schostakowitsch bruckner - Münchner Philharmoniker

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SCHOSTAKOWITSCH
1. Violinkonzert
BRUCKNER
6. Symphonie
GERGIEV, Dirigent
KAVAKOS, Violine
Samstag
24_09_2016 19 Uhr
Sonntag
25_09_2016 11 Uhr
Die ersten Veröffentlichungen
unseres neuen MPHIL Labels
Valery Gergiev
dirigiert Bruckner 4
& Mahler 2 zusammen
mit den Münchner
Philharmonikern
mphil.de
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77
1. Nocturno: Moderato
2. Scherzo: Allegro – Poco più mosso
3. Passacaglia: Andante
4. Burleske: Allegro con brio
ANTON BRUCKNER
Symphonie Nr. 6 A-Dur
1. Majestoso
2. Adagio: Sehr feierlich
3. Scherzo: Nicht schnell – Trio: Langsam
4. Finale: Bewegt, doch nicht zu schnell
VALERY GERGIEV, Dirigent
LEONIDAS KAVAKOS, Violine
119. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
Tanzen gegen
den Tod
SIGRID NEEF
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
(1906–1975)
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1
a-Moll op. 77
1. Nocturno: Moderato
2. Scherzo: Allegro – Poco più mosso
3. Passacaglia: Andante
4. Burleske: Allegro con brio
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 25. (12.) September 1906 in
St. Petersburg; gestorben am 9. August
1975 in Moskau.
ENTSTEHUNG
Das am 21. Juli 1947 begonnene erste
(von insgesamt zwei) Violinkonzerten
Schostakowitschs wurde am 24. März
1948 vollendet und bekam die Opuszahl
77. Zur Uraufführung kam es vorerst nicht,
denn im Februar 1948 wurde Schostakowitsch vom Zentralkomitée der KPdSU bezichtigt, »volksfremde« Musik zu schreiben; er hielt daher sein Violinkonzert zunächst zurück. Erst nach dem Tod Stalins
(1953) kam es zur verspäteten Uraufführung, wobei das Konzert, gegen Schostakowitschs Willen, die neue Opuszahl 99
erhielt, um die zeitliche Kluft zwischen
Entstehung und Uraufführung zu verschleiern. Heute trägt das 1. Violinkonzert wieder seine originale Opuszahl 77.
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
3
WIDMUNG
Seinem Freund David Fjodorowitsch Ois­
trach (1908–1974), dem Geiger und Solisten der Uraufführung, dem Schostakowitsch auch sein spätes 2. Violinkonzert
cis-Moll op. 129 widmete.
URAUFFÜHRUNG
Am 29. Oktober 1955 in Leningrad (Leningrader Philharmoniker unter Leitung von
Jewgenij Mrawinskij; Solist: David Ois­
trach).
EIGENTLICH HÄTTE ER
GLÜCKLICH SEIN MÜSSEN
Schostakowitsch skizzierte sein 1. Violinkonzert im Juli 1947 in der kurzen Zeit von
nur fünf Tagen und hatte es im Januar
1948 im Wesentlichen abgeschlossen. Als
dann im Februar 1948 vom Zentralkomitée
der KPdSU wegen angeblicher »formalistischer, volksfremder Musik« ein Verdikt
über Schostakowitsch verhängt wurde,
hatte das keinen grundlegenden Einfluss
mehr auf die Komposition, wohl aber auf
das Leben des Komponisten. Er verlor seine
Lehrämter, und seine Werke wurden in Sow­
jetrussland vorerst nicht mehr aufgeführt.
Woher also der konflikthafte Gestus und
das auffällige Wesen dieses Konzerts, das
mit seinen vier Sätzen und seinem höchst
virtuosen Solopart häufig als »Symphonie
mit obligater Violine« bezeichnet wird ?
Eigentlich hätte Schostakowitsch im Sommer 1947 glücklich sein müssen. Der mörderische Weltkrieg hatte ihn und seine
Familie verschont; nur wenige entfernte
Verwandte waren dem Stalin’schen Terror
zum Opfer gefallen; er selbst konnte sich
als Komponist der sogenannten »Leningrader Symphonie« von 1941/42 weltweiter
Popularität erfreuen und sich relativ geborgen fühlen.
WAHLMÖGLICHKEIT UND
SCHICKSAL
Der Sommer 1947 in Komarowo war heiter,
und der kleine Ort in der Nähe von Leningrad war Schostakowitsch durch die dort
verbrachten Vorkriegssommer bekannt
und angenehm. Allerdings: Dieser Ort hatte nicht immer »Komarowo« geheißen.
Schostakowitsch selbst hatte ihn noch als
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
4
finnisches Kellomaeki kennen gelernt, bis
die Sowjetarmee 1939/40 in einem nicht
erklärten und tabuisierten Raubkrieg einige finnische, nordwestlich Leningrads gelegene Gebiete annektierte.
das Thema quasi erstarrt, gibt es kein Ausweichen mehr.
Und einen ähnlich tabuisierten Krieg führte Stalin gegen die russische jüdische Minderheit in seinem Staat. Konnte Schostakowitsch, wie andere nichtjüdische Bürger
seines Landes, davor die Augen verschließen ?
Tatsächlich hat das, was sich hier zwischen Orchester und Violine abspielt,
kaum noch etwas mit dem ursprünglichen
Begriff des Konzertierens zu tun. Es geht
nicht um ein Wetteifern, nicht um gegenseitiges Übertrumpfen oder Kontrastieren.
Opus 77 hat auch nichts mehr zu tun mit
einem episch berichtenden oder dramatisch-­
konflikthaften Symphonietypus. Nicht mehr
steht der Einzelne einer Welt gegenüber,
sondern die Welt dringt in den Einzelnen
ein.
1. SATZ:
SCHATTENHAFTE NOCTURNE...
Schostakowitsch hatte keine Wahl, er
musste sich äußern. Sein Schicksal war es,
fremden Leid nicht davonlaufen zu können.
Davon legte sein Sohn Maxim Zeugnis ab:
»Er komponierte nicht, sondern schrieb
auf, was sein inneres Ohr hörte.« Wollte er
komponieren, konnte Schostakowitsch sein
inneres Ohr nicht verschließen... In diesem
Konzert gibt es keine hell schmetternden
Blechbläser, keine Trompeten und Posaunen, dafür eine erweiterte Holzbläser­
besetzung, durch vier Hörner ergänzt:
Alles zielt auf eine dunkle Grundstimmung.
