldiagnostik einen Abbruch wünschen, wird er den Eltern Beratung und Unterstützung anbieten und sie ermutigen, sich auf ein krankes Kind einzustellen und das Leben ihres kranken Kindes in elterlicher Liebe zu begleiten. Vielleicht kann er auch weitere Hilfen vermitteln. Der Arzt dient dem Leben. Das ist der Kern der ärztlichen Ethik. Sie setzen den Beginn des menschlichen Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an. Andere Religionen, zum Beispiel das Judentum, sehen das anders. Zollitsch: Es gab über lange Zeit auch in der katholischen Morallehre eine entsprechende Diskussion. Aber jetzt ist die katholische Position sehr gefestigt und durchaus in Übereinstimmung mit der Embryologie: Mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle sind alle Anlagen gegeben, die für die menschliche Entwicklung entscheidend sind, und damit ist der Embryo auch als Mensch zu betrachten und zu achten. Sonst würde man übrigens auch der Willkür Tür und Tor öffnen, weil alle anderen Annahmen dann sehr subjektiv sind. Zollitsch: Ja. Im Augenblick sind die Anhänger eines völligen Verbots und einer Zulassung unter Bedingungen fast gleich stark im Bundestag. Wir werden weiterhin aktiv an der Debatte teilnehmen. Wir werden öffentlich Stellung beziehen. Die Bischöfe werden aber auch die Gelegenheit nutzen, um mit Bundestagsabgeordneten direkt ins Gespräch zu kommen. Es ist wichtig, dass es nach wie vor eine sachliche Diskussion gibt. Es soll „Jedes menschliche Leben ist von Gott geschaffen und daher schützenswert. “ Macht es keinen Unterschied, ob das Leben extrakorporal oder in vivo erzeugt wird? Zollitsch: Da sehe ich in diesem Zusammenhang keinen Unterschied, weil die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der entscheidende Punkt ist. Jetzt kommt das Gesetzgebungsverfahren. Wird die Kirche alles daransetzen, um ein Verbot der PID zu erreichen? ZUR PERSON Robert Zollitsch wurde am 9. August 1939 in Philippsdorf (Filipovo, im ehemaligen Jugoslawien) geboren. Er wurde im Jahr 1965 in Freiburg zum Priester geweiht. Am 16. Juni 2003 ernannte Papst Johannes Paul II. ihn zum Erzbischof von Freiburg. Am 12. Februar 2008 wurde er außerdem für eine sechsjährige Amtszeit zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt und trat dieses Amt am 18. Februar an. Die Deutsche Bischofskonferenz hat sich in einer Stellungnahme vom 17. März „für ein klares Verbot der Präimplantationsdiagnostik durch den Gesetzgeber ausgesprochen“. Auch in seiner letzten Weihnachtspredigt im vergangenen Jahr in Freiburg hatte sich Zollitsch gegen dieses genetische Verfahren ausgesprochen. bei dem bleiben, was wir bisher als gesetzliche Regelung verstanden haben, nämlich dass die PID verboten ist. Glauben Sie, dann wäre die Diskussion beendet? Zollitsch: Nein. Es werden neue Anläufe kommen, aber ein Verbot wäre ein markantes Zeichen, das sich Deutschland zum Schutz des Lebens stellt. Jetzt kommen wir zu einem anderen Thema, der Sterbehilfe. Der Vorstand der Bundesärztekammer hat kürzlich seine Leitlinien zur Sterbebegleitung überarbeitet und die Position zur ärztlichen Mithilfe beim Suizid modifiziert. Sind Sie im Gespräch mit der Ärzteschaft, was diese Thematik betrifft? Zollitsch: Ja, das sind wir. Wir führen gemeinsam mit der evangelischen Kirche regelmäßig Gespräche mit der Bundesärztekammer Als wir das letzte Mal zusammen waren, da war die Position noch eindeutig klar. Wann war das? Zollitsch: Ende 2008. Ich habe mich über die Formulierung gewundert, die jetzt sehr wachsweich klingt, es gehöre nicht zur Aufgabe des Arztes, Sterbehilfe zu leisten. Damit wird doch wohl der alte Grundsatz verdunkelt, den ich als grundlegend angesehen habe, dass der Arzt da ist, um dem Leben zu dienen und Schmerzen zu lindern. Zwar sprechen die Grundsätze nicht ausdrücklich davon, dass es Aufga- 10 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG schen in ihren Gewissensfragen keine stabile Orientierung. Das ist für alle ein Nachteil. Deswegen hoffe ich, dass wir uns in diesen Fragen nicht noch weiter auseinanderdividieren. Finden die Kirchen bei ethischen Fragen überhaupt noch Gehör? be des Arztes sein könnte, eine Beihilfe zum Suizid zu leisten. Aber sie schließen doch nicht aus, dass diese ethisch richtig sein könnte. Das kritisieren wir. Da der Mensch nicht selbst Herr über Leben und Tod ist, darf ich auch dem anderen nicht beim Suizid helfen. Für mich würde das ärztliche Ethos damit in einem wichtigen Punkt infrage gestellt werden. Sehen Sie in der neuen Formulierung der Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung demnach eine Aufweichung der bisherigen Position? Zollitsch: Ja, weil man nicht mehr sagt, dass ärztliche Beihilfe zum Suizid unethisch ist. Im Übrigen hoffe ich sehr, dass es diesbezüglich auf dem Ärztetag Ende Mai mehr Klarheit gibt und dass nicht auch das verbindliche Standesrecht im Sinn der rechtlich unverbindlichen Grundsätze geändert wird. Ich bin aber auch dankbar, dass die Ärzteschaft in Bezug auf die aktive Sterbehilfe eine stabile Haltung der Ablehnung zeigt, was sehr wichtig ist. Inwieweit sollte das Selbstbestimmungsrecht der Patienten beachtet werden, und wo stößt es an Grenzen? Zollitsch: Der Patientenwille ist unbedingt zu berücksichtigen, und wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern, 11 Man brauche die Kirchen als Institutionen, die für bestimmte Werte einträten, betont der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. sollte eine Vertrauensperson in seinem Sinn entscheiden. Doch dürfen die Autonomie des Patienten und die Notwendigkeit ausreichender medizinischer Versorgung und Betreuung nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es gibt Grenzen des Selbstbestimmungsrechts, vor allem am Lebensende. Das Tötungsverbot widerspricht der Beihilfe zum Suizid und der Tötung auf Verlangen. Sehen Sie die Ökumene durch den Dissens in medizinethischen Fragen gefährdet? In der evangelischen Kirche wird ja beispielsweise über eine mögliche Zulassung der PID in engen Grenzen diskutiert. Zollitsch: Die Mehrheit des Rates der Evangelischen Kirche ist wie wir der Meinung, dass die Zulas- „Der Arzt ist da, um dem Leben zu dienen und Schmerzen zu lindern. “ sung von PID eine Schleuse öffnet und einen Damm brechen würde. Es gibt allerdings einige Stimmen, zu denen auch der Ratsvorsitzende gehört, die eine PID im Einzelfall für vertretbar halten. Ich halte es für bedauerlich, wenn die beiden großen Kirchen in ethischen Fragen von großer Tragweite nicht mehr übereinstimmend sprechen, denn dann geben wir vielen Men- Zollitsch: Wir nehmen an der Debatte aktiv teil und werden das auch weiterhin tun. Bisweilen wird es schwieriger, weil die Vielfalt der Standpunkte, die Menschen vertreten, immer größer wird. Gerade deshalb ist es uns so wichtig, dass wir uns eng mit der Evangelischen Kirche abstimmen und möglichst mit einer Stimme sprechen. Für die Macht des guten Arguments gibt es übrigens ein interessantes Beispiel: Die Abstimmung im Bundestag hinsichtlich der Stammzellforschung fiel zwar nicht in unserem Sinne aus. Aber in der öffentlichen Debatte haben viele Stimmen unsere Argumentation übernommen. Das zeigt für mich, es lohnt sich Argumente einzubringen, denn es geht hier um den Schutz des menschlichen Lebens. Und den Kampf der öffentlichen Meinungsbildung werden wir in einer freien Gesellschaft auch führen im Wissen, dass wir mit starken Argumenten arbeiten müssen. Glauben Sie, dass die Position der Kirche durch die Missbrauchsfälle geschwächt wurde? Zollitsch: Es gibt in der Tat einen Vertrauensverlust. Andererseits habe ich festgestellt, dass wir Aufmerksamkeit finden und dass unsere Beiträge aufgenommen werden. Die Kirchen werden als Institutionen in unserer Gesellschaft gebraucht, die für bestimmte Werte eintreten, gerade für die Achtung des Lebens und des ungeborenen Lebens. Man hört uns, selbst wenn man unsere Positionen nicht übernimmt. Es ist wichtig, Werte zu garantieren und sich für sie einzusetzen. Das ist eine bedeutsame Aufgabe auch der Kirche, die eng mit ihrer Verkündigung des christlichen Glaubens zusammenhängt. ▄ Interview: Gisela Klinkhammer, Norbert Jachertz Heft 16, 22. April 2011 Im Entscheidungsdilemma Ernst, emotional und respektvoll diskutierten die Abgeordneten des Bundestages die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Für welchen der drei vorliegenden Gesetzentwürfe sich die Mehrheit entscheiden wird, blieb noch ungewiss. olitiker ändern gern mal ihre Meinung, doch nur selten erklären sie dies offen. Und auch nur selten werden im routinierten Politikbetrieb des Bundestages ehrliche und persönliche Debatten geführt, die frei von jeglichem parteipolitischen Kalkül sind. Die dreistündige Diskussion zur Präimplantationsdiagnostik (PID) am 14. April war eine solche Debatte. An diesem Tag ging es um eine Frage, die die Gesellschaft emotional spaltet: um die Option auf Selektion. Auf der einen Seite steht das große Leid der betroffenen Paare, das Ärztinnen und Ärzte durch den Fortschritt der Medizin lindern könnten. Auf der anderen Seite steht das Aussortieren von menschlichen Embryonen aufgrund von Krankheitsmerkmalen. Viele Abgeordnete sehen sich da in einem Entscheidungsdilemma. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier bekannte, mit sich selbst intensiv „gerungen“ zu haben. Lange habe er für ein straffes Verbot der PID votiert, über Jahre hinweg habe er jedoch daran gezweifelt. Doch: „Das strikte Verbot löst nicht die Fragen der Realität“, betont er jetzt. Man dürfe Hilfesuchenden – und das seien im Falle der PID verzweifelte Menschen, P denen es nicht um Selektion oder Töten, sondern um das Leben gehe – nicht die Hilfe verweigern. Doch, ob dieses (ärztliche) Gebot auch für die gesetzliche Zulassung der PID in Deutschland gilt, bleibt fraglich. „Jeder von uns ist in dieser Debatte ein Suchender“, resümiert der FDP-Abgeordnete Patrick Meinhardt – Töne, wie man sie nur selten in der Politik hört. Und sein liberaler Parteikollege Pascal Kober kommt zu dem Schluss, dass man sich im Zweifel für das Leben und den weitergehenden Schutz entscheiden müsse. „PID bedeutet“, sagte er, „dass ein Gremium ermächtigt wird zu bestimmen, welchen Menschen Schutz zukommt.“ Ein Drittel der Abgeordneten zweifelt noch Steinmeier und Kober haben für sich eine Entscheidung getroffen. Etwa 200 Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind indes noch unschlüssig. Sie seien sich bei der Abwägung unsicher, könnten den Argumenten jeder Position etwas abgewinnen, hört man von ihnen. Dennoch wird es bei der Abstimmung voraussichtlich am 30. Juni auf sie ankommen, ob die PID in Foto: epd PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Deutschland gesetzlich zugelassen wird oder verboten bleibt. Denn zwei der drei zur Diskussion stehenden Gesetzentwürfe liegen bezüglich der Anzahl ihrer Unterstützer fast gleich auf. Einen etwas größeren Zulauf im Parlament finden momentan die PID-Befürworter. 215 Abgeordnete haben schon den Entwurf unterschrieben, der die PID begrenzt zulassen will. Federführend stammt er von den Abgeordneten Peter Hintze (CDU), Ulrike Flach, Heinz Lanfermann (beide FDP), Carola Reimann (SPD), Petra Sitte (Die Linke) sowie Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen). „Wir wollen nicht alle Türen für die PID öffnen, sondern sie soll nur in Ausnahmefälle erlaubt sein“, betont die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Ulrike Flach. Nach einer verpflichtenden Aufklärung und Beratung sowie dem positiven Votum einer Ethikkommission soll die PID dem Entwurf zufolge nur dann zulässig sein, wenn ein oder beide Elternteile die Veranlagung für „eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder mit einer Tot- oder einer Fehlgeburt zu rechnen ist“. Fehl- und Totgeburten sowie die Weitergabe von besonders schweren Erkrankungen an das Kind sollen so bereits vor der Geburt verhindert und schwere Belastungen der Familien abgewendet werden. „Wir wollen damit den Wertungswiderspruch zum Schwangerschaftsabbruch aufheben“, erklärte Flach. Einen PID-Automatismus werde es jedoch nicht geben. 12 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Dabei verweist Flach auf ähnliche Empfehlungen, wie die des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und der Nationalakademie Leopoldina sowie auf das Teilvotum des Deutschen Ethikrats, der der PID allerdings engere Grenzen als die Gruppe um Flach setzen will. In ihrer Argumentation verweisen die PID-Befürworter immer wieder auf die Sorgen und Nöte der betroffenen Familien, denen es nicht um ein blondes oder blauäugiges Kind geht, sondern die lediglich ein Kind möchten, das sie nicht nach kurzer Zeit wieder verlieren. Der ehemalige Pfarrer und derzeitige Wirtschaftsstaatssekretär Peter Hintze (CDU) mahnt, der Gesetzgeber habe die Pflicht, Paaren die Nutzung der medizinischen Chancen zu erlauben. Auch Carola Reimann (SPD) hält es für „schwer erträglich“ und „frauenverachtend“, diesen Paaren keine Hilfe anbieten zu dürfen, obwohl sie medizinisch möglich wäre. steht die Selektion am Anfang. Den aussortierten Embryonen wird das Recht genommen, sich zu entwickeln.