hartmann schostakowitsch beethoven

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HARTMANN
2. Symphonie »Adagio«
SCHOSTAKOWITSCH
9. Symphonie
BEETHOVEN
5. Klavierkonzert
GERGIEV, Dirigent
TSUJII, Klavier
Mittwoch
04_11_2015 20 Uhr
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KARL AMADEUS HARTMANN
Symphonie Nr. 2
»Adagio«
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
1. Allegro
2. Moderato
3. Presto
4. Largo
5. Allegretto-Allegro
LUDWIG VAN BEETHOVEN
Konzert für Klavier und Orchester
Nr. 5 Es-Dur op. 73
1. Allegro
2. Adagio un poco moto
3. Rondo: Allegro, ma non tanto
VALERY GERGIEV
Dirigent
NOBUYUKI TSUJII
Klavier
118. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
Karl Amadeus Hartmann (1952)
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
3
Der realistische
Komponist
EGON VOSS
KARL AMADEUS HARTMANN
(1905–1963)
Symphonie Nr. 2
»Adagio«
reits während des Zweiten Weltkriegs,
vermutlich 1943, komponiert; seine Neufassung unter der Bezeichnung »2. Symphonie« entstand unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1949.
WIDMUNG
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 2. August 1905 in München;
gestorben am 5. Dezember 1963 in München.
ENTSTEHUNG
Die Urfassung des aus einem einzigen Adagio-Satz bestehenden Werkes wurde be-
»Mein Adagio (Symphonie No. II) widme ich
Herrn Paul Collaer, Brüssel, dem großen Mu­siker und wunderbaren Menschen, 1949«:
Paul Collaer (1891–1989) war ein flämischer Chemiker, Musikwissenschaftler, Pianist, Dirigent und Rundfunkintendant, der
seit dem Ende des Ersten Weltkriegs das
belgische Musikleben über Jahrzehnte entscheidend prägte und ins­besondere für die
Komponisten des 20. Jahrhunderts unschätzbare Aufbauarbeit leistete.
URAUFFÜHRUNG
Am 10. September 1950 in Donaueschingen
im Rahmen der Donaueschinger Musiktage
(Symphonieorchester des Südwestfunks
unter Leitung von Hans Rosbaud).
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
4
EXPRESSIONISMUS
UREIGENSTER PRÄGUNG
sischen Groupe des Six, dem frühen Strawinsky des »Sacre du Printemps«.
Karl Amadeus Hartmann gehört zu den
Außenseitern der Neuen Musik. Das spiegeln nicht zuletzt die Aufführungszahlen
seiner Werke, die in ungleichem Verhältnis
zu deren Rang stehen. Hartmann passt in
keine der großen Richtungen der Musik
des 20. Jahrhunderts. Dass er bei Alban
Berg studieren wollte und, da dieser allzu
früh starb, schließlich bei Anton Webern
Unterricht nahm, heißt keineswegs, dass
er der Wiener Schule nahesteht. Den expressionistischen Gestus seiner Musik,
der das vielleicht wesentlichste, auf jeden
Fall aber das auffälligste Merkmal fast
aller seiner Werke seit Beginn der 30er
Jahre darstellt, nur auf Schönberg, Berg
und Webern zurückführen zu wollen, hieße
die Differenzen verkennen, die gewichtiger sind als die Gemeinsamkeiten. Der Expressionismus der Wiener Schule tendierte einer­seits – was selten beachtet wird
– durchaus auch zum Impressionismus und
andererseits aber auch zum AbstraktKonstruktiven, Konstruktivistischen. Beides ist Hartmanns Musik eher fremd. Vor
allem aber wurzelt der Expressionismus
der Wiener Schule im Fin-de-Siècle. Von
dort bezieht er seine spezifische Qualität,
die subtile Differenziertheit, die Gebrochenheit. Auch diese Eigenschaften bezeichnen keine Merkmale der Hartmanns
­Musik. Sie ist vielmehr bestimmt von vorwärts stürmendem Impetus, bruitistischer Grellheit, unbekümmert vital anmutender Motorik, von einem Impuls, der der
Gebrochenheit den Glauben an eine ideale,
humane Welt entgegensetzt. Das Ungezähmt- Wilde, Anarchistische, bisweilen
auch Primitivistische von Hartmanns Musik steht dem frühen und mittleren Bartók
nahe, dem jungen Hindemith, der franzö-
DIMENSION
DES APOKALYPTISCHEN
Hartmann hat fremde Einflüsse nie gescheut und sich entsprechend vielfältig
beeinflussen lassen. Dabei blieb er stets
unabhängig, aller Orthodoxie abhold. So
unüberhörbar motorisch seine Musik in den
schnellen Sätzen seiner Symphonien auch
ist, so unverkennbar ist zugleich, dass diese Form von Motorik eine andere ist als
diejenige Paul Hindemiths, der stets die
Tendenz zum In-sich-Kreisen innewohnt
und die deshalb oft wie Bewegtheit um der
Bewegtheit willen anmutet. Hartmanns
Motorik gleicht einem Vorwärtsstürmen,
wirkt wie ein hemmungsloses oder auch
gewaltsames Voranhasten, Voranstürzen,
sie gemahnt an eine Schussfahrt, die ins
Ungewisse geht: sie hat apokalyptischen
Charakter. Die Dimension des Apokalyptischen aber, wie auch die gewaltigen, ins
Gestaltlos-Tumultuarische ausufernden
Ausbrüche und Entladungen zeigen, definiert ein Hauptmerkmal der Musik Karl
Amadeus Hartmanns. Deren Widerpart bilden lyrische Passagen, in denen Hartmann
weder die Kantabilität noch die Süße geschmeidiger Geigenkantilenen scheute. So
gewann er die Kontraste, die symphonisches Komponieren benötigt.
»DURCHLEBTES KUNSTWERK
MIT AUSSAGE«
Hartmann komponierte stets gleichsam
ungeschützt, nämlich ungeschminkt, lapidar, immer das Risiko des Scheiterns im
Bewusstsein und es nicht scheuend. Die
Angst, trivial zu erscheinen oder als unprofessionell zu gelten, kannte er nicht.
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
5
Karl Amadeus Hartmann (rechts) mit dem Dirigenten Hermann Scherchen (1935):
»In ihm sehe ich meinen eigentlichen Lehrer…«
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
6
Sein Ziel war nicht die perfekte äußere
Schale, erst recht nicht die Anpassung an
Konventionen. Ausgesprochen ist es in dem
oft zitierten Satz: »Ich will keine leidenschaftslose Gehirnarbeit, sondern ein
durchlebtes Kunstwerk mit einer Aussage«. Auch dies ist ungeschützt, wirkt vordergründig, banal, klischeehaft. Die Avantgarde, die sich viel auf ihr Reflexionsniveau
zugute hielt, mochte darüber die Nase
rümpfen. Für Hartmann hatte es seine Gültigkeit. Der Satz zeigt die tiefe Skepsis
gegenüber der Tendenz, die Konstruktion
zum ästhetischen Zentrum der Komposition zu machen, die seit den 50er Jahren
immer mehr zur streng und dogmatisch
vertretenen Lehrmeinung wurde. Hartmann war tolerant genug, als Leiter der
Münchner »Musica Viva« auch diese Richtung zu dulden, aber er ließ sich nicht von
ihr vereinnahmen. Er hatte sich von der
freien Atonalität und Schönbergs Zwölftontechnik ferngehalten und blieb auch zu
den seriellen Techniken auf deutlicher Distanz. So vermochte er der »realistische«
Komponist zu bleiben, der er stets gewesen
war, ein Komponist nämlich, der bei allem
artifiziellen Ehrgeiz doch nie den Bezug zu
den einfachen, wirklichkeitsnahen Formen
und Ausdrucksmitteln der Musik aufzugeben bereit war.
