Fall 11: "Der ausgenutzte Irrtum" Auslegung von Willenserklärungen; Verhältnis der Auslegung zur Anfechtung; der sog. erkannte und ausgenutzte Irrtum Fall 11: "Der ausgenutzte Irrtum" A möchte eine Stehlampe erwerben. Im Schaufenster des Einrichtungshauses der B-GmbH sieht er eine Stehlampe, die ihm gut gefällt. A ruft am nächsten Tag zweimal im Geschäft an und versucht auch bei einem persönlichen Gespräch mit der Geschäftsführerin G, den ausgezeichneten Preis von DM 2.000,- auf DM 1.500,- herunterzuhandeln. G geht hierauf jedoch nicht ein. Einen Tag später, am 30.7., erscheint A im Laden und weist Verkäuferin V auf die Lampe hin. A erklärt: "Ich nehme diese Lampe". V holt die Lampe hervor, entfernt das nach wie vor mit DM 2.000,- ausgezeichnete Preisschild, ohne es anzusehen, klebt es auf ihren Handrücken und händigt A die Lampe aus. Da sie die Verhandlungen zwischen A und G am Rande mitbekommen hatte, hat V den von A angestrebten Preis i.H.v. DM 1.500,- im Kopf. Fälschlich tippt sie DM 1.500,- in die Kasse ein und quittiert die Zahlung des A. A ist erfreut und bezahlt schweigend diesen Betrag. Kaum hat A den Laden verlassen, blickt V auf das Preisschild. Sie informiert G, die sogleich folgendes Schreiben an A sendet: "Beim heutigen Verkauf unserer Stehlampe an Sie ist uns beim Aufstellen der Rechnung ein Fehler unterlaufen. Selbstverständlich gilt der auf dem Preisschild verzeichnete Preis von DM 2.000,-; der versehentlich in Rechnung gestellte Preis von DM 1.500,- wird hiermit angefochten." A lässt das Schreiben vom 30.7. unbeantwortet. Die B-GmbH verlangt mit anwaltlichem Schreiben vom 30.9. von A Herausgabe der Stehlampe, hilfsweise Zahlung i.H.v. DM 500,-. Zu Recht? I. Anspruch der B-GmbH gegen A auf Herausgabe der Lampe aus § 985 BGB Voraussetzungen: 1. A ist Besitzer der Lampe 2. Eigentum der B-GmbH a) Ursprüngliche Eigentumslage aa) B-GmbH als juristische Person fähig, Träger von Rechte und Pflichten zu sein, § 13 I GmbHG bb) Bedenken gegen Eigentum der B-GmbH: als Einrichtungshaus Lampe möglicherweise nur unter EV eingekauft oder als Kommissionsware angeboten, aber: gem. § 1006 II BGB Eigentumsvermutung zugunsten des früheren Besitzers B-GmbH war frühere Besitzerin (ausgeübt durch die Geschäftsführern). => Unwiderlegte Vermutung, dass B-GmbH ursprünglich Eigentümerin war. b) Eigentumsverlust durch Veräußerung an A gem. § 929 S. 1 BGB? Voraussetzungen: aa) Einigung zwischen A und B-GmbH über den Eigentumsübergang? (1) Angebot der B-GmbH auf Eigentumsübertragung? Konkludentes Angebot durch Aufstellen der Lampe mit Preisschild im Ausstellungsraum? Bezügl. des schuldrechtlichen Vertrags umstr.: Angebot oder bloße invitatio ad offerendum (mangels Rechtsbindungswillens); bezügl. sachenrechtlicher Verfügung: kein Rechtsbindungswille des Veräußerers mangels Interesse , dass Kunde mit Zugreifen Eigentümer wird. außerdem ist WE nach § 929 BGB bis zum Zustandekommen der Einigung frei widerruflich (Münch/Komm/Quack, § 929 Rn. 99). (2) Angebot auf Eigentumserwerb seitens A Erklärung des A, er nehme diese Lampe: Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrags und zugleich Angebot auf Eigentumserwerb gem. § 929 BGB PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht (3) Annahme durch B-GmbH? (a) Konkludente Annahme durch V durch Aushändigung der Lampe an. (b) Wirkung der Annahme durch V für und gegen die B-GmbH Voraussetzungen wirksame Stellvertretung, §§ 