“ Deutliche Unterschiede zum Schwangerschaftsabbruch sieht auch die Grünen-Gesundheitspolitikerin Bender. „Manche werden sich wundern, dass ich hier für ein Verbot eintrete, schließlich habe ich viele Jahre vehement für die Abtreibungsregelung gekämpft“, betont Doch am Kern des Entwurfs der PID-Befürworter kommt keiner vorbei: Er legitimiert die Selektion von Leben. Ein Embryo wird zur Implantation ausgesucht, ein anderer verworfen. Dies ist auch das Hauptargument der PID-Gegner. Die stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion Johannes Singhammer (CSU) und Günter Krings (CDU), der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke (CDU), die gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender, sowie die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) fordern deshalb ein striktes Verbot der PID. Ihr Gesetzentwurf, den mittlerweile 192 Abgeordnete unterzeichnet haben, wird ebenfalls von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützt. Auch diese Abgeordneten erkennen die schwierige Situation und das Leid der betroffenen Eltern an. Aber es handele sich bei diesen Fällen eben nicht um existenzielle Konfliktsituationen, wie sie bei einem Schwangerschaftsabbruch aufträten, meint Schmidt. „Bei der PID 13 Foto: dpa PID entspricht nicht einem Schwangerschaftsabbruch sie. Doch ein Schwangerschaftsabbruch sei mit der PID nicht vergleichbar. „Die PID ist die bewusste Erzeugung von etwa acht Embryonen zum Zweck des Aussortierens. Diese Option auf Selektion würde unsere Gesellschaft verändern. Wie soll sich da noch eine Frau für ein behindertes Kind entscheiden?“ Wie viele ihrer Mitunterzeichner sieht Bender die Gefahr des wachsenden sozialen Drucks, sich dem Verfahren der PID zu unterziehen, ist diese erst einmal zugelassen. „Ich kenne viele, die nicht auf der Welt wären, hätte es die PID bereits gegeben“, gab der behindertenpolitische Sprecher der Fraktion Die Linke, Ilja Seifert, zu bedenken, der nach einem Unfall in der Jugend auf den Rollstuhl angewiesen ist. Viele Beifall aus allen Fraktionen erhielt Ilja Seifert: „Jeder und jede von uns ist einmalig, deshalb gehören wir zusammen. Das mag pathetisch klingen, aber darunter ist diese Debatte nicht zu führen.“ Behinderte hätten Angst vor einer Abwertung, erklärt Seifert. Für nichtbehinderte Menschen sei dies möglicherweise nicht direkt greifbar. „Doch wer ein solches Leben hat, für denjenigen gibt es nichts Wichtigeres.“ Krings befürchtet zudem wachsende Begehrlichkeiten der Forschung nach befruchteten Eizellen. „Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass weder Ärzte noch die Gesellschaft über lebenswertes und nicht lebenswertes Leben entscheiden“, appelliert er. Ein Embryo sei keine Sache, die man bei Mängeln verwerfen könne. Als einen Ausweg aus dem Entscheidungsdilemma und die „mittelnde Position“ sehen die Abgeordneten um den Ethikfachmann der SPD-Fraktion René Röspel und die bildungspolitische Sprecherin der Grünen, Priska Hinz, ihren Gesetzentwurf an, den bislang 36 Abgeordnete unterschrieben hatten, darunter auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Die Gruppe will die PID grundsätzlich verbieten, jedoch in jenen Fällen, bei denen die Paare mit einer Totund Fehlgeburt ihres Kindes rechnen müssen, nicht für rechtswidrig erklären. „Wir stellen nicht die Frage: Darf ein Leben gelebt werden? Sondern: Kann ein Leben gelebt werden?“, erklärt Röspel. „Wir wollen Menschen in die Lage versetzen, Eltern zu werden.“ Offen bleibt jedoch noch, wie der Entwurf in der Praxis umgesetzt werden kann. Denn die Lebensfähigkeit und die Dauer des Lebens eines Kindes lassen sich nur in den seltensten Fällen genau vorhersagen. Sollte der Antrag wegen seiner nicht besonders praktikablen Lösung bei der zweiten und dritten Lesung im Juni aus der interfraktionellen Abstimmung genommen werden, könnte es entscheidend werden, wie die Anhänger der bisherigen Kompromisslösung votieren. Ihren Redebeiträgen zufolge scheinen zumindest Hinz und Röspel im Zweifel zu einem Verbot zu tendieren. Hubertus Heil (SPD) bot ihnen jedoch explizit noch einmal Verhandlungen an, um sie als Unterstützer einer PID-Zu▄ lassung zu gewinnen. Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 23, 10. Juni 2011 PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Zulassung der PID in engen Grenzen Sollten die Gentests unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt werden, will die Ärzteschaft an einer verantwortungsvollen Umsetzung mitarbeiten. s war eine kontroverse, aber gleichwohl auch eine sachliche, ernsthafte Diskussion, bei der Befürworter und Gegner einer Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) ihre Argumente austauschten. Letztendlich entschied sich dann aber eine deutliche Mehrheit der Delegierten des 114. Deutschen Ärztetages, dem Vorstandsantrag zu folgen und sich für eine Zulassung der PID in engen Grenzen auszusprechen. Im Jahr 2000 hatte noch eine knappe Mehrheit solche Gentests abgelehnt. Die Delegierten unterstützten damit ein Memorandum zur PID, das eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Vorstandes der Bundesärztekam- E mer (BÄK) und des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK erarbeitet hatte. Das Papier zeigt medizinische, ethische und rechtliche Argumente für eine begrenzte Zulassung des Verfahrens auf. Demnach sollte es Ziel des Indikationsmodells sein, Paaren mit hohem genetischem Risiko zu einer Schwangerschaft mit einem von dieser genetischen ErFAZIT krankung unbelasteten Embryo zu verhelfen. Die Bundesärztekammer hält allerdings eine Eingrenzung der Indikationsstellung für erforderlich. Die PID soll nur Paaren angeboten werden, für deren Nachkommen ein hohes Risiko einer familiär bekannten und schwerwiegenden, genetisch bedingten Erkrankung besteht. Keine Indikationen für die PID dürfen vor al- Mit 204 zu 33 Stimmen bei sechs Enthaltungen hat der Deutsche Ärztetag einem Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik zugestimmt. TOP I: Gesundheits, Sozial- und Berufspolitik (PID) ● Die Delegierten des 114. Deutschen Ärztetages sprechen sich für eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) in engen Grenzen aus. ● Sie halten allerdings eine Eingrenzung der Indikationsstellung für erforderlich. ● Nach Auffassung des Deutschen Ärztetages ist eine PID in bestimmten Fällen weniger problematisch als eine Pränataldiagnostik mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch. 14 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG lem Geschlechtsbestimmungen ohne Krankheitsbezug, ein höheres Alter der Eltern sowie „Maßnahmen der assistierten Reproduktion im Allgemeinen sein“. Außerdem wird unter anderem eine „umfassende Information und Aufklärung sowie kompetente Beratung“ gefordert. Nach Auffassung des Ärztetages ist die PID unter Gesichtspunkten der Zumutbarkeit für die Frau und Plädoyer für ein Verbot der PID – Rudolf Henke versuchte die Delegierten davon zu überzeugen, dass die PID behindertes Leben diskriminiere. 15 des Entwicklungsstands des vorgeburtlichen Lebens in bestimmten Fällen ethisch weniger problematisch als eine Pränataldiagnostik (PND) mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es allerdings weder die Pränataldiagnostik noch die Präimplantationsdiagnostik, sagte der scheidende Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, bei der Eröffnungsveranstaltung zum 114. Deutschen Ärztetag in Kiel. Dennoch ist ihm klar: „Das eine bedingt das andere.“ Und so habe der Bundesgerichtshof (BGH) folgerichtig die unlogische Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten der PND und denen der PID aufgehoben – auch wenn er die geschlechtsspezifische Auswahl wie auch die unbegrenzte Selektion von Embryonen strikt untersagt habe. Der BGH habe damit klar herausgestellt, dass mit Hilfe von PID keine Designerbabys erzeugt werden dürften. Doch bei allen Restriktionen wird nach Auffassung Hoppes die PID nun rechtlich zulässig in Deutschland. „Der Gesetzgeber ist aufgefordert, das Embryonenschutzgesetz entsprechend nachzubessern, tut sich aber schwer.“ Hoppe berichtete, dass sich auch der Vorstand der Bundesärztekammer intensiv mit der bevorstehenden Gesetzesentscheidung befasst habe. Dr. med. Christian Albring, Niedersachsen, begrüßte den Antrag und das Memorandum der Bundesärztekammer. Seiner Ansicht nach kann das Gesetz dazu verhelfen, „unermessliches Leid zu verhindern“. Eine Zulassung der PID unter bestimmten Voraussetzungen sei „ein kleiner Schritt für uns und ein großer Schritt für die Menschheit“. Auch Prof. Dr. med. habil. Jan Schulze sprach sich für den BÄK-Antrag aus. Ihm zufolge müssten die betroffenen Paare, es seien etwa 200 im Jahr in Deutschland, in Selbstverantwortung ihre Entscheidung treffen können. DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Aber es gab auch deutliche Gegenstimmen. So sprach sich beispielsweise Rudolf Henke, BÄKVorstand, vehement für ein umfassendes Verbot der PID aus. Er hält unter anderem den Vorwurf, ohne PID müssten Frauen eine sogenannte Schwangerschaft auf Probe eingehen, um sich dann während der Schwangerschaft einer Pränataldiagnostik zu unterziehen, die gegebenenfalls zu einer Spätabtreibung führen würde, für nicht korrekt. Im Jahr 1995 sei die embryopathische Indikation ausdrücklich mit der Begründung abgeschafft worden, dass sie behindertes Leben diskriminiere. Mit einer Zulassung würde diese Diskriminierung wieder gesetzlich eingeführt. Auch Dr. med. Guido Marx vertrat die Auffassung, dass die PID eine Methode der Selektion sei. „Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, ein fehlerfreies menschliches Leben zu ermöglichen“, sagte er. Der Ärztetag betonte letztendlich, dass nur der Gesetzgeber legitimiert sei, das menschliche Leben elementar berührende Fragen verbindlich zu regeln. „Gestattet der Gesetzgeber die PID in engen Grenzen, wird die Ärzteschaft an einer verantwortungsbewussten Umsetzung – so wie sie in ihrem Memorandum zur PID skizziert ist – nicht zuletzt im Sinne einer optimalen Versorgung und Behandlung der betroffenen Paare umsichtig mitwirken“, heißt es in dem Beschluss. Bei den Bedingungen für die PID wollen die Mediziner mitentscheiden. Für das Verfahren solle die Bundesärztekammer eine Richtlinie erarbeiten, „insbesondere zum Indikationsspektrum, zur personellen und apparativen Ausstattung, zur medizinischen und psychosozialen Beratung sowie zur Festlegung der erforderlichen Zahl danach qualifizierter durchführender Zentren“. Bei den Landesärztekammern sollen PID-Kommissionen eingerichtet werden, die die Qualitätssicherung der Präimplantationsdiagnostik gewährleisten sollen. Der Bundestag steht zurzeit vor einem ähnlichen Gewissenskonflikt wie die Ärzteschaft. Dort werden derzeit drei verschiedene Gesetzentwürfe zur PID beraten. Zwei Entwürfe plädieren für eine begrenzte Zulassung, einer, der auch von Henke unterstützt wird, ▄ für ein komplettes Verbot. Plädoyer für eine Zulassung der PID – Jan Schulze spricht sich für die Eigenverantwortung der betroffenen Paare aus. Gisela Klinkhammer @ Das Memorandum im Internet: www.aerzteblatt.de/111280 INFORMATIONS- UND SELBSTBESTIMMUNGS LÖSUNG In Deutschland warten 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan, jeden Tag sterben drei Patienten, weil nicht rechtzeitig ein passendes Organ zur Verfügung steht. Um die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen, hat sich der 114. Deutsche Ärztetag in Kiel dafür ausgesprochen, die Information der Bevölkerung über die Möglichkeiten der Organspende und der Transplantationsmedizin zu intensivieren. Ziel müsse es sein, dass möglichst viele Bürger ihre Bereitschaft für eine Organ- und Gewebespende erklärten. Dabei müsse das Selbstbestimmungsrecht gewahrt bleiben. „Wird dieses Recht nicht zu Lebzeiten wahrgenommen und liegt somit keine Erklärung vor, können dem Verstorbenen unter Ermittlung des mutmaßlichen Willens durch Einbeziehung der Angehörigen, Organe und/oder Gewebe entnommen werden“, heißt es in dem Ärztetags-Beschluss. Die Delegierten folgten damit dem Vorschlag der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, die das „Modell einer Informations- und Selbstbestimmungslösung mit Erklärungspflicht“ entwickelt hat. Der Ärztetag betonte, dass diese Regelung die positiven Aspekte sowohl der derzeit geltenden Zustimmungslösung wie auch der sogenannten Widerspruchslösung konstruktiv aufgreife und zusammenführe. Im vergangenen Jahr hatte sich der Ärztetag für eine Widerspruchslösung ausgesprochen. Doch Martina Wenker vom BundesärztekammerVorstand konnte die Antragsteller des damaligen Beschlusses davon überzeugen, dass diese Lösung schwer umzusetzen sei. „Selbst Patientenvertreter wollen keine Widerspruchs-, sondern eine Selbstbestimmungslösung.