Schattenhaft, wie von weit her und schon
seit langem erklingend, setzt das Motto­Thema in den tiefen Streichern ein, dessen
Ton und Melodie von der Solovioline aufgegriffen und fortgesungen wird. Vorerst
nur. Denn der Sinn des musikalischen Geschehens liegt in dem Versuch des musikalischen Protagonisten, sich dem dunklen
Sog zu entwinden, mit abwehrender Gestik
und weit ausgreifenden melodischen Bögen. Doch je mehr er sich dabei exponiert,
desto mehr verstrickt er sich. Wenn dann
im gläsernen Klang von Celesta und Harfe
...UND »SYMPHONIE MIT
OBLIGATER VIOLINE«
Schemenhaft und in verschiedenen Kombinationen ist die Notenfolge d-es-c-h angedeutet. Diese für Schostakowitschs Namen
stehenden Initialen (D-S-C-H) zeigen an,
dass der Komponist nicht von außen, mit
einem distanzierten Beobachterblick auf
seine musikalischen Akteure schaut, sondern sich am Geschehen selbst unmittelbar
beteiligt.
2. SATZ:
SCHERZO ALS TANZ...
»Der 2. Satz (Allegro b-Moll) ist bedeutend
mehr als das traditionelle Scherzo in einem
symphonischen Zyklus, obwohl Tempo und
Charakter des Themas eindeutig die eines
Scherzos sind. Die intensive und ungewöhnlich scharfe Dynamik, die komplizierte polyphone Faktur, die farbenprächtige
Instrumentierung, die Fuge im Mittelpunkt
der Durchführung – das alles geht sowohl
in der Weite des Gehalts als auch in der
Bedeutung weit über den Rahmen eines
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
5
Dmitrij Schostakowitsch mit seiner ersten Frau Nina Wasiljewa (um 1945)
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
6
›Zwischensatzes‹ hinaus« – so äußerte
sich Widmungsträger David Oistrach.
Das Scherzo ist in der Tat ein Meisterstück
der Ambivalenz, ein Tanzstück, bei dem
man nicht weiß, ob da mit der Gewalt oder
gegen die Gewalt getanzt wird. Hetzende
Motivketten; das Hauptthema gebärdet
sich immer kesser und aufsässiger, grenzt
ans Geräuschhafte. Dann ein Ruck von
b-Moll nach H-Dur, das D-S-C-H kommt ins
Spiel, dann mit einem erneuten Ruck zurück nach b-Moll. Es wird immer wilder, auf
dem Höhepunkt erfolgt ein Riss nach
e-Moll. Anstelle des traditionellen Trios
setzt nun ein Thema in jüdischem Tonfall
ein, die Melodien werden fortgetrieben und
finden sich wieder – in einer Fuge. In der
B-Dur-Reprise vereinen sich alle Themen,
das D-S-C-H eingeschlossen. Rätselhaft,
meisterlich, geheimnisvoll ! Was ist gemeint ?
...UND TANZ ALS CHIFFRE
Russland im Bürgerkrieg der 1920er Jahre.
Ein Kellerversteck: Drinnen Vater, Mutter,
Großmutter und Kinder, draußen Not und
Gefahr – Angst. Der Vater beginnt zu tanzen, animiert die Kinder. Sie heben die
Füße, strecken die Arme empor und öffnen
die Hände zum Blütenkranz. Sie tanzen
gegen die Angst, gegen den Tod ! Immer
schneller, immer kesser. Greisenhände und
Kinderfinger wie ein Blütenreigen, wie
schimmernde Kerzen in der Dunkelheit.
Dann färbt ein fahler gelber Stern die
Nacht ! Noch immer dieser Blumenkranz
tanzender Hände, nein – schwankend jetzt,
dann wieder tanzend, wie Kerzen, in der
Dunkelheit aufflackernd. Es ist die gleiche
Familie, es sind viele Familien, eine endlose
Kolonne von Menschen. Auf ihre gelben
Sterne sind Gewehre gerichtet. Noch immer diese tanzenden Hände – nun auf dem
Weg nach Auschwitz, nach Berditschew.
Diese Sequenz aus Alexander Askoldows
Film »Die Kommissarin« machte Filmgeschichte, wird doch hier auf geniale Weise
der Tanz der Chassidim, der ostjüdischen
Mystiker, zur Chiffre für ein Leben mit offenen Händen. Und dies inmitten geballter
Fäuste, also inmitten von Hass und Gewalt.
Askoldows Film ist das Gegenstück zu
Schostakowitschs Violinkonzert. Film wie
Konzert konnten zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht aufgeführt werden. Alskoldows Film wurde 1967 gedreht und
durfte erst 1987 gezeigt werden, Schos­
takowitschs Konzert entstand 1947/48
und wurde erst 1955 uraufgeführt. Dem
Filmregisseur hängte man den Makel eines
»psychisch Kranken« an, der Komponist
wurde zum »Volksfeind« erklärt.
3. SATZ: PASSACAGLIA
ALS »DYNAMISCHE RUHE«
Kann die Menschheit noch frei darüber entscheiden, ob sie den eingeschlagenen Weg
weitergeht oder nicht ? Eine Frage von allgemeiner Bedeutung, die nicht allein auf
das russische oder das jüdische Volk zielt,
sondern auf das Geheimnis menschlicher
Willensfreiheit überhaupt. Für die musikalische Problematisierung dieses Rätsels
menschlicher Existenz wählte Schostakowitsch die alte Form der Passacaglia, eine
Variationenfolge über ein »ostinates«,
gleichbleibendes Thema. Die Passacaglia
ist eine Form »dynamischer Ruhe«, denn
die Ostinato-Technik imaginiert Objektivität und Unausweichlichkeit, die Technik der
Variation hingegen Subjektivität und Freiheit.