UMFANGREICHES
»WORK IN PROGRESS«
In den Jahren des Nationalsozialismus hatte Hartmann Berufsverbot, was ihn jedoch
nicht daran hindern konnte, zumindest
heimlich sein Metier zu betreiben. Ohne
jede Aussicht auf Aufführung, Resonanz
und Erfolg schrieb Hartmann eine ganze
Reihe von Werken, motiviert durch seine
Opposition zum herrschenden Regime, aber
sicherlich auch durch den Zuspruch, den er
von außen, aus dem Ausland erhielt. Nach
dem Ende des Nationalsozialismus war
es jedoch keineswegs Hartmanns erstes
Ziel, die in dieser Zeit komponierten Werke
aus der erzwungenen Verborgenheit in die
Öffent­lichkeit zu schicken. Vielmehr unterzog er diese Kompositionen einer strengen
Kritik – so, als sei er sich ihrer nicht mehr
ganz sicher, oder als sei es notwendig, sie
den veränderten politischen Verhältnissen,
der neuen gesellschaftlichen Lage anzupassen. Jedenfalls veröffentlichte Hartmann
nicht ein einziges der während der Zeit des
Nationalsozialismus komponierten Werke in
unveränderter Form, sondern schuf vielmehr neue Kompositionen, die allerdings zu
einem sehr großen Teil auf den älteren aufbauten. Das gilt auch für die 2. Symphonie,
deren Urfassung bereits während des Zweiten Weltkriegs, vermutlich 1943, entstanden ist und die Hartmann schon bald nach
Kriegsende aus der Schublade holte, um sie
in seine »Symphonie No. II« umzuformen.
SYMPHONIE IN EINEM SATZ
Im Unterschied zu Hartmanns sonstigen
Symphonien ist seine »Zweite« ein Werk in
nur einem Satz. Man hat dabei jedoch nicht
an die durch Franz Liszts Klaviersonate in
h-Moll oder Arnold Schönbergs erste Kammersymphonie op. 9 bekannte Verbindung
und Überlagerung von Einsätzigkeit und
Mehrsätzigkeit zu denken und das Ineinander von Sonatensatzform – mit Exposition,
Durchführung, Reprise und Coda – und
traditioneller Viersätzigkeit – mit Allegro,
Adagio, Scherzo und Finale. Gemeinsam
mit den genannten Werken ist Hartmanns
Symphonie nur, dass sie ohne Unterbrechung abläuft. Im Übrigen ist ihre Struktur
sehr viel einfacher, frei von der formalen
Mehrdeutigkeit einzelner Teile der Komposition, frei auch vom Charakter des Expe-
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
7
Karl Amadeus Hartmann mit seinem Sohn Richard (1946)
rimentierens mit traditionellen und gewichtig-ehrwürdigen Formen und Gestaltungsmodellen. Das Formprinzip des Werkes ist
der Wechsel zwischen thematisch gebundenen und quasi »themafreien« Abschnitten – ein Prinzip, das dem Rondo nahesteht, einer einfach-schlichten Form also,
die weniger artifiziell als vielmehr volkstümlich-populär ist.
VIER TÖNE UND EIN SAXOPHON
Dem entspricht das Thema der im engeren
Sinn »thematischen« Abschnitte, das nach
einer kurzen vom gesamten Orchester gestalteten Einleitung zuerst im Bariton-­
Saxophon und ohne Begleitung ertönt. Die
Beschränkung der Melodie auf nur vier Töne
und der Verzicht auf Halbtonschritte – bei-
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
8
des wird erst bei der unmittelbaren Wiederholung des Themas durchbrochen – geben
der Melodie einen primitiv-archaischen
Charakter. Wachgerufen wird die Erinnerung an russische Folklore, und nicht zufällig assoziiert man als Hörer die frühen
Werke Strawinskijs. Es ist darum alles andere als ein »symphonisches« Thema; denn
sein Pendeln zwischen den wenigen Tönen,
aus denen es besteht, und das Kreisen im
stets gleichen Klang lassen keine Entwicklung zu, wie man sie von einem symphonischen Thema und im Rahmen einer »Symphonie« erwartet. Das Thema enthält keine
Keime, die sich entfalten ließen, keinen
Impuls, der – wie etwa das Anfangsmotiv
in Beethovens 5. Symphonie – die Musik
unaufhörlich vorantriebe.
IMPROVISATORISCHE
VERLAUFSSTRUKTUR
Die Struktur des Themas und die formale
Nähe des Ganzen zum Rondo bedingen sich
also gegenseitig. Es ist auch kein Zufall,
dass Hartmann das Thema stets unverändert wiederholt – von kleineren Details
abgesehen, die wie improvisiert oder wie
ornamental wirken und aus der Eigenart
der Instrumente, die sie gerade spielen,
entwickelt sind. Zwischen die rondoartig
wiederkehrenden Themenzitate, die den
Blasinstrumenten vorbehalten sind, vornehmlich der Trompete, hat Hartmann jeweils themenlose Abschnitte eingeschoben, in denen kurze, ein- oder mehrtaktige
Melodie- und Rhythmusmodelle aufgestellt,
wiederholt, sequenziert, variativ abgewandelt und vor allem immer wieder durch
neue Modelle abgelöst werden, eingebettet
in liegende Klänge und flankiert von ostinatohaften Repetitionen. Das Verfahren ist
indessen nicht das der motivisch-thematischen Arbeit, wie man es aus Beethovens
Symphonien kennt, sondern ein stets improvisatorisch anmutendes, gleichsam assoziatives Sich-Vorwärtsranken. Hartmanns
Musik eignet weder die logische Verknüpfung der musikalischen Einzelheiten zum
diskursiven Zusammenhang noch die strikte Ausrichtung auf ein Ziel wie das der Reprise oder des Finales. Die Form-Balance
der klassischen Symphonie wird sozusagen
überwuchert und, wie es scheint, auch
ganz bewusst.
INNERER SPANNUNGSBOGEN
Überschrieben ist Hartmanns zweite Symphonie mit »Adagio« – als handele es sich
primär um etwas anderes als eine Symphonie. Das Werk ist darum nicht etwa ein
vereinzelter »Langsamer Satz« – so, als
hätte Hartmann es lediglich unterlassen,
dem Adagio die drei anderen üblichen Sätze einer Symphonie hinzuzufügen. Die
Tempovorschrift Adagio findet sich nur zu
Beginn und am Ende der Komposition; dazwischen gibt es zahlreiche andere Anweisungen zum Tempo. Beschrieben und vollzogen wird eine Entwicklung, die über
viele Zwischenstufen von Adagio über Andante zu Allegro führt und über Maestoso
und Molto tranquillo zu Adagio wieder zurückkehrt. Die schnelleren Sätze der klassischen Symphonie sind also, zumindest in
der Gestalt ihrer Tempi, in das Adagio inte­
griert, das als Ganzes wesentlich von der
Spannung zwischen Langsam und Schnell
lebt. Die Symphonie schließt, wie sie begann: mit einem Solo der Violoncelli und
Kontrabässe, das als Pendant zur unangetasteten Tonalität ihres Haupt­themas in
reinstem G-Dur endet.
Karl Amadeus Hartmann: 2. Symphonie
9
Anti-»Eroica«
und Un-»Neunte«
WOLFGANG STÄHR
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
(1906–1975)
Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
1. Allegro
2. Moderato
3. Presto
4. Largo
5. Allegretto-Allegro
mit Orchester, Chor und Solisten. Aber
nach einem ersten Einstieg in das ambitionierte Projekt im Kriegswinter 1944/45
brach Schostakowitsch die Komposition
unvermittelt ab und begann erst im darauffolgenden Sommer wieder mit einer
Symphonie: obschon in der »heroischen«
Tonart Es-Dur konzipiert, sollte sie den
mittlerweile öffentlich verbreiteten Erwartungen an eine triumphalistische Sieges­
symphonie zuwiderlaufen. Am 30. August
1945 lag die Partiturreinschrift von Schos­
takowitschs »Neunter« vor.
URAUFFÜHRUNG
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 25. (12.) September 1906 in
Sankt Petersburg; gestorben am 9. August
1975 in Moskau.
ENTSTEHUNG
Pläne und Ideen zu einer 9. Symphonie beschäftigten Schostakowitsch bereits während der Zeit des Zweiten Weltkriegs: Offenbar dachte er an ein großformatiges Werk
Am 3. November 1945 in Leningrad (heute:
St. Petersburg) in der Leningrader Philharmonie (Leningrader Philharmoniker unter
Leitung von Jewgenij Mrawinskij). Die Uraufführung dieser unpathetischen und unheroischen »Neunten« sorgte für heiligen
Zorn bis hinauf an die Spitze des sowjetischen Imperiums: Stalin selbst habe sich
empört, erzählt Schostakowitsch in seinen
Memoiren, ihm fehlten Chor, Solisten, Apotheose und Bombast, vor allem »die Beweihräucherung des ›Größten‹«, als den
Stalin sich natürlich selbst ansah…
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
10
PERSIFLAGE AUF ALLES HELDENHAFTE UND MILITÄRISCHE
»Die Neunte« ! Eine Symphonie der allumfassenden Verbrüderung, das Hohelied des
Weltfriedens, Lob und Preis für den »lieben
Vater überm Sternenzelt« (Schiller): Ein
solches Gipfelwerk war die angemessene
Feier für Iosiff Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, »der Stählerne«,
zumal am triumphalen Ende des Großen
Vaterländischen Krieges. So jedenfalls
empfand es der Diktator selbst. Noch vor
der deutschen Kapitulation hatte Dmitrij
Schostakowitsch, unvorsichtig genug, das
Projekt einer Siegessymphonie für großes
Orchester, Chor und Solisten angedeutet,
und durch eine Meldung der russischen
Nachrichtenagentur TASS im Sommer 1945
war aus dem Gerücht Gewissheit geworden;
zumindest schien es so. Als allerdings im
Oktober der Komponist gemeinsam mit dem
Pianisten Swjatoslaw Richter eine Klavierfassung dieser 9. Symphonie im Moskauer
Komitee für Kunstangelegenheiten vortrug, verfinsterten sich die Gesichter der
anwesenden Künstler und Kritiker.
