REGER »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« BRAHMS 2. Klavierkonzert NAGANO, Dirigent LUGANSKY, Klavier Donnerstag 07_07_2016 20 Uhr Samstag 09_07_2016 19 Uhr Tangente – Manufakturklassiker made in Glashütte, Germany. MAX REGER »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108 JOHANNES BRAHMS Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83 1. Allegro non troppo 2. Allegro appassionato 3. Andante 4. Allegretto grazioso KENT NAGANO, Dirigent NIKOLAI LUGANSKY, Klavier 118. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent PAUL MÜLLER, Intendant 2 »Eine Ouvertüre ganz großen symphonischen Stils« MICHAEL KUBE LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN MAX REGER (1873–1916) »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108 Geboren am 19. März 1873 in Brand / Ober­ pfalz; gestorben am 11. Mai 1916 in Leip­ zig. Regers Grabstätte befindet sich heute auf dem Münchner Waldfriedhof, wo ihm die Stadt München ein Ehrengrab errichtete. ENTSTEHUNG Nachdem Max Reger die Komposition im Mai 1908 begonnen und während eines Sommer­ aufenthalts in Schneewinkl bei Berchtes­ gaden bereits teilweise in Partitur ge­ bracht hatte, konnte er sie aufgrund seiner nahezu täglichen Konzertverpflichtungen im gesamten deutschen Kaiserreich erst am 25. Dezember endgültig (wie auf einer Postkarte notiert: »fix und fertig«) vollen­ den. Parallel dazu waren bereits die Arbei­ ten am Notenstich aufgenommen worden, so dass Reger das ursprünglich auf 432 Takte angelegte und ca. 40 Minuten Spiel­ zeit umfassende Werk erst nach der erfolg­ Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 3 ten Drucklegung und ersten Aufführungen um zunächst einen kleinen Teil, ab 1912 dann in erheblichem Maße um 123 Takte und somit um die gesamte Reprise kürzte. WIDMUNG Reger widmete seinen »Symphonischen Prolog« dem Dirigenten Arthur Nikisch (1855–1922), einem der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit, der parallel die Or­ chester in Leipzig, Berlin und Hamburg leitete. Die Zueignung dürfte aus Dankbar­ keit für die von Nikisch im Herbst 1908 übernommene und von Henri Marteau ge­ spielte Uraufführung von Regers riesigem Violinkonzert op. 101 im Leipziger Gewand­ haus erfolgt sein. URAUFFÜHRUNG Am 9. März 1909 in Köln im Gürzenich-Saal (Städtisches Orchester Köln – »Gürzenich-­ Orchester« – unter Leitung von Fritz Stein­ bach). Ursprünglich sollte die Urauffüh­ rung des gerade erst im Druck erschiene­ nen »Symphonischen Prologs« – wie schon beim Violinkonzert – Arthur Nikisch über­ nehmen; vorgesehen war dafür ein Konzert der Berliner Philharmoniker am 1. März 1909. Das Programm musste jedoch kurz­ fristig verschoben werden, so dass Regers Werk zu guter Letzt in Köln uraufgeführt wurde. VON MÜNCHEN NACH LEIPZIG Nachdem die Jahre in München mit einem fulminanten Eklat bei der Uraufführung seiner Sinfonietta op. 90 einen katastro­ phalen Höhepunkt erreicht hatten, bildete für Max Reger im Alter von 30 Jahren die zum 1. April 1907 wirksame Berufung nach Leipzig zum Universitätsmusikdirektor und Lehrer am angesehenen Leipziger Konser­ vatorium den herbeigesehnten Flucht­ punkt. So schrieb er an den befreundeten Kritiker Eugen Segnitz mit geradezu pro­ grammatischem Impetus: »So nach und nach – nach vielen Wirrsalen und Kämpfen – lerne ich jetzt, was ›Linie‹ in der Musik ist ! Op. 100–1000, solang mir der liebe Gott das Leben lässt, wird Ihnen ein Beweis sein.