164 ff. BGB (aa) Handeln in fremden Namen, § 164 BGB Hier: zwar nicht ausdrücklich, doch konkludent. (bb) Im Rahmen der Vertretungsmacht Arthandlungsvollmacht gem. § 54 I, 2. Alt. HGB, zumindest Ermächtigung gem. § 56 HGB => generelle Ermächtigung der V zur Vornahme von Verkäufen und entsprechenden Eigentumsübertragungen Konkrete Bedenken: Berechnung des falschen Kaufpreises? Man könnte annehmen, dass V durch Geltendmachung des falschen Preises ihre Vertretungsmacht sowohl bezügl. des Kaufvertrages wie auch der sachenrechtl. Einigung überschritten hat Indes: trotz eines möglichen Willensmangels der V (Preisverwechselung): Übereignung nach wie vor gewöhnliches Geschäft i.S.d. § 54 HGB => Willenserklärung der V wirkt für und gegen B-GmbH => Einigung zwischen A und B-GmbH gem. § 929 S. 1 BGB bb) Übergabe gem. § 929 S. 1 BGB Hier: durch Aushändigung der Lampe cc) Berechtigung der B-GmbH Hier: als Eigentümerin (s.o.) c) Anfechtung der dinglichen Einigung durch B-GmbH gem. §§ 119 ff. BGB aa) Anwendbarkeit der §§ 119 ff. BGB bb) Anfechtungserklärung, § 143 BGB an sich müsste hier der Anfechtungsgrund geprüft werden, aber Reihenfolge nicht zwingend; Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte lassen prinzipiell eine andere Reihenfolge. Wenn bereits keine Anfechtungserklärung vorliegt, bedarf es auch keiner Prüfung des Anfechtungsgrundes (1) durch Schreiben vom 30.7. Willenserklärung, die unzweideutig erkennen lässt, dass das Rechtsgeschäfts wegen eines Willensmangels rückwirkend beseitigt werden soll, vgl. BGH NJW 1984, 2279, 2280 Ausdrücklich: keine Anfechtung der dingl. Einigung; Auslegung: objektiv-normative Auslegung aus der Sicht eines sorgfältigen Empfängers unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände des Einzelfalles (Bestimmung vom objektiven Empfängerhorizont) - Erklärung bezieht sich allein auf Kaufvertrag; - Unklarheit, ob Erklärung auf Lösung vom Vertrag oder auf Geltendmachung des "richtigen" Preises richtet; ausdrücklich wird nur "der in Rechnung gestellte Preis angefochten" und festgestellt, "dass der auf dem Preisschild verzeichnete Preis von DM 2000,- gilt" - generell Verkaufsinteresse der B-GmbH. => primäres Interesse am vollen Kaufpreis und Aufrechterhaltung des "gesamten Rechtsgeschäfts" PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht selbst wenn man gewollte Anfechtung des schuldrechtl. Kauf V annimmt, ist zweifelhaft, ob sich Erklärung überhaupt auf Anfechtung der dingl. Übereignung beziehen würde, geschweige denn – Abstraktionsprinzip –der Irrtum über den Kaufpreis zur Anfechtung der dingl. Einigung berechtigt. (anders: wenn man argl. Täuschung annimmt: in diesem Falle dürfte sich Anfechtungsgrund auch auf das dingl. Geschäft beziehen). => Schreiben vom 30.7. jedenfalls keine Anfechtung der dinglichen Einigungserklärung (2) durch Schreiben vom 30.9. Schreiben enthält lediglich Herausgabeverlangen: => keine Anfechtungserklärung (vgl. oben genannte Definition der Anfechtungserklärung) im übrigen: denkbarer Anfechtungsgrund nach §§ 119 f. BGB gem. § 121 BGB verfristet (a.A.: Vorliegen einer Anfechtungserklärung, Fristeinhaltung gem. § 123, zweifelhaft ist aber Vorliegen eines Anfechtungsgrundes, siehe noch unten) => keine Anfechtungserklärung => Eigentumsübergang durch B-GmbH an A gem. § 929 S. 1 BGB => B-GmbH kein Eigentümer 3. Zwischenergebnis: kein Anspruch der B-GmbH gegen A aus § 985 BGB II. Anspruch der