SCHOSTAKOWITSCH 1. Violinkonzert BRUCKNER 6. Symphonie GERGIEV, Dirigent KAVAKOS, Violine Samstag 24_09_2016 19 Uhr Sonntag 25_09_2016 11 Uhr Die ersten Veröffentlichungen unseres neuen MPHIL Labels Valery Gergiev dirigiert Bruckner 4 & Mahler 2 zusammen mit den Münchner Philharmonikern mphil.de DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77 1. Nocturno: Moderato 2. Scherzo: Allegro – Poco più mosso 3. Passacaglia: Andante 4. Burleske: Allegro con brio ANTON BRUCKNER Symphonie Nr. 6 A-Dur 1. Majestoso 2. Adagio: Sehr feierlich 3. Scherzo: Nicht schnell – Trio: Langsam 4. Finale: Bewegt, doch nicht zu schnell VALERY GERGIEV, Dirigent LEONIDAS KAVAKOS, Violine 119. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent PAUL MÜLLER, Intendant 2 Tanzen gegen den Tod SIGRID NEEF DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH (1906–1975) Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77 1. Nocturno: Moderato 2. Scherzo: Allegro – Poco più mosso 3. Passacaglia: Andante 4. Burleske: Allegro con brio LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 25. (12.) September 1906 in St. Petersburg; gestorben am 9. August 1975 in Moskau. ENTSTEHUNG Das am 21. Juli 1947 begonnene erste (von insgesamt zwei) Violinkonzerten Schostakowitschs wurde am 24. März 1948 vollendet und bekam die Opuszahl 77. Zur Uraufführung kam es vorerst nicht, denn im Februar 1948 wurde Schostakowitsch vom Zentralkomitée der KPdSU bezichtigt, »volksfremde« Musik zu schreiben; er hielt daher sein Violinkonzert zunächst zurück. Erst nach dem Tod Stalins (1953) kam es zur verspäteten Uraufführung, wobei das Konzert, gegen Schostakowitschs Willen, die neue Opuszahl 99 erhielt, um die zeitliche Kluft zwischen Entstehung und Uraufführung zu verschleiern. Heute trägt das 1. Violinkonzert wieder seine originale Opuszahl 77. Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 3 WIDMUNG Seinem Freund David Fjodorowitsch Ois­ trach (1908–1974), dem Geiger und Solisten der Uraufführung, dem Schostakowitsch auch sein spätes 2. Violinkonzert cis-Moll op. 129 widmete. URAUFFÜHRUNG Am 29. Oktober 1955 in Leningrad (Leningrader Philharmoniker unter Leitung von Jewgenij Mrawinskij; Solist: David Ois­ trach). EIGENTLICH HÄTTE ER GLÜCKLICH SEIN MÜSSEN Schostakowitsch skizzierte sein 1. Violinkonzert im Juli 1947 in der kurzen Zeit von nur fünf Tagen und hatte es im Januar 1948 im Wesentlichen abgeschlossen. Als dann im Februar 1948 vom Zentralkomitée der KPdSU wegen angeblicher »formalistischer, volksfremder Musik« ein Verdikt über Schostakowitsch verhängt wurde, hatte das keinen grundlegenden Einfluss mehr auf die Komposition, wohl aber auf das Leben des Komponisten. Er verlor seine Lehrämter, und seine Werke wurden in Sow­ jetrussland vorerst nicht mehr aufgeführt. Woher also der konflikthafte Gestus und das auffällige Wesen dieses Konzerts, das mit seinen vier Sätzen und seinem höchst virtuosen Solopart häufig als »Symphonie mit obligater Violine« bezeichnet wird ? Eigentlich hätte Schostakowitsch im Sommer 1947 glücklich sein müssen. Der mörderische Weltkrieg hatte ihn und seine Familie verschont; nur wenige entfernte Verwandte waren dem Stalin’schen Terror zum Opfer gefallen; er selbst konnte sich als Komponist der sogenannten »Leningrader Symphonie« von 1941/42 weltweiter Popularität erfreuen und sich relativ geborgen fühlen. WAHLMÖGLICHKEIT UND SCHICKSAL Der Sommer 1947 in Komarowo war heiter, und der kleine Ort in der Nähe von Leningrad war Schostakowitsch durch die dort verbrachten Vorkriegssommer bekannt und angenehm. Allerdings: Dieser Ort hatte nicht immer »Komarowo« geheißen. Schostakowitsch selbst hatte ihn noch als Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 4 finnisches Kellomaeki kennen gelernt, bis die Sowjetarmee 1939/40 in einem nicht erklärten und tabuisierten Raubkrieg einige finnische, nordwestlich Leningrads gelegene Gebiete annektierte. das Thema quasi erstarrt, gibt es kein Ausweichen mehr. Und einen ähnlich tabuisierten Krieg führte Stalin gegen die russische jüdische Minderheit in seinem Staat. Konnte Schostakowitsch, wie andere nichtjüdische Bürger seines Landes, davor die Augen verschließen ? Tatsächlich hat das, was sich hier zwischen Orchester und Violine abspielt, kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Begriff des Konzertierens zu tun. Es geht nicht um ein Wetteifern, nicht um gegenseitiges Übertrumpfen oder Kontrastieren. Opus 77 hat auch nichts mehr zu tun mit einem episch berichtenden oder dramatisch-­ konflikthaften Symphonietypus. Nicht mehr steht der Einzelne einer Welt gegenüber, sondern die Welt dringt in den Einzelnen ein. 1. SATZ: SCHATTENHAFTE NOCTURNE... Schostakowitsch hatte keine Wahl, er musste sich äußern. Sein Schicksal war es, fremden Leid nicht davonlaufen zu können. Davon legte sein Sohn Maxim Zeugnis ab: »Er komponierte nicht, sondern schrieb auf, was sein inneres Ohr hörte.