« Entsprechend entstanden – gleich­ sam befreit von Freund und Feind – in nur wenigen Monaten gleich mehrere groß­ formatige Partituren, die Reger auch als Komponisten symphonischen Formats be­ kannt werden ließen, ohne dass er dabei freilich eine Symphonie oder Symphonische Dichtung geschaffen und er sich zu einem der ästhetisch verfeindeten Lager (Kon­ servative vs. Neudeutsche) bekannt hätte. Vielmehr zeigen die bereits lange geplan­ ten Hiller-Variationen op. 100, das in seinen Ausmaßen fast schon monströse Violinkon­ zert op. 101, der klanggewaltige »100. Psalm« op. 106 (zur Einweihung der Jahr­ hunderthalle in Breslau) und der »Sympho­ nische Prolog zu einer Tragödie« op. 108 eine kompositorische Potenz und Unabhän­ gigkeit, die angesichts der unterschiedli­ chen Einflusssphären jener Zeit noch im­ mer erstaunen muss. AUF DEM WEG ZUR »SYMPHONIE« Dass Reger nur vier Jahre später auch Leipzig verließ, da er nach eigener Über­ Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 4 Heinrich Hübner: Max Reger (1936) Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 5 zeugung in keiner anderen Stadt von der Kritik derart »angerempelt« wurde, war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen. Mit sei­ ner 1911 erfolgten Ernennung zum Kapell­ meister der Meininger Hofkapelle – einer Tätigkeit, die er für nur wenig mehr als zwei Jahre mit geradezu besessenem Eifer und nicht enden wollenden Konzertreisen bis zu einem verheerenden Nervenzusam­ menbruch ausübte – entstanden zahlrei­ che weitere Orchesterwerke, ohne dass es zu der von Anfang an anvisierten »Sym­ phonie« kam: Bis heute ist ungeklärt, ob ein frühes, ursprünglich als op. 18 geplan­ tes Werk aus dem Jahre 1896 jemals fertig gestellt wurde und dann auf dem Postweg zu einem Londoner Verleger verloren ging. Auch die »Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin« op. 128 sind in diesem Zusammen­ hang eher als symphonischer Entwurf zu verstehen, ganz so wie es Reger seinem Freund Karl Straube, dem Leipziger Tho­ maskantor, in einem Brief vom Dezember 1912 mitteilte: Er wolle »im nächsten Som­ mer ›als Vorbereitung‹ zur Symphonie« außer den Tondichtungen »noch etwas un­ endlich Graziöses« schreiben – gemeint ist die mehrsätzige Ballettsuite op. 130. 150 Mark gezahlt werden. Vielmehr war es – nachdem Reger in den vorausgegangenen Jahren bei anderen Verlagen schlechte Er­ fahrungen gesammelt hatte – der betont freundschaftliche Kontakt wie auch die überzeugte Grundhaltung seinem umstrit­ tenen Schaffen gegenüber. Anfänglich von Reger noch als eine »Ouvertüre leiden­ schaftlichen, dramatischen Charakters« bezeichnet, handelt es sich bei dem Werk der ersten Idee nach vermutlich um ein Ge­ genstück zum Violinkonzert, das wegen seines Umfangs in einem Brief auch »Rie­ senbaby« genannt wurde. Wie schon bei der 1906 kritisch aufgenommenen Sinfoni­ etta op. 90, die Reger durch die Serenade op. 95 auszugleichen beabsichtigte, dach­ te er auch in diesem Fall an ein Werk, das mit dem Konzert versöhnen sollte. So schrieb er am 1. Oktober 1908, noch mitten in der kompositorischen Arbeit, an Henri Hinrichsen: »Die Leute werden sich allmäh­ lich schon daran gewöhnen; das Concert ist ein tiefernstes Kunstwerk […]. In 10 Jahren spätestens ist das Concert durchgedrun­ gen. Die neue Ouvertüre wird dagegen so­ fort verstanden werden.