B-GmbH auf Herausgabe der Lampe gegen A aus § 812 I 1, 1. Alt. BGB (condictio indebiti) § 812 I 2, 1. Alt., also späterer Wegfall des Rechtsgrundes (conditio ob causam finitam), nur wenn man von einem ursprüngl. wirksam zustande gekommen KaufV ausgeht, der später angefochten worden ist => mit condictio indebiti (I 1 1) beginnen, da noch unklar, ob überhaupt ein wirksamer Kaufvertrag vorliegt Voraussetzungen 1. Etwas erlangt Definition: jede vermögenswerte Rechtsposition (h.M.) Hier: Eigentum und Besitz an der Lampe 2. durch Leistung der B-GmbH? Definition: bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens Hier: Verschaffung des Eigentums und des Besitz des A durch die B-GmbH (vertreten durch V) 3. Ohne Rechtsgrund Voraussetzung: Verfehlung des zugrundeliegenden Leistungszwecks Eine Leistung ist ohne Rechtsgrund erfolgt, wenn der zugrundeliegende Leistungszweck verfehlt worden ist. Hier: wenn zwischen A und B-GmbH kein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen a) Zustandekommen eines KaufV zwischen A und B-GmbH Voraussetzung: Einigung zwischen A und B-GmbH i.S.d. § 433 BGB aa) Einigung im Rahmen der Telefonate Hier: keine Einigung mangels Willensübereinstimmung ! Kaufvertragsabschluß nur möglich am 30.7 bb) Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht Voraussetzung: inhaltl. derart bestimmte Willenserklärung, dass ein Vertrag mit hinreichend konkretem Inhalt durch einfache Zustimmungserklärung des Empfängers zustande kommt d. h. die WE muss die notwendigen Vertragsbestandteile (essentialia negotii): Vertragsparteien Leistung Gegenleistung (1) Aufstellen der Ware im Ausstellungsraum? Kein ausdrückliches Angebot; Konkludent erklärtes Angebot? Zweifelhaft ist der Rechtsbindungswille der B-GmbH. Auslegung: objektiv-normative Auslegung aus der Sicht eines sorgfältigen Empfängers unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände des Einzelfalles ! lediglich invitatio ad offerendum Begründung: Waren im Ausstellungsraum stellen oft nur Ausstellungs- oder Einzelstücke dar (anders vielleicht im Selbstbedienungsladen) (2) Angebot durch A Willenserklärung des A enthält notwendigen Vertragsbestandteile: - Kaufparteien, A und B-GmbH - Kaufgegenstand, eine konkrete Lampe - Kaufpreis i.H.v. DM 2.000,- (konkludent erklärt) ! Angebot des A bb) Annahme durch V Voraussetzung: Willenserklärung, mit der vorbehaltlosen Bejahung des Angebotes. Keine ausdrückliche Annahme durch A Konkludent erklärte Annahme? Einpacken der Ware und Kassieren des Preises generell schlüssige Annahme durch die Verkäuferin Problem: A kannte den "richtigen" Preis i.H.v. DM 2.000,-; A wusste, dass B-GmbH, insbesondere Geschäftsführerin G hiervon nicht abweichen wollte; Verkäufer grundsätzlich nicht befugt, vom ausgezeichneten Preis abzuweichen. Folgen dieser Kenntnisse des A: (1)Vertragsschluss unter dem Gesichtspunkt falsa demontratio non nocet? Nach diesem Auslegungsgrundsatz gilt bei willensmäßiger Übereinstimmung, aber unrichtig ausgedrückten Erklärungen der wahre Wille des Beteiligten m.a.W.: trotz objektiver Falschbezeichnung gilt das gemeinsam Gewollte Hier: im Zeitpunkt der Zahlung wollte A keinen Vertragsschluss über DM 1.500,(2) Vertragsschluss unter dem Gesichtspunkt des erkannten und ausgenutzten Irrtums Auslegungsgrundsatz vom erkannten und ausgenutzten Irrtum: Erkennt Empfänger, in welchem Sinne der Erklärende seine Erklärung gemeint hat, und schließt