“ Kli 16 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 28–29, 18. Juli 2011 ZULASSUNG DER PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Paradigmenwechsel Der Bundestag hat entschieden: Gentests an Embryonen werden künftig erlaubt sein. Freude und Bedauern darüber liegen auch bei Betroffenen eng beieinander. ie Präimplantationsdiagnostik (PID) soll künftig auch in Deutschland nach dem positiven Votum einer Ethikkommission an zugelassenen Zentren für Paare erlaubt sein, die die Veranlagung für eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder bei denen mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist, entschied der Deutsche Bundestag am 7. Juli. Als Gesa Borek an diesem Tag davon hört, steckt sie gerade mitten in den Vorbereitungen zum 80. Geburtstag ihrer Mutter. „Wir feiern bei uns zu Hause“, erklärt sie. Mehrere Stunden in einem Restaurant zu verweilen, das sei mit ihren vier Söhnen, von denen zwei ein Fragiles-X-Syndrom haben, nicht möglich. „Das Leben mit behinderten Kindern ist einfach anders“, sagt sie. „Mein Mann und ich lieben unsere Kinder, und das Leben mit ihnen ist unsere Normalität. Aber man muss sich bewusst darauf einlassen können.“ Deshalb begrüßen die Boreks die Zulassung der PID. Nach der Geburt von Christian (17) und Lars (14), der ein Fragiles-X-Syndrom aufweist, wünschten sie sich ein weiteres Kind. Trotz Polkörperchendiagnostik wurde auch Jonas (7) mit einem Fragilen X geboren. „Während der Schwangerschaft mit Jonas bin ich oft angefeindet worden, weil ich mich keinem weiteren Test unterzogen habe“, erzählt Borek. Teilweise sei ihr auch in der Annahme, dass eine Behinderung ausgeschlossen sei, zu einem gesunden Kind gratuliert worden. „Ein behindertes Kind ist Schicksal, aber zwei behinderte Kinder sind eine Dummheit. Wieso rennt ihr blind ins Unglück?“, hätte es auch geheißen. Moritz (3) sei dann ein „Geschenk des Himmels“ D 17 gewesen: ungeplant und gesund, wie Tests letztendlich in der 21. Schwangerschaftswoche nachweisen konnten. Gesa Borek engagiert sich in der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. – ebenso wie Doris Michel, die von Achondroplasie (Kleinwuchs) betroffen ist. Michel hatte sich im Gegensatz „Die neue Rechtslage traut den Betroffenen endlich die Kompetenz der Entscheidung zu. “ Gesa Borek zu Borek eine andere Entscheidung des Bundestages erhofft. Durch die gesetzliche Zulassung der PID und deren gesellschaftliche Akzeptanz befürchtet sie nun, dass der Diskriminierung von Behinderten weiterer Vorschub geleistet und deren Integration geschwächt wird. „Die Gruppe der ACHSE-Mitglieder, für die aus eigener Erfah- rung entweder das Für oder Wider zur PID im Vordergrund steht, ist sehr heterogen“, erklärt Rania von der Ropp, Sprecherin der ACHSE. Deshalb habe die ACHSE als Verband keine eigene Stellungnahme zur PID abgegeben. Bei einer Befragung der Mitglieder hätte jedoch eine Mehrheit für die eingeschränkte Zulassung der PID plädiert. Im Kleinen ist die ACHSE damit ein Spiegelbild der Zerrissenheit der Gesellschaft und des Parlaments: 326 Abgeordnete von 594 teilnehmenden Parlamentariern votierten bei der Schlussabstimmung im Bundestag für die Zulassung der PID, 260 stimmten dagegen, acht enthielten sich. Der dritte Vorschlag, ein Kompromissentwurf, war mit 58 Stimmen bereits in zweiter Lesung gescheitert. Ihn hatte eine Abgeordnetengruppe um Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), René Röspel (SPD) und Priska Hinz (Grüne) eingebracht. Sie wollten die PID zwar „grundsätzlich“ verbieten, in Ausnahmefällen aber „für nicht rechtswidrig“ erklären. Möglich sollte eine PID nur dann sein, wenn die erbliche Vorbelastung der Eltern „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ eine Schädigung des Embryos verursachen würde, die zur Tot- oder Fehlgeburt führt. Offen blieb der Ausgang der Abstimmung bis zum Schluss. Denn BETROFFENE PRO PID Als Mutter von vier Kindern, von denen zwei ein Fragiles-X-Syndrom haben, begrüße ich die Entscheidung des Bundestages, die PID in engen Grenzen zuzulassen. Durch die PID erhalten Familien kein Recht auf ein gesundes Kind. Sie erhalten eine Chance auf ein Kind ohne die eine, spezielle Behinderung, für die sie ein hohes genetisch bedingtes Risiko tragen. In meinem Fall heißt hoch 50 Prozent. Die PID ist ein physisch und psychisch hochbelastendes Verfahren, dem sich Familien in großer Not stellen – trotz der Ängste, Schmerzen und Enttäuschungen, die es mit sich bringt. Oft versorgen sie schon ein Kind oder einen Verwandten mit Behinderung oder sind selbst betroffen. Diese Familien haben nicht die Sorge, ein Kind mit Be- hinderung nicht lieben zu können, sondern die Sorge, einem Kind mit Behinderung nicht gerecht werden zu können. Die neue Rechtslage traut denen, die die Konsequenzen in Gestalt der Herausforderungen des Alltags mit einem Kind mit Behinderung tragen würden, endlich die Kompetenz der Entscheidung zu. Sie erhalten ein Stück Selbstbestimmung in einem Schicksal zurück, das sie sich nicht aussuchen konnten. Die Zulassung der PID entbindet die Gesellschaft nicht davon, die Belange von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen von Anfang an zu berücksichtigen. Die soziale Konstruktion von Behinderung findet nicht im Reagenzglas, sondern im Leben statt. Gesa Borek, Hamburg DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG bis zum 7. Juli hatten sich 178 Abgeordnete noch nicht per Unterschrift einer der drei Vorlagen angeschlossen. Einen Fraktionszwang gab es nicht, und auch der federführende Gesundheitsausschuss hatte keine Empfehlung ausgesprochen. Entsprechend emotional rangen in einer fast vierstündigen Debatte die Parlamentarier um ihre Position und warben bei den Unentschlossenen für den von ihnen unterstützten Antrag. „Eltern mit einer schweren Erbkrankheit wünschen sich sehnlichst ein gesundes Kind“, mahnte Ulrike Flach (FDP). „Sie verstehen nicht, warum sie in Deutschland keine Hilfe bekommen.“ Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium warnte zudem, ein Verbot der PID würde vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Sie hatte gemeinsam mit Peter Hintze (CDU) den Gesetzentwurf eingebracht, der die PID eingeschränkt erlaubt und für den schließlich die meisten Abgeordneten stimmten. Bereits zuvor hatten ihn 215 Parlamentarier unterzeichnet. Flach wies erneut die Befürchtung zurück, dass mit der begrenzten Zulassung ein Dammbruch absehbar sei. Es gehe nur um wenige hundert Fälle, und über jeden einzelnen werde eine Ethikkommission entscheiden, bekräftigte sie. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung war im Entwurf noch ergänzt worden, dass die Bundesregierung „durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates“ Anzahl und Zulassungsvoraussetzungen der PID-Zentren regeln soll. In der Rechtsverordnung sollen ferner die Details zur Einrichtung, Zusammensetzung, Verfahrensweise und Finanzierung der Ethikkommissionen für PID bestimmt werden. Unterstützt wurden Flach und Hintze unter anderen vom SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach, der der PID umgehen“, sagte sie und appellierte an die Abgeordneten, eine „Lösung mit Augenmaß“ zu finden: „Trauen wir den Menschen, den Eltern, etwas zu.“ Ebenfalls sehr emotional verwies Rudolf Henke (CDU) auf das Schicksal seines Bruders, der keine fünf Stunden gelebt habe. „Ich erinnere mich an Besuche jahrzehntelang am Grab“, berichtete er und plädierte für ein striktes Verbot der PID und damit für den Antrag der Parlamentarier um Katrin GöringEckardt und Birgitt Bender von der „Das Leben ohne Behinderung wird durch die Zulassung der PID als höher, als lebenswerter bewertet. “ Doris Michel CDU-Politikerin Katherina Reiche und dem Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag sowie von Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU). Diese berichtete von ihren Erfahrungen als junge Ärztin auf der Geburtsstation. Damals habe sie geglaubt, alles zu wissen. „Aber die Wucht des Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt haben mich still werden lassen“, sagte die Mutter von sieben Kindern. Allein auf den Eltern laste die Verantwortung vor Gott, vor dem ungeborenen Leben und vor den eigenen Kindern. „Die deutsche Ärzteschaft und die Eltern werden verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten BETROFFENE CONTRA PID Die Entscheidung ist gefallen, leider nicht in meinem Sinne! Ich habe große Angst, dass durch die Zulassung der PID das Leben behinderter Menschen infrage gestellt wird. Die PID verspricht der Mutter, ein gesundes Kind zu gebären. Aber was ist, wenn es bei der Geburt zu Komplikationen kommt? Es wird gesagt, dass durch die PID die Schwangerschaftsabbrüche abnehmen werden. Doch dies entspricht nicht den Erfahrungen. Auch über Fehldiagnosen wird nicht gesprochen! Sicher, die PID stellt nicht die Menschen mit Behinderungen infrage. Aber das Leben ohne Behinderung wird durch die Zulassung der PID hö- her bewertet, als lebenswerter! Die Erfahrungen in Forschung und Entwicklung zeigen, dass Grenzen und Abgrenzungen immer wieder durchbrochen werden. So wird es auch mit der PID geschehen: Es werden Ausnahmefälle konstruiert werden. Irgendwann wird man sich fragen, warum überhaupt noch behinderte Menschen geboren werden müssen. Ich hoffe und wünsche, dass viele Ärzte und Ärztinnen die Mütter dahingehend beraten und unterstützen, dass diese den behinderten Embryo annehmen. Ich bin kleinwüchsig (Achondroplasie) und lebe sehr gut mit meiner Behinderung, so wie viele andere kleinwüchsige Menschen, die ich kenne. Doris Michel, Horneburg Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie dem Unions-Fraktionsvize Johannes Singhammer (CSU). „Die Entscheidung über die Zulassung der PID betrifft nicht nur wenige, sondern die Gesellschaft als Ganzes“, mahnte Göring-Eckardt. Mehr als ein Dammbruch sei bereits in dem Antrag von Ulrike Flach, der die PID in Deutschland genehmigen wolle, angelegt. „Die PID wäre ein fundamentaler Paradigmenwechsel, denn wir würden eine Qualitätsüberprüfung menschlichen Lebens ermöglichen“, appellierte auch der SPDPolitiker Wolfgang Thierse an die Abgeordneten. „Wir sollten das nicht tun.“ Angeschlossen hatten sich diesem Antrag, der schließlich mit 260 zu 326 Stimmen scheiterte, im Vorfeld 193 Abgeordnete, unter anderem auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der UnionsFraktionschef Volker Kauder (CDU), der Patientenbeauftragte Wolfgang Zöller (CSU) sowie der im Rollstuhl sitzende Abgeordnete der Linken Ilja Seifert. Gesa Borek kann es noch kaum glauben, dass nun die PID gesetzlich auch in Deutschland erlaubt sein wird. Es sei gut, wenn sich jede Familie frei entscheiden könne, meint sie. Denn das alltägliche Leben sei oftmals eine Gratwanderung: „Manchmal frage ich mich, ob ich meinen nichtbehinderten Kindern nicht zu viel zumute.“ ▄ Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann 18 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 28–29, 18. Juli 2011 REAKTIONEN AUF DIE PID-ENTSCHEIDUNG Zustimmung und Kritik Die Bundesärztekammer will daran mitwirken, dass das Verfahren unter kontrollierten Bedingungen angewendet werden kann. Vertreter der Kirchen bedauern das Votum des Bundestages. chon kurz nach Ende der Bundestagsdebatte zur Präimplantationsdiagnostik (PID) gab es die ersten Reaktionen. Die Entscheidung wurde erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aufgenommen. Für einen verantwortungsvollen Umgang mit der PID hat sich der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, ausgesprochen. Er teilte mit, dass „wir Ärzte Verantwortung übernehmen werden, dass dieses Verfahren unter kontrollierten Bedingungen und nur bei vorheriger fachkundiger S Kommissionen bei den Ärztekammern, besetzt mit Ärzten, Psychologen, Theologen, Ethikern und Juristen, die einzelnen Behandlungsfälle in anonymisierter Form vorab zur Beurteilung vorgelegt werden. „Wir Ärzte werden dafür sorgen, dass die betroffenen Paare eine gute psychosoziale Betreuung und Beratung bekommen.“ Auch der Präsident der Ärztekammer Berlin, Dr. med. Günther Jonitz, fordert, „dass für die Durchführung der PID genaue Regelungen getroffen werden müssen. Es geht hier ausschließlich um den Schutz der Mütter und der werdenden Eltern. Das ,Baby nach Maß’ muss strikt verboten bleiben!