« GEGENSTÜCK ZUM VIOLINKONZERT ZWISCHEN »OUVERTÜRE« UND »PROLOG« Ohne den konkreten Auftrag eines Orches­ ters ist nicht sicher auszumachen, was Max Reger zur Komposition des »Sympho­ nischen Prologs« veranlasste. Kaum wer­ den es allein die für ihn fraglos günstigen Bedingungen gewesen sein, die ihm Henri Hinrichsen Ende 1907 für die Drucklegung seiner Kompositionen im Verlag der Edition Peters offeriert hatte: Die nach Gattungen differenzierte und genau bezifferte Hono­ rarliste sah für ein »großes symphonisches Werk« die erhebliche Summe von 10.000 Mark vor, für ein Orgelstück sollten nur Dass es sich bei der neuen Partitur gleich­ wohl nicht um eine kurze und schon gar nicht kurzweilige Komposition handeln soll­ te, hatte Reger bereits zwei Tage zuvor deutlich gemacht: »Es ist eine Ouvertüre ganz großen symphonischen Stils für gro­ ßes Orchester ! Umfang: ungefähr wie eine R. Strauß’sche symphonische Dichtung; ich werde dieses neueste ›Kindlein‹ ›eine dramatische Ouvertüre‹ taufen.« Überra­ schend mutet in diesem Zusammenhang allerdings der Verweis auf Richard Strauss und dessen Tondichtungen an – zum einen Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 6 weil Reger der ihnen zugrunde liegenden Idee immer mit Reserve begegnete, zum anderen weil diese Werke doch recht unter­ schiedliche Spieldauern aufweisen: vom »Till Eulenspiegel« (ca. 15 Minuten) bis zum »Heldenleben« (ca. 40 Minuten). Aus dieser Perspektive betrachtet war freilich die Bezeichnung als »Ouvertüre« kaum länger zu halten – zumal bei dem von Reger in die Partitur hineingelegten musikali­ schen Gewicht. So berichtet er nur wenig später über die entscheidende Verände­ rung, die in diesem Fall einem glücklichen Einwand Karl Straubes entstammt: »Nun wegen des Titels der Ouvertüre, so sind Straube u. ich gestern Abend nach reif­ lichster Überlegung dazu gekommen, das Werk: ›Prolog zu einer Tragödie‹ zu nen­ nen ! Straube findet den Namen ›Ouver­ türe‹ für das Werk zu wenig ›vornehm‹ !« Dass der neue Titel allerdings nicht aus der Luft gegriffen wurde, sondern zu jener Zeit etwa von der Münchner Schule um Max Schillings vielfach Verwendung fand, ist bisher weitgehend unbekannt geblieben. Er bezieht sich dort allerdings auf jeweils ein konkretes Schauspiel, beispielsweise bei Schillings selbst (zu Sophokles’ »König Oedipus«, 1900) sowie bei Adolf Sandber­ ger (angeregt durch Björnsons Drama »Maria von Schottland«, 1900), August Reuß (zu Hofmannsthals »Der Thor und der Tod«, 1902) oder Hugo Kaun (zu Hebbels »Maria Magdalena«, 1904). zwei Themengruppen in der Exposition (Allegro agitato), einer mehrteiligen Durch­ führung und umfänglichen Reprise, dem eine mächtige langsame Einleitung (Grave) vorausgeht. Auf der anderen Seite be­ schreibt gerade der letztgültig gewählte Titel einen dramatischen Bezug, der sich zwar nicht konkretisiert, der aber mit dem teils leidenschaftlichen, teils erschüttern­ den Ausdrucksgehalt der Partitur gleich­ wohl das narrative Element einer idealisier­ ten Handlung antizipiert und schließlich auch in einer Apotheose überhöht. So war es denn wohl auch nicht die Länge der Kom­ position, die Reger bereits zwei Wochen nach der Uraufführung zu einer ersten Kürzung veranlasste und die er 1912 bei Aufführungen mit der Meininger Hofkapel­ le auf die gesamte (!) Reprise ausweitete, sondern vielmehr die Einsicht, dass in einer wahren Tragödie eine solche Wiederholung des Thematischen keinen rechten Platz ha­ ben kann: »Diese Sache ist sehr wichtig und wird sich in jeder Weise als segens­ reich für das Werk erweisen.