« Wollte er komponieren, konnte Schostakowitsch sein inneres Ohr nicht verschließen... In diesem Konzert gibt es keine hell schmetternden Blechbläser, keine Trompeten und Posaunen, dafür eine erweiterte Holzbläser­ besetzung, durch vier Hörner ergänzt: Alles zielt auf eine dunkle Grundstimmung. Schattenhaft, wie von weit her und schon seit langem erklingend, setzt das Motto­Thema in den tiefen Streichern ein, dessen Ton und Melodie von der Solovioline aufgegriffen und fortgesungen wird. Vorerst nur. Denn der Sinn des musikalischen Geschehens liegt in dem Versuch des musikalischen Protagonisten, sich dem dunklen Sog zu entwinden, mit abwehrender Gestik und weit ausgreifenden melodischen Bögen. Doch je mehr er sich dabei exponiert, desto mehr verstrickt er sich. Wenn dann im gläsernen Klang von Celesta und Harfe ...UND »SYMPHONIE MIT OBLIGATER VIOLINE« Schemenhaft und in verschiedenen Kombinationen ist die Notenfolge d-es-c-h angedeutet. Diese für Schostakowitschs Namen stehenden Initialen (D-S-C-H) zeigen an, dass der Komponist nicht von außen, mit einem distanzierten Beobachterblick auf seine musikalischen Akteure schaut, sondern sich am Geschehen selbst unmittelbar beteiligt. 2. SATZ: SCHERZO ALS TANZ... »Der 2. Satz (Allegro b-Moll) ist bedeutend mehr als das traditionelle Scherzo in einem symphonischen Zyklus, obwohl Tempo und Charakter des Themas eindeutig die eines Scherzos sind. Die intensive und ungewöhnlich scharfe Dynamik, die komplizierte polyphone Faktur, die farbenprächtige Instrumentierung, die Fuge im Mittelpunkt der Durchführung – das alles geht sowohl in der Weite des Gehalts als auch in der Bedeutung weit über den Rahmen eines Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 5 Dmitrij Schostakowitsch mit seiner ersten Frau Nina Wasiljewa (um 1945) Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 6 ›Zwischensatzes‹ hinaus« – so äußerte sich Widmungsträger David Oistrach. Das Scherzo ist in der Tat ein Meisterstück der Ambivalenz, ein Tanzstück, bei dem man nicht weiß, ob da mit der Gewalt oder gegen die Gewalt getanzt wird. Hetzende Motivketten; das Hauptthema gebärdet sich immer kesser und aufsässiger, grenzt ans Geräuschhafte. Dann ein Ruck von b-Moll nach H-Dur, das D-S-C-H kommt ins Spiel, dann mit einem erneuten Ruck zurück nach b-Moll. Es wird immer wilder, auf dem Höhepunkt erfolgt ein Riss nach e-Moll. Anstelle des traditionellen Trios setzt nun ein Thema in jüdischem Tonfall ein, die Melodien werden fortgetrieben und finden sich wieder – in einer Fuge. In der B-Dur-Reprise vereinen sich alle Themen, das D-S-C-H eingeschlossen. Rätselhaft, meisterlich, geheimnisvoll ! Was ist gemeint ? ...UND TANZ ALS CHIFFRE Russland im Bürgerkrieg der 1920er Jahre. Ein Kellerversteck: Drinnen Vater, Mutter, Großmutter und Kinder, draußen Not und Gefahr – Angst. Der Vater beginnt zu tanzen, animiert die Kinder. Sie heben die Füße, strecken die Arme empor und öffnen die Hände zum Blütenkranz. Sie tanzen gegen die Angst, gegen den Tod ! Immer schneller, immer kesser. Greisenhände und Kinderfinger wie ein Blütenreigen, wie schimmernde Kerzen in der Dunkelheit. Dann färbt ein fahler gelber Stern die Nacht ! Noch immer dieser Blumenkranz tanzender Hände, nein – schwankend jetzt, dann wieder tanzend, wie Kerzen, in der Dunkelheit aufflackernd. Es ist die gleiche Familie, es sind viele Familien, eine endlose Kolonne von Menschen. Auf ihre gelben Sterne sind Gewehre gerichtet. Noch immer diese tanzenden Hände – nun auf dem Weg nach Auschwitz, nach Berditschew. Diese Sequenz aus Alexander Askoldows Film »Die Kommissarin« machte Filmgeschichte, wird doch hier auf geniale Weise der Tanz der Chassidim, der ostjüdischen Mystiker, zur Chiffre für ein Leben mit offenen Händen. Und dies inmitten geballter Fäuste, also inmitten von Hass und Gewalt. Askoldows Film ist das Gegenstück zu Schostakowitschs Violinkonzert. Film wie Konzert konnten zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht aufgeführt werden. Alskoldows Film wurde 1967 gedreht und durfte erst 1987 gezeigt werden, Schos­ takowitschs Konzert entstand 1947/48 und wurde erst 1955 uraufgeführt. Dem Filmregisseur hängte man den Makel eines »psychisch Kranken« an, der Komponist wurde zum »Volksfeind« erklärt. 3. SATZ: PASSACAGLIA ALS »DYNAMISCHE RUHE« Kann die Menschheit noch frei darüber entscheiden, ob sie den eingeschlagenen Weg weitergeht oder nicht ? Eine Frage von allgemeiner Bedeutung, die nicht allein auf das russische oder das jüdische Volk zielt, sondern auf das Geheimnis menschlicher Willensfreiheit überhaupt. Für die musikalische Problematisierung dieses Rätsels menschlicher Existenz wählte Schostakowitsch die alte Form der Passacaglia, eine Variationenfolge über ein »ostinates«, gleichbleibendes Thema. Die Passacaglia ist eine Form »dynamischer Ruhe«, denn die Ostinato-Technik imaginiert Objektivität und Unausweichlichkeit, die Technik der Variation hingegen Subjektivität und Freiheit. Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 7 Dmitrij Schostakowitsch mit seiner Tochter Galina (um 1950) Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 8 Dynamische Ruhe vom ersten Takt an. Ruhig schreitet das Passacaglia-Thema in Pauken, Violoncelli und Kontrabässen 17 Takte voran, und gleichzeitig blasen die Hörner zur Jagd, zum Marsch. Der Protagonist versucht sich dieser Alternative zu entziehen; »piano espressivo« stimmt er ein Klagelied an, dessen kleinteilige Motivbildungen an traditionelle Synagogalmusiken erinnert. Ist es Zahlenmystik, wenn das Passacaglia-Thema beim siebten Mal seines Erklingens die Violine erfasst ? Auch das Hornthema wird von der Violine übernommen, wird befragt, nachdenklich hin und her gewendet. Es handelt sich um eine Analogie zum 1. Satz: Hier wie dort erfasst ein Allgemeines den Einzelnen. Wie auch immer man sich dreht und wendet, man kommt nicht unbeschädigt aus der Welt heraus. KADENZ: NACHDENKLICHKEIT UND ATEMHOLEN Die nachfolgende Kadenz stellt sich diesem Vorgang, hält Überschau über alle Themen, ordnet sie neu, hört sie ab, wendet sie um und um. »Hier leben Nachklänge« – so Oistrach – »der Stimmungen und Bilder von der Nocturne, vom Scherzo und von der Passacaglia wieder auf«; doch findet kein Rückzug in die Innerlichkeit und kein Einspruch gegen das äußere Geschehen statt, vielmehr handelt es sich um eine Art Atemholen. Aber welche Kraft und Größe gehört dazu, sich diese Freiheit zum Nachdenken zu bewahren in einer Welt der sichtbaren wie unsichtbaren Gewalten ! In dieser weltanschaulichen Größe wurzelt die Ausgedehntheit, Spannung und Virtuosität dieser Kadenz, die in der Weite und Bedeutsamkeit ihrer Gedanken fast den Raum eines eigenen (Konzert-) Satzes einnimmt. 4. SATZ: BURLESKE FRÖHLICHKEIT... »In Schostakowitschs Schaffen gibt es viele großartige Beispiele für festliche, fröhliche, lebensbejahende Musik (...) Das Einzige, worin ich dem Autor dieser herrlichen, sprühenden, ihrem Geist nach volkstümlichen Musik nicht beistimmen kann, ist die Bezeichnung ›Burleske‹. Sie scheint mir dem festlichen Charakter und dem nationalrussischen Kolorit der Musik wenig zu entsprechen.« Diese Anmerkung Oistrachs ist selbst eine Burleske, und vom Widmungsträger auch so gemeint. Schostakowitsch ist ein Meister des Tragischen und der Groteske, aber kein Meister »festlicher, fröhlicher, lebensbejahender Musik«. Mit seiner provokanten Verdrehung macht Oistrach klar, das zwischen dem tatsächlichen und dem vorgeblichen Inhalt der Musik eine Divergenz besteht, deren Bedeutung jeder Interpret und Hörer selbst herauszufinden hat. Wieder ist es ein Tanzsatz, ein Allegro con brio in a-Moll. Erstmals wehrt sich die Solo­ violine gegen das vorgegebene Thema nicht, sondern stimmt in die befohlene, offizielle Lustigkeit mit ein. Dann kommt es zu einer Art Gegentanz im 3/4-Takt: Das Passacaglia-Thema erscheint in Engführung, und »con tutta forza« hat die Solo­ violine dagegen anzuspielen. ...UND »APOTHEOSE DES TANZES« Im Finalsatz sind jeweils zwei musikalische und geistige Schichten angelegt. Es han- Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 9 Schostakowitsch (Bildmitte) auf einer von Parteifunktionär Tichon Chrennikow geleiteten Sitzung des sowjetischen Komponistenverbandes (1955) delt sich um kein nostalgisch verklärtes Volksfest, sondern um eine offiziöse Feierlichkeit. Und trotzdem ist es auch ein Fest des Volkes. Oistrach hörte hier die Skomorochen spielen, die alten tanzenden Wandermusikanten und Narren. Gemeint ist ein Tanzen, bei dem die anbefohlene Festlichkeit von innen her umgedeutet wird. Tanzen wird hier zu einer Modalität, der Welt zu widerstehen, sich in Harmonie zu bringen und um sich selbst kreisend einen eigenen Mittelpunkt zu setzen. Dieses Finale ist folglich eine »Apotheose des Tanzes«, aber ganz anderer Art als in Beethovens 7. Symphonie. Dort ist es ein Tanzen für das Leben, hier ein Tanzen gegen den Tod. Auf dieser Ebene hat Schos­ takowitschs Violinkonzert von 1947/48 eine kammermusikalische Entsprechung im Klaviertrio e-Moll op. 67 von 1944: Auch dort eine langsame Einleitung mit Motto-­ Thema im 4/4 Takt, als 2. Satz ein Scherzo, gefolgt von einer Passacaglia, an die sich ebenfalls ein tanzinspiriertes Finale mit »jüdischer Färbung« anschließt. In beiden Fällen ein Tanzen gegen den Tod in der Tradition der Chassidim. OISTRACHS VERDIENSTE UM DAS WERK Schostakowitschs 1. Violinkonzert verdankt seine Uraufführung dem Widmungsträger David Oistrach. Als dieser das Konzert im Frühjahr 1948 erhielt, reagierte er anfangs verstört; unangemessen hoch erschienen ihm die spieltechnischen Schwierigkeiten, zu rätselvoll und unvertraut die geistigen Anforderungen: »Es ist durchaus nicht ein- Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 10 fach, das Konzert von Schostakowitsch zu ›meistern‹. Ich erinnere mich, wie langsam und nicht ohne Schwierigkeiten meine Interpretation heranreifte, wie ich mich von Tag zu Tag immer lebhafter für das Werk interessierte und schließlich hell begeistert war. Und dann kam der Tag, an dem diese Musik alle meine Gedanken und Gefühle gepackt hatte. Je mehr ich mich in das Konzert vertiefte, je aufmerksamer ich seinen Klängen lauschte, um so besser gefiel es mir, und mit um so größerem Eifer studierte ich es ein, um so stärker fesselte es meine Gedanken und ergriff Besitz von meinem ganzen Fühlen.« An eine Aufführung war 1948 allerdings nicht zu denken. Aber auch Stalins Tod 1953 gab den Weg für das Werk (noch) nicht frei. Da erhielt David Oistrach 1955 eine Einladung zu einem Gastspiel in New York, die mit der Aufforderung verbunden war, das unbekannte, geheimnisumwitterte 1. Violinkonzert von Schostakowitsch aufzuführen. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge musste aber jedes sowjetische Werk innerhalb der Grenzen der Sowjetunion uraufgeführt werden, bevor es im Ausland nachgespielt werden konnte; und da die Behörden auf die Devisen aus Oistrachs Auftritt in den USA nicht verzichten wollten, war plötzlich der Weg zur Uraufführung frei. Oktober fand der erste Durchlauf statt. Dmitrij Dmitrijew nahm daran teil. Oistrach spielte einzigartig. Der Eindruck war erschütternd. (...) Am 29. Oktober 1955 fand das lang erwartete Konzert statt und hatte einen gigantischen Erfolg. Das Finale wurde auf Verlangen des Publikums wiederholt.