Die Leningrader Uraufführung am 3. November 1945 unter der Leitung von Jewgenij Mrawinskij geriet schließlich zum
Skandal. Statt des erwarteten Heldenhymnus erklang – ausgerechnet in Es-Dur, der
Tonart der »Eroica« – eine Persiflage auf
alles Heroische und eine Ironisierung des
Militärischen. Die ominöse Atmosphäre des
»Moderato«, die weite und freie Deklamation des Solofagotts im »Largo« befremdeten das Auditorium: »O Freunde, nicht
diese Töne !« Aber geradezu beleidigt registrierte man das Finale: Nicht die Spur
von einer Apotheose, ganz im Gegenteil –
eine maliziöse Variante des »per aspera ad
astra« beschloss jene teils hintergründig
klassizistische, mit Irritationen der tonalen Balance und trügerischer Periodizität
spielende, teils abgründig pessimistische
Symphonie. »Auf wen zählte Schostakowitsch, als er in seiner 9. Symphonie den
leichtsinnigen Yankee darstellte, statt das
Bild des siegreichen sowjetischen Menschen zu schaffen ?«, fragte empört nicht
nur die »Sowjetskaja musyka«. Ein berühmter russischer Musikwissenschaftler
fühlte sich persönlich gekränkt, ein einheimischer Tonsetzer sprach von einem »musikalischen Bubenstreich« und gefiel sich
in dem betont bissigen Kommentar: »Der
alte Haydn und ein waschechter Sergeant
der US-Army, wenig überzeugend auf Charlie Chaplin getrimmt, jagten im Galopp mit
allen Gebärden und Grimassen durch den
ersten Satz dieser Symphonie…«
Der junge Sergej Slonimskij hingegen, ein
angehender Komponist, sah die angeblich
unzeitgemäßen und skandalösen Eigenarten
der Symphonie in einem ganz anderen Licht:
»Wir Jugendliche damals spürten sofort die
lebendige Angemessenheit und Notwendigkeit dieser Musik in jener Zeit. Unterbewusst nahmen wir die polemische Bedeutung der ›Neunten‹, ihren Spott über jede
Art von Heuchelei, Pseudo-Monumentalität
und bombastischem Redeschwall wahr.«
Leonard Bernstein, der den subversiven
Humor dieser »Neunten«, oder besser dieser Un-»Neunten«, über alles liebte, sollte
später einmal in einem Vortrag Schostakowitschs Kunst der Desillusionierung mit
einem amüsanten Vergleich würdigen: »Es
ist, als würde man sich zu einem großen,
hochoffiziellen Bankett niederlassen und
dann mit Hotdogs und Potato chips bedient.«
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
Unter Aufsicht des Genossen Stalin und einer ins Abseits gerückten Voltaire-Büste:
Schostakowitsch spielt für Offiziere der »Roten Armee« (um 1944)
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
12
»SCHEUSSLICHE, ABSTOSSENDE,
PATHOLOGISCHE TENDENZEN«
Nicht erst mit dem ZK-Beschluss vom 10.
Februar 1948 wurde offensichtlich, dass
die sowjetische Kulturpolitik jeder Kunst
entgegenzutreten entschlossen war, in der
sie moderne westliche Einflüsse – etwa
klassizistische – , Satire und Groteske und
vor allem »Formalismus« zu erkennen
glaubte. Der Begriff des »Formalismus«
diente als Worthülse für alles, »was man
nicht gleich versteht« (wie der Komponist
Sergej Prokofjew sarkastisch anmerkte).
In der Enttäuschung und Entrüstung über
Schostakowitschs Opus 70 begann sich erneut – nach der Unterbrechung des Krieges
– jene Ideologie der Volkstümlichkeit zu
regen, die Schostakowitsch schon einmal,
1936, in der Kampagne gegen seine Oper
»Lady Macbeth von Mzensk« erlebt hatte
und die ihn 1948 mit verstärkter Brutalität
treffen sollte. Doch Schostakowitsch hatte
nicht nur »falsch« komponiert, »volksfremd« und für »auserwählte Ästheten«,
sondern obendrein den fundamentalen
Zorn Stalins erregt. »Der große Führer und
Lehrer, so vermuten viele, habe in dieser
schweren Nachkriegszeit sicherlich anderes zu tun gehabt, als sich über Symphonien und fehlende Huldigungen zu ärgern«,
heißt es in Schostakowitschs Memoiren.
»Man wird mir vielleicht wenig Glauben
schenken, aber so absurd es auch klingen
mag: Stalin kümmerte sich um ihm vorenthaltene Huldigungen sehr viel mehr als um
die Angelegenheiten des Landes.«
So konnte es nicht überraschen, dass Schos­
takowitsch, zusammen mit dem aus dem
westlichen Exil heimgekehrten Prokofjew,
an der Spitze einer Liste von Komponisten
rangierte, gegen die sich der geballte Unmut der Partei richtete. An drei Tagen der
ersten Februarwoche 1948 fand eine Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU in
Moskau statt, bei der man den »beklagenswerten« Zustand des sowjetischen Musiklebens im allgemeinen und der Kompositionen Schostakowitschs im besonderen erörterte. Resultat und Folge jener Tagung
war der schon erwähnte ZK-Beschluss vom
10. Februar, der die »formalistische« Richtung in der zeitgenössischen Musik anprangerte: »Indem viele Sowjetkomponisten die besten Traditionen der russischen
und westlichen ›klassischen‹ Musik verschmähen, verlieren sie auf der Jagd nach
falsch verstandenem Neuerertum in der
Musik die Fühlung mit den Anforderungen
und dem künstlerischen Geschmack des
Sowjetvolks, kapseln sich in einem engen
Kreis von Fachleuten und musikalischen
Feinschmeckern ab, setzen die hohe gesellschaftliche Rolle der Musik herab und
schmälern ihre Bedeutung, die sie auf die
Befriedigung des entarteten Geschmacks
ästhetizistischer Individualisten beschränken.«
Was die Partei verlangte, war eine Musik,
welche »die kommunistische Bewusstheit
hebt und zu großen Leistungen begeistert«. Noch im selben Februar 1948 traf
sich der Moskauer Komponistenverband,
um den zitierten ZK-Beschluss zu würdigen
und zu begrüßen. Der Komponist Tichon
Chrennikow hielt bei dieser Gelegenheit ein
an agitatorischer Schärfe kaum zu überbietendes Referat und wurde daraufhin
folgerichtig zum Generalsekretär des Gesamtverbandes der sowjetischen Komponisten erkoren – ein Amt, das er bis zum
Jahr 1992 bekleidete… Chrennikow sagte:
»Eine Art Chiffre, eine abstrakte Musiksprache verdeckt oft echte Emotionen. Das
ist dem sowjetischen realistischen Schaffen fremd, das ist purer Epressionismus,
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
13
Unter dem moralischen Diktat Beethovens: Schostakowitsch komponiert
alles andere als eine »Neunte« (1945)
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
14
ein sich Versenken in die Welt scheußlicher,
abstoßender, pathologischer Erscheinungen. Solche Tendenzen finden sich auf vielen Seiten der 8. und 9. Symphonie Dmitrij
Schostakowitschs.«
»BESCHULDIGTER, VERBEUGE
DICH UND BEDANKE DICH !«
Selbstverständlich blieb den inkriminierten Komponisten das demütigende Ritual
der öffentlichen Selbstbezichtigung nicht
erspart. Auch Schostakowitsch sah sich
gezwungen, der Partei, die ja nur sein Bestes wünschte, für ihre gerechte Kritik zu
danken und zu versichern, »dass ich konkrete Wege suchen und finden muss, die
mich zu einem sozialistischen, realistischen, volkstümlichen Schaffen führen
werden. Ich soll und will den Weg zum Herzen des Volkes finden.« Wie Schostakowitsch in Wahrheit dachte, hat er später in
seinen Memoiren offenbart: »Wenn man
dich auf Befehl des Führers und Lehrers
von oben bis unten mit Schmutz übergießt,
wage ja nicht, dich zu säubern. Verbeuge
dich und bedanke dich ! Es wird sowieso
niemand deinen feindlichen Ansichten Beachtung schenken. Niemand wird für dich
eintreten. Und das traurigste, du kannst
dich nicht mal bei deinen Freunden aussprechen, denn unter diesen traurigen Umständen hast du gar keine Freunde mehr.«
Schostakowitsch verfolgte nach den Ereignissen des Jahres 1948 eine Art Doppelstrategie. Einerseits lieferte er offizielle
Musik, die den ästhetischen Maximen des
»Sozialistischen Realismus« angenähert
war: etwa ein Oratorium mit dem Titel »Das
Lied von den Wäldern«, das Chrennikow als
»Zeugnis der tiefen schöpferischen Wandlung des Komponisten« wertete, die Musik
zu dem Film »Der Fall von Berlin«, die mit
dem Stalinpreis Erster Klasse ausgezeichnet wurde, oder die zum XIX. Parteitag der
KPdSU komponierte Kantate Ȇber unserer
Heimat strahlt die Sonne«. Doch diese Stücke dienten als kalkulierte – und nach dem
10. Februar 1948 lebensnotwendige – Zugeständnisse, als »Teil eines Tributs, der
zu entrichten war«. So hat es Schostakowitschs Sohn Maxim erläutert: »Man musste eben bestimmte Werke schreiben. Danach hatte Schostakowitsch die Möglichkeit, das zu komponieren, was er wirklich
wollte. Wenn man weiß, dass er ständig
eine Maske tragen musste, versteht man,
dass er nur so sein eigentliches Œuvre retten konnte. Ich liebe diese offiziellen Arbeiten nicht besonders, möchte sie aber
vom künstlerischen Standpunkt her nicht
verdammen. Schließlich bin ich sein Sohn.