« Dass es ihm schließlich gar um eine schlüssige innere Dramaturgie ging, bei der die Coda heraus­ gehoben erscheint, machte Reger in einer bildhaften, den Sachverhalt genau treffen­ den Bemerkung deutlich, die durch den mit ihm befreundeten Fritz Stein überliefert ist: »Der Montblanc darf nur einmal kom­ men.« TRAGÖDIE MIT KÜRZUNGEN »STELLEN VON ERHEBENDER GRÖSSE« Vor diesem Hintergrund betrachtet steht Regers »Symphonischer Prolog« in bemer­ kenswert unklarer Weise zwischen absolu­ ter und programmatischer Musik: Auf der einen Seite handelt es sich, der ursprüng­ lichen Konzeption nach, um einen extrem weiträumig angelegten Sonatensatz mit Davon abgesehen zeichnet sich der »Sym­ phonische Prolog« im musikalischen Satz durch eine für das voll besetzte Orchester erstaunliche Plastizität aus. Der Grund da­ für ist in der über weite Strecken mehr homophon als kontrapunktisch angelegten Faktur zu suchen, die zuvor Regers Ton­ Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 7 Margarete Stein: Max Reger beim Komponieren (1914) sprache entscheidend bestimmt hatte. Zudem gelingt es ihm, den formalen Verlauf durch deutlich hervorgehobene Absätze aber auch durch Kontrastbildungen klar zu strukturieren. Dies betrifft nicht nur die mit Fermaten versehenen Haltepunkte, sondern auch die gleich mehrfach auftre­ tenden Steigerungsphasen, die auf ihrem Höhepunkt scharfkantig abgerissen wer­ den. Ihnen stehen beruhigte, in Tempo und Dynamik reduzierte Passagen gegenüber, die eine seltsam entrückte, modal gepräg­ te Harmonik anschlagen – eine Ausdrucks­ kategorie, die Reger schon in der Serenade op. 95 erprobt und im chorsymphonischen Stück »Die Nonnen« op. 112 (1909) weiter entfaltet hatte – er selbst sprach von »apartem Reiz«. Hinsichtlich der Modula­ tionen, die vielen von Regers Zeitgenossen als verworren, wenn nicht gar hypertroph galten, konnte allerdings schon ein auf­ merksamer Rezensent der Dresdner Nach­ richten Entwarnung geben: »Auch die har­ monischen Nüsse, die Reger seinem Publi­ kum diesmal zu knacken gibt, sind nicht übermäßig hart und erfreuen jedesmal dann mit einem gesunden, wohlschme­ ckenden kernigen Kern. Manche Stellen haben geradezu etwas von einer erheben­ den Größe.« Max Reger: »Symphonischer Prolog zu einer Tragödie« 8 Maximaler Reger – über einen Riesen in der Musik MICHAEL KUBE »Ob meine Sachen etwas taugen oder nicht, das wird die Geschichte entschei­ den.« Künstlerische Egomanie oder ästhe­ tische Esoterik waren ihm fremd, und doch sah sich Max Reger (1873–1916) mit sei­ nem vielfältigen Schaffen und grenzen­ losen schöpferischen Vermögen selbst­ bewusst in der Nachfolge von Bach, Mozart und Brahms – kompositorische Bezugs­ punkte, die auch heute noch – in Hinblick auf einzelne Besetzungen und Gattungen – hörend nachvollziehbar sind. Umso über­ raschender ist es, dass man sich mit seiner Musik so oft schwer tut. Dabei sind es ge­ rade nicht die fein ausgesponnenen und eng gestrickten kontrapunktischen Linien oder die mit Chromatik gespickten, durch den Quintenzirkel dahinrasenden Harmo­ nien, die so manches Werk musikalisch äch­ zen lassen. Vielmehr fehlt es allzu häufig an gestaltungsfreudigen Interpreten, die Regers lange Bögen auch einmal ruhig at­ men lassen, die die kadenzierenden Ziel­ punkte weiträumiger Passagen bewusst ansteuern oder die mit roter Tinte bezeich­ nete, genau kalkulierte Agogik und Dyna­ mik wachen Ohres befolgen. Vollkommen unumstritten war Reger nie, vielmehr regte seine Musik zur Parteinah­ me an. Dennoch blieben große Skandale ebenso aus, wie die schon zu Lebzeiten von Freunden und Mitstreitern veranstalteten Reger-Feste keine nachhaltige Wirkung entfalteten. Konnten sich noch Teile der in den 1920er Jahren auftretenden jungen Generation mit ihm als wichtigem, Grenzen auslotenden Meister der spätromantischen Moderne identifizieren, brach diese kurze Tradition bald nach 1945 fast vollständig zusammen – oder beschränkte sich eine Zeitlang noch auf gefällige Schmonzetten wie die für nahezu jedes Instrument mit Klavierbegleitung arrangierte Romanze G-Dur oder »Mariä Wiegenlied« (aus den »Schlichten Weisen« op. 76). Umso mehr gilt daher immer noch jene Einschätzung, die Arnold Schönberg, der ja auch den lan­ ge als konservativ geschmähten Brahms als fortschrittlich einschätzte, im Jahre 1922 seinem Schwager Alexander Zemlins­ ky ans Herz legte: »Reger muss meines Erachtens viel gebracht werden: erstens, weil er viel geschrieben hat, zweitens, weil er schon tot ist und man immer noch nicht Klarheit über ihn besitzt – ich halte ihn für ein Genie.« Max Reger: Komponistenportrait 9 »Anfang einer verunglückten Symphonie«, erste Seite des Autographs (1902) Max Reger: Komponistenportrait 10 MUT ZUR ANNÄHERUNG Wie sich also Reger nähern und verstehen ? Die Antwort ist – wie kann es anders sein – kompliziert und auf mehreren Ebenen zu suchen. Da wäre zunächst der Tonsatz selbst, den Reger in einer so hochvirtuo­ sen, kontrapunktisch wie harmonisch dicht gefügten Art und Weise gestaltet, dass sie selbst einem weidlich geübten Musiker zu­ nächst das Fürchten lehrt. Wer sich mit den Noten vertraut machen will, muss sich tatsächlich erst einmal mühsam einen Überblick verschaffen über die Form und die Eckpunkte des Verlaufs, über die weit tragenden melodischen Linien und die Har­ monien, deren Richtung und Ziel nicht im­ mer sofort ersichtlich sind. Somit regt Reger auch zum grundsätzlichen Nachden­ ken darüber an, wie ein musikalischer Satz aus sich heraus zu gestalten ist – mit all seinen Aspekten (um nicht Parametern zu sagen). Schon früh von seinen Antipoden in aller Öffentlichkeit mit solcherlei Ein­ wänden konfrontiert, konnte Reger indes nahezu unbeeindruckt erwidern: »Mit einem flüchtigen Durchlesen wird man bei meinen Sachen nie Glück haben ! Meine Musik verzichtet auf jeden sogenannten billigen Effekt – ich gehe jeder nur im ge­ ringsten banalen Wendung mit Bewusst­ sein aus dem Wege.« STATIONEN Diese Äußerung stammt aus dem Jahr 1900, und die Kritik bezog sich auf ein auf­ trumpfendes Schaffen, das sich zu jenem Zeitpunkt neben zahlreichen Brotarbeiten (Klavierstücke und Lieder) vor allem auf Werke für große Orgel erstreckte, darunter die Choralfantasien op. 40 und op. 52 und die erschütternde »Symphonische Fanta­ sie und Fuge« op. 57. Es ist diesen Werken wirklich nicht anzumerken, dass sie im ab­ gelegenen oberpfälzischen Weiden ent­ standen, wohin sich Reger nach reichlich ausschweifender Studienzeit in Wiesbaden auf Druck seiner Eltern hatte zurückziehen müssen. Gleichwohl empfand er die Studien­ jahre als verlorene Zeit, wovor er später Fritz Stein vorsorglich warnte: »Ferner: nach Tübingen würde ich an Deiner Stelle niemals gehen ! […] Ich schreibe Dir das, weil ich 8 Jahre meines Lebens in ähnlicher Lage sozusagen ›umsonst‹ gelebt habe.