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
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Dmitrij Schostakowitsch mit seiner Tochter Galina (um 1950)
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
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Dynamische Ruhe vom ersten Takt an. Ruhig schreitet das Passacaglia-Thema in
Pauken, Violoncelli und Kontrabässen 17
Takte voran, und gleichzeitig blasen die
Hörner zur Jagd, zum Marsch. Der Protagonist versucht sich dieser Alternative zu
entziehen; »piano espressivo« stimmt er
ein Klagelied an, dessen kleinteilige Motivbildungen an traditionelle Synagogalmusiken erinnert. Ist es Zahlenmystik, wenn
das Passacaglia-Thema beim siebten Mal
seines Erklingens die Violine erfasst ? Auch
das Hornthema wird von der Violine übernommen, wird befragt, nachdenklich hin
und her gewendet. Es handelt sich um eine
Analogie zum 1. Satz: Hier wie dort erfasst
ein Allgemeines den Einzelnen. Wie auch
immer man sich dreht und wendet, man
kommt nicht unbeschädigt aus der Welt
heraus.
KADENZ: NACHDENKLICHKEIT
UND ATEMHOLEN
Die nachfolgende Kadenz stellt sich diesem
Vorgang, hält Überschau über alle Themen,
ordnet sie neu, hört sie ab, wendet sie um
und um. »Hier leben Nachklänge« – so Oistrach – »der Stimmungen und Bilder von
der Nocturne, vom Scherzo und von der
Passacaglia wieder auf«; doch findet kein
Rückzug in die Innerlichkeit und kein Einspruch gegen das äußere Geschehen statt,
vielmehr handelt es sich um eine Art Atemholen.
Aber welche Kraft und Größe gehört dazu,
sich diese Freiheit zum Nachdenken zu bewahren in einer Welt der sichtbaren wie
unsichtbaren Gewalten ! In dieser weltanschaulichen Größe wurzelt die Ausgedehntheit, Spannung und Virtuosität dieser Kadenz, die in der Weite und Bedeutsamkeit
ihrer Gedanken fast den Raum eines eigenen (Konzert-) Satzes einnimmt.
4. SATZ:
BURLESKE FRÖHLICHKEIT...
»In Schostakowitschs Schaffen gibt es viele großartige Beispiele für festliche, fröhliche, lebensbejahende Musik (...) Das Einzige, worin ich dem Autor dieser herrlichen,
sprühenden, ihrem Geist nach volkstümlichen Musik nicht beistimmen kann, ist die
Bezeichnung ›Burleske‹. Sie scheint mir dem
festlichen Charakter und dem nationalrussischen Kolorit der Musik wenig zu entsprechen.« Diese Anmerkung Oistrachs ist
selbst eine Burleske, und vom Widmungsträger auch so gemeint. Schostakowitsch
ist ein Meister des Tragischen und der Groteske, aber kein Meister »festlicher, fröhlicher, lebensbejahender Musik«. Mit seiner provokanten Verdrehung macht Oistrach klar, das zwischen dem tatsächlichen
und dem vorgeblichen Inhalt der Musik eine
Divergenz besteht, deren Bedeutung jeder
Interpret und Hörer selbst herauszufinden
hat.
Wieder ist es ein Tanzsatz, ein Allegro con
brio in a-Moll. Erstmals wehrt sich die Solo­
violine gegen das vorgegebene Thema
nicht, sondern stimmt in die befohlene,
offizielle Lustigkeit mit ein. Dann kommt
es zu einer Art Gegentanz im 3/4-Takt: Das
Passacaglia-Thema erscheint in Engführung, und »con tutta forza« hat die Solo­
violine dagegen anzuspielen.
...UND »APOTHEOSE
DES TANZES«
Im Finalsatz sind jeweils zwei musikalische
und geistige Schichten angelegt. Es han-
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
9
Schostakowitsch (Bildmitte) auf einer von Parteifunktionär Tichon Chrennikow geleiteten Sitzung
des sowjetischen Komponistenverbandes (1955)
delt sich um kein nostalgisch verklärtes
Volksfest, sondern um eine offiziöse Feierlichkeit. Und trotzdem ist es auch ein Fest
des Volkes. Oistrach hörte hier die Skomorochen spielen, die alten tanzenden Wandermusikanten und Narren. Gemeint ist ein
Tanzen, bei dem die anbefohlene Festlichkeit von innen her umgedeutet wird. Tanzen wird hier zu einer Modalität, der Welt
zu widerstehen, sich in Harmonie zu bringen und um sich selbst kreisend einen
eigenen Mittelpunkt zu setzen.
Dieses Finale ist folglich eine »Apotheose
des Tanzes«, aber ganz anderer Art als in
Beethovens 7. Symphonie. Dort ist es ein
Tanzen für das Leben, hier ein Tanzen gegen den Tod. Auf dieser Ebene hat Schos­
takowitschs Violinkonzert von 1947/48
eine kammermusikalische Entsprechung im
Klaviertrio e-Moll op. 67 von 1944: Auch
dort eine langsame Einleitung mit Motto-­
Thema im 4/4 Takt, als 2. Satz ein Scherzo,
gefolgt von einer Passacaglia, an die sich
ebenfalls ein tanzinspiriertes Finale mit
»jüdischer Färbung« anschließt. In beiden
Fällen ein Tanzen gegen den Tod in der Tradition der Chassidim.
OISTRACHS VERDIENSTE
UM DAS WERK
Schostakowitschs 1. Violinkonzert verdankt
seine Uraufführung dem Widmungsträger
David Oistrach. Als dieser das Konzert im
Frühjahr 1948 erhielt, reagierte er anfangs
verstört; unangemessen hoch erschienen
ihm die spieltechnischen Schwierigkeiten,
zu rätselvoll und unvertraut die geistigen
Anforderungen: »Es ist durchaus nicht ein-
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
10
fach, das Konzert von Schostakowitsch zu
›meistern‹. Ich erinnere mich, wie langsam
und nicht ohne Schwierigkeiten meine Interpretation heranreifte, wie ich mich von Tag
zu Tag immer lebhafter für das Werk interessierte und schließlich hell begeistert war.