“ Grundsätzlich begrüßte Jonitz die Entscheidung des Bundestages. Bei einer Ablehnung der PID hätten aus medizinischer Sicht auch Abtreibungen verboten werden müssen, sagte er. „Selektion von Embryonen“ Die Schlagzeilen der Tageszeitungen am 8. Juli kommentierten die Bundestagsentscheidung. 19 Beratung angewendet wird. Wir wollen auf keinen Fall, dass die PID ein Routineverfahren der In-vitroFertilisation wird. Sie muss auf wenige und ganz bestimmte Indikationen begrenzt werden.“ Keine Indikationen für die PID dürften Geschlechtsbestimmungen ohne Krankheitsbezug, das Alter der Eltern oder Maßnahmen der assistierten Reproduktion im Allgemeinen sein. „Mit uns wird es kein Designerbaby geben und auch kein sogenanntes Retterbaby, das nur einem erkrankten Kind als Ersatzteillager dienen soll. Wir sind auch gegen einen Katalog bestimmter Krankheiten“, betonte Montgomery. Vielmehr sollten den Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, begrüßte es, dass nun Rechtssicherheit herrsche. Er würdigte auch den Entscheidungsprozess der Politikerinnen und Politiker. „Sie haben sich Zeit gelassen, mit großem Ernst gedacht und diskutiert und, wie es dieser Sache angemessen ist, fraktionsübergreifend der persönlichen Entscheidung Raum gegeben.“ Schneider meinte auch, dass Fortpflanzungsmedizin in Deutschland mit großem Verantwortungsbewusstsein betrieben und in Anspruch genommen werde. „Ich möchte Medizinerinnen und Medizinern sowie den Paaren nicht mit einem grundsätzlichen Misstrauen gegenübertreten.“ Allerdings hält der EKD-Vorsitzende die Freigabe der Präimplantationsdiagnostik für „zu weit gehend“. Er hätte eine Zu- lassung der PID nur für den Ausnahmefall einer mit großer Wahrscheinlichkeit drohenden Tot- oder Fehlgeburt persönlich vorgezogen. Auf sehr viel schärfere Kritik stößt die geplante Neuregelung beim Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch: „So sehr wir die Nöte von Eltern verstehen und den Wunsch nach einem gesunden Kind nachvollziehen können; die Selektion von menschlichen Embryonen verstößt gegen das Achtungsgebot der Menschenwürde, die jedem Menschen von Anbeginn zuteil ist.“ Jeder Mensch sei einmalig als Person und Träger seiner unverfügbaren Würde, unabhängig von seinem Entwicklungsstand, seinen aktuellen Fähigkeiten, seinen Begabungen, Stärken, Schwächen oder seiner sozialen Stellung, und zwar in allen Phasen seines Daseins. „Guter und vertretbarer Weg“ Auch der Europaabgeordnete Peter Liese (EVP-Christdemokraten) bedauert das Votum des Bundestages. „PID ist keine menschenfreundliche Methode und garantiert auch kein gesundes Kind. Ich hoffe sehr, dass die Entscheidung nicht der Startschuss für die Abschaffung des Embryonenschutzgesetzes war“, betont Liese. Das einzig Gute an der PID-Diskussion sei, dass von allen Seiten darauf hingewiesen worden sei, dass eine Abtreibung ethisch problematisch sei und auch für die Frau eine große Belastung bedeute. Der schleswig-holsteinische Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) dagegen hält die getroffene Entscheidung für einen „guten und vertretbaren Weg“. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung befürchtet, dass die PID künftig bei vielen Paaren angewandt wird und Behinderung als vermeidbar erscheinen lässt. „Die Lebenshilfe hat sich für ein anderes Ergebnis eingesetzt. Viele Menschen mit Behinderungen müssen diese Entscheidung als diskriminierend empfinden“, sagte der Vorsitzende der Bundesvereinigung, Robert Antretter. ▄ Gisela Klinkhammer DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 28–29, 18. Juli 2011 STAMMZELLFORSCHUNG Wie man eine Herzinsuffizienz verhindern will Unterschiedliche zelltherapeutische Ansätze werden derzeit zur Regeneration des Myokardgewebes nach Herzinfarkt entwickelt. tammzellforschung auf dem Abstellgleis? Fast mag man es annehmen, wenn man die öffentliche Berichterstattung verfolgt. Ganz anders schätzt Prof. Dr. med. Jürgen Hescheler (Klinikum der Universität Köln) die Situation ein: „Von der Öffentlichkeit ein wenig unbemerkt geht es bei der Stammzellforschung gerade sehr schnell voran“, sagte er auf dem 21. Symposium für Intensivmedizin und Intensivpflege in Bremen. Vor dem Hintergrund vieler „echter“ intensivmedizinischer Themen auf dem Kongress, schien dieser Bereich zunächst ein wenig exotisch. Doch Hescheler schlug die Brücke über die – noch hypothetische – klinische Anwendung von Herzmuskelzellen, die aus pluripotenten Stammzellen gewonnen werden könnten: „Die Kardiomyozyten müssen nach der Transplantation zunächst ausreifen. In dieser Phase muss der Patient engmaschig versorgt werden, die Intensivmedizin sollte also vorbereitet sein.“ Schon seit Jahren wird über die Möglichkeiten einer Stammzelltherapie zur Reparatur des geschädigten Myokards nach Herzinfarkt diskutiert. Hierbei können bis zu eine Milliarde Kardiomyozyten absterben. Wenn es gelänge, die Geweberegeneration zu fördern, die Narbenbildung zu minimieren und die Angiogenese im Infarktrandbereich zu stimulieren, könnte einer Verminderung der Pumpfunktion und Entwicklung einer Herzinsuffizienz entgegengewirkt werden. Denn die Sterblichkeit nach Herzinfarkt ist durch ein gutes Funktionieren der Rettungskette zwar deutlich gesunken; gleichzeitig hat die Inzidenz der Herzinsuffizienz aber Foto: mauritius images S deutlich zugenommen, da immer mehr Patienten mit großem Infarkt überleben. „Wir haben gute Therapieoptionen für die initiale Phase nach Infarkt, jedoch bislang keine spezifische Therapie, um die Heilungsphase zu unterstützen“, sagte Prof. Dr. med. Kai Wollert (Medizinische Hochschule Hannover/ MHH). Nicht alle Studien beobachten Steigerung der Pumpleistung Mehrere klinische Studien haben untersucht, ob sich eine Applikation von Knochenmarkzellen nach Herzinfarkt günstig auf den Heilungsprozess auswirkt. Hierfür werden dem Patienten Knochenmarkzellen – darunter befinden sich adulte Stamm- und Progenitor-Zellpopulationen, aber auch ausdifferenzierte Knochenmarkzellen – über die Koronararterien verabreicht. Die an der MHH vor acht Jahren gestartete und inzwischen abgeschlossene BOOST-Studie an Die Therapie mit Stammzellen verfolgt das Konzept, verlorengegangenes Myokard zu regenerieren und unterscheidet sich hierdurch grundlegend von allen bisherigen Therapieverfahren bei Herzinsuffizienz. 60 Patienten überprüfte die Herzfunktion mittels Magnetresonanztomographie sechs , 18 und 61 Monate nach dem Zelltransfer. „Nach sechs Monaten hatte sich die linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LVEF) der Behandelten im Vergleich zu den Kontrollpatienten um sechs Prozent verbessert. 18 und 61 Monate nach einmaliger Zellgabe waren die Effekte allerdings statistisch nicht mehr signifikant“, sagte Wollert. Auch andere – aber nicht alle Studien der letzten Jahre – beobachteten vier bis sechs Monate nach Knochenmarkzellgabe eine Steigerung der Pumpleistung, wobei Patienten mit stark eingeschränkter LVEF offenbar am meisten profitierten (1). Die unterschiedlichen Ergebnisse kämen möglicherweise durch abweichende Studienprotokolle zustande, erklärte Wollert. Es sei nicht unerheblich für den Ausgang einer Studie, wie die Knochenmarkzellen isoliert und welche Patienten ausgewählt würden. Aktuell laufen international mehrere Studien zu dieser Frage; an der MHH wird in Zusammenarbeit mit zehn deutschen Zentren im Rahmen der BOOST-2-Studie getestet, welchen Einfluss verschiedene Zeitpunkte, Verabreichungswege und verschiedene Zelltypen auf den Erfolg der Therapie haben. Natürlich stellt sich die Frage nach dem Mechanismus der beobachteten Effekte. „Wir wissen inzwischen, dass manche der transferierten Knochenmarkzellen im Herzgewebe zurückgehalten werden“, sagte Wollert. „Allerdings wandeln sich die Zellen dort nicht in Kardiomyozyten um, sondern verschwinden nach einiger Zeit wieder.“ Deswegen verfolgt das MHH- 20 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Team inzwischen eine andere Hypothese: „Möglicherweise brauchen wir die Zellen nicht in dieser Form, denn für den therapeutischen Effekt sind vielmehr Wachstumsfaktoren verantwortlich, die die transplantierten Zellen freisetzen“, berichtete Wollert. Knochenmarkzellen fungierten dabei gleichsam als „Zytokinfabriken“, die einen ganzen Cocktail an Signalstoffen und Wachstumsfaktoren ins Infarktgebiet hineintrügen. Ein Wachstumsfaktor aus der Embryonalzeit Mit Hilfe von Mikroarrayanalysen charakterisierten die Forscher das Sekretom der Knochenmarkzellen, das sich quantitativ deutlich etwa von demjenigen der Blutleukozyten unterscheidet (2). Sezerniert werden unter anderem Faktoren mit proangiogenetischer Wirkung. Aktuell konzentriert sich Wollerts Team hier auf den „Fibroblast growth factor 9“ (FGF9). Dieser Faktor fördert die Gefäßbildung im Herzen während der Embryonalentwicklung, ist im adulten Herzen aber kaum vorhanden. „Die Knochenmarkzelltherapie bringt also einen Wachstumsfaktor aus der Embryonalzeit ins infarktgeschädigte Herz ein“, sagte Wollert. In einem transgenen Mausmodell, in dem die Expression des FGF9 im adulten Herzmuskel wieder „angeschaltet“ werden kann, stimulierte der Wachstumsfaktor die Angiogenese und verringerte die Fibrose im Myokard nach Herzinfarkt (3). Dadurch nahm bei den Mäusen die linksventrikuläre Funktion zu und ihre Sterblichkeit ab. „Diese Beobachtungen belegen, wie durch einen einzigen sezernierten Faktor Heilungsprozesse stimuliert und Komplikationen nach Infarkt dramatisch reduziert werden könnten“, sagte Wollert. Eine Applikation dieses (und anderer) parakriner Faktoren hätte potenzielle Vorteile gegenüber einer Zelltherapie. Wachstumsfaktoren könnten industriell produziert und nichtinvasiv appliziert werden. Die aufwendige Gewinnung von Knochenmarkzellen würde entfallen. Zytokincocktails könnten zudem im 21 Gegensatz zur Knochenmarkzelltherapie patentiert werden und so auf ein größeres Interesse bei der Industrie stoßen, so Wollert. Im Gegensatz dazu geht es für Hescheler ohne Zellen überhaupt nicht. Der Kölner Stammzellforscher ist überzeugt davon, mit Hilfe von pluripotenten Stammzellen nicht nur zur Regeneration des geschädigten Herzmuskels beitragen zu können: „Es gibt unzählige Einsatzmöglichkeiten für diese Stammzellen.“ Bereits 1991 hatte Hescheler zusammen mit anderen Forschern gezeigt, dass pluripotente embryonale Stammzellen der Maus unter bestimmten Kulturbedingungen zu funktionellen Kardiomyozyten ausdifferenzieren (4). Doch nicht nur die ethischen Bedenken sind ein großes Hindernis dafür, dass aus humanen embryonalen Stammzellen gezüchtetes „Reparaturgewebe“ zum klinischen Einsatz kommt. Auch gibt es bisher keine Strategien, um die Abstoßungsreaktion, die der Körper natürlich auch gegen dieses fremde Gewebe einleitet, zu verhindern. Ein Ausweg könnte eine vor fünf Jahren vom japanischen Arzt und Stammzellforscher Shin`ya Yamanaka entwickelte Technik sein: durch die Zugabe sogenannter Reprogrammierungsfaktoren wandeln sich im Labor bereits ausdifferenzierte Körperzellen in pluripotente Stammzellen um. Diese „induzierten pluripotenten Stammzellen“, kurz iPS, können bei Bedarf etwa aus Hautzellen eines jeden Menschen gewonnen werden. Inzwischen werden für die Rückverwandlung der ausdifferenzierten Körperzellen auch nicht mehr unbedingt Viren als Genfähren benötigt, wie es anfangs der Fall war. Allein durch die Zugabe eines Proteincocktails wird ein Umschalten gewisser Gene in der ausdifferenzierten Körperzelle ausgelöst und die gewünschten Stammzellqualitäten erzeugt. Aktuell wird unter Wissenschaftlern jedoch angezweifelt, ob die iPS und die embryonalen Stammzellen sowie das aus ihnen hergestellte Gewebe qualitativ überhaupt vergleichbar sind. Prof. Dr. rer. nat. Hans Schöler vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster etwa gibt sich skeptisch. Zur Transplantation würde er die iPS beziehungsweise deren Abkömmlinge vorerst nicht einsetzen. Auch Heschelers Team prüft die Eignung der iPS. Die Kölner Forscher haben untersucht, ob sich Kardiomyozyten, die im Labor aus iPS gewonnen wurden, von Herzmuskelzellen unterscheiden, die aus embryonalen Stammzellen entstanden sind (5). Das von beiden Zelltypen angelegte Expressionsprofil von etwa 40 000 Genen, zeigte eine deutliche Anreicherung kardiospezifischer Transkripte. Unterschiede gab es bei der Expression von 1,9 Prozent der abgelesenen Gene. „Wir müssen nun schauen, ob diese Unterschiede physiologische Konsequenzen haben“, sagte Hescheler. Ob also die Funktionsfähigkeit des im Labor aus iPS gezüchteten Reparaturgewebes einschränkt ist, werde sich zeigen müssen. Zugabe von Fibroblasten wird im Mausmodell getestet Dennoch glaubt Hescheler an einen baldigen klinischen Einsatz: „In vier, fünf Jahren, wird es erste Therapien geben.