« Eine deutliche Sichtweise, jedoch lässt sich in Regers weiterem Œuvre tatsächlich eine gewisse Abhängigkeit von Wirkungsort und schöpferischem Ertrag festmachen: Der erlösende Wechsel nach München (1901) wurde begleitet von einer ganzen Reihe von Kompositionen (etwa dem Streichquartett d-Moll op. 74), in denen Reger reichlich Extreme auslotete, auch hinsichtlich des Ausdruckscharakters. Mit der Berufung nach Leipzig zum Universi­ tätsmusikdirektor (1907) nahm er sich nun erstmals großformatiger Partituren an wie den »Hiller-Variationen« op. 100, dem Violinkonzert op. 101, dem 100. Psalm op. 106 (zur Einweihung der Jahrhundert­ halle in Breslau) und dem »Symphonischen Prolog zu einer Tragödie« op. 108. Weitere Orchesterwerke entstanden nach Regers Ernennung zum Kapellmeister der Meinin­ ger Hofkapelle (1911) – einer Tätigkeit, die er für etwas mehr als zwei Jahre bis zu einem verheerenden Nervenzusammen­ bruch mit geradezu besessenem Eifer und nicht enden wollenden Konzertreisen aus­ übte. Nach Sanatorium und Kur sollte der Neuanfang in Jena (1915) schon bald wie­ der alte Energien freisetzen und ins ge­ wohnte Gleis führen. Und dennoch beginnt Reger mit einem nach innerer Klarheit und äußerem Ausgleich strebenden Stil etwas Neues, wie er es auch Karl Straube gegen­ Max Reger: Komponistenportrait 11 Regers Konzertkalender vom 2. bis 15. November 1913 mit zwölf verschiedenen Stationen über programmatisch formulierte: »Jetzt beginnt der freie, jenaische Stil bei Re­ ger.« MOZART IM BLICK Tatsächlich muten die letzten Werke, vor allem das Klarinettenquintett op. 146, auf eigentümliche Weise entspannter in der Struktur und gelöster im Tonfall an. Doch sollte diese Wendung hin zu durchsichtiger Kantabilität und harmonischer Wärme nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit kaum mehr als nur eine der vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten von Regers Perso­ nalstil in den Vordergrund trat. So notier­ te er schon 1904 mit anhaltender Überzeu­ gung seine Vorstellung von einer mehr sich beschränkenden klassizistischen Haltung: »Mir ist’s absolut klar, was unserer heuti­ gen Musik mangelt: ein Mozart !« Als »ers­ te Früchte dieser Erkenntnis« nannte Re­ ger gegenüber seinem Verlag das Streich­ trio op. 77b und die Serenade op. 77a für Flöte, Violine und Viola, die er zuvor schon als »etwas allerleichtestes, einfachstes u. sehr melodiöses« angekündigt hatte. Dabei handelt es sich auch um eine Gegenreakti­ on, mit der Reger letztlich dem Unwillen gegen Richard Strauss, der arg privaten »Sinfonia Domestica« und deren Erfolg bei einer Amerika-Tournee Luft machen wollte. Da fügt sich denn genau jene Anekdote, nach der Reger seine grundlegende Über­ zeugung als absoluter Komponist geradezu verteidigte. Als Richard Strauss bemerkte: Max Reger: Komponistenportrait 12 »Reger, noch einen Schritt und Sie sind bei uns«, soll dieser erwidert haben: »Ja, lie­ ber Strauss, den Schritt tue ich eben nicht.« MELANCHOLIE DES VERMÖGENS Hört man auch nur eines seiner vor kompo­ sitorischem Vermögen nur so strotzenden Werke, so überrascht es, wie unsicher sich Reger seiner Schöpfungen war. Dies be­ trifft nicht nur das Frühwerk (bis op. 20), das er gelegentlich als »wertvollen Mist« bezeichnete, sondern auch all jene groß­ formatigen Kompositionen, die er mit dem eng befreundeten, aber auch stark Ein­ fluss nehmenden Thomaskantor Karl Straube durchsprach – und im Anschluss die Partituren entweder umarbeitete, »wohltätige« Kürzungen vornahm oder gar (wie im Fall des atemberaubenden Lateini­ schen Requiems) abbrach; eine Symphonie hat er übrigens