« Bereits am 29. Dezember 1955 spielte David Oistrach »sein« Violinkonzert in der Carnegie Hall in New York mit den New Yorker Philharmonikern unter Leitung von Dimitri Mitropoulos. Trotz des enormen Erfolgs schwieg die sowjetische Presse bis auf wenige Ausnahmen das Werk tot, bis im Juli 1956 in der Zeitschrift »Sowjetskaja musyka« aus der Feder Oistrachs zu lesen war: »Seit der Uraufführung des neuen Vio­linkonzerts von Schostakowitsch in Leningrad und Moskau ist bereits ein halbes Jahr vergangen, aber bis heute ist noch kein Artikel, keine Analyse dieses hervorragenden Werkes erschienen. (...) Gewiss, Totschweigen ist auch eine Art von Kritik.« VOM REGIME TOTGESCHWIEGEN Isaak Glikman, der Freund Schostakowitschs, berichtete: »Am 18. Oktober 1955 kam Schostakowitsch zusammen mit David Oistrach nach Leningrad, um das Konzert Mrawinskij zu zeigen, der sofort begann, mit dem Orchester zu arbeiten, akribisch und gewissenhaft, wie es diesem bemerkenswerten Dirigenten eigen war. Am 25. Dmitrij Schostakowitsch: 1. Violinkonzert 11 1 Auf der Suche nach einem neuen Weg MARCUS IMBSWEILER LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN ANTON BRUCKNER (1824–1896) Geboren am 4. September 1824 in Ansfelden / Oberösterreich unweit von Linz ; gestorben am 11. Oktober 1896 in Wien. Symphonie Nr. 6 A-Dur 1. Majestoso 2. Adagio: Sehr feierlich 3. Scherzo: Nicht schnell – Trio: Langsam 4. Finale: Bewegt, doch nicht zu schnell ENTSTEHUNG Ziemlich bald nach Beendigung seines Streichquintetts im Juli 1879 nahm Bruckner die neue Symphonie in Angriff. Der 1. Satz war Ende September 1880 fertiggestellt, das Adagio Ende November. Im Juni und September 1881 folgten die beiden restlichen Sätze. Zwei Jahre Entstehungszeit lagen bei Bruckner im Rahmen des Üblichen; die »Fünfte« vollendete er innerhalb von 15 Monaten, schloss allerdings eine längere Umarbeitungsphase an, für die »Siebte« brauchte er wieder zwei Jahre, für die »Achte« (1. Fassung) drei. WIDMUNG Bruckner widmete die Symphonie dem Philosophen Dr. Anton Ölzelt Ritter von Nevin (1854–1925) und seiner Frau Amalie (Amy), geb. Edle von Wieser. Ölzelt war Besucher von Bruckners Vorlesungen an der Univer- Anton Bruckner: 6. Symphonie 2 12 sität und mit ihm befreundet; 18 Jahre lang ließ er den Komponisten unentgeltlich in seinem Haus in der Heßgasse direkt neben dem Ringtheater wohnen, dessen Aussicht Bruckner sehr schätzte. URAUFFÜHRUNG Am 26. Februar 1899, also erst nach Bruckners Tod, in Wien im Großen Musikvereinssaal (Wiener Philharmoniker unter Leitung von Gustav Mahler, der allerdings instrumentale Retuschen und etliche Kürzungen vorgenommen hatte). Bereits am 11. Februar 1883, ebenfalls in Wien, waren die beiden Mittelsätze erstmals gespielt worden (Wiener Philharmoniker unter Leitung von Wilhelm Jahn). Ungekürzt hingegen erklang die »Sechste« zum ersten Mal am 14. März 1901 in Stuttgart, aufgeführt von der Königlich-Württembergischen Hofkapelle unter Leitung von Karl Pohlig. Bruckners »Sechste«: ein Streitfall. Unter seinen mittleren und späten Symphonien zählt sie zu den Unbekanntesten, rangiert auch in der Publikumsgunst deutlich hinter der beliebten »Vierten« oder »Siebten«. Von Kennern dagegen wird sie gerade für ihre Vielschichtigkeit geschätzt. Und Bruckner selbst ? Er scheint mit dem Ergebnis seiner Arbeit zufrieden gewesen zu sein. Anders als bei den drei vorangegangenen Symphonien nahm er nach Abschluss der Komposition keine wesentlichen Änderungen mehr an dem Stück vor. Dass es die »Sechste« nicht leicht haben würde, schwante allerdings auch ihm: Seine »kühnste« Symphonie nannte er sie oder, mit launigem Zungenschlag, seine »keckste«. WOHIN GEHÖRT DIE »SECHSTE« ? Bruckner und keck ? Eine gewöhnungsbedürftige Assoziation, zumal wenn man an den romantischen Ernst der 4. Symphonie oder das Pathos der »Fünften« denkt. Aber die »Sechste« macht schon in den ersten Takten klar, dass sie gewillt ist, einen anderen Weg als den üblichen einzuschlagen. Statt des Bruckner-typischen Herantastens an den Klang, des allmählichen Erwachsens thematischer Gebilde, ist hier die Musik sofort »da«: Die Violinen geben einen durch Punktierung geschärften Triolenrhythmus vor, der von einem klar umrissenen Thema in tiefer Lage beantwortet wird. Selbst die Tonart A-Dur ist singulär in Bruckners orchestralem Schaffen. Und so herrscht nicht zufällig bis heute Uneinigkeit unter den Experten über die stilistische Einordnung der »Sechsten«. Für die einen gehört sie zu Bruckners mittleren Symphonien, indem sie zwischen dem Melos der »Vierten« und der sakralen Aura der »Fünften« vermittelt. Von anderen Anton Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie 3 13 Hermann Kaulbach: Anton Bruckner in München (1885) Anton Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie 4 14 wird sie, ihrer erwähnten Kühnheit wegen, dem Spätwerk des Komponisten zugeschlagen – oder man begreift sie mit Peter Gülke von vornherein als »Solitär«. lichkeiten (die Dirigenten Josef Schalk und Gustav Mahler, den Verleger Theodor Rättig) zu