Und dann kam der Tag, an dem diese Musik
alle meine Gedanken und Gefühle gepackt
hatte. Je mehr ich mich in das Konzert vertiefte, je aufmerksamer ich seinen Klängen
lauschte, um so besser gefiel es mir, und
mit um so größerem Eifer studierte ich es
ein, um so stärker fesselte es meine Gedanken und ergriff Besitz von meinem ganzen
Fühlen.«
An eine Aufführung war 1948 allerdings
nicht zu denken. Aber auch Stalins Tod
1953 gab den Weg für das Werk (noch)
nicht frei. Da erhielt David Oistrach 1955
eine Einladung zu einem Gastspiel in New
York, die mit der Aufforderung verbunden
war, das unbekannte, geheimnisumwitterte 1. Violinkonzert von Schostakowitsch
aufzuführen. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge musste aber jedes sowjetische Werk innerhalb der Grenzen der Sowjetunion uraufgeführt werden, bevor es im
Ausland nachgespielt werden konnte; und
da die Behörden auf die Devisen aus Oistrachs Auftritt in den USA nicht verzichten
wollten, war plötzlich der Weg zur Uraufführung frei.
Oktober fand der erste Durchlauf statt.
Dmitrij Dmitrijew nahm daran teil. Oistrach
spielte einzigartig. Der Eindruck war erschütternd. (...) Am 29. Oktober 1955 fand
das lang erwartete Konzert statt und hatte einen gigantischen Erfolg. Das Finale
wurde auf Verlangen des Publikums wiederholt.«
Bereits am 29. Dezember 1955 spielte David Oistrach »sein« Violinkonzert in der
Carnegie Hall in New York mit den New Yorker Philharmonikern unter Leitung von Dimitri Mitropoulos. Trotz des enormen Erfolgs schwieg die sowjetische Presse bis
auf wenige Ausnahmen das Werk tot, bis im
Juli 1956 in der Zeitschrift »Sowjetskaja
musyka« aus der Feder Oistrachs zu lesen
war: »Seit der Uraufführung des neuen
Vio­linkonzerts von Schostakowitsch in Leningrad und Moskau ist bereits ein halbes
Jahr vergangen, aber bis heute ist noch
kein Artikel, keine Analyse dieses hervorragenden Werkes erschienen. (...) Gewiss,
Totschweigen ist auch eine Art von Kritik.«
VOM REGIME TOTGESCHWIEGEN
Isaak Glikman, der Freund Schostakowitschs, berichtete: »Am 18. Oktober 1955
kam Schostakowitsch zusammen mit David
Oistrach nach Leningrad, um das Konzert
Mrawinskij zu zeigen, der sofort begann,
mit dem Orchester zu arbeiten, akribisch
und gewissenhaft, wie es diesem bemerkenswerten Dirigenten eigen war. Am 25.
Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert
11
1
Auf der Suche nach
einem neuen Weg
MARCUS IMBSWEILER
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
ANTON BRUCKNER
(1824–1896)
Geboren am 4. September 1824 in Ansfelden / Oberösterreich unweit von Linz ; gestorben am 11. Oktober 1896 in Wien.
Symphonie Nr. 6 A-Dur
1. Majestoso
2. Adagio: Sehr feierlich
3. Scherzo: Nicht schnell – Trio: Langsam
4. Finale: Bewegt, doch nicht zu schnell
ENTSTEHUNG
Ziemlich bald nach Beendigung seines
Streichquintetts im Juli 1879 nahm Bruckner die neue Symphonie in Angriff. Der 1.
Satz war Ende September 1880 fertiggestellt, das Adagio Ende November. Im Juni
und September 1881 folgten die beiden
restlichen Sätze. Zwei Jahre Entstehungszeit lagen bei Bruckner im Rahmen des Üblichen; die »Fünfte« vollendete er innerhalb von 15 Monaten, schloss allerdings
eine längere Umarbeitungsphase an, für
die »Siebte« brauchte er wieder zwei Jahre, für die »Achte« (1. Fassung) drei.
WIDMUNG
Bruckner widmete die Symphonie dem Philosophen Dr. Anton Ölzelt Ritter von Nevin
(1854–1925) und seiner Frau Amalie (Amy),
geb. Edle von Wieser. Ölzelt war Besucher
von Bruckners Vorlesungen an der Univer-
Anton Bruckner: 6. Symphonie
2
12
sität und mit ihm befreundet; 18 Jahre
lang ließ er den Komponisten unentgeltlich
in seinem Haus in der Heßgasse direkt neben dem Ringtheater wohnen, dessen Aussicht Bruckner sehr schätzte.
URAUFFÜHRUNG
Am 26. Februar 1899, also erst nach Bruckners Tod, in Wien im Großen Musikvereinssaal (Wiener Philharmoniker unter Leitung
von Gustav Mahler, der allerdings instrumentale Retuschen und etliche Kürzungen
vorgenommen hatte). Bereits am 11. Februar 1883, ebenfalls in Wien, waren die
beiden Mittelsätze erstmals gespielt worden (Wiener Philharmoniker unter Leitung
von Wilhelm Jahn). Ungekürzt hingegen
erklang die »Sechste« zum ersten Mal am
14. März 1901 in Stuttgart, aufgeführt von
der Königlich-Württembergischen Hofkapelle unter Leitung von Karl Pohlig.
Bruckners »Sechste«: ein Streitfall. Unter
seinen mittleren und späten Symphonien
zählt sie zu den Unbekanntesten, rangiert
auch in der Publikumsgunst deutlich hinter
der beliebten »Vierten« oder »Siebten«.
Von Kennern dagegen wird sie gerade für
ihre Vielschichtigkeit geschätzt. Und Bruckner selbst ? Er scheint mit dem Ergebnis
seiner Arbeit zufrieden gewesen zu sein.
Anders als bei den drei vorangegangenen
Symphonien nahm er nach Abschluss der
Komposition keine wesentlichen Änderungen
mehr an dem Stück vor. Dass es die »Sechste« nicht leicht haben würde, schwante allerdings auch ihm: Seine »kühnste« Symphonie nannte er sie oder, mit launigem Zungenschlag, seine »keckste«.
WOHIN GEHÖRT DIE »SECHSTE« ?
Bruckner und keck ? Eine gewöhnungsbedürftige Assoziation, zumal wenn man an
den romantischen Ernst der 4. Symphonie
oder das Pathos der »Fünften« denkt. Aber
die »Sechste« macht schon in den ersten
Takten klar, dass sie gewillt ist, einen anderen Weg als den üblichen einzuschlagen.
Statt des Bruckner-typischen Herantastens an den Klang, des allmählichen Erwachsens thematischer Gebilde, ist hier die
Musik sofort »da«: Die Violinen geben einen
durch Punktierung geschärften Triolenrhythmus vor, der von einem klar umrissenen Thema in tiefer Lage beantwortet wird.