“ Bevor es soweit ist, gilt es jedoch noch eine weitere Hürde zu nehmen. Unklar ist bisher, wie man das im Labor gezüchtete Ersatzgewebe am besten dorthin bekommt, wo es benötigt wird – etwa in das durch den Infarkt versehrte Gewebeareal im Herzen. Ideal wäre es, wenn die Zellen einfach in den Blutkreislauf gegeben und diese über ein „Homing“ ganz allein ihren Zielort finden würden, sagte Hescheler. Auch eine Verabreichung über die Koronarien ist denkbar. Allerdings geht der Kölner davon aus, dass man die Herzzellen künftig nicht allein wird transplantieren können. Möglicherweise wird eine Zugabe von Fibroblasten den Einbau in das geschädigte Myokard begünstigen. Aktuell testet Heschelers Team das Verfah▄ ren am Mausmodell. Dr. rer. nat. Ulrike Gebhardt @ Literatur im Internet: www.aerzteblatt.de/lit2811 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 28–29, 18. Juli 2011 LITERATIRVERZEICHNIS HEFT 28–29/2011, ZU: STAMMZELLFORSCHUNG Wie man eine Herzinsuffizienz verhindern will Unterschiedliche zelltherapeutische Ansätze werden derzeit zur Regeneration des Myokardgewebes nach Herzinfarkt entwickelt. LITERATUR 1. Wollert KC, Drexler H: Cell therapy fort he treatment of coronary heart disease: a critical appraisal. Nat Rev Cardiol 2010; 7: 204–15. 2. Korf-Klingebiel M, et al.: Bone marrow cells are a rich source of growth factors and cytokines: implications for cell therapy trials after myocardial infarction. Eur Heart J 2008; 29(23): 2851–8. 3. Korf-Klingebiel M, et al.: Conditional transgenic expression of fibroblast growth factor 9 in the adult mouse heart reduces heart failure mortality after myocardial infarction. Circulation 2011; 123: 504–14. 4. Wobus AM, et al.: Pluripotent mouse embryonic stem cells are able to differentiate into cardiomyocytes expressing chronotropic responses to adrenergic and cholinergic agents and Ca2+ channel blockers. Differentiation 1991; 48: 173–82. 5. Gupta MK, et al.: Global transcriptional profiles of beating clusters derived from human induced pluripotent stem cells and embryonic stem cells are highly similar. BMC Developmental Biology 2010; 10: 98. 22 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 31–32, 8. August 2011 BUNDESÄRZTEKAMMER Bekanntmachungen Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik (PID) Vorwort Durch das im Juli 2010 verkündete Urteil des Bundesgerichtshofes wurde die Debatte zur Präimplantationsdiagnostik (PID) an mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) erzeugten Embryonen neu entfacht. Galt die PID in den vergangenen Jahren in Deutschland nach überwiegender Rechtsmeinung noch als verboten, kam das Gericht in seinem Urteil zu dem Schluss, dass die genetische Untersuchung an nicht mehr totipotenten embryonalen Zellen rechtlich zulässig ist. In seinem Urteil wies der Bundesgerichtshof aber auch darauf hin, „dass eine eindeutige gesetzliche Regelung der Materie wünschenswert wäre“. Die erhebliche öffentliche Resonanz infolge dieser höchstrichterlichen Entscheidung hat den Gesetzgeber zum Handeln veranlasst. Nach intensiven Beratungen hat sich der Deutsche Bundestag in namentlicher Abstimmung und unter Aussetzung des Fraktionszwanges am 07. Juli 2011 mit dem Präimplantationsdiagnostikgesetz für eine begrenzte Zulassung der PID entschieden und damit das Embryonenschutzgesetz entsprechend geändert. Mit Blick auf diese legislative Entscheidungsnotwendigkeit hatte eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und des Vorstands der Bundesärztekammer in dem vorliegenden Memorandum Vorschläge zur Ausgestaltung einer gesetzlichen Reform erarbeitet. Auch der 114. Deutsche Ärztetag hatte sich im Juni 2011 auf der Basis dieses Memorandums ausführlich mit der PID befasst. Im Ergebnis der Debatte haben 204 der insgesamt 250 Delegierten bei 33 Gegenstimmen das Memorandum bestätigt und damit die Position der Ärzteschaft neu bestimmt. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Präambel Der Bundesgerichtshof hat am 06. Juli 2010 ein Grundsatzurteil zur Präimplantationsdiagnostik (PID) gefällt. In dieser Entscheidung hat er einen Arzt freigesprochen, der in den Jahren 2005 und 2006 bei Paaren, die ein hohes Risiko für eine schwere genetische Störung ihrer Kinder aufwiesen, mit Hilfe der Invitro-Fertilisation Schwangerschaften erzeugt hat. An der nicht mehr totipotenten Zelle hatte er vor der Übertragung in die Gebärmutter eine genetische Untersuchung der Embryonen 23 Dieses eindeutige Votum der deutschen Ärzteschaft für eine Zulassung der PID in bestimmten Grenzen und unter kontrollierten Verfahrensvoraussetzungen war stets und ist auch weiterhin eng verbunden mit der Bereitschaft, Verantwortung in dieser für die Gesellschaft wichtigen Frage zu übernehmen. So hatte sich die Bundesärztekammer bereits im Jahr 2000 intensiv mit den von der PID berührten medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen befasst und den „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur PID“ vorgelegt, um „einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion auf diesem so schwierigen und sensiblen Gebiet der Fortpflanzungsmedizin zu leisten“. Angesichts dieser wegweisenden Vorarbeiten einerseits und des u. a. im Koalitionsvertrag verankerten Bekenntnisses der Regierungsfraktionen zur Selbstverwaltung als einem tragenden Ordnungsprinzip im deutschen Gesundheitswesen andererseits gilt es nun, die näheren Verfahrensregelungen zum Präimplantationsdiagnostikgesetz für die Beratung, die Einwilligung, die Zulassung zur PID, die Lizenzierung der Zentren und die Qualitätssicherung zu entwickeln und einer medizinisch adäquaten Umsetzung zuzuführen. Die Ausgestaltung der hierfür notwendigen Verordnung der Bundesregierung liegt daher im ganz besonderen Interesse der betroffenen Paare sowie der die PID durchführenden Ärztinnen und Ärzte. Mit dieser Veröffentlichung des Memorandums dokumentiert die Ärzteschaft gegenüber den politischen Entscheidungsträgern nicht nur ihre Sachkunde, sondern auch ihr Verantwortungsbewusstsein in dieser gesellschaftlich wichtigen Frage und ihr Angebot zur Mitgestaltung der näheren Regelungen zur PID. Berlin im Juli 2011 Prof. Dr. med. Dr. h. c. Peter C. Scriba Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer durchgeführt und dabei nur diejenigen Embryonen in die Gebärmutter transferiert, die den untersuchten Gendefekt nicht aufwiesen (4, 5). Bis dahin erschien nach oft vertretener Auffassung die PID durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, dass eine PID mittels Gewinnung und Untersuchung nicht mehr totipotenter Zellen rechtlich zulässig ist. Es liege am Gesetzgeber, für die PID einen neuen Rahmen zu setzen. DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Die Bundesärztekammer (BÄK) hat bereits im Jahr 2000 durch ihren Wissenschaftlichen Beirat (WBR) einen „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ veröffentlicht (12) und die ausgelöste öffentliche Diskussion in einer ergänzenden Stellungnahme aufgearbeitet. Diese wurde am 19. 10. 2001 vom Vorstand der BÄK und am 15. 12. 2001 vom Plenum des WBR verabschiedet (13). Wie bekannt hat der 105. Deutsche Ärztetag in Rostock 2002 allerdings mit 91 JaStimmen bei 82 Nein-Stimmen und einigen Enthaltungen eine Ablehnung der PID beschlossen. Die im Vorwort des Diskussionsentwurfes vertretenen Positionen zum ärztlichen, ethischen und juristischen Hintergrund der PID sind sachlich nach wie vor tragfähig. Auch das seinerzeit beschriebene enge Indikationsspektrum mit Einzelfallprüfung, welches sich auf Paare mit einem hohen Risiko für eine dem Paar bekannte schwere genetisch bedingte Erkrankung beschränkt und somit weit hinter dem der konventionellen vorgeburtlichen Diagnostik (Pränataldiagnostik = PND) zurückbleibt, sowie die strengen Zulassungs- und Durchführungsbedingungen werden weiterhin vertreten (28). Der Nationale Ethikrat hat im Jahre 2003 ebenso wie die Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz in ihren Berichten aus den Jahren 1999 und 2005 die gleiche mehrheitlich zustimmende Position vertreten (7, 8, 46). 1. Definition Unter Präimplantationsdiagnostik (PID)* versteht man die (invasive) Diagnostik an durch In-vitro-Fertilisation (IVF) entstandenen, kultivierten Embryonen vor dem Embryotransfer (ET) in die Gebärmutter hinsichtlich Veränderungen des Erbmaterials, die eine schwere Erkrankung zur Folge haben können. Die PID ist nur im weiteren Sinne ein pränatalmedizinisches Verfahren, da die Diagnostik vor der Einnistung des Embryos, d. h. vor dem Beginn der Schwangerschaft stattfindet. 2. Zukünftige Durchführung der PID in Deutschland Die Entnahme (Biopsie) der Zelle(n) zur genetischen Diagnostik erfolgt nach dem 8-Zellstadium, in welchem nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis die Blastomeren pluripotent sind, d. h. keine Totipotenz mehr besitzen, oder danach im Blastozystenstadium (Trophektodermbiopsie). Nach jetziger Erkenntnis besteht bei sachgemäßer Entnahme der Zelle(n) aus dem Embryo kein Verletzungsrisiko für den Embryo und ist dessen Einnistung nach dem Transfer in die Gebärmutter nicht gestört. Nur die von der untersuchten Erkrankung nicht betroffenen Embryonen werden in die Gebärmutter der Frau transferiert. 3. Indikationsspektrum Ziel der PID in Deutschland ist es, Paaren mit hohem genetischem Risiko zu einer Schwangerschaft mit einem von dieser genetischen Erkrankung unbelasteten Embryo zu verhelfen. Eine PID sollte nach gegenwärtigem Erkenntnisstand anamnestisch stark belasteten Paaren angeboten werden können, für deren Nachkommen ein hohes Risiko einer familiär bekannten und schwerwiegenden, genetisch bedingten Erkrankung besteht (z. B. Muskeldystrophie Duchenne, vgl. Abschnitt 4). * Im internationalen Raum wird die englische Abkürzung PGD (preimplantation genetic diagnosis) verwendet. Sie definiert die PID im engeren, genetisch diagnostischen Sinn. Bei der PID darf nur auf diejenige Veränderung des Erbmaterials untersucht werden, die zu der infrage stehenden schweren genetischen Erkrankung führt. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind dies monogenetisch bedingte Erkrankungen sowie numerische und strukturelle Chromosomenstörungen. Keine Indikationen für PID sind insbesondere Geschlechtsbestimmung ohne Krankheitsbezug, Alter der Eltern und Maßnahmen der assistierten Reproduktion im Allgemeinen. 4. Medizinische Aspekte und Ergebnisse Da in Deutschland keine Ergebnisse zur PID vorliegen, werden im Folgenden internationale Ergebnisse dargestellt. Die European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) erhebt über ihr „Preimplantation Genetic Diagnostic (PGD) Consortium“ seit 1997 kontinuierlich Daten. Nach dem jüngsten Konsortiumsbericht (2010) liegen Erfahrungen mit der PID von 57 „Zentren“ vor (26). Es wurden auch Daten erfasst von Ländern, die keine eindeutige gesetzliche Regelung haben, sowie von außereuropäischen Ländern (Argentinien, Australien, Brasilien, Israel, Japan, Taiwan, Türkei und USA) (26). Im Beobachtungszeitraum 1997–2008 wurden kumulativ 27 630 Fälle der Präimplantationsdiagnostik erfasst. Eine Präimplantationsdiagnostik im engeren Sinne kann durchgeführt werden als Diagnostik zur Erfassung von bestimmten genetischen Auffälligkeiten. Davon zu unterscheiden sind das Präimplantationsscreening zur möglichen Erhöhung der Geburtenrate bei künstlicher Befruchtung (IVF) ohne genetischen Hintergrund sowie eine Präimplantationsdiagnostik zur Geschlechtswahl („social sexing“). Im selben Beobachtungszeitraum wurden 10 153 Fälle der Präimplantationsdiagnostik (PID) im engeren Sinne dokumentiert (36,5 % aller Fälle). Die vorliegenden Daten wurden sowohl an totipotenten (Embryo bis Acht-Zell-Stadium) wie an pluripotenten Zellen (Embryo nach dem Acht-Zell-Stadium) erhoben, wobei in den meisten Fällen die PID am Embryo im Acht-Zell-Stadium erfolgte. Die hauptsächlichen Indikationen für eine PID waren chromosomale Anomalien (n = 4 253) wie z. B. die sog. Robertsonsche Translokation oder reziproke Translokationen. In 1 167 Fällen wurden Untersuchungen für X-chromosomal gebundene Erkrankungen durchgeführt. Bei den monogenetischen Erkrankungen (n = 4 733) dominieren die Untersuchungen auf zystische Fibrose (Mukoviszidose), auf Betathalassämie, myotone Dystrophie sowie Morbus Huntington. Die klinische Schwangerschaftsrate wird mit 26 % pro Embryotransfer angegeben, was in etwa der Schwangerschaftsrate nach IVF entspricht (26). Davon abgesehen wurde in 16 806 Fällen ein Präimplantationsscreening (PIS), d. h. die ungezielte Untersuchung der Embryonen auf numerische chromosomale Störungen, durchgeführt (61 % aller Fälle). Die Indikationen waren vorrangig das Alter der Frau, IVF-Versagen und wiederholte Fehlgeburten. Die Erwartung, die Schwangerschaftsrate insbesondere bei Frauen über 37 Jahren zu erhöhen, hat sich jedoch nicht erfüllt (17, 42, 57). Auch die Fehlgeburtenrate wurde nicht reduziert. Sowohl die ESHRE als auch die Amerikanische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (ASRM) haben festgehalten, dass das PIS derzeit kein Routineverfahren darstellt (19). 