überzeugten Anhängern Bruckners; der Keim für spätere Erfolge war gelegt. DIE LEGENDE VOM ARMEN ORGANISTEN EINE REISE IN DIE SCHWEIZ Wofür man sich letztlich auch entscheiden mag, an der Sonderstellung der »Sechsten« bestehen kaum Zweifel. Ein Blick auf ihre Entstehungsbedingungen – genauer: auf die Lebensumstände Bruckners während der Komposition – zeigt, dass auch diese einige Besonderheiten aufweisen. So hatte sich die soziale Situation des Komponisten im Winter 1877/78 endlich konsolidiert. Er bezog mietfrei eine repräsentative Wohnung am Schottenring und wurde kurz danach ordentliches Mitglied der Hofkapelle, verbunden mit einem Jahresgehalt von 600 Gulden. Damit gehörte Bruckner, ganz im Gegensatz zum (auch durch ihn) tradierten Bild vom unbedarft-ärmlichen Landmusikanten, »zum bemerkenswert kapitalträchtigen Bürgertum Wiens und in der Musikwelt sicher zu den Spitzenverdienern« (Laurenz Lütteken). Man dürfte nicht allzu fehl gehen, wenn man die späten 1870er Jahre zu Bruckners glücklichsten Lebensphasen zählt. Als Organist war er eine Berühmtheit, seine Messen fanden großen Anklang, an der Universität scharte er eine wachsende Zahl von Bewunderern um sich. Was fehlte, war die Anerkennung auf symphonischem Gebiet; hier setzte das Fiasko der »Dritten« im Dezember 1877 einen markanten Kontrapunkt zu den sonstigen Hoffnungssignalen. Allerdings machte gerade die Premiere dieser Symphonie einige wichtige Persön- Zum gestiegenen Sozialstatus und bürgerlichen Lebensstil gehörten nach Auffassung der meisten Wiener auch Reisen. Diese freilich finden sich in Bruckners Biographie nur spärlich und sind fast ausschließlich von äußeren Anlässen bestimmt, wie etwa der Besuch von Wagners »Ring des Nibelungen« in Bayreuth 1876. Vier Jahre später allerdings brach Bruckner zur längsten Reise seines Lebens auf. Sie führte über Bayern in die Schweiz, wo sich Profession und private Zerstreuungen in Form von Orgelspiel, Begegnung mit Musikern sowie Wanderungen, Bahnfahrten und Damenbekanntschaften überlagerten. Kaum zurück, beschäftigte er sich mit der ein Jahr zuvor, im Sommer 1879, begonnenen 6. Symphonie, um sie binnen Jahresfrist zum Abschluss zu bringen. Bemerkenswert an diesen Daten ist vor allem die dreijährige Pause zwischen der Vollendung der »Fünften« (1876) und den ersten Skizzen der »Sechsten« – auch dies eine Besonderheit im Schaffen Bruckners. Eine generelle kompositorische Abstinenz ging damit freilich nicht einher. Bis zum Jahr 1879 beschäftigte sich Bruckner mit diversen Umarbeitungen (3. und 4. Symphonie, f-Moll-Messe) und schrieb ein Streichquintett. Diese Tätigkeiten scheinen ihm den nötigen Freiraum geschaffen zu haben, um nach der »Fünften«, seinem »kontrapunktischen Meisterstück« (Bruckner), eine neue Symphonie zu konzipieren. Anton Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie 6 15 DER NEUE WEG Der so untypische Beginn der »Sechsten« kann denn wohl auch als Fanal begriffen werden: Da die »Fünfte« in ihrem Monumentalcharakter nicht überbietbar schien, musste das folgende Werk Alternativen aufzeigen. Zum Markenzeichen der Vorgänger-Symphonie war die kunstvolle Kombination der Hauptgedanken in den Rahmensätzen geworden, im Finale durch eine Doppelfuge noch gesteigert. Solche Artistik fehlt in der »Sechsten«, wird allenfalls im Vorübergehen angedeutet. Überhaupt arbeitet Bruckner jetzt weniger mit kompletten »Themen« als mit ihren Bestandteilen wie Rhythmus, Impuls, Einzelmotivik, Tonhöhe, Gestus, die er neu kombiniert und gegeneinander ausspielt. Um ein Beispiel zu geben: Der gleich zu Beginn ertönende Triolenrhythmus gibt der Entwicklung zwar Stabilität, doch ist er gewissermaßen »falsch« platziert, nämlich in den dünnen Oberstimmen der Geigen. Tonartlich ist alles noch offen. Der erste Takt des Themas mit seiner fallenden Quint e – a scheint diesen Mangel prompt auszugleichen: Zusammen mit dem hohen cis ergibt sich A-Dur, die Grundtonart der Symphonie, der Klang erhält ein Fundament sowie einen fasslichen Anfangsgedanken. Aber schon einen Takt später zerstört Bruckner diese Gewissheit wieder: Vierteltriolen rufen rhythmische Irritation hervor, dazu erklingt ein tonartfremdes b, das dem A-Dur phrygischen, also kirchentonalen Charakter verleiht. Diese Maßnahmen prägen nicht nur das Hauptthema des Satzes selbst, sondern – und das ist das Entscheidende – auch den weiteren Verlauf der Symphonie. So wird das Gegeneinander von Zweier- und Dreierrhythmen zum Marken- zeichen des Seitenthemas sowie des Scherzo-Hauptgedankens, während phrygische Tonleitern zu Beginn von Adagio und Finale angestimmt werden. KOMPOSITORISCHE ARBEIT IM HINTERGRUND Diese spezielle Herangehensweise lässt sich als »analytischen« Umgang mit dem Material bezeichnen: Bruckner zerlegt thematische Gebilde in ihre Bestandteile (Parameter), um aus diesen neue Themen zu entwickeln. Die Tonfolge eines Motivs – also das, was uns als »Melodie« am direktesten anspricht – ist dabei nur ein Parameter unter mehreren. Und natürlich hat die »Sechste« auch in dieser Hinsicht zahlreiche Bezüge zu bieten: thematische Verwandtschaften, die sich allerdings nicht aufdrängen, sondern ihre Wirkung im Hintergrund entfalten. Bruckners Zurückhaltung, was Themenverknüpfungen angeht, sticht vor allem im Vergleich mit der 5. Symphonie ins Auge. Dort hatte er ja, wie