Selbst die Tonart A-Dur ist singulär in
Bruckners orchestralem Schaffen.
Und so herrscht nicht zufällig bis heute
Uneinigkeit unter den Experten über die
stilistische Einordnung der »Sechsten«.
Für die einen gehört sie zu Bruckners mittleren Symphonien, indem sie zwischen dem
Melos der »Vierten« und der sakralen Aura
der »Fünften« vermittelt. Von anderen
Anton
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
3
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Hermann Kaulbach: Anton Bruckner in München (1885)
Anton
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
4
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wird sie, ihrer erwähnten Kühnheit wegen,
dem Spätwerk des Komponisten zugeschlagen – oder man begreift sie mit Peter Gülke von vornherein als »Solitär«.
lichkeiten (die Dirigenten Josef Schalk und
Gustav Mahler, den Verleger Theodor Rättig) zu überzeugten Anhängern Bruckners;
der Keim für spätere Erfolge war gelegt.
DIE LEGENDE VOM ARMEN
ORGANISTEN
EINE REISE IN DIE SCHWEIZ
Wofür man sich letztlich auch entscheiden
mag, an der Sonderstellung der »Sechsten« bestehen kaum Zweifel. Ein Blick auf
ihre Entstehungsbedingungen – genauer:
auf die Lebensumstände Bruckners während der Komposition – zeigt, dass auch
diese einige Besonderheiten aufweisen. So
hatte sich die soziale Situation des Komponisten im Winter 1877/78 endlich konsolidiert. Er bezog mietfrei eine repräsentative Wohnung am Schottenring und wurde
kurz danach ordentliches Mitglied der Hofkapelle, verbunden mit einem Jahresgehalt
von 600 Gulden. Damit gehörte Bruckner,
ganz im Gegensatz zum (auch durch ihn)
tradierten Bild vom unbedarft-ärmlichen
Landmusikanten, »zum bemerkenswert kapitalträchtigen Bürgertum Wiens und in der
Musikwelt sicher zu den Spitzenverdienern« (Laurenz Lütteken).
Man dürfte nicht allzu fehl gehen, wenn
man die späten 1870er Jahre zu Bruckners
glücklichsten Lebensphasen zählt. Als Organist war er eine Berühmtheit, seine Messen fanden großen Anklang, an der Universität scharte er eine wachsende Zahl von
Bewunderern um sich. Was fehlte, war die
Anerkennung auf symphonischem Gebiet;
hier setzte das Fiasko der »Dritten« im
Dezember 1877 einen markanten Kontrapunkt zu den sonstigen Hoffnungssignalen. Allerdings machte gerade die Premiere
dieser Symphonie einige wichtige Persön-
Zum gestiegenen Sozialstatus und bürgerlichen Lebensstil gehörten nach Auffassung der meisten Wiener auch Reisen. Diese freilich finden sich in Bruckners Biographie nur spärlich und sind fast ausschließlich von äußeren Anlässen bestimmt, wie
etwa der Besuch von Wagners »Ring des
Nibelungen« in Bayreuth 1876. Vier Jahre
später allerdings brach Bruckner zur längsten Reise seines Lebens auf. Sie führte
über Bayern in die Schweiz, wo sich Profession und private Zerstreuungen in Form von
Orgelspiel, Begegnung mit Musikern sowie
Wanderungen, Bahnfahrten und Damenbekanntschaften überlagerten. Kaum zurück, beschäftigte er sich mit der ein Jahr
zuvor, im Sommer 1879, begonnenen 6. Symphonie, um sie binnen Jahresfrist zum Abschluss zu bringen.
Bemerkenswert an diesen Daten ist vor
allem die dreijährige Pause zwischen der
Vollendung der »Fünften« (1876) und den
ersten Skizzen der »Sechsten« – auch dies
eine Besonderheit im Schaffen Bruckners.
Eine generelle kompositorische Abstinenz
ging damit freilich nicht einher. Bis zum
Jahr 1879 beschäftigte sich Bruckner mit
diversen Umarbeitungen (3. und 4. Symphonie, f-Moll-Messe) und schrieb ein
Streichquintett. Diese Tätigkeiten scheinen ihm den nötigen Freiraum geschaffen
zu haben, um nach der »Fünften«, seinem
»kontrapunktischen Meisterstück« (Bruckner), eine neue Symphonie zu konzipieren.
Anton
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
6
15
DER NEUE WEG
Der so untypische Beginn der »Sechsten«
kann denn wohl auch als Fanal begriffen
werden: Da die »Fünfte« in ihrem Monumentalcharakter nicht überbietbar schien,
musste das folgende Werk Alternativen
aufzeigen. Zum Markenzeichen der Vorgänger-Symphonie war die kunstvolle Kombination der Hauptgedanken in den Rahmensätzen geworden, im Finale durch eine
Doppelfuge noch gesteigert. Solche Artistik fehlt in der »Sechsten«, wird allenfalls
im Vorübergehen angedeutet. Überhaupt
arbeitet Bruckner jetzt weniger mit kompletten »Themen« als mit ihren Bestandteilen wie Rhythmus, Impuls, Einzelmotivik,
Tonhöhe, Gestus, die er neu kombiniert und
gegeneinander ausspielt.
Um ein Beispiel zu geben: Der gleich zu Beginn ertönende Triolenrhythmus gibt der
Entwicklung zwar Stabilität, doch ist er
gewissermaßen »falsch« platziert, nämlich
in den dünnen Oberstimmen der Geigen.
Tonartlich ist alles noch offen. Der erste
Takt des Themas mit seiner fallenden Quint
e – a scheint diesen Mangel prompt auszugleichen: Zusammen mit dem hohen cis ergibt sich A-Dur, die Grundtonart der Symphonie, der Klang erhält ein Fundament
sowie einen fasslichen Anfangsgedanken.