24 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Zu den nach PID bzw. PIS geborenen Kindern liegen Datensätze von insgesamt 4 140 Geburten vor (26). Die Geburtenrate ist im Wesentlichen abhängig vom Alter der Frau (58). Eine falschnegative Diagnose durch PID wurde in insgesamt 28 Fällen für diesen Zeitraum dokumentiert (26). Bezogen auf die implantierten Embryonen waren dieses 0,3 % beim PIS, 0,5 % bei Translokationen, 1,0 % bei monogenetischen Erkrankungen und 1,7 % bei der Untersuchung von X-chromosomal gebundenen Erkrankungen (61). Die Rate an kongenitalen Fehlbildungen nach PID scheint insgesamt nicht erhöht (39, 54). Zur Inzidenz an pränataldiagnostischen Maßnahmen (z. B. Amniozentese) nach zuvor durchgeführter PID liegen keine belastbaren Daten vor. In den Daten des PGD-Konsortiums beträgt der Anteil der PID-Zyklen (inklusive PIS) im Verhältnis zu allen durchgeführten IVF-Zyklen etwa 0,3–0,4 % (24). In England wurden 0,42 % für das Jahr 2008 gemeldet (29). Dementsprechend müsste man in Deutschland von etwa 200 Paaren pro Jahr ausgehen. Den internationalen Erfahrungen gemäß sind durchschnittlich sieben Präimplantationsembryonen notwendig, um nach den vorgesehenen genetischen Untersuchungen wenigstens zwei nicht betroffene Embryonen für eine Übertragung zur Verfügung zu haben. Überzählige Embryonen lassen sich weitgehend vermeiden, zumal tatsächlich überzählige, nicht betroffene Embryonen für einen späteren Zyklus eingefroren werden (22, 24). Als Alternative zur PID wird auch die Polkörperdiagnostik (PKD) diskutiert. Hierbei wird der erste und ggfs. zweite Polkörper der Eizelle noch vor vollendeter Befruchtung auf eine genetische Veränderung untersucht. Die PKD ist jedoch aus mehreren Gründen keine gleichwertige Alternative zur PID: Die PKD ist technisch erheblich aufwendiger, und die Polkörperbiopsie kann die Eizelle traumatisieren oder sogar zerstören. Bei der PKD werden in einem nicht unerheblichen Teil Eizellen untersucht, die ohnehin nicht entwicklungsfähig sind. Es kann auch nur das maternale Genom untersucht werden, somit scheiden paternal vererbte Erkrankungen aus. Darüber hinaus ist die PKD bei autosomal-rezessiven Erkrankungen mit einem deutlichen Mehrbedarf und Mehrverbrauch an Eizellen verbunden und damit einer zusätzlichen Gesundheitsbelastung der Patientin, da alle Eizellen mit einer erblichen Veränderung verworfen werden müssen, obwohl eine 50-prozentige Chance besteht, dass eine genetisch betroffene Eizelle mit einer genetisch nicht betroffenen Samenzelle fertilisiert werden würde, also ein phänotypisch gesundes Kind aus dieser Eizelle erwachsen könnte. Schließlich ist das Risiko einer Fehldiagnose bei PKD deutlich höher aufgrund von Rekombinationsereignissen im Rahmen der noch nicht abgeschlossenen Reifeteilung der Eizelle. Aus diesen Gründen wird die PKD im Ausland praktisch nicht angewandt (11, 14, 45). 5. Ethische Abwägungen Ethisch ist es als zulässig bzw. als „erlaubt“ anzusehen, wenn ein Paar sich unter bestimmten Voraussetzungen für eine PID entscheidet und wenn ein Arzt dieses Verfahren dann durchführt. (1) Diese Einschätzung legt bereits der Vergleich mit der Pränataldiagnostik (PND) nahe. Die PND dient einem informativen, nicht selten lebenserhaltenden und zunehmend auch intrauterin therapeutischen Zweck. Andererseits eröffnet sie die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bei bestimmten gesundheitlichen Befunden. Der Anlass zur PND kann auch eine 25 Altersindikation sein, z. B. die Antizipation einer möglichen Trisomie 21 (Down-Syndrom) des Kindes. Die PID hingegen ist eine medizinische Methode, die bei Paaren mit hohem genetischem Risiko eine „auf Probe“ begonnene Schwangerschaft sowie eine Konfliktsituation nach PND zeitlich vorwegnimmt (28, 40 [S. 408 ff.], 62). Dabei nimmt die Frau Belastungen in Kauf, die aus der hierzu erforderlichen IVF resultieren. Ethisch ist die PID im Vergleich zur PND in bestimmten Fällen, z. B. bei Muskeldystrophie Duchenne, als ein sogenanntes kleineres Übel zu bewerten, weil sie am noch ganz unentwickelten frühen Embryo erfolgt. Sie betrifft keinen weit entwickelten Fetus, der bei einem eventuellen späten Schwangerschaftsabbruch sogar bereits schmerzempfindlich ist. Darüber hinaus fällt ins Gewicht, dass die PID nur in eingegrenztem Umfang und eng gefasst lediglich angesichts schwerwiegender genetisch bedingter Krankheitsbilder infrage kommt. Paare ziehen eine PID in Betracht, wenn – anders als etwa bei der allgemeinen Altersindikation für eine PND – bei ihnen ein hohes genetisches Erkrankungsrisiko familiär bekannt ist oder wenn ein schwer krankes Kind schon geboren worden ist. Eine PND mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch wird in unserer Gesellschaft ethisch und rechtlich toleriert. Es wäre normativ widersprüchlich und kann einer Frau nicht zugemutet werden, bei familiärer genetischer Belastung als Alternative zur PID eine PND durchführen zu lassen. (2) Nimmt man zur PID eine ethische Güterabwägung vor, sind die folgenden Gesichtspunkte relevant: – einerseits die Schutzrechte pränidativer Embryonen, an denen eine PID durchgeführt wird, – andererseits die Persönlichkeitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Frau und ihres Partners, ihre Gewissensfreiheit und Gewissensverantwortung, die antizipierte physische und psychische Belastung der künftigen Mutter durch ein schwer erkranktes Kind sowie die hiermit verbundenen Sorgen der Eltern. Zu der einen Seite dieser Abwägungskonstellation, dem Lebensschutz früher Embryonen, wird in unserer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft eine Mehrzahl voneinander abweichender Standpunkte vertreten. (3) Das Verfahren der PID berührt den Schutzanspruch pränidativer Embryonen, weil krankheitsbelastete Embryonen nicht übertragen werden und weil verfahrensbedingt überzählige Embryonen entstehen können. In der Ethik und der Philosophie sind die Schutzrechte des frühen extrakorporalen Embryos mit Hilfe der sogenannten SKIP-Kriterien diskutiert worden (S = Zugehörigkeit des Embryos zur Spezies Mensch; K = Kontinuität der embryonalen Entwicklung; I = Individualität und Identität des Embryos; P = Potentialität des Embryos, sich von sich aus zum vollen Menschsein zu entwickeln). Weil der pränidative Embryo der Gattung Mensch angehört, kommt ihm menschlicher Lebensschutz zu. Jedoch ist zu beachten, dass in dieser frühen Lebensphase epigenetische Reprogrammierungen erfolgen und die spätere Identität noch nicht endgültig feststeht. Der pränidative Embryo vermag sich auch nicht allein „aus sich selbst heraus“ zum vollen Menschsein zu entfalten. Überdies enthält der Begriff der Potentialität seinerseits Unschärfen (1, 6, 33, 36 [S. 163 ff.], 47). Trotz einer umfangreichen Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Literatur sind zum Status des frühen Embryos ethisch und philosophisch weiterhin kontroverse Positionen vorhanden (30 [S. 140 ff.], 32 [S. 49–81], 41, 49). Neben einem uneingeschränkten Würdeschutz ab der Konzeption wird die Auf- DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG fassung vertreten, der Würdeschutz des vorgeburtlichen Lebens steige mit seiner Fortentwicklung graduell an. Diesem Verständnis zufolge ist der frühe extrakorporale Embryo als menschliches Leben („human life“), aber noch nicht als Mensch im eigentlichen Sinn („human being“) anzusehen (3 [S. 37 ff.], 8 [S. 52 f.], 36 [S. 169 ff.]). Auch weltanschaulich-religiös weichen die Deutungen des pränidativen Embryos voneinander ab. Im Rahmen des jüdischchristlichen Menschenbilds ist kein einhelliges Verständnis anzutreffen. Den Standpunkt eines absoluten Embryonenschutzes hat sich besonders die römisch-katholische Kirche zu eigen gemacht (34, 38). Daneben finden sich religiöse Ansichten, die dem pränidativen Embryo noch nicht den Status des vollen Menschseins zusprechen (36 [S. 150 ff.], 63). (4) Der Staat hat die Grund- und Menschenrechte zu achten und zu schützen. An dem ethischen, religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, der in unserer Gesellschaft zur Frage des Status des Embryos herrscht, kann der Gesetzgeber allerdings nicht vorbeigehen. Zu einer Frage, die die persönliche Religiosität oder Weltanschauung und die individuelle moralische Überzeugung der Bürger betrifft, sollte die Rechtspolitik einseitige Festlegungen vermeiden (8 [S. 47 ff.], 35 [S. 159 ff.]). Schon jetzt schreibt der Staat seinen Bürgern keinen uneingeschränkten Embryonenschutz vor (Spirale, „Pille danach“, Schwangerschaftsabbruch). Deshalb sollte der Staat auch in Bezug auf die PID die Pluralität der Auffassungen beachten und die Gewissensfreiheit und -verantwortung, die Persönlichkeitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht von Paaren respektieren. Vor diesem Hintergrund sollte den Paaren zur PID ein Entscheidungsspielraum offengehalten werden, den sie, gestützt auf medizinische Information, Aufklärung und umfassende, kompetente Beratung, in eigener Verantwortung gewissenhaft nutzen können. (5) Gegen die PID wird der Einwand erhoben, das Verfahren impliziere eine Diskriminierung Behinderter. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Er müsste dann allerdings erst recht gegen die PND mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch erhoben werden. Die PND ist aufgrund der Konfliktsituation der Mutter rechtlich und ethisch zulässig. Zu betonen ist überdies, dass eine PID keine „Garantie“ für ein gesundes Kind bietet. Das Basisrisiko, das bei jeder Schwangerschaft vorhanden ist, bleibt auch nach einer PID bestehen. Das Bemühen von Eltern, eine schwere genetisch bedingte Erkrankung, die ihren ihnen nicht zumutbaren Konflikt begründet, präventiv abzuwenden, richtet sich nicht gegen die Würde, Anerkennung oder Selbstachtung von Menschen, die behindert geboren wurden oder die sich im Lauf ihres Lebens eine Behinderung zuziehen. Dies ergibt sich auch aus der Aufarbeitung der langjährigen Erfahrungen mit der PND (18, 31, 37 [S. 202], 55). (6) Gesonderter Reflexion bedarf es, ob eine PID im Einzelfall zulässig sein sollte, wenn die erblich bedingte Krankheit nicht schon bald nach der Geburt, sondern erst in späteren Lebensjahren aufzutreten droht (spät manifestierende Krankheiten). Rechts- und medizinethisch kann es nicht überzeugen, hierzu ein pauschales Verbot auszusprechen. Denn ein solches Verbot würde den Eltern und dem später heranwachsenden Kind geradezu eine Pflicht zum Nichtwissen auferlegen. Die persönliche Konflikt- und Belastungssituation der Eltern würde nicht ernst genommen, und der Schweregrad von Krankheiten sowie die Wahrscheinlichkeit ihres Ausbruchs blieben unbeachtet. Aufgrund der Dynamik biologischer Prozesse wäre es schon allein medizinisch unhaltbar, einen starren Stichtag festzulegen, von dem ab Krankheiten als „spät manifestierend“ gelten (37 [S. 204 f.]). Stattdessen ist hierzu für Ärzte und Patienten das Gebot der Einzelfallverantwortung und -abwägung in den Vordergrund zu rücken. (7) Eine Zulassung der PID bedeutet keinen Dammbruch zulasten des vorgeburtlichen Lebensschutzes. Dieser Befürchtung ist entgegenzuhalten, dass derzeit mit der Spirale und der „Pille danach“ in einem weitaus umfangreicheren Maße Embryonen an der weiteren Entwicklung gehindert werden. Sodann ist darauf zu verweisen, dass zahlreiche wissenschaftliche oder medizinische Entwicklungen missbrauchbar sind. Der mögliche Missbrauch hebt den rechten Gebrauch jedoch nicht auf („abusus non tollit usum“). Bei der PID kommt hinzu, dass eine Frau hierfür das psychisch und körperlich belastende, medizinisch nicht risikofreie Verfahren der IVF auf sich nehmen muss. Daher ist nicht anzunehmen, dass das Verfahren vorschnell in Anspruch genommen wird. Im Rahmen der assistierten Reproduktion wurde in den zurückliegenden Jahren weltweit nur eine sehr geringe Zahl von PID durchgeführt (in der Größenordnung deutlich unter ca. 0,5 % der IVF-Punktionen). Unvertretbaren Ausweitungen oder einem eventuellen Missbrauch der PID ist durch geeignete institutionelle und prozedurale Vorkehrungen entgegenzuwirken, insbesondere dadurch, dass die PID in Deutschland künftig nur in zugelassenen Zentren und dort erst nach vorausgehender Information und Aufklärung sowie nach kompetenter psychosozialer Beratung der einzelnen Patientinnen und Patienten durchgeführt werden sollte. 