Ich bin überzeugt, dass mein Vater richtig
gehandelt hat, denn es war der einzig mögliche Weg.«
In den späten 50er Jahren traf der deutsche Journalist Gerd Ruge einmal mit
Schostakowitsch zusammen. »Schostakowitsch ist ein kleiner, grauhaariger Mann
mit schmalem Gesicht und nervös umherirrenden Augen. Während ich ihm Fragen
stelle, blickt er mich starr, wie hypnotisiert
an. Wenn er antwortet, blickt er im Zimmer
herum, fährt sich ständig mit zitternden
Händen durch das kurze Haar, reibt sich
die Augenbrauen, setzt die Brille auf und
ab. Er spricht schnell und dennoch oft stockend, so als kontrolliere er sich bei jedem
Satz, um ja nichts Falsches zu sagen. Selten ist es mir so schwer geworden, ein Gespräch zu führen«, gestand der deutsche
Korrespondent. »Dmitrij Schostakowitsch
ist ein gehetzter Mann, und vielleicht erklärt sich daraus jene Nervosität, die dem
Besucher wie Unsicherheit vorkommt. Vielleicht ist er tatsächlich ganz zufrieden
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
15
Dmitrij Schostakowitsch auf nicht enden wollender Wahrheitssuche in der »Prawda« (um 1960)
damit, dass ihn die Partei vom ›Irrweg des
Formalismus‹ zurückholte – als eine strenge und harte Lehrerin, die zu strafen, aber
auch zu belohnen und zu verzeihen weiß.
Niemand kann sagen, was ihn diese Entscheidung gekostet hat, und niemand kann
wissen, was hinter dem zuckenden Gesicht
vorgeht.«
Dmitrij Schostakowitsch: 9. Symphonie
16
Joseph Willibrord Mähler: Ludwig van Beethoven als Orpheus in arkadischer Landschaft (1804)
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
17
Apotheose des
Militärischen ?
MARCUS IMBSWEILER
LUDWIG VAN BEETHOVEN
(1770–1827)
Konzert für Klavier und Orchester
Nr. 5 Es-Dur op. 73
1. Allegro
2. Adagio un poco moto
3. Rondo: Allegro, ma non tanto
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geburtsdatum unbekannt: geboren am 15.
oder 16. Dezember 1770 in Bonn, dort Eintragung ins Taufregister am 17. Dezember
1770; gestorben am 26. März 1827 in Wien.
ENTSTEHUNG
Am 22. Dezember 1808 fand jene berühmte Wiener »Akademie« statt, in der nicht
nur die 5. und 6. Symphonie Beethovens
zum ersten Mal erklangen, sondern auch
die sog. »Chorfantasie«, Teile der C-DurMesse und das 4. Klavierkonzert G-Dur.
Kurz danach begann Beethoven mit der Komposition eines weiteren Klavierkonzerts,
das im Autograph den Titel »Klavierkonzert
1809« trägt. Die Arbeit an dem Werk zog
sich offenbar über das gesamte Jahr hin
und endete wohl erst im Februar 1810.
WIDMUNG
»Dédié à Son Altesse Imperiale Roudolphe
Archi-Duc d’Autriche«: Beethoven widmete das Konzert seinem Freund und Gönner,
dem Erzherzog (und späteren Kardinal)
Rudolph von Habsburg (1788–1831), dem
jüngsten Bruder des regierenden Kaisers
Franz II., der 1819 Fürsterzbischof von
Olmütz wurde. Dem Erzherzog, der wohl
seit 1804 Beethovens Klavierschüler war,
sind zahlreiche Werke gewidmet, darunter
das 4. Klavierkonzert, die »Hammerklavier-Sonate« und die »Missa solemnis«.
URAUFFÜHRUNG
Am 28. November 1811 in Leipzig im Großen Gewandhaus-Saal (Leipziger Gewandhaus-Orchester unter Leitung von Johann
Philipp Christian Schulz; Solist: Friedrich
Schneider). Die Wiener Erstaufführung erfolgte Anfang 1812 mit dem BeethovenSchüler Carl Czerny am Klavier.
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
18
Kontrastierende Werkpaare sind eines der
auffälligsten Merkmale im Schaffen Ludwig van Beethovens. Die 5. und 6. Symphonie bilden das wohl berühmteste dieser
»Pärchen«, zu erwähnen sind aber auch
die Symphonien Nr. 7 und 8, die beiden Cellosonaten op. 5 sowie die Klavierkonzerte
Nr. 4 und 5. In all diesen Fällen wird Beethovens Bestreben deutlich, innerhalb
­einer Gattung möglichst unterschiedliche
Ausdruckswelten auszuloten. Während
etwa das 4. Klavierkonzert als schlechthin
lyrisches, introvertiertes gilt, gibt sich
das zwei Jahre später komponierte 5. Klavierkonzert dezidiert anders, nämlich
selbstbewusst-auftrumpfend – ein Werk
in der »heroischen« Tonart Es-Dur, von
Marschtonfällen durchsetzt. Nicht umsonst trägt es im angelsächsischen Bereich den Beinamen »Emperor«, wobei
offenbleibt, auf welchen »Herrscher« diese Musik gemünzt sein soll. Berühmtheit
erlangte Alfred Einsteins Wort von der
»Apotheose des Militärischen«, die er vor
allem im 1. Satz verwirklicht sah; andere
sprachen von Beethovens »kriegerischstem Konzert«.
MUSIK IN ZEITEN DES KRIEGES
Dass das Begriffsfeld des »Militärischen«
gerade bei diesem Werk Anwendung findet,
ist alles andere als ein Zufall. Im Entstehungsjahr 1809 kulminierten die jahrelangen bewaffneten Auseinandersetzungen
der europäischen Mächte – auf der einen
Seite Österreich, Preußen, England und
Russland, auf der anderen die französische
Republik unter ihrem Heerführer Napoléon
Bonaparte – in der zweiten Besetzung
­Wiens. Am 11. Mai begann das Bombardement, das Beethoven, beide Ohren mit Kissen bedeckt, im Keller seines Bruders Caspar überstand. Nach der Kapitulation litten
die Einwohner unter hohen Zwangsabgaben,
Verknappung der Lebensmittel sowie allgemein unter Einschränkungen des öffent­
lichen Lebens. Vor diesem wahrhaft martialischen Hintergrund entstand das 5. Klavierkonzert.