der Erklärungsempfänger in Kenntnis dieses Willens den Vertrag (ohne sich zu distanzieren), gilt der wahre Wille des Erklärenden (so BGH BB 1959, 646; BGH NJW 1998, 3196; BGH NJW-RR 1993, 373; Münchener Kommentar/Kramer, 2. Aufl., § 119 Rn 49; Soergel/Hefermehl, 12. Aufl. § 119 Rn. 20: "Hat der PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht Erklärungsempfänger den Irrtum des Erklärenden ungeachtet dessen, dass dieser seinen Willen unrichtig zum Ausdruck gebracht hat, erkannt, so ist allein der übereinstimmende Wille der Parteien oder der wahre Wille des Erklärenden entscheidend.") im Grunde ähnlich wie falsa: bei falsa anders, dass beide sich unrichtig ausdrücken; hier drückt sich A richtig aus, A erkennt lediglich, dass V etwas anders meint dagegen spricht § 122 Ii BGB, aber für § 122 II bleibt auch neben Anerkennung des Grundsatz vom erkannten und ausgenutzten Irrtum Raum; § 122 Ii in Fällen weiterhin anwendbar, in denen der Empfänger wohl weiß, dass das Erklärte nicht gewollt ist, er aber nicht erkennt was tatsächlich gewollt ist für den Auslegungsrundsatz spricht insbesondere: derjenige, der weiß, was der andere erklären wolle, verdient keinen Schutz Voraussetzungen des Auslegungsgrundsatzes vom erkannten und ausgenutzten Irrtum (a) Erkennen des wahren Willens der V durch A wahrer Wille der V: Abschluss zum ausgezeichneten ("richtigen") Preis i.H.v. DM 2.000,-, den A kannte ! A erkannte wahren Willen der V Er wusste , dass V nicht einfach den Preis reduzieren würde (b) Ausnutzen des Irrtums (also Abschluss des Vertrags durch Erkl.-Empfänger in Kenntnis des wahren Willens des Erklärenden, ohne sich vom wahren Willen zu distanzieren) Hier: Ausnutzen des Irrtums durch A => Erklärung der V gilt so, wie V sie tatsächlich gewollt hat (also ausgezeichneter Preis i.H.v. DM 2.000,-) ! Da A den Vertrag in Kenntnis des wahren Willens der V - ohne sich hiervon zu distanzieren abgeschlossen hat, gilt für die Einigung der wahre Wille der V BGH NJW 1988, 3196: Für die Annahme einer übereinstimmenden Willensbildung der Vertragschließenden ist nicht erforderlich, "dass sich der Erklärungsempfänger den wirklichen Willen zueigen macht. Es genügt vielmehr, dass er ihn erkennt und in Kenntnis dieses Willens, ohne sich davon zu distanzieren, den Vertrag abschließt. => Entgegen des durch V objektiv Erklärten ("DM 1.500,-") Einigung über DM 2.000,cc) Einigung A - V wirkt gem. §§ 164 ff. BGB, 54 HGB für und gegen die B-GmbH => Kaufvertrag zwischen A und B-GmbH b) Anfechtung des Kaufvertrages durch die B-GmbH aa) Anwendbarkeit der §§ 119 ff. BGB Hier: keine Bedenken bb) Anfechtungsgrund, §§ 119 ff. BGB Hier: kein Anfechtungsgrund, weil Vertrag so zustande gekommen ist, wie des dem Willen der BGmbH entsprach c) => Vorhandensein eines Rechtsgrundes i.S.d. § 812 I 1, 1. Alt. BGB => kein Anspruch auf Herausgabe der Lampe aus § 812 I 1, 1. Alt. BGB III. Zwischenergebnis: kein Herausgabeanspruch der B-GmbH IV. Anspruch auf Zahlung i.H.v. DM 500,PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht Anspruch aus § 433 II BGB 1. Kaufvertrag zwischen A und B-GmbH über eine Lampe zu einem Kaufpreis i.H.v. DM 2.000,2. Durch Erfüllung (§ 362 BGB) Anspruch i.H.v. DM 1.500,- erloschen. => Restzahlungsanspruch i.H.v. DM 500,V. Ergebnis: (Rest-) Kaufpreiszahlungsanspruch der B-GmbH gegen A i.H.v. DM 500,- PD Dr. Roland Michael Beckmann Wintersemester 1999/2000 Repetitorium im Privatrecht