erwähnt, in exemplarischer Weise vorgeführt, welche thematischen Kombinationsmöglichkeiten ihm zu Gebote standen. Den Höhepunkt der Entwicklung erreicht er im Finale der »Fünften«, wenn die Hauptgedanken des Satzes gleichzeitig erklingen, ergänzt durch ein Zitat aus dem ersten Satz. Und in der »Sechsten« ? Da wird an dieses Verfahren nur noch dezent erinnert. Am Ende des ersten Satzes erlaubt sich Bruckner einen kleinen kontrapunktischen Trick, indem er die Triolen des Hauptthemas in originaler und umgekehrter Form (also auf und ab gleichzeitig) aneinanderkoppelt. Und eben diese Triolen rufen ganz am Ende der Symphonie noch einmal kurz deren Anfangstakte ins Ge- Anton Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie 8 16 dächtnis. Aber das geschieht in den letzten acht Takten des Werks, in einer bemerkenswerten, fast unerhörten Lakonik. DIE ANFANGSSÄTZE Den Eröffnungssatz, Majestoso, bestreitet Bruckner wie üblich mit drei Themen. Während das zweite von ruhigem Melos geprägt ist (»Gesangsperiode«), hat das dritte mit seinem stampfenden Orchester-Unisono beschließenden Charakter. In der Durchführung kommt hauptsächlich das erste Thema zu Wort – was nicht verwundert, besteht es doch in sich, wie gezeigt, aus widerstreitenden Kräften, die sich hervorragend kombinieren und ausweiten lassen: Triolengänge, pochende Rhythmen, Punktierungen, Quintfälle. Der Höhepunkt der Durchführung fällt mit der Wiederkehr des Hauptthemas zusammen, also mit dem Reprisenbeginn; gleichzeitig bricht Bruckner diesen Effekt durch die »falsche« Tonart (Es-Dur !), um innerhalb von nur 14 Takten zur Grundtonart zurückzukehren. Auch der langsame Satz, Adagio, arbeitet mit drei prägnanten Themen: einem feierlichen Streichergesang, einem beseelten Aufschwung sowie einem Trauermarsch. Zusammenhang stiftet anderes, das gleichsam subkutan wirkt: Bei den ersten beiden Themen streiten jeweils zwei gleichberechtigte Stimmen, beide in unterschiedlichen Zeitverläufen, um die Vorherrschaft (Geigen/Oboen bzw. Celli/Geigen), der Trauermarsch erhebt sich wie das erste Thema über einem Tonleitergang abwärts. So kurz die Durchführung dieses Satzes ist, lässt sie doch Bruckners kontrapunktische Meisterschaft aufblitzen: Da wird ein Bassgang zur Oberstimme, das Hauptthema erklingt in Umkehrung sowie im Kanon und schließ- lich in neuer Kombination mit den OboenSeufzern. Fast schon an Mahler erinnert die Coda, in der die wichtigsten thematischen Bestandteile wie in einer Traumsequenz aufscheinen, um zuletzt behutsam ausgeblendet zu werden. SELTSAMKEITEN IM SCHERZO Das Scherzo erweist sich als durchgehend von Triolen geprägt – auch dann noch, wenn nach zehn Takten das Blech die Führung übernimmt und die Posaunen mit einem »Geradeaus-Thema« Ordnung erzwingen wollen. Geradeaus ist hier so gut wie nichts, sondern von grundlegenden musikalischen Widersprüchen geprägt: Auf gegen Ab, Laut gegen Leise, motivische Bewegung gegen starres Bassfundament, Fanfaren gegen Klarinettenschleifer. Ein Tanz ? Nein, eine irrlichternde Abfolge von Bildern, mal dahinhuschend, mal aggressiv lospolternd. Kein Wunder, dass der Bruckner-Kritiker Hanslick bei der Teilpremiere der Symphonie 1883 ein »ausschließlich durch Seltsamkeit fesselndes Scherzo« vernahm. Dem setzt das bedeutend langsamere Trio die Krone auf: Sonst ein Ort der idyllischen oder wehmütigen Rückblende, in dem LändlerTonfälle dominieren, stehen hier die Hörnerund Holzbläserrufe isoliert, treten auf der Stelle, fügen sich zu keinem Ablauf. Von österreichischer Heimeligkeit bleibt hier lediglich die Geste. Nicht umsonst konnte Peter Gülke behaupten, »eine stärker zerpflückte und fragmentierte Musik« habe Bruckner »nie geschrieben«. MEHRDEUTIGES FINALE Im Finale wird zunächst die Grundtonart der Symphonie infrage gestellt. Das Tremolo-e der Bratschen signalisiert e-Moll phrygisch, später a-Moll, kurz darauf ist Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie Anton 9 17 A-Dur erreicht, und zwar mit einem Fanfarenmotiv, das sich wie ein Hauptthema gebärdet. Aber ist es das wirklich ? Dass die »suchenden« Anfangstakte in der Reprise nicht mehr aufgenommen werden, spricht dafür; eine umso wichtigere Rolle spielen sie in der Durchführung. Fest stehen dürfte demgegenüber, dass Bruckner dieses Finale nicht, wie häufig zu lesen, dem Kompositionsprinzip des »per aspera ad astra« unterworfen hat. Denn der Durchbruch zum »Licht«, also zur Grundtonart A-Dur, kommt viel zu früh und wird im Laufe der weiteren Themenpräsentation wieder zurückgenommen. Vielmehr macht sich auch hier eine analytische Herangehensweise bemerkbar, die ihn thematische Gebilde aus widerstrebenden Einzelaspekten zusammensetzen lässt – bis hin zur Isolierung eines kleinen punktierten Motivs, das zunächst in der Durchführung und dann vor allem in der Coda zum Träger der Entwicklung wird. Ihm gelingt auch die Rückbindung des Finalsatzes an den Beginn der Symphonie, freilich auf sehr unauffällige, beiläufige Weise. während der Trauermarsch im Adagio auf die Oberammergauer Prozessionen anspielen könnte (die erste Station von Bruckners Reise) und das Trio »Gedanken an die Bergwelt« weckt (Manfred Wagner). Vom Komponisten selbst gibt es allerdings keine Hinweise in dieser Richtung. EINDRÜCKE EINER BAHNREISE ? Zu fragen wäre allerdings, ob sich Bruckners Gestaltungswille in diesen eher abstrakten Prinzipien erschöpft und ob bei der »Sechsten« nicht auch konkretere Außenbezüge möglich wären. Manfred Wagner etwa hat in seiner Interpretation der Symphonie versucht, eine Verbindung zwischen der Musik und Bruckners Schweiz-Reise von 1880 zu ziehen. Im ersten Satz vernimmt er »ein durch nahezu keine Unterbrechung gebremstes Bewegungsmodell zu einer damit verknüpften Drehstruktur, die einander abwechseln«, ähnlich den visuellen Eindrücken einer Bahnfahrt. Auch das Finale ist von rastloser Bewegung geprägt, Anton Anton Bruckner: Bruckner: 6. 