Nun hatte Beethoven bereits einige Jahre
zuvor ein Es-Dur-Werk »heroischen« Charakters und »kriegerischer« Züge vorgelegt: die 3. Symphonie. Sie »ist eigentlich
betitelt Bonaparte«, verriet Beethoven
dem Verlag Breitkopf & Härtel. Später jedoch, in der Erstanzeige des gedruckten
Werks, vermied er jede direkte Zuschreibung: »Sinfonia eroica, composta per festeggiare il sovvenire di un grand’ uomo« /
»Heroische Symphonie, komponiert, um
das Andenken eines großen Mannes zu feiern«. Enttäuscht von Napoléons usurpatorischer Politik, soll Beethoven die Widmung
getilgt haben. Wer aber verbirgt sich dann
hinter dem »grand’ uomo« ? Möglicherweise der Preußenprinz Louis Ferdinand, dem
Beethoven bereits sein 3. Klavierkonzert
gewidmet hatte ? Der hochbegabte Musiker
aus dem Hause Hohenzollern fiel im Oktober 1806 bei einem Gefecht gegen die
Franzosen – kurz vor Erscheinen der »Eroica«.
ZWISCHEN DEN FRONTEN
Auch beim 5. Klavierkonzert lässt sich
nicht entscheiden, wem der Beiname »Emperor« gelten könnte. An Napoléon wird
Beethoven kaum gedacht haben, höchstens
in Form eines Idealbilds, das längst von der
Realität eingeholt worden war. An Franz I.,
den ehemals deutschen, jetzt österreichischen Kaiser, der aus seiner reaktionären
Gesinnung kein Hehl machte, noch weniger.
Nun findet sich im Autograph des Konzerts
ein handschriftlicher Eintrag Beethovens,
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
19
Isidor Neugass: Ludwig van Beethoven (1805)
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
20
der auf Frankreichs »Empereur« Bezug
nimmt – allerdings in negativer Weise:
»Östreich löhne Napoleon«. Soll heißen:
Das Land möge es dem Franzosen heimzahlen. Andererseits hatte sich Beethoven
noch kurz vorher, Anfang 1809 nämlich,
mit dem Gedanken getragen, als Kapellmeister nach Kassel zu gehen. Dort regierte kein Geringerer als der jüngste Bruder
Napoléons, Jérôme. In Wien machte man
ihm daraufhin ein Gegenangebot, gekrönt
durch eine üppige Jahresrente von 4000
Gulden. Treibende Kraft hinter diesem »Ehrensold« war Erzherzog Rudolph, der Widmungsträger des 5. Klavierkonzerts.
Dieses biographische Hin und Her lässt ahnen, in welcher Zwickmühle sich Beethoven
1809 befand. Hin- und hergerissen zwischen seinem einstigen Idol Napoléon, das
den Kontinent mit Tod und Vernichtung
überzog, und einer Adelsgesellschaft vor
Ort, die ihn, den Republikaner, finanziell
und künstlerisch unterstützte. Welche Berechtigung hatte in dieser Situation dann
noch das Konzept des Heroischen ? War es
angesichts der realen Verhältnisse nicht
zum Scheitern verurteilt ?
IM GESTUS DER UNBEUGSAMKEIT
Tatsächlich beginnt das Es-Dur-Konzert
mit einer musikalischen Geste, wie sie
selbstsicherer kaum ausfallen könnte: einer
simplen Kadenzformel im Orchester (Akkorde auf Es – As – B), die vom Solisten mit
brillantem Skalenwerk angereichert wird.
Grundtonart, harmonischer Rahmen, Lautstärke, Virtuosität, Klangspektrum – alles
ist von vornherein da, nichts muss mühsam
erarbeitet werden, nichts wird in Frage gestellt. Nur eines fehlt: ein Thema. Aber das
wird sofort, nach Abschluss der Kadenz,
vom Orchester nachgereicht. Breite Brust
auch hier: ein stolz präsentierter Marschgedanke, klar gegliedert, ungetrübtes EsDur, zwar nur in Streicherbesetzung, dafür
aber mit Hervorhebung der »zackigen«
Punktierungen durch die Hörner. So weit,
so eindeutig. Allerdings kleidet Beethoven
bereits das Echo dieser Themenvorstellung
in ein neues Klang- und Ausdrucksgewand:
Die Solo-Klarinette übernimmt zu weicher
Holzbläserbegleitung, piano und dolce. Kurze Irritation, dann kehrt der Militärgestus
zurück, intensiviert durch den Einsatz von
Blechbläsern und Pauke. Das Hauptthema
erklingt in voller Ausdehnung, um in der
Folge dem Seitenthema zu weichen.
Und an dieser Stelle, dem Eintritt des Seitensatzes, zeigt sich, dass es sich bei der
kurzen Eintrübung des Heroischen durch
die Klarinette um keine spontane Klang­
variation handelte, sondern um einen wesentlichen Teil des Gesamtkonzepts. Denn
statt eines fest umrissenen Seitenthemas
präsentiert uns Beethoven gleich mehrere
Ausprägungen derselben Grundidee, die in
völlig verschiedene Richtungen weisen. Zunächst ein schüchtern stockendes Streichergebilde in es-Moll (!), das von den Hörnern gleichsam korrigiert wird: Sie formulieren es um zu einem lyrischen Bläser­duett
in Es-Dur. Dies also, scheint Beethoven zu
sagen, ist die korrekte Formulierung meiner Idee. Doch weit gefehlt: Bei der Wiederholung der Exposition löst der Solist das
thematische Material erst in eine pendelnde
Triolenbewegung auf, um es dann mit zarten
Achtelläufen zu umspielen. Worauf das Orchester, erneut in waghalsiger Rückung,
einen rüden Kasernenhofton anschlägt: das
Seitenthema ertönt als lärmender, laut gestampfter Marsch mit Bläsergeklingel und
starrem Bass. Ist dies nun die richtige Ver-
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Franz Klein: Nach einer »Lebendmaske« gestaltete Büste Ludwig van Beethovens (1812)
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Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
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sion, da sie dem Konzertbeginn am nächsten kommt ? Oder bloß eine besonders belanglose ?
BRÜCHE, ZURÜCKNAHMEN,
INFRAGESTELLUNGEN
Da sich der geschilderte Ablauf in der Reprise fast wörtlich wiederholt, kann die
Antwort nur lauten: Es gibt keine »richtige« Version. Das Seitenthema existiert in
multiplen Gestalten, deren Ausdrucksgehalt ganz unterschiedliche Assoziationen
hervorruft – und das Militärische ist nur
ein Aspekt unter ihnen. Schaut man nun in
die Mitte des Satzes, in die Durchführung,
die so oft bei Beethoven den Kernkonflikt
enthält oder einen Durchbruch erzwingt, so
wird man feststellen, dass der dortige Höhepunkt von einer Aggressivität geprägt
ist, die man durchaus »kriegerisch« oder
»militärisch« nennen könnte. Den monotonen Marschsignalen des gesamten Bläserapparats schleudert der Solist dröhnende
Akkorde entgegen und »flüchtet« sich in
ein an Liszt gemahnendes Fugato in Doppeloktaven. Nur: Dieser Höhepunkt bleibt folgenlos. Er erzwingt nichts, sondern wird
seiner Dynamik beraubt, ebbt ab, verliert
sich schließlich im Nichts. Erst das Orchester gibt dem Ganzen wieder eine Richtung,
und zwar durch Rückkehr zum Beginn des
Konzerts: Mit der Kadenzformel der Anfangstakte setzt die Reprise ein.
Von einer »Apotheose des Militärischen«
lässt sich also nur auf den ersten Blick
sprechen. Im Innern dieses so geharnischt
anstürmenden Satzes walten Brüche, Zurücknahmen, Infragestellungen. Auch das
Versprechen atemberaubender Virtuosität
läuft ins Leere. So unbeherrscht der Solist
dem eröffnenden Orchester ins Wort fällt,
so technisch vertrackt auch sein Part ist:
Kaum einmal erhält er Gelegenheit, sich
frei von allen kompositorischen Zwängen
zu entfalten, sondern bleibt stets eingebunden in das orchestrale Gewebe. Das
betrifft sowohl die Gleichberechtigung der
Stimmen, die sich die Ausformulierung der
Gedanken teilen, als auch die totale Eingliederung der virtuosen Passagen, des Skalenwerks und der gehämmerten Oktaven in
den thematischen Prozess. Dem fällt als
äußerlich hervorstechendes Merkmal das
Markenzeichen des klassischen Solokonzerts zum Opfer: die Kadenz. Beethoven
gestattet dem Pianisten zum Ende des ersten Satzes lediglich ein aphoristisches Anreißen der Hauptgedanken, notiert ansonsten aber unmissverständlich: »Non si fa
una cadenza« – »hier keine Kadenz«.