6. Beratung Da es sich bei der PID um ein Verfahren handelt, welches den Embryo invasiv untersucht, bedarf es der umfassenden Information, Aufklärung und ergebnisoffenen Beratung, bevor eine Einwilligung im Sinne eines informed consent erklärt werden kann. Nur ein gut informiertes Paar kann eine autonome Entscheidung treffen. Vor der Durchführung sind auch Alternativen insbesondere im Rahmen der Beratung mit einzubeziehen: – Verzicht auf (weitere) Kinder – Möglichkeiten der Adoption – im Falle einer Schwangerschaft die Möglichkeit der pränatalen Diagnostik der infrage kommenden genetischen Erkrankung. Zusätzlich muss beraten werden zu: – den einzelnen Schritten der Durchführung der Methode – Vor- und Nachteilen der Methode – diagnostischen Grenzen der Methode – potentiellen Sicherheitsrisiken der assistierten Reproduktion für das ungeborene Kind – möglichen sonstigen Erkrankungen des Kindes, die durch PID nicht entdeckt werden – Kosten der Methode. Im Rahmen der Beratung müssen Humangenetiker sowie Ärztinnen und Ärzte, die Auskünfte zur Ausprägung des Krankheitsgrades der betreffenden Erkrankung und zur Therapie machen können (insbesondere Pädiater), hinzugezogen werden. Ebenso sind die ethischen Aspekte zu beachten. Zusätzlich muss eine psychosoziale Beratung angeboten werden. Die Notwendigkeit einer solchen Beratung wurde in jüngsten Gesetzen, wie z. B. dem Änderungsgesetz zum Schwanger- 26 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG schaftskonfliktgesetz sowie dem Gendiagnostikgesetz, aufgegriffen. Weiterhin sind die einschlägigen Regelungen des Gendiagnostikgesetzes und der zu schaffenden (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der PID der Bundesärztekammer zu beachten (14). Auf die Empfehlungen der amerikanischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (ASRM) hinsichtlich der Beratungsaspekte bei PID sei verwiesen (2). 7. Rechtliche Aspekte Ausdrückliche rechtliche Regelungen zur PID finden sich bislang weder im ESchG noch im GenDG. Für die rechtliche Beurteilung der PID müssen die einzelnen Teilschritte des Geschehens analysiert werden. Nach Erzeugung von Embryonen (1) im Sinne von § 8 Abs. 1 ESchG – als Embryo gilt auch schon die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an – werden aus ihnen die eigentlichen Untersuchungsmaterialien gewonnen (2) und durch die entsprechenden humangenetischen Methoden untersucht (3), um schließlich je nach Ergebnis die Embryonen zu transferieren oder sie nicht zu übertragen (4). Zu allen Teilschritten ist die rechtliche Diskussion kontrovers. Dies gilt auch für die Ebene etwaiger Rechtfertigungsgründe (5) sowie für die verfassungsrechtlich möglichen gesetzgeberischen Optionen (6). (1) (a) Umstritten ist zunächst, ob das Verbot verletzt wird, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG). Befürworter der PID heben maßgeblich auf das Ziel ab, das auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft der genetischen Mutter gerichtet ist, Kritiker auf die zunächst vorgesehene Untersuchung des Embryos, von deren Ergebnis das weitere Vorgehen abhänge (10, 25, 60). Nach Ansicht des BGH verlangt § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG (als Voraussetzung der Straflosigkeit), dass die Herbeiführung der Schwangerschaft „jedenfalls handlungsleitend bzw. bewusstseinsdominant sein muss“ (5). Dem stehe die Absicht, pluripotente Zellen auf schwerwiegende genetische Belastungen hin zu untersuchen, nicht entgegen. (b) Probleme wirft sodann das Verbot auf, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG). Welche Möglichkeiten § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG eröffnet, ist schon für die IVFRoutine umstritten (25). Bei vorgesehener PID stellt sich die Frage, inwieweit die sog. „Dreierregel“ wegen der zu erwartenden Zahl nicht zum Transfer geeigneter Embryonen modifiziert werden sollte. Denn Ziel muss es sein, einen oder zwei übertragbare Embryonen zur Verfügung zu haben. Der BGH hatte hierzu in seinem Urteil vom 06. Juli 2010 keine Stellung zu nehmen. (2) Die Zellgewinnung für die PID darf nach geltendem Recht nicht im Stadium der Totipotenz (≤ 8 Zellen) geschehen, da dies nach § 6 Abs. 1 ESchG in Verbindung mit § 8 ESchG unzulässig ist. Erfolgt die Zellgewinnung in einem späteren Entwicklungsstadium des Embryos, kommt Strafbarkeit nach § 2 Abs. 1 ESchG in der Tatbestandsalternative der Verwendung eines Embryos zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck in Betracht. Im juristischen Schrifttum ist die Frage, ob der Vorgang der Gewinnung des Untersuchungsmaterials durch Abspalten von Zellen als Verwendung verstanden werden könne, kontrovers diskutiert worden (10, 50, 52, 53). Wie das Absichtskrite- 27 rium in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ist auch das Zweckkriterium in § 2 Abs. 1 ESchG lebhaft umstritten. Wer mehr auf den einzelnen untersuchten Embryo abhebt, wird den „Erhaltungszweck“ (eher) verneinen, wer das Ziel einer Schwangerschaft mit einem für tauglich erachteten Embryo in den Vordergrund rückt, wird ihn (eher) bejahen (21, 25, 52, 56). Wenn für die PID Trophoblastzellen abgespalten werden, könnte man rechtlich sogar daran zweifeln, ob dies überhaupt noch als Verwendung eines Embryos verstanden werden kann, da die Trophoblastzellen sich später zum (embryonalen) Teil der Plazenta entwickeln (48). Der BGH kommt in einer am Gesetzeszweck orientierten wertenden Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis, es könne „nicht angenommen werden, dass die den Embryo selbst unberührt lassende Entnahme von Trophoblastzellen . . . als ‚missbräuchliche Verwendung’ angesehen wird“ (5). Schließlich wird für die Kultivierung des Embryos in vitro bis zur Zellentnahme zwecks PID bzw. bis zur Entscheidung auf Grundlage des PID-Ergebnisses über den Transfer auch ein Verstoß gegen das Verbot der extrakorporalen Weiterentwicklung eines Embryos zu einem anderen Zweck als dem der Herbeiführung einer Schwangerschaft (§ 2 Abs. 2 ESchG) diskutiert (10, 52). Gegen die Anwendbarkeit dieses Straftatbestandes auf PIDFälle spricht insbesondere, dass der Gesetzgeber hier einen anderen Sachverhalt (Verbot der Ektogenese, d. h. die extrakorporale Weiterentwicklung eines Embryos bis zur Lebensfähigkeit) im Auge hatte (23). (3) Die eigentliche genetische Untersuchung erfolgt nicht am Embryo selbst, sondern an den diesem vorher entnommenen Zellen. Das ESchG ist insoweit nicht tangiert (10, 52, 53, 60). (4) Nach überwiegender Auffassung im juristischen Schrifttum kann auch das „Nicht-Übertragen“ untersuchter Embryonen im Gefolge eines positiven Befundes und deren „Nicht-weiter-Kultivieren“ nicht als „zweckwidrige Verwendung“ im Sinne von § 2 Abs. 1 ESchG verstanden werden (52, 53). Für den BGH ist es entscheidend, dass es dem Arzt weder möglich noch zumutbar ist, „Embryonen gegen den Willen seiner Patientinnen zu übertragen und sich dadurch nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 ESchG und § 223 StGB strafbar zu machen“ (5). (5) Soweit einer der genannten Straftatbestände erfüllt wäre, bliebe zu erörtern, ob der Rechtsgedanke der (embryopathisch veranlassten) medizinischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch (§ 218 a Abs. 2 StGB) als Rechtfertigungsgrund für eine PID herangezogen werden könnte (10, 50, 53). Für den BGH kam es hierauf auf der Basis der von ihm gefundenen „Tatbestands-Lösung“ nicht mehr an. (6) Auch im Verfassungsrecht wird die Zulässigkeit der PID kontrovers diskutiert. Dabei spielt die Frage der Grundrechtsträgerschaft des in-vitro-Embryos eine zentrale Rolle. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu nicht explizit geäußert; die entsprechenden Formulierungen in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (15, 16) lassen die Frage nach dem Status des pränidativen Embryos schon für den Fall natürlicher Zeugung unbeantwortet. Erstreckt man den Grundrechtsschutz (Art. 1 Abs. 1 GG – Schutz der Menschenwürde, konkretisiert durch Art. 2 Abs. 2 GG – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) auch auf In-vitro-Embryonen, muss dessen Gewichtung im Verhältnis zu Grundrechten der betroffenen Paare bestimmt werden (44). Mit zahlreichen Stimmen in der juristischen Fachliteratur ist unter der Annahme eines mit der Befruchtung einsetzenden und entwicklungsabhängig zunehmenden DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Schutzanspruchs des Embryos (20) das Recht der Eltern auf Durchführung einer PID als vorrangig zu erachten, wenn dafür triftige Gründe sprechen. Solche sind z. B. im Mehrheitsvotum des Nationalen Ethikrats klar definiert worden (46). Teilweise wird sogar angenommen, ein vollständiges Verbot der PID verstoße gegen Grundrechte der Eltern (30, 60). Bemerkenswerterweise hat denn auch der BGH in seinem Urteil keine Überlegungen etwa in Richtung auf ein verfassungsrechtliches Pönalisierungsgebot, das als Auslegungsmaxime in Erwägung hätte gezogen werden können, für angebracht befunden. Im Ergebnis liegt nach überwiegend vertretener Auffassung ein Indikationsmodell für die PID innerhalb des verfassungsrechtlichen Handlungsspielraums des Gesetzgebers vor (9, 27, 43, 46, 51, 59, 60). Rechtspolitischer Handlungsbedarf a) In der Politik konkurrieren derzeit Überlegungen in Richtung auf ein völliges Verbot der PID mit Konzepten der Zulassung im Rahmen eines engen, beratungsgestützten Indikationsmodells. Letzteres ist vorzugswürdig. Die Indikationen sollten typisierend formuliert werden (hohes Risiko einer – von den Eltern als nicht zu bewältigende Belastung empfundenen – schweren erblichen Krankheit oder mit dem Erreichen extrauteriner Lebensfähigkeit nicht vereinbarer genetischer Defekt). Eine Krankheitenliste ist abzulehnen. b) Bei einer Entscheidung für eine begrenzte Zulässigkeit in dem skizzierten Rahmen besteht Bedarf für Regelungen zur prozeduralen Absicherung der Entscheidung zur PID im Einzelfall. Eine bei den Landesärztekammern angesiedelte PIDKommission kann prüfen, ob die jeweils geplante PID den rechtlichen und standesrechtlichen Vorgaben entspricht. Die Vertraulichkeit der Arzt-Patient-Beziehung ist hierbei zu wahren. c) Eine Orientierung am GenDG empfiehlt sich nicht, soweit es um die Frage der Untersuchung auf sog. spät manifestierende Erkrankungen geht. d) Auch im Hinblick auf die PID sollte § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG dahingehend abgeändert werden, dass dem Arzt aufgegeben wird, die Zahl der zu befruchtenden Eizellen abwägend so festzulegen, dass das Risiko des Entstehens überzähliger Embryonen geringer ist als das Risiko, keine ausreichende Anzahl transfergeeigneter Embryonen zur Verfügung zu haben. Die Festlegung einer bestimmten Höchstzahl empfiehlt sich nicht. e) Rechtspolitischer Handlungsbedarf besteht weiterhin für Folgeregelungen zur Qualitätssicherung und zum Leistungsrecht der Krankenversicherung. Die Geltung des Weigerungsrechts (vgl. § 10 ESchG) auch für die Mitwirkung an einer PID ist selbstverständlich. f) Die PID betrifft nur einen geringen Teil der reproduktionsmedizinischen Behandlungen. Dieses Memorandum beschränkt sich aus Gründen der rechtspolitischen Aktualität auf sie. Eine umfassende Regelung des Bereichs der medizinisch unterstützten Fortpflanzung in einem Fortpflanzungsmedizingesetz bleibt notwendig. 8. Verfahrens- und Qualitätssicherung Der Gesetzgeber ist gefordert, einen Rechtsrahmen für die Durchführung der PID zu setzen. Die Bundesärztekammer wird in einer „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik“ Regelungen zum Indikationsspektrum, zur personellen und apparativen Aus- stattung, zur medizinischen und psychosozialen Beratung sowie zur Anzahl der durchführenden Zentren treffen. Bei den Landesärztekammern sind auf Grundlage der „(Muster-)Richtlinie zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik“ interdisziplinär und mit Behinderten-/Patientenvertretern zu besetzende Kommissionen (insbesondere Gynäkologie, Humangenetik, Innere Medizin, Neurologie, Pädiatrie, Rechtswissenschaft, Ethik) einzusetzen in Analogie zu den im Transplantationsgesetz vorgesehenen Lebendspendekommissionen, die die Qualitätssicherung übernehmen. Zur Qualitätssicherung gehört ebenfalls die langfristige Nachverfolgung der Gesundheit und der weiteren Entwicklung der nach PID geborenen Kinder. Die Kommissionen sind behandlungsunabhängig besetzt. Der zuständigen Kommission sind die einzelnen Behandlungsfälle in anonymisierter Form vorab zur Beurteilung vorzulegen. Die bei den einzelnen Kommissionen der Landesärztekammern erhobenen Daten zur Qualitätssicherung sind in einem zentralen Register in anonymisierter Form zusammenzuführen. Für eine weitere Erfassung der Daten bietet sich das PGDKonsortium der ESHRE an, wodurch die Daten einem internationalen Vergleich zugänglich würden. 