Aber schon einen Takt später zerstört
Bruckner diese Gewissheit wieder: Vierteltriolen rufen rhythmische Irritation hervor, dazu erklingt ein tonartfremdes b, das
dem A-Dur phrygischen, also kirchentonalen Charakter verleiht. Diese Maßnahmen
prägen nicht nur das Hauptthema des Satzes selbst, sondern – und das ist das Entscheidende – auch den weiteren Verlauf der
Symphonie. So wird das Gegeneinander von
Zweier- und Dreierrhythmen zum Marken-
zeichen des Seitenthemas sowie des Scherzo-Hauptgedankens, während phrygische
Tonleitern zu Beginn von Adagio und Finale
angestimmt werden.
KOMPOSITORISCHE ARBEIT IM
HINTERGRUND
Diese spezielle Herangehensweise lässt
sich als »analytischen« Umgang mit dem
Material bezeichnen: Bruckner zerlegt thematische Gebilde in ihre Bestandteile (Parameter), um aus diesen neue Themen zu
entwickeln. Die Tonfolge eines Motivs –
also das, was uns als »Melodie« am direktesten anspricht – ist dabei nur ein Parameter unter mehreren. Und natürlich hat
die »Sechste« auch in dieser Hinsicht zahlreiche Bezüge zu bieten: thematische Verwandtschaften, die sich allerdings nicht
aufdrängen, sondern ihre Wirkung im Hintergrund entfalten.
Bruckners Zurückhaltung, was Themenverknüpfungen angeht, sticht vor allem im Vergleich mit der 5. Symphonie ins Auge. Dort
hatte er ja, wie erwähnt, in exemplarischer
Weise vorgeführt, welche thematischen
Kombinationsmöglichkeiten ihm zu Gebote
standen. Den Höhepunkt der Entwicklung
erreicht er im Finale der »Fünften«, wenn
die Hauptgedanken des Satzes gleichzeitig
erklingen, ergänzt durch ein Zitat aus dem
ersten Satz. Und in der »Sechsten« ? Da
wird an dieses Verfahren nur noch dezent
erinnert. Am Ende des ersten Satzes erlaubt sich Bruckner einen kleinen kontrapunktischen Trick, indem er die Triolen des
Hauptthemas in originaler und umgekehrter Form (also auf und ab gleichzeitig) aneinanderkoppelt. Und eben diese Triolen
rufen ganz am Ende der Symphonie noch
einmal kurz deren Anfangstakte ins Ge-
Anton
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
8
16
dächtnis. Aber das geschieht in den letzten
acht Takten des Werks, in einer bemerkenswerten, fast unerhörten Lakonik.
DIE ANFANGSSÄTZE
Den Eröffnungssatz, Majestoso, bestreitet Bruckner wie üblich mit drei Themen.
Während das zweite von ruhigem Melos
geprägt ist (»Gesangsperiode«), hat das
dritte mit seinem stampfenden Orchester-Unisono beschließenden Charakter. In
der Durchführung kommt hauptsächlich
das erste Thema zu Wort – was nicht verwundert, besteht es doch in sich, wie gezeigt, aus widerstreitenden Kräften, die
sich hervorragend kombinieren und ausweiten lassen: Triolengänge, pochende
Rhythmen, Punktierungen, Quintfälle. Der
Höhepunkt der Durchführung fällt mit der
Wiederkehr des Hauptthemas zusammen,
also mit dem Reprisenbeginn; gleichzeitig
bricht Bruckner diesen Effekt durch die
»falsche« Tonart (Es-Dur !), um innerhalb
von nur 14 Takten zur Grundtonart zurückzukehren.
Auch der langsame Satz, Adagio, arbeitet
mit drei prägnanten Themen: einem feierlichen Streichergesang, einem beseelten
Aufschwung sowie einem Trauermarsch.
Zusammenhang stiftet anderes, das gleichsam subkutan wirkt: Bei den ersten beiden
Themen streiten jeweils zwei gleichberechtigte Stimmen, beide in unterschiedlichen
Zeitverläufen, um die Vorherrschaft (Geigen/Oboen bzw. Celli/Geigen), der Trauermarsch erhebt sich wie das erste Thema
über einem Tonleitergang abwärts. So kurz
die Durchführung dieses Satzes ist, lässt
sie doch Bruckners kontrapunktische Meisterschaft aufblitzen: Da wird ein Bassgang
zur Oberstimme, das Hauptthema erklingt
in Umkehrung sowie im Kanon und schließ-
lich in neuer Kombination mit den OboenSeufzern. Fast schon an Mahler erinnert die
Coda, in der die wichtigsten thematischen
Bestandteile wie in einer Traumsequenz
aufscheinen, um zuletzt behutsam ausgeblendet zu werden.
SELTSAMKEITEN IM SCHERZO
Das Scherzo erweist sich als durchgehend
von Triolen geprägt – auch dann noch, wenn
nach zehn Takten das Blech die Führung
übernimmt und die Posaunen mit einem
»Geradeaus-Thema« Ordnung erzwingen
wollen. Geradeaus ist hier so gut wie nichts,
sondern von grundlegenden musikalischen
Widersprüchen geprägt: Auf gegen Ab, Laut
gegen Leise, motivische Bewegung gegen
starres Bassfundament, Fanfaren gegen
Klarinettenschleifer. Ein Tanz ? Nein, eine
irrlichternde Abfolge von Bildern, mal dahinhuschend, mal aggressiv lospolternd.
Kein Wunder, dass der Bruckner-Kritiker
Hanslick bei der Teilpremiere der Symphonie 1883 ein »ausschließlich durch Seltsamkeit fesselndes Scherzo« vernahm. Dem
setzt das bedeutend langsamere Trio die
Krone auf: Sonst ein Ort der idyllischen oder
wehmütigen Rückblende, in dem LändlerTonfälle dominieren, stehen hier die Hörnerund Holzbläserrufe isoliert, treten auf der
Stelle, fügen sich zu keinem Ablauf. Von
österreichischer Heimeligkeit bleibt hier
lediglich die Geste. Nicht umsonst konnte
Peter Gülke behaupten, »eine stärker zerpflückte und fragmentierte Musik« habe
Bruckner »nie geschrieben«.