ADAGIO UND RONDO
Und die übrigen Sätze ? Das Finale gestaltet Beethoven als forsches Rondo mit
rhythmisch widerborstigem Thema, einer
Art kraftstrotzendem Geschwindwalzer.
Zupackend wie der erste Satz, ist es doch
meilenweit von allem kriegerischen Jargon
entfernt. Dort, wo der Hörer des frühen
19. Jahrhunderts eine zweite Kadenz erwartete, kurz vor Ende des Finale nämlich,
gelingt Beethoven ein wirklich atemberaubender Effekt: Ganz plötzlich wird der
Schwung des 6/8-Takts gebremst, übrig
bleiben, ständig retardierend, allein Klavier und Pauke mit kurzen, in sich zusammensackenden Themenfragmenten. Am
Zielpunkt dieser Entwicklung, einer absoluten Tonlosigkeit, durchhaut der Solist
gewaltsam den Knoten und leitet mit einem
letzten trotzigen Skalenlauf zum Satzschluss über.
Das ganz Andere präsentiert der langsame
Satz: ein Adagio in H-Dur (!), so weihe-
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
23
Franz Jaschke: Die Wiener Burgbastei nach der Erstürmung durch französische Truppen (1809)
voll-innig, dass der Klaviersolist der Wiener Erstaufführung, Beethovens Schüler
Carl Czerny, in ihm »die religiösen Gesänge
frommer Wallfahrer« zu hören glaubte.
Vielleicht haben sie dem Komponisten tatsächlich vorgeschwebt; entscheidend ist
jedoch, dass auch sie, wie zuvor die militärischen Versatzstücke, ummodelliert und
in den thematischen Prozess eingebunden
werden. Gesanglichkeit ist allerdings das
herausragende Merkmal dieses Mittelsatzes, und so kommen denn auch die Holzbläser hier mehr als anderswo zu Wort.
DIE KUNST DES ÜBERGANGS
Einen letzten Hinweis darauf, dass Etiketten wie »militärisch« oder »religiös« immer
nur ein bestimmtes, besonders auffälliges
Äußeres einer Passage treffen, aber längst
nicht das Werk insgesamt oder auch nur
einen seiner Sätze, bieten die Übergänge
zwischen den extrem kontrastreichen Sätzen. Vor dem Finale – dieser Effekt wurde
zu recht immer wieder hervorgehoben –
findet im Orchester eine überraschende
Halbtonrückung nach unten statt (von H
nach B), und in die neugeschaffene Atmosphäre hinein tastet sich der Solist mit den
vorsichtigen Anfangsklängen des Rondothemas, bevor er das Finale geradezu
überfallartig einläutet. Aber auch der
Übergang vom 1. zum 2. Satz ist gestaltet,
indem das Es, der Schlusston des Allegro,
als Dis und damit als Terz von H-Dur am
Beginn des Adagio steht. Die heroische Tonart wird, um mit Bernhard Rzehulka zu
sprechen, »gleichsam umgebettet und
muss sich neu bewähren«.
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
24
Kaiser, Pilger, Jäger
WOLFGANG STÄHR
VORBILDCHARAKTER
UND GATTUNGSAUTORITÄT
In Wechselspiel und Wettstreit, im spannungsreichen Gegensatz zwischen Tutti
und Solo, Monumentalität und Intimität,
ordnender Kraft und improvisatorischer
Laune lag einst der Ursprung des Konzerts,
seine Grundidee. Wenn Ludwig van Beet­
hoven am Beginn seines 5. Klavierkonzerts
die wie Pfeiler eingerammten Tutti-Akkorde
des Orchesters mit den Tonkaskaden und
Passagen des Solisten kontrastieren lässt,
so zelebriert er das konzertante Prinzip in
seiner reinsten und elementarsten Form.
Noch bevor auch nur ein Takt der Exposition erklungen ist, hat er mit diesem Prolog
das wahre Thema des Konzerts angeschlagen, das sich wie ein Drama mit handelnden
Akteuren ereignet: Dem Solisten gebührt
natürlich die Hauptrolle, und er gestaltet
sie mit einer Freiheit gegenüber dem Orchester, mit einem primadonnenhaften
Selbstbewusstsein – etwa wenn er sich am
Ende des ersten Orchesterritornells gleich
mehrfach zum Auftritt bitten lässt – und
einer Autorität, wie sie bis dahin in der Geschichte der Gattung ohne Beispiel waren.
Die großen Virtuosenkonzerte eines Liszt,
Tschaikowskij oder Rachmaninow finden in
diesem epochalen Werk Ludwig van Beet­
hovens ihr Urbild.
»EMPEROR CONCERTO«
Aber der Eindruck von Freiheit und Improvisation, den der Solopart des 1809 komponierten Es-Dur-Konzerts op. 73 wachruft,
basiert paradoxerweise auf der strengsten
Kontrolle durch den Komponisten. Denn
Beethoven überließ rein gar nichts dem Zufall oder etwa der momentanen Eingebung
des Pianisten, sondern fixierte jedes vermeintlich aus dem Augenblick geborene Detail akkurat im Notentext. Selbst die Kadenz, traditionellerweise ein »Freiraum«
des Solisten, steht auskomponiert und
»vor«-geschrieben auf dem Papier.
Gleichwohl: Beim Hören ist es nur der kühne, gebieterische, dominierende Charakter des Soloparts, der sich einprägt. Im
angelsächsischen Sprachraum wird es deshalb als »Emperor Concerto« bezeichnet
– in Frankreich erhielt es den Beinamen
»L’Empereur«, in Italien »L’Imperatore«.
Als »Kaiserkonzert« wurde Beethovens
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
25
Blasius Höfel [nach einer Zeichnung von Louis Letronne]: Ludwig van Beethoven (1814)
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
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26
Opus 73 in Deutschland zwar nie tituliert,
aber immerhin arrangierte der deutsche
Musiker und Instrumentenbauer Wilhelm
Wieprecht, ab 1845 mit der Reorganisation der preußischen Militärmusik betraut,
die Orchesterexposition des 1. Satzes für
die Besetzung einer Militärkapelle und ließ
diese Fassung bei Aufmärschen und Platzkonzerten spielen.
»FROMME WALLFAHRER«
Auf zweifellos friedliches Terrain begibt
sich Beethoven mit dem langsamen Satz,
einem »Adagio un poco mosso«. Carl Czerny, Schüler des Komponisten und überdies
Solist der Wiener Erstaufführung des EsDur-Konzerts, wusste zu berichten: »Als
Beethoven dieses Adagio schrieb, schwebten ihm die religiösen Gesänge frommer
Wallfahrer vor.« Czernys Aussage bezieht
sich auf jenes weihevolle und hymnenartige Thema, das zuerst von den Streichern
gespielt, im späteren Verlauf des Satzes
vom Pianisten »cantabile« vorgetragen
und schließlich von den Bläsern intoniert
wird.
Die stille Poesie und entrückte Klangschönheit dieser Musik suchen ihresgleichen;
und weit in die musikalische Romantik weisen jene Takte voraus, in denen das Klavier
zu Beginn auf den »religiösen Gesang« der
Streicher antwortet: mit kontemplativen,
suchenden, ziellosen Melodiezügen ohne
Anfang und Ende, gleichsam Fragmenten
einer geheimnisvollen, unhörbaren Musik.
Unwillkürlich wird man an die Verse Friedrich Schlegels erinnert: »Durch alle Töne
tönet / Im bunten Erdentraume, / Ein leiser
Ton gezogen, / Für den, der heimlich lauschet.«
»WILDER JÄGERCHOR«
Am Schluss des »Adagio« wird der Hörer
jedoch denkbar unsanft aus dieser träumerisch-unwirklichen Stimmung gerissen.
Der Pianist scheint das Thema des sich unmittelbar anschließenden Finale mehr ertasten als spielen zu wollen – ehe plötzlich
das Rondo mit Vehemenz hereinbricht und
uns auf den Boden der Wirklichkeit zurückholt. Joseph Kerman, der amerikanische
Beethoven-Forscher, vergleicht das eruptive Thema mit einem »wilden Jägerchor in
einer noch nicht geschriebenen romantischen Oper«.