9. Zusammenfassung Auf der Basis des Urteils des Bundesgerichtshofes 2010 sowie einer Aktualisierung der Überlegungen, die die Bundesärztekammer bereits im Jahre 2000 im „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ getroffen hat, lässt sich folgendes zusammenfassen: – Die Methode der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist seit 20 Jahren außerhalb Deutschlands etabliert. Internationale Daten (ESHRE) liegen für einen Beobachtungszeitraum von insgesamt elf Jahren vor. Für die PID im engeren Sinne wurden Daten von über 10 000 Behandlungszyklen dokumentiert. Nach PID kam es zu einer Schwangerschaftsrate von 26 % pro Embryotransfer, was weitgehend der normalen Schwangerschaftsrate nach IVF entspricht. Falschnegative Diagnosen wurden im Berichtszeitraum in 28 Fällen mitgeteilt, was einer Häufigkeit von 0,3–1,7 % je nach Indikation bezogen auf den implantierten Embryo entspricht. Die Rate an kongenitalen Fehlbildungen ist nach PID nicht erhöht. Mit Bezug auf die internationalen Erfahrungen ist in Deutschland von einem Bedarf der PID bei etwa 200 betroffenen Paaren pro Jahr auszugehen. Das PräimplantationsScreening ist absehbar keine Methode zur Effizienzsteigerung der assistierten Reproduktion. Die Polkörperdiagnostik kann nicht als eine medizinisch gleichwertige Alternative zur PID angesehen werden. Die PID wird im Ausland durchschnittlich an sieben Embryonen durchgeführt. – Eine Eingrenzung der Indikationsstellung ist erforderlich. Die PID soll nur für Erkrankungen durchgeführt werden, für die bei einem Paar ein hohes genetisches Risiko bekannt ist. Keine Indikation für PID sind Geschlechtsbestimmung ohne Krankheitsbezug, höheres Alter der Eltern sowie reproduktionsmedizinische Maßnahmen im Allgemeinen. – Die ethische Abwägung spricht für eine Zulassung der PID in bestimmten Grenzen und unter kontrollierten Voraussetzungen. Unter Gesichtspunkten der Zumutbarkeit für die Frau und des Entwicklungsstandes des vorgeburtlichen Lebens ist die Invitro-Befruchtung „auf Probe“ (PID) in bestimmten Fällen 28 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG ethisch weniger problematisch als eine „Schwangerschaft auf Probe“ (PND) mit nachfolgendem Schwangerschaftsabbruch. Gegen die Befürchtung eines Dammbruchs spricht schon allein die internationale Erfahrung. Aus ethischer Sicht fallen die Persönlichkeitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Frau bzw. des Paares, ihre Gewissensfreiheit sowie ihre Gewissensverantwortung – auch mit Blick auf das erhoffte Kind – ins Gewicht. – Um die Patienten-Autonomie zu unterstützen und eine authentische, verantwortungsbewusste Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es umfassender Information und Aufklärung sowie kompetenter Beratung. – In rechtlicher Hinsicht ergeben sich aus dem Urteil des BGH vom Juli 2010 gewisse Handlungsspielräume jedenfalls dann, wenn Trophpoblastzellen entnommen und zur Untersuchung verwendet werden. Medizinisch ist von wesentlicher Bedeutung, dass neben Trophoblasten auch Blastomere nach dem Acht-Zell-Stadium aus nichttotipotenten Zellen bestehen. Rechtspolitisch liegt nach überwiegender Auffassung ein Indikationsmodell innerhalb des verfassungsrechtlichen Handlungsspielraums des Gesetzgebers vor. Ein solches sollte typisierend ausgestaltet sein, jedoch auf eine Auflistung bestimmter Krankheiten verzichten. Bei den notwendigen prozeduralen Absicherungen sollte die Beratung des betroffenen Paares im Mittelpunkt stehen. Die Geltung des Weigerungsrechts gem. § 10 ESchG auch für die Mitwirkung an einer PID steht außer Frage. – Unbeschadet des Erfordernisses, die Belange der Reproduktionsmedizin in einem umfassend angelegten Fortpflanzungsmedizingesetz zu regeln, sollte eine Regelung der PID Anlass geben, den vielfach kritisierten § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG dahingehend abzuändern, dass dem Arzt aufgegeben wird, die Zahl der zu befruchtenden Eizellen so festzulegen, dass das Risiko des Entstehens überzähliger Embryonen geringer ist als das Risiko, keine ausreichende Anzahl transfergeeigneter Embryonen zur Verfügung zu haben. – Eine (Muster-)Richtlinie zur Durchführung der Präimplantationsdiagnostik ist von der Bundesärztekammer zu erarbeiten, insbesondere zum Indikationsspektrum der PID, zur personellen und apparativen Ausstattung, zur medizinischen und psychosozialen Beratung sowie zur Festlegung der danach erforderlichen Zahl durchführender Zentren. – Bei den Landesärztekammern sind behandlungsunabhängige PID-Kommissionen einzurichten, die die Qualitätssicherung der PID gewährleisten. Der zuständigen Kommission sind die einzelnen Behandlungsfälle in anonymisierter Form vorab zur Beurteilung vorzulegen. Die bei den einzelnen Kommissionen der Landesärztekammern erhobenen Daten zur Qualitätssicherung sind in einem zentralen Register in anonymisierter Form zusammenzuführen. 10. Literatur 1. Ach Johann S., Schöne-Seifert, Bettina, Siep, Ludwig (2006): Totipotenz und Potentialität. Zum moralischen Status von Embryonen bei unterschiedlichen Varianten der Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen. Gutachten für das Kompetenznetzwerk Stammzellforschung NRW. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 11. Berlin/New York: 261–321. 2. ASRM (2007): Preimplantation genetic testing: A practice committee opinion. Fertil Steril; 88: 1497–504. 3. Beckmann, J.P. (2009): Ethische Herausforderungen der modernen Medizin. Freiburg/München. 4. BGH (Bundesgerichtshof) (2010): Urteil vom 6.7.2010 – StR 386/09, Mitteilung der Pressestelle 137/2010. 29 5. 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Mitglieder der Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Beirats „Memorandum zur Präimplantationsdiagnostik“ Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. K. Diedrich, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität Lübeck Prof. Dr. med. M. Sc. G. Griesinger, Oberarzt des Kinderwunschzentrums der Universität Lübeck Prof. (em.) Dr. med. H. Hepp (federführend), ehem. Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Klinikums Großhadern der LudwigMaximilians-Universität München Dr. med. U. Hilland, 1. Vorsitzender des Bundesverbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands (BRZ), Ärztlicher Leiter des Fertility Center Münsterland, Bocholt Prof. Dr. med. H. Kentenich, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe an den DRK Kliniken Berlin-Westend 47. Neidert R (2007): „Entwicklungsfähigkeit“ als Schutzkriterium und Begrenzung des Embryonenschutzgesetzes. Medizinrecht; 25: 279–86. PD Dr. iur. H.-G. 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Direktor des Instituts für Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster Prof. (em.) Dr. med. J. Schulze, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Mitglied des Vorstandes der Bundesärztekammer Prof. (em.) Dr. med. Dr. h. c. P. C. Scriba, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, ehem. Direktor der Medizinischen Klinik Innenstadt der Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. med. Dr. phil. U. Wiesing, Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen Geschäftsführung und Korrespondenz Dezernat VI – Wissenschaft und Forschung Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Platz 1 10623 Berlin 30 DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG Heft 31–32, 8. August 2011 KOMMENTAR Prof. Dr. theol. Peter Dabrock/Dr. theol. Jens Ried, Erlangen A m 7. Juli, genau ein Jahr und einen Tag nachdem der Bundesgerichtshof mit seinem Urteil zur Präimplantationsdiagnostik (PID) festgestellt hatte, „dass eine eindeutige gesetzliche Regelung der Materie wünschenswert wäre“, hat der Bundestag die begrenzte Zulassung der PID beschlossen. Künftig können Paare, die In-vitro-Fertilisation in Anspruch nehmen und bei denen zudem die große Wahrscheinlichkeit einer Tot- oder Fehlgeburt oder der Weitergabe einer nisch. PID und PND gleichen sich darin, dass mit ihrer Hilfe Informationen gewonnen werden, die dazu führen (können), dass die Geburt von Kindern, bei denen genetisch bedingte Schädigungen festgestellt werden, verhindert wird: sei es aufgrund einer medizinischen Indikation, sei es, weil der Embryo solche Merkmale aufweist, die seine Geburt im Fall eines Transfers in den Uterus höchst unwahrscheinlich machen. Es ist kaum plausibel zu machen, warum ein Diagnoseverfahren in utero auch nach der Entscheidung klar gegen eine wie eng auch immer begrenzte Zulassung der PID gewandt. Zugleich haben sie anerkannt, dass die Situation, in der sich die „Hochrisikopaare“ befinden, eine seelsorgerliche Herausforderung darstellt. Wie strikte Klarheit auf der einen Seite mit der notwendigen Sensibilität auf der anderen Seite in Einklang zu bringen ist, bleibt dabei freilich unklar. Seelsorge und Ethik sollen und können an dieser Stelle nicht getrennt werden, denn es PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Kohärenz statt brechender Dämme schweren erbliche Erkrankung besteht, die erzeugten Embryonen vor der Implantation einer genetischen Diagnose unterziehen lassen, um anschließend über den Transfer in den Mutterleib zu entscheiden. Am Ende des politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesses ist mit dem Ja zur eng begrenzten Zulassung der PID die Position mehrheitsfähig gewesen, die aus drei Gründen auch aus theologisch-ethischer Sicht die größte Plausibilität hat. Erstens trägt diese Entscheidung zur Kohärenz der politisch-rechtlichen Regelungen bei – und Kohärenz ist ein ethisches Kriterium jeder Ethik. Die Diskussionen zur PID vollziehen sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern vor dem Hintergrund einer komplexen gesellschaftlichen Situation, die schon längst rechtlich vorgeregelt ist. Wichtigster Referenzpunkt ist dabei die etablierte und weitestgehend akzeptierte Pränataldiagnostik (PND). Die Konfliktsituationen von PID und PND mögen sich aufgrund der unterschiedlichen Verortung des Embryos in vivo oder in vitro unterscheiden. Daraus aber abzuleiten, dass es sich bei der PID um einen „sterilen“ Konflikt handelt, in dem betroffene (potenzielle) Eltern aus einer Distanzperspektive nach Rationalitätskalkül Embryonenselektion betreiben, ist wirklichkeitsfern, wenn nicht zy- 31 mit allen seinen möglichen Konsequenzen bis hin zum Abbruch der Schwangerschaft selbst in späten Stadien erlaubt ist, während ein anderes, das sogar noch vor der Schwangerschaft ansetzt, verboten sein soll. Dass sowohl PID als auch PND letztlich auf den guten Verlauf einer Schwangerschaft und die erfolgreiche Geburt eines Kindes abzielen, kann darüber hinaus nur geleugnet werden, wenn es von beiden Prozeduren behauptet wird. Zweitens folgt das Parlament mit seiner Entscheidung nicht den in bioethischen und biopolitischen Kontroversen beliebten, zugleich aber höchst problematischen „Dammbruch“-Argumenten. Unkontrollierbare Ausweitungen und unabsehbare Nebenwirkungen wurden beispielsweise auch im Fall der bedingten Zulassung der embryonalen Stammzellforschung befürchtet. Keiner dieser Effekte konnte beobachtet werden. „Dammbruch“-Argumente implizieren zudem einen ausgeprägten Regelungspessimismus, denn es wird mehr oder weniger offen angenommen, dass es kaum Möglichkeiten gibt, den Gebrauch einer Technologie oder eines Verfahrens rechtlich so zu regeln, dass dabei unerwünschte und verbotene Anwendungen auch effektiv unterbunden werden. Die beiden großen christlichen Kirchen haben sich sowohl im Vorfeld als geht im Kern um die betroffenen Familien selbst. Erst recht können an dieser Stelle nicht Argumente in Anschlag gebracht werden, die auf die Bewahrung ethischer Schemata abzielen, die durch die PID beeinträchtigt würden. Das Ja zur eng begrenzten Zulassung der PID verortet die Entscheidung bei denen, die letztlich auch die Verantwortung tragen müssen und bei denen das Parlament sie zum Beispiel auch im Schwangerschaftskonflikt gesehen hat: bei den Betroffenen. Angesichts der auch für Christen unklaren Bestimmung des Lebensanfangs ihnen selbst das Recht auf eine Entscheidung einzugestehen und sie dabei zu begleiten, ist Ausdruck christlich gedeuteter Freiheit. Mit dem parlamentarischen Beschluss sind weder alle Fragen gelöst noch ist zu erwarten, dass die Debatten um die PID verstummen – insofern ist das mit der Entscheidung des Bundestages erreichte Ende sicher ein vorläufiges. Dass die Kontroversen in einen die Kohärenz fördernden Beschluss eingemündet sind, der ohne Fraktionszwang gefällt wurde, darf als Hinweis und Auftrag verstanden werden, in allen kommenden Debatten weiter auf die in der Diskussion erreichten Standards zu bauen. Ärzteschaft und die einzurichtenden Ethikkommissionen tragen dabei eine große Verantwortung. DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79