6. Symphonie Symphonie 18 Valery Gergiev DIRIGENT In Moskau geboren, studierte Valery Gergiev zunächst Dirigieren bei Ilya Musin am Leningrader Konservatorium. Bereits als Student war er Preisträger des Herbert-­ von-Karajan-Dirigierwettbewerbs in Berlin. 1978 wurde Valery Gergiev 24-jährig Assistent von Yuri Temirkanov am MariinskyOpernhaus, wo er mit Prokofjews Tolstoi-­ Vertonung »Krieg und Frieden« debütierte. 2003 dirigierte Gergiev als erster russischer Dirigent seit Tschaikowsky das Saisoneröffnungskonzert der New Yorker Carnegie Hall. Valery Gergiev leitet seit mehr als zwei Jahr­ zehnten das legendäre Mariinsky-Theater in St. Petersburg, das in dieser Zeit zu einer der wichtigsten Pflegestätten der russischen Opernkultur aufgestiegen ist. Darüber hinaus ist er Leiter des 1995 von Sir Georg Solti ins Leben gerufenen »World Or­ chestra for Peace«, mit dem er ebenso wie mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters regelmäßig Welttourneen unternimmt. Von 2007 an war Gergiev außerdem Chefdirigent des London Symphony Orchestra, mit dem er zahlreiche Aufnahmen für das hauseigene Label des Orchesters einspielte. Valery Gergiev präsentierte mit seinem Mariinsky-Ensemble weltweit Höhepunkte des russischen Ballett-und Opernrepertoires, Wagners »Ring« sowie sämtliche Symphonien von Schostakowitsch und Prokofjew. Mit dem London Symphony Orchestra trat er regelmäßig im Barbican Center London, bei den Londoner Proms und beim Edinburgh Festival auf. Zahlreiche Auszeichnun­ gen begleiteten seine Dirigenten­karriere, so z. B. der Polar Music Prize und der Preis der All-Union Conductor’s Competition in Moskau. Seit Beginn der Spielzeit 2015/16 ist Valery Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Die Künstler 19 Leonidas Kavakos VIOLINE Leonidas Kavakos ist ein engagierter Kammermusiker und regelmäßig zu Gast bei den Festivals in Verbier, Montreux, Edinburgh und Salzburg. In der jüngsten Vergangenheit präsentierte er mit dem Pianisten Emmanuel Ax einen Zyklus mit Beethoven-Sonaten, der in der Londoner Wigmore Hall vorgestellt und anschließend im Wiener Musikverein wiederholt wurde. Zu seinen Kammermusikpartnern zählen außerdem Elisabeth Leonskaja, Hélène Grimaud, Enrico Pace und die Brüder Capuçon. Leonidas Kavakos spielt die »Abergavenny« Stradivarius von 1724. Aufmerksam auf das große Talent des aus Griechenland stammenden Geigers wurde man, als er 1985 den Sibelius- und drei Jahre später den Paganini-Wettbewerb gewann. Zu den Orchestern, mit denen Leonidas Kavakos seither regelmäßig zusammenarbeitet, gehören u. a. das New York Philharmonic Orchestra, das Chicago Symphony Orches­ tra, das Philadelphia Orchestra, das Konink­ lijk Concertgebouworkest, das Orchestre de Paris und das Budapest Festival Orchestra. In Deutschland wurde er jüngst zum Artist-­ in-Residence der Berliner Philharmoniker und unmittelbar anschließend des Gewandhaus-­ Orchesters Leipzig ernannt. Sein Debüt als Dirigent gab Leonidas Kavakos 2011 beim Budapest Festival Orchestra und beim Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia. In der Folge war er als Dirigent und Solist zu Gast u. a. beim Boston Symphony Orchestra, bei den Stockholmer Philharmonikern, beim Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI in Turin und zum wiederholten Male beim Orchestra Filarmonica della Scala di Milano. Von 2007 bis 2009 war Leonidas Kavakos künstlerischer Leiter der Camerata Salzburg, nachdem er bereits seit 2002 Principal Guest Artist des Orchesters gewesen war. Die Künstler 20 Münchner Klangbilder TITELGESTALTUNG ZUM HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM Musik erzeugt Bilder in unseren Köpfen. Für die Gestaltung von Plakaten hat das Orchester der Stadt deshalb auch für die Spielzeit 2016/17 die Künstler der Stadt gebeten, ihre Bilder festzuhalten. Aus der Musik und der Geschichte des Stückes wurden so neue Kunstwerke geschaffen: eine besondere Zusammenarbeit zwischen der gestalterischen und der musikalischen Welt Münchens. Jeder Künstler hat dabei seine eigene Sprache, um die Melodien und Töne in Bilder zu übersetzen. Entstanden sind Fotografien, Malereien, Installationen, Grafiken und Collagen mit einzigartigem Charakter. Allesamt Plakate, die neugierig machen auf ein ganz besonderes Konzerterlebnis. Plakate, die zeigen, wie vielfältig Musik ist und wie individuell sie wahrgenommen werden kann. Alle bereits erschienenen Motive können Sie online unter mphil.de/kalender/plakate ansehen. »Spätes Neunzehntes Jahrhundert. Habsburger Großmacht und etabliertes Bürgertum. Die Salonkunst ist en vogue. In der Musik breitet nicht nur Bruckner dramatisch epische Klangteppiche aus. Die Polster, in denen es sich die Gesellschaft bequem macht, haben schon Risse, sind abgenutzt und zerkratzt. Es ist Spätzeit. Der Weltkrieg wird diese Welt bald beenden. Die Musik der Sechsten Symphonie weiß es nur noch nicht.