Wollte man das Konzert als eine Art Rollenspiel ansehen, so wäre der Solist nach der
Darstellung eines Gebieters oder Herrschers im 1. Satz und eines romantischen
Pilgers im 2. Satz nun also in die Rolle eines
Jägers geschlüpft. Aber selbst in diesem
kraftbetonten und erdverbundenen Rondo
hat Beethoven für den Pianisten die schönsten lyrischen Episoden erdacht, und nur
von einem ostinaten Paukenrhythmus begleitet scheint es das Klavier mit einer
sanft absteigenden Akkordfolge zu einem
friedvollen Ende führen zu wollen. Doch
bevor das Finale verklungen ist, setzt der
Solist unvermittelt zu einer letzten virtuosen Attacke an. Dem Orchester bleibt danach gerade noch die Zeit zu einem hektischen und ziemlich abrupt gesprochenen
Schlusswort, in der Sprache des Theaters:
»Der Vorhang fällt schnell !«
Ludwig van Beethoven: 5. Klavierkonzert
27
Valery
Gergiev
DIRIGENT
In Moskau geboren, studierte Valery Gergiev zunächst Dirigieren bei Ilya Musin am
Leningrader Konservatorium. Bereits als
Student war er Preisträger des Herbert-­
von-Karajan-Dirigierwettbewerbs in Berlin.
1978 wurde Valery Gergiev 24-jährig Assistent von Yuri Temirkanov am MariinskijOpernhaus, wo er mit Prokofjews Tolstoi-­
Vertonung »Krieg und Frieden« debütierte.
2003 dirigierte Gergiev als erster russischer Dirigent seit Tschaikowskij das Saisoneröffnungskonzert der New Yorker Carnegie Hall.
Valery Gergiev leitet seit mehr als zwei Jahr­
zehnten das legendäre Mariinskij-Theater
in St. Petersburg, das in dieser Zeit zu einer
der wichtigsten Pflegestätten der russischen Opernkultur aufgestiegen ist. Darüber hinaus ist er Leiter des 1995 von Sir
Georg Solti ins Leben gerufenen »World Or­
chestra for Peace«, mit dem er ebenso wie
mit dem Orchester des Mariinskij-Theaters
regelmäßig Welttourneen unternimmt. Von
2007 an war Gergiev außerdem Chefdirigent des London Symphony Orchestra, mit
dem er zahlreiche Aufnahmen für das hauseigene Label des Orchesters einspielte.
Valery Gergiev präsentierte mit seinem
Mariinskij-Ensemble weltweit Höhepunkte
des russischen Ballett-und Opernrepertoires, Wagners »Ring« sowie sämtliche Symphonien von Schostakowitsch und Prokofjew. Mit dem London Symphony Orchestra
trat er regelmäßig im Barbican Center London, bei den Londoner Proms und beim Edinburgh Festival auf. Zahlreiche Auszeichnun­
gen begleiteten seine Dirigenten­karriere,
so z. B. der Polar Music Prize und der Preis
der All-Union Conductor’s Competition in
Moskau. Ab der Spielzeit 2015/16 ist Valery
Gergiev neuer Chefdirigent der Münchner
Philharmoniker.
Die Künstler
29
Nobuyuki
Tsujii
KLAVIER
mit dem Mariinskij-Orchester St. Petersburg
und natürlich mit zahlreichen japanischen
Klangkörpern.
Über »Nobu« wurden inzwischen in Japan
Bücher publiziert, eine erste CD war bereits
2007 erschienen. Es folgten zahlreiche weitere Aufnahmen, u. a. mit Mussorgskijs »Bildern einer Ausstellung« und dem 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow unter Leitung von Yutaka Sado. Eine USA-Tournee mit
dem Orpheus Chamber Orchestra führte
Nobuyuki Tsujii nach New York, wo er schon
früher mit einem Klavierabend in der Carnegie Hall debütiert hatte.
Nobuyuki Tsujii wurde 1988 in Japan geboren und zeigte schon früh eine ungewöhn­
liche musikalische Begabung. Für den von
Geburt an blinden Pianisten wurde das Klavier zum Ausdrucksmittel seiner inneren
Welt; sein Repertoire erarbeitet er sich nicht
mithilfe von Noten, sondern mit einem Vorspieler: Über das Hören und Nachspielen des
Gehörten. 2009 begann mit der Goldmedaille beim Van Cliburn-Klavierwettbewerb Nobuyuki Tsujiis internationale Karriere. Inzwischen trat er mit zahlreichen Orchestern
auf, u. a. mit den Londoner BBC-Orchestern,
Das als amerikanisch-japanische Koproduktion realisierte Filmporträt »Touching the
Sound – Die Klangwelt des blinden Pianisten
Nobuyuki Tsujii« wurde im September 2014
beim Filmfestival in San Diego präsentiert
und kurz darauf vom britischen Magazin
»Gramophone« zur DVD des Monats gekürt.
Regisseur Peter Rosen, der Tsujiis Leben
zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet
hat, will mit dem Film die Welt des blinden
Musikers für sein Publikum sicht- und hörbar
machen.
Die Künstler
30
Die Philharmoniker
als frühe Botschafter
russischer Musik
GABRIELE E. MEYER
Russische Musik in München ? Ein Streifzug durch die Programme der Münchner
Philharmoniker von 1893 (dem Gründungsjahr des Orchesters) bis in die frühen 30er
Jahre zeigt, dass neben den wiederkehrenden Beethoven-, Brahms- und Bruckner-­
Zyklen, die zahlreichen Richard Wagner-­
Abende nicht zu vergessen, auch nicht-­
deutsche Musik, vor allem aber russische
Musik aufgeführt wurde. Mit diesem Beitrag soll an einen Dirigenten und Komponisten erinnert werden, dem die Münchner
Musikfreunde Ende des 19. und Anfang des
20. Jahrhunderts einen äußerst spannenden Einblick in die damalige Musikentwicklung seines Landes verdankten, kannte man
doch außerhalb Russlands bislang kaum
mehr als die Musik des eher westeuropäisch orientierten Pjotr Iljitsch Tschaikowskij.
Gefördert von Milij Balakirew studierte der
am 5. Dezember 1869 in Tiraspol geborene
Nikolaj Iwanowitsch von Kasanli (auch: Kazanli) neben seiner Offizierslaufbahn u. a.
Komposition bei Nikolaj Rimskij-Korsakow,
bevor er ins Ausland ging. Wie schon vor
ihm Jurij Nikolajewitsch Gallitzin sah es
auch Kasanli als seine vornehmste Aufgabe
an, einen Überblick über die verschiedenen
musikalischen Stilrichtungen seiner Heimat
zu geben. In seinem Münchner Debüt als
Dirigent am 17. März 1897 – der ursprünglich angesetzte Termin wurde »wegen eingetretener Hindernisse« um zwei Tage verschoben – , stellte sich Kasanli sogleich mit
eigenen Kompositionen vor. Die »Münchner
Neuesten Nachrichten« würdigten seine
eingangs gespielte Symphonie in f-Moll als
durchaus ernstzunehmende Talentprobe.
»Sie zeigt nicht nur, daß der junge Mann
vortreffliche Studien gemacht hat, sondern sowohl im Aufbau wie in der Ausgestaltung der fast durchweg edel empfundenen Themen und Melodien ein Beweis
wahrer Begabung ist. […] Der seine Werke
selbst dirigierende Komponist wurde nach
jedem Satze der vom Kaim-Orchester vortrefflich gespielten Symphonie durch verdienten starken Beifall geehrt.« Die Vokalbeispiele hingegen fanden deutlich weniger
Anklang. Daran konnten auch die »Hervor-
Russische Musik in München
31
Programm des letzten »Russischen Symphonie-Concerts« unter Leitung von Nikolaj von Kasanli
Russische Musik in München
32
rufungen« am Ende des Abends nichts ändern.