MEHRDEUTIGES FINALE
Im Finale wird zunächst die Grundtonart
der Symphonie infrage gestellt. Das Tremolo-e der Bratschen signalisiert e-Moll
phrygisch, später a-Moll, kurz darauf ist
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
Anton
9
17
A-Dur erreicht, und zwar mit einem Fanfarenmotiv, das sich wie ein Hauptthema gebärdet. Aber ist es das wirklich ? Dass die
»suchenden« Anfangstakte in der Reprise
nicht mehr aufgenommen werden, spricht
dafür; eine umso wichtigere Rolle spielen
sie in der Durchführung. Fest stehen dürfte demgegenüber, dass Bruckner dieses Finale nicht, wie häufig zu lesen, dem Kompositionsprinzip des »per aspera ad astra«
unterworfen hat. Denn der Durchbruch
zum »Licht«, also zur Grundtonart A-Dur,
kommt viel zu früh und wird im Laufe der
weiteren Themenpräsentation wieder zurückgenommen. Vielmehr macht sich auch
hier eine analytische Herangehensweise
bemerkbar, die ihn thematische Gebilde
aus widerstrebenden Einzelaspekten zusammensetzen lässt – bis hin zur Isolierung eines kleinen punktierten Motivs, das
zunächst in der Durchführung und dann
vor allem in der Coda zum Träger der Entwicklung wird. Ihm gelingt auch die Rückbindung des Finalsatzes an den Beginn der
Symphonie, freilich auf sehr unauffällige,
beiläufige Weise.
während der Trauermarsch im Adagio auf
die Oberammergauer Prozessionen anspielen könnte (die erste Station von Bruckners
Reise) und das Trio »Gedanken an die Bergwelt« weckt (Manfred Wagner). Vom Komponisten selbst gibt es allerdings keine
Hinweise in dieser Richtung.
EINDRÜCKE EINER BAHNREISE ?
Zu fragen wäre allerdings, ob sich Bruckners Gestaltungswille in diesen eher abstrakten Prinzipien erschöpft und ob bei der
»Sechsten« nicht auch konkretere Außenbezüge möglich wären. Manfred Wagner
etwa hat in seiner Interpretation der Symphonie versucht, eine Verbindung zwischen
der Musik und Bruckners Schweiz-Reise
von 1880 zu ziehen. Im ersten Satz vernimmt er »ein durch nahezu keine Unterbrechung gebremstes Bewegungsmodell zu
einer damit verknüpften Drehstruktur, die
einander abwechseln«, ähnlich den visuellen Eindrücken einer Bahnfahrt. Auch das
Finale ist von rastloser Bewegung geprägt,
Anton
Anton Bruckner:
Bruckner: 6.
6. Symphonie
Symphonie
18
Valery
Gergiev
DIRIGENT
In Moskau geboren, studierte Valery Gergiev zunächst Dirigieren bei Ilya Musin am
Leningrader Konservatorium. Bereits als
Student war er Preisträger des Herbert-­
von-Karajan-Dirigierwettbewerbs in Berlin.
1978 wurde Valery Gergiev 24-jährig Assistent von Yuri Temirkanov am MariinskyOpernhaus, wo er mit Prokofjews Tolstoi-­
Vertonung »Krieg und Frieden« debütierte.
2003 dirigierte Gergiev als erster russischer Dirigent seit Tschaikowsky das Saisoneröffnungskonzert der New Yorker Carnegie Hall.
Valery Gergiev leitet seit mehr als zwei Jahr­
zehnten das legendäre Mariinsky-Theater
in St. Petersburg, das in dieser Zeit zu einer
der wichtigsten Pflegestätten der russischen Opernkultur aufgestiegen ist. Darüber hinaus ist er Leiter des 1995 von Sir
Georg Solti ins Leben gerufenen »World Or­
chestra for Peace«, mit dem er ebenso wie
mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters
regelmäßig Welttourneen unternimmt. Von
2007 an war Gergiev außerdem Chefdirigent des London Symphony Orchestra, mit
dem er zahlreiche Aufnahmen für das hauseigene Label des Orchesters einspielte.
Valery Gergiev präsentierte mit seinem
Mariinsky-Ensemble weltweit Höhepunkte
des russischen Ballett-und Opernrepertoires, Wagners »Ring« sowie sämtliche Symphonien von Schostakowitsch und Prokofjew. Mit dem London Symphony Orchestra
trat er regelmäßig im Barbican Center London, bei den Londoner Proms und beim Edinburgh Festival auf. Zahlreiche Auszeichnun­
gen begleiteten seine Dirigenten­karriere,
so z. B. der Polar Music Prize und der Preis
der All-Union Conductor’s Competition in
Moskau. Seit Beginn der Spielzeit 2015/16
ist Valery Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmoniker.
Die Künstler
19
Leonidas
Kavakos
VIOLINE
Leonidas Kavakos ist ein engagierter Kammermusiker und regelmäßig zu Gast bei den
Festivals in Verbier, Montreux, Edinburgh
und Salzburg. In der jüngsten Vergangenheit
präsentierte er mit dem Pianisten Emmanuel
Ax einen Zyklus mit Beethoven-Sonaten, der
in der Londoner Wigmore Hall vorgestellt und
anschließend im Wiener Musikverein wiederholt wurde. Zu seinen Kammermusikpartnern
zählen außerdem Elisabeth Leonskaja, Hélène Grimaud, Enrico Pace und die Brüder Capuçon. Leonidas Kavakos spielt die »Abergavenny« Stradivarius von 1724.
Aufmerksam auf das große Talent des aus
Griechenland stammenden Geigers wurde
man, als er 1985 den Sibelius- und drei Jahre später den Paganini-Wettbewerb gewann.
Zu den Orchestern, mit denen Leonidas Kavakos seither regelmäßig zusammenarbeitet, gehören u. a. das New York Philharmonic
Orchestra, das Chicago Symphony Orches­
tra, das Philadelphia Orchestra, das Konink­
lijk Concertgebouworkest, das Orchestre de
Paris und das Budapest Festival Orchestra.
In Deutschland wurde er jüngst zum Artist-­
in-Residence der Berliner Philharmoniker und
unmittelbar anschließend des Gewandhaus-­
Orchesters Leipzig ernannt.
Sein Debüt als Dirigent gab Leonidas Kavakos
2011 beim Budapest Festival Orchestra und
beim Orchestra dell’Accademia Nazionale di
Santa Cecilia. In der Folge war er als Dirigent
und Solist zu Gast u. a. beim Boston Symphony Orchestra, bei den Stockholmer Philharmonikern, beim Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI in Turin und zum wiederholten
Male beim Orchestra Filarmonica della Scala
di Milano. Von 2007 bis 2009 war Leonidas
Kavakos künstlerischer Leiter der Camerata
Salzburg, nachdem er bereits seit 2002
Principal Guest Artist des Orchesters gewesen war.