« (Norbert Herold, 2016) DER KÜNSTLER Norbert Herold geboren am 9.12.42 in Hamburg, Graphik-Design Studium in Hamburg. Sechs Jahre Art Director in verschiedenen Hamburger Werbeagenturen. Von 1973–2007 Creative Director bei DDBHeye München, ab 1994 Geschäftsführer Creation. Seit 2008 freier Creative Director und Fotokünstler. Mehrere internationale Ausstellungen und Publikationen. Verheiratet, zwei Söhne, lebt und arbeitet in München. Norbert Herold 21 Montag 10_10_2016 20 Uhr a Dienstag 11_10_2016 20 Uhr f Donnerstag 29_09_2016 20 Uhr b Freitag 30_09_2016 20 Uhr c Donnerstag 29_09_2016 10 Uhr Öffentliche Generalprobe FRANZ LISZT »Mazeppa«, Symphonische Dichtung BENJAMIN BRITTEN Serenade für Tenor, Horn und Streichorchester op. 31 MAX REGER »Eine romantische Suite« op. 125 GYÖRGY LIGETI »Concert Românesc« für Orchester BÉLA BARTÓK Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 »Concerto for Orchestra« CONSTANTINOS CARYDIS Dirigent ANDREW STAPLES Tenor JÖRG BRÜCKNER Horn PABLO HERAS-CASADO Dirigent JAVIER PERIANES Klavier Sonntag 09_10_2016 11 Uhr 1. KAMMERKONZERT Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz »MINIMAL MUSIC« Steve Reich zum 80. Geburtstag STEVE REICH »Music for Pieces of Wood« (1973) »Clapping Music« (1972) »Drumming«, Part 1 (1970/71) »Mallet Quartet« (2009) »Marimba Phase« (1967) »Pendulum Music« (1968) DIE SCHLAGZEUGER DER MÜNCHNER PHILHARMONIKER Vorschau 22 Die Münchner Philharmoniker 1. VIOLINEN Sreten Krstič, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici, Konzertmeister Julian Shevlin, Konzertmeister Odette Couch, stv. Konzertmeisterin Claudia Sutil Philip Middleman Nenad Daleore Peter Becher Regina Matthes Wolfram Lohschütz Martin Manz Céline Vaudé Yusi Chen Iason Keramidis Florentine Lenz Vladimir Tolpygo 2. VIOLINEN Simon Fordham, Stimmführer Alexander Möck, Stimmführer IIona Cudek, stv. Stimmführerin Matthias Löhlein, Vorspieler Katharina Reichstaller Nils Schad Clara Bergius-Bühl Esther Merz Katharina Schmitz Ana Vladanovic-Lebedinski Bernhard Metz Namiko Fuse Qi Zhou Clément Courtin Traudel Reich Asami Yamada BRATSCHEN Jano Lisboa, Solo Burkhard Sigl, stv. Solo Max Spenger Herbert Stoiber Wolfgang Stingl Gunter Pretzel Wolfgang Berg Beate Springorum Konstantin Sellheim Julio López Valentin Eichler VIOLONCELLI Michael Hell, Konzertmeister Floris Mijnders, Solo Stephan Haack, stv. Solo Thomas Ruge, stv. Solo Herbert Heim Veit Wenk-Wolff Sissy Schmidhuber Elke Funk-Hoever Manuel von der Nahmer Isolde Hayer Sven Faulian David Hausdorf Joachim Wohlgemuth Das Orchester 23 KONTRABÄSSE Sławomir Grenda, Solo Fora Baltacigil, Solo Alexander Preuß, stv. Solo Holger Herrmann Stepan Kratochvil Shengni Guo Emilio Yepes Martinez Ulrich Zeller FLÖTEN Alois Schlemer Hubert Pilstl Mia Aselmeyer TROMPETEN Guido Segers, Solo Bernhard Peschl, stv. Solo Franz Unterrainer Markus Rainer Florian Klingler Michael Martin Kofler, Solo Herman van Kogelenberg, Solo Burkhard Jäckle, stv. Solo Martin Belič Gabriele Krötz, Piccoloflöte POSAUNEN OBOEN PAUKEN Ulrich Becker, Solo Marie-Luise Modersohn, Solo Lisa Outred Bernhard Berwanger Kai Rapsch, Englischhorn Stefan Gagelmann, Solo Guido Rückel, Solo Michael Leopold, stv. Solo KLARINETTEN Alexandra Gruber, Solo László Kuti, Solo Annette Maucher, stv. Solo Matthias Ambrosius Albert Osterhammer, Bassklarinette FAGOTTE Dany Bonvin, Solo Matthias Fischer, stv. Solo Quirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune SCHLAGZEUG Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger Jörg Hannabach HARFE Teresa Zimmermann, Solo CHEFDIRIGENT Valery Gergiev Jürgen Popp Johannes Hofbauer Jörg Urbach, Kontrafagott EHRENDIRIGENT HÖRNER Paul Müller Jörg Brückner, Solo Matias Piñeira, Solo Ulrich Haider, stv. Solo Maria Teiwes, stv. Solo Robert Ross Zubin Mehta INTENDANT ORCHESTERVORSTAND Stephan Haack Matthias Ambrosius Konstantin Sellheim Das Orchester 24 IMPRESSUM TEXTNACHWEISE BILDNACHWEISE Herausgeber: Direktion der Münchner Philharmoniker Paul Müller, Intendant Kellerstraße 4 81667 München Lektorat: Stephan Kohler Corporate Design: HEYE GmbH München Graphik: dm druckmedien gmbh München Druck: Gebr. Geiselberger GmbH Martin-Moser-Straße 23 84503 Altötting Sigrid Neef und Marcus Imbsweiler schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Stephan Kohler verfasste die lexikalischen Werkangaben und Kurzkommentare zu den aufgeführten Werken. Künstlerbiographien (Gergiev, Kava­ kos): Nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig. Abbildungen zu Dmitrij Schostakowitsch: Jürgen Fromme (Hrsg.), Dmitri Schostakowitsch und seine Zeit – Mensch und Werk ( Ausstellungskatalog), Duisburg 1984. Abbildungen zu Anton Bruckner: Uwe Harten (Hrsg.), Anton Bruckner – Ein Handbuch, Salzburg / Wien 1996; Künstlerphotographien: Marco Borggreve (Gergiev, Kavakos). Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt Impressum In freundschaftlicher Zusammenarbeit mit DAS FESTIVAL FÜR FAMILIEN FAMILIENKONZERT »Peter und der Wolf« EDUCATION TANZPROJEKT »Romeo & Julia« COMMUNITY MUSIC Performances für Groß und Klein Samstag 12_11_2016 — GASTEIG mphil.de 18 B G JA IS RA H TI RE S ’16 ’17 DAS ORCHESTER DER STADT