Zehn Monate später übernahm Kasanli die
zweite Hälfte eines Konzerts mit der »Königlichen Hofopernsängerin Emilie Herzog aus
Berlin«. Zunächst spielte das Orchester
nochmals die f-Moll-Symphonie, danach
Borodins »Steppenskizze aus Mittelasien«
und Balakirews »Ouvertüre über ein spanisches Marschthema«. In dem am 30. Dezember 1898 geleiteten »Russischen Symphonie-Concert« machte Kasanli noch auf
weitere Komponisten aus dem Umkreis des
sogenannten »Mächtigen Häufleins« wie
Sergej Ljapunow und Aleksandr Tanejew
aufmerksam. Balakirew war diesmal mit
der symphonischen Dichtung »Russia« vertreten, der Dirigent mit In­strumentationen
von zwei Klavierstücken von Franz Liszt
(»Sposalizio« und »Il Penseroso«) sowie
von Schuberts »Erlkönig«. Das Echo war
diesmal recht zwiespältig. »Es ist überhaupt mit der ganzen jung-russischen
Schule eine eigene Sache. Ihre Vertreter
bringen oft recht Interessantes, bei dem
aber vielfach mehr Absonderlichkeit, als
echte Originalität sich äußert.«
Dank Kasanlis Engagement kam es ein gutes Jahr später gar zu einem »Concert Michael Glinka gewidmet«. Zum ersten Mal
erklangen große Teile – »Fragmente« wie
es damals hieß – aus der Oper »Ruslan und
Ljudmila«, die trotz des Fehlens von Handlungsübersicht und der jeweiligen Szenentexte in der Konzerteinführung äußerst
positiv aufgenommen wurden. So meinten
die »Münchner Neuesten Nachrichten«,
dass die Bruchstücke durchweg interessant und reich an charakteristischen Stellen seien, »deren Wirkung durch eine sehr
farbenreiche Instrumentation gehoben
wird«. Die sehr detaillierte Besprechung
würdigte zudem die Leistung aller Mitwirkenden. »Das Kaim-Orchester hielt sich
sehr wacker, und Herr v. Kasanli, der mit
viel Schwung und Lebendigkeit dirigierte,
wußte das oft sehr komplizierte Ensemble
gut zusammenzuhalten, wenn auch viele
Momente […] zu stärkerer Wirkung hätten
gelangen können.«
Weitere Konzerte mit wiederum zum Teil
noch nicht gehörten Werken von Aleksandr
Dargomyschskij, César Cui und Nikolaj
Rimskij-Korsakow sowie von Balakirew, Borodin und Tanejew folgten, dann verließ
Kasanli die Residenzstadt München. Bis auf
Modest Mussorgskij hatte er alle wichtigen
Komponisten vorgestellt, einen Bogen gespannt von Glinka und Dargomyschskij als
den Vätern der russischen Tradition bis zu
den Protagonisten und Sympathisanten
des »Mächtigen Häufleins«, denen ja auch
Kasanli angehörte. Doch riss die Vorliebe
für das Russische nach seinem Weggang
nicht ab. Nun gab es Komponisten zu entdecken wie beispielsweise die (bis heute)
völlig unbekannten Sergej Bortkjewitsch,
Wasilij Kalinnikow, Nikolaj Lopatnikow und
Modest Mussinghoff, aber auch selten gespielte Werke von Anton Rubinstein, Anatol
Ljadow, Aleksandr Skrjabin, Aleksandr Glasunow, Sergej Prokofjew, Igor Strawinskij,
Aleksandr Tscherepnin und Wladimir Vogel.
Noch bis zum Beginn der 30er Jahre wurden »Russische Abende« angesetzt, aber
keiner hatte sich so engagiert für die Musik
seines Landes eingesetzt wie jener heute
zu Unrecht vergessene Dirigent, Komponist und unermüdliche Organisator Nikolaj
von Kasanli. Am 23. Juli 1916 ist er in St.
Petersburg gestorben.
Russische Musik in München
33
Sonntag
08_11_2015 11 Uhr
Freitag
13_11_2015 20 Uhr h4
2. KAMMERKONZERT
Münchner Künstlerhaus
am Lenbachplatz
ARNOLD SCHÖNBERG
»Begleitmusik zu einer Lichtspiel­szene« op. 34
ALEXANDER SKRJABIN
»Prométhée. Le Poème du Feu«
für Klavier, Chor und Orchester
op. 60
RICHARD WAGNER
»Die Walküre«, 1. Aufzug
Konzertante Aufführung
»Funkelnde Welt«
LOUIS SPOHR
Nonett F-Dur op. 31
FERENC FARKAS
Alte ungarische Tänze aus dem
17. Jahrhundert für Bläserquintett
NINO ROTA
Nonett
MICHAEL MARTIN KOFLER
Flöte
KAI RAPSCH
Oboe
LÁSZLÓ KUTI
Klarinette
BENCE BOGÁNYI
Fagott
MIA ASELMEYER
Horn
QI ZHOU
Violine
KONSTANTIN SELLHEIM
Viola
SISSY SCHMIDHUBER
Violoncello
SHENGNI GUO
Kontrabass
VALERY GERGIEV
Dirigent
DENIS MATSUEV
Klavier
ANJA KAMPE
Sopran
JOHAN BOTHA
Tenor
RENÉ PAPE
Bass
PHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHEN
Einstudierung: Andreas Herrmann
Vorschau
34
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Helena Madoka Berg
Iason Keramidis
Florentine Lenz
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Triendl
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Julia Rebekka Adler, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
Yushan Li
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
35
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
Thomas Hille
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
FLÖTEN
POSAUNEN
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
Dany Bonvin, Solo
David Rejano Cantero, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
OBOEN
PAUKEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
Walter Schwarz, stv. Solo
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Lyndon Watts, Solo
Sebastian Stevensson, Solo
Jürgen Popp
Jörg Urbach, Kontrafagott
HÖRNER
Jörg Brückner, Solo
Matias Pin~eira, Solo
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
HARFE
Teresa Zimmermann
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
EHRENDIRIGENT
Zubin Mehta
INTENDANT
Paul Müller
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
36
IMPRESSUM
BILDNACHWEISE
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Abbildungen zu Karl Amadeus Hartmann: Franzpeter
Messmer
(Hrsg.),
Karl-Amadeus-HartmannJahr 2005 in Bayern,
München 2004; Sammlung
Stephan Kohler, München.
Abbildungen zu Dmitrij
Schostakowitsch: Jürgen
Fromme (Hrsg.), Dmitri
Schostakowitsch und seine Zeit – Mensch und
Werk, Duisburg 1984; Solomon Wolkow (Hrsg.), Die
Memoiren
des
Dmitri
Schostakowitsch, Berlin /
München 2000; Solomon
Wolkow,
Stalin
und
Schostakowitsch – Der
Diktator und der Künstler,
Berlin 2004. Abbildungen
zu Ludwig van Beethoven:
Joseph Schmidt-Görg und
Hans Schmidt (Hrsg.),
Ludwig van Beethoven,
Bonn 1969; H. C. Robbins
Landon, Beethoven – A documentary study, New
York 1970. Sonstige Abbildungen: Privatbesitz.
Künstlerphotographien:
Marco Borg­gre­ve (Gergiev); Yuji Hori (Tsujii).
Lektorat:
Stephan Kohler
Corporate Design:
HEYE GmbH
München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Color Offset GmbH
Geretsrieder Str. 10
81379 München
TEXTNACHWEISE
Egon Voss, Wolfgang Stähr,
Marcus Imbsweiler und
Gabriele E. Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner
Philharmoniker. Stephan
Kohler verfasste bzw. redigierte die lexikalischen
Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten Werken. Künstlerbiographien (Gergiev,
Tsujii): Nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den
Autorinnen und Autoren;
jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig.
TITELGESTALTUNG
Andreas Achmann beschäf­
tigt sich mit der Umsetz­
ung des Metaphysischen
in der Fotografie. So auch
im Motiv zu Beethovens 5.
Klavierkonzert. >>Es führt
uns aus der Dunkelheit
Impressum
durch Lichtbrechung in
die Helligkeit – von Krieg
zu Frieden, von Leid zu
Erlösung. Geprägt von den
welthistorischen Ereig­nis­
sen – Napoleon steht vor
den Toren Wiens – beginnt
Beethovens Konzert mit
einem ersten sehr mäch­
tigen Satz, der den Krieg
widerhallen lässt, und
endet im dritten Satz in
einem elegant tänzeri­
schen Finale um das große
Thema Freiheit.<<
(Andreas Achmann, 2015)
DER KÜNSTLER
Andreas Achmann, gebo­
ren 1969 in München, aus­
gebildeter Fotograf, wid­
met sich der >>Still-life
pho­
tography<< und ist
künstlerisch sowie im
Auftrag von internatio­na­
len Magazinen und Werbe­
kunden tätig. Seine Werke
sind von seinem Interesse
an abstrakter und kon­
zeptueller Fotografie ge­
prägt. Zudem setzen sie
sich mit dem Thema von
>>den Ursprüngen und der
Entwicklung von Kultur<<
auseinander.
www.andreas-achmann.com
In freundschaftlicher
Zusammenarbeit mit
VALERY GERGIEVS
Freunde
und Förderer
DAS FESTIVAL
DER MÜNCHNER
PHILHARMONIKER
—
GASTEIG
Freitag
13_11_2015
ERÖFFNUNGSKONZERT
VALERY GERGIEV
Samstag
14_11_2015
12 STUNDEN MUSIK
EINTRITT FREI
Sonntag
15_11_2015
PROKOFJEW–MARATHON
VALERY GERGIEV
MPHIL.DE
3
M
FÜ U TA
R SI GE
AL K
LE
’15
’16
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