Die Künstler
20
Münchner
Klangbilder
TITELGESTALTUNG ZUM HEUTIGEN
KONZERTPROGRAMM
Musik erzeugt Bilder in unseren Köpfen.
Für die Gestaltung von Plakaten hat das
Orchester der Stadt deshalb auch für die Spielzeit
2016/17 die Künstler der
Stadt gebeten, ihre Bilder
festzuhalten. Aus der Musik und der Geschichte des
Stückes wurden so neue
Kunstwerke geschaffen:
eine besondere Zusammenarbeit zwischen der gestalterischen und der musikalischen Welt Münchens.
Jeder Künstler hat dabei
seine eigene Sprache, um
die Melodien und Töne in
Bilder zu übersetzen. Entstanden sind Fotografien, Malereien, Installationen, Grafiken und Collagen mit einzigartigem Charakter. Allesamt Plakate,
die neugierig machen auf ein ganz besonderes Konzerterlebnis. Plakate, die zeigen,
wie vielfältig Musik ist und wie individuell
sie wahrgenommen werden kann.
Alle bereits erschienenen Motive können
Sie online unter mphil.de/kalender/plakate
ansehen.
»Spätes Neunzehntes Jahrhundert. Habsburger Großmacht und etabliertes Bürgertum. Die Salonkunst ist en
vogue. In der Musik breitet
nicht nur Bruckner dramatisch epische Klangteppiche
aus. Die Polster, in denen es
sich die Gesellschaft bequem
macht, haben schon Risse,
sind abgenutzt und zerkratzt. Es ist Spätzeit. Der
Weltkrieg wird diese Welt
bald beenden. Die Musik der
Sechsten Symphonie weiß es
nur noch nicht.« (Norbert
Herold, 2016)
DER KÜNSTLER
Norbert Herold geboren am 9.12.42 in
Hamburg, Graphik-Design Studium in Hamburg. Sechs Jahre Art Director in verschiedenen Hamburger Werbeagenturen. Von
1973–2007 Creative Director bei DDBHeye München, ab 1994 Geschäftsführer
Creation. Seit 2008 freier Creative Director und Fotokünstler. Mehrere internationale Ausstellungen und Publikationen. Verheiratet, zwei Söhne, lebt und arbeitet in
München.
Norbert Herold
21
Montag
10_10_2016 20 Uhr a
Dienstag
11_10_2016 20 Uhr f
Donnerstag 29_09_2016 20 Uhr b
Freitag 30_09_2016 20 Uhr c
Donnerstag
29_09_2016 10 Uhr
Öffentliche Generalprobe
FRANZ LISZT
»Mazeppa«, Symphonische Dichtung
BENJAMIN BRITTEN
Serenade für Tenor, Horn und
Streichorchester op. 31
MAX REGER
»Eine romantische Suite« op. 125
GYÖRGY LIGETI
»Concert Românesc« für Orchester
BÉLA BARTÓK
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
»Concerto for Orchestra«
CONSTANTINOS CARYDIS
Dirigent
ANDREW STAPLES
Tenor
JÖRG BRÜCKNER
Horn
PABLO HERAS-CASADO
Dirigent
JAVIER PERIANES
Klavier
Sonntag
09_10_2016 11 Uhr
1. KAMMERKONZERT
Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz
»MINIMAL MUSIC«
Steve Reich zum 80. Geburtstag
STEVE REICH
»Music for Pieces of Wood« (1973)
»Clapping Music« (1972)
»Drumming«, Part 1 (1970/71)
»Mallet Quartet« (2009)
»Marimba Phase« (1967)
»Pendulum Music« (1968)
DIE SCHLAGZEUGER DER
MÜNCHNER PHILHARMONIKER
Vorschau
22
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Iason Keramidis
Florentine Lenz
Vladimir Tolpygo
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Schmitz
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
Asami Yamada
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
23
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
FLÖTEN
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
POSAUNEN
OBOEN
PAUKEN
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
Michael Leopold, stv. Solo
KLARINETTEN
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Dany Bonvin, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
SCHLAGZEUG
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
HARFE
Teresa Zimmermann, Solo
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
Jürgen Popp
Johannes Hofbauer
Jörg Urbach, Kontrafagott
EHRENDIRIGENT
HÖRNER
Paul Müller
Jörg Brückner, Solo
Matias Piñeira, Solo
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
Zubin Mehta
INTENDANT
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
24
IMPRESSUM
TEXTNACHWEISE
BILDNACHWEISE
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Stephan Kohler
Corporate Design:
HEYE GmbH
München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Gebr. Geiselberger GmbH
Martin-Moser-Straße 23
84503 Altötting
Sigrid Neef und Marcus
Imbsweiler schrieben ihre
Texte als Originalbeiträge
für die Programmhefte der
Münchner Philharmoniker.
Stephan Kohler verfasste
die lexikalischen Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten
Werken. Künstlerbiographien (Gergiev, Kava­
kos): Nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den
Autorinnen und Autoren;
jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig.
Abbildungen zu Dmitrij
Schostakowitsch: Jürgen
Fromme (Hrsg.), Dmitri
Schostakowitsch und seine
Zeit – Mensch und Werk
( Ausstellungskatalog),
Duisburg 1984. Abbildungen zu Anton Bruckner:
Uwe Harten (Hrsg.), Anton
Bruckner – Ein Handbuch,
Salzburg / Wien 1996;
Künstlerphotographien:
Marco Borggreve (Gergiev,
Kavakos).
Gedruckt auf holzfreiem und
FSC-Mix zertifiziertem Papier
der Sorte LuxoArt Samt
Impressum
In freundschaftlicher
Zusammenarbeit mit
DAS FESTIVAL
FÜR FAMILIEN
FAMILIENKONZERT
»Peter und der Wolf«
EDUCATION
TANZPROJEKT
»Romeo & Julia«
COMMUNITY
MUSIC
Performances
für Groß und Klein
Samstag
12_11_2016
—
GASTEIG
mphil.de
18 B
G JA IS
RA H
TI RE
S
’16
’17
DAS ORCHESTER DER STADT
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