nach einigen Versuchen nie vollendet, und eine Oper lässt sich bei Max Reger gar nicht erst vorstellen. Auf der anderen Seite war es ihm als rastlos um­ herreisendem Interpreten darum zu tun, eine Aufführungstradition seiner Werke zu etablieren. Denn so schwierig sich manche seiner überzeichneten Partituren auch lesen mögen, so gibt es doch einen poeti­ schen Kern, den es nicht nur zu erfassen, sondern auch herauszuarbeiten gilt. Wenn dies gelingt, bedarf es dann auch nicht mehr der auf vielen Fotos festgehaltenen körperlichen Präsenz des Komponisten oder seines legendär derben oberpfälzer Humors. So waren die im schön gebunde­ nen, 1923 herausgegebenen »Max Reger-­ Brevier« dokumentierten Witze und Bon­ mots selbst bei den Apologeten lange Zeit beliebter als viele der unzweifelhaft mit einer Melancholie des Vermögens geschrie­ benen Werke. Und als Ernst Bloch in den kontrapunktisch durchwirkten Partituren lediglich eine »Fingerfertigkeit höherer Ordnung« erblickte (»Geist der Utopie«, 1923), hatte Paul Bekker längst auf ihre Funktion als Katalysator für die sich for­ mierende Neue Musik (1919) hingewiesen. Verborgen blieb beiden freilich die mensch­ liche Tragik, die Reger physisch geradezu spiralförmig in den Abgrund trieb. So starb er, bis zuletzt ein (wie er sich selbst be­ zeichnete) »Akkordarbeiter«, im Alter von 43 Jahren am 11. Mai 1916 in einem Leip­ ziger Hotelzimmer mitten in der Arbeit über einer neuen Komposition. Heute muss die tatsächliche Bedeutung seines Schaf­ fens erst wieder klar­gestellt werden. Wie wichtig er aber mit seinen Kompositionen für die nachfolgende Generation des musi­ kalischen Aufbruchs gewesen war, fasste bereits Paul Hindemith zusammen: »Max Reger war der letzte Riese in der Musik. Ich bin ohne ihn gar nicht zu denken.« Max Reger: Komponistenportrait 13 Synthese der Gattungen THOMAS LEIBNITZ JOHANNES BRAHMS (1833–1897) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83 1. Allegro non troppo 2. Allegro appassionato 3. Andante 4. Allegretto grazioso ENTSTEHUNG Knapp 20 Jahre nach der Uraufführung seines ersten Klavierkonzerts (d-Moll op. 15) begann Brahms im Sommer 1878 in Pörtschach am Wörther See / Kärnten ein weiteres (und gleichzeitig letztes) Werk dieser Gattung; nach der Rückkehr von sei­ ner zweiten Italienreise folgten im Sommer 1881 Vollendung und Niederschrift der Partitur im Wiener Vorort Pressbaum. WIDMUNG »Seinem teuren Freunde und Lehrer Edu­ ard Marxsen gewidmet«: Eduard Marxsen (1806–1887) wirkte jahrzehntelang als Pianist, Komponist und Lehrer in Hamburg, wo Johannes Brahms sein Schüler war; er hinterließ an die 70 Werke, darunter ein Orchesterwerk mit dem Titel »Beethovens Schatten«. LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 7. Mai 1833 in Hamburg; ge­ storben am 3. April 1897 in Wien. URAUFFÜHRUNG Am 9. November 1881 in Budapest (Königlich-­ Ungarische Hofkapelle unter Leitung von Alexander Erkel; Solist: Johannes Brahms). Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 14 Willy von Beckerath: Brahms am Klavier (zeitgenössische Zeichnung) Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 15 Brahms: Der Name löst Achtung und Respekt aus vor strenger, »gediegener« kompositorischer Kunst. »Klassizität« wurde Brahms oft zugesprochen, wiewohl er dem Zeitalter der Romantik entstammte und das Element des Romantischen in sei­ nem Schaffen nie verleugnete. Aber keiner der Romantiker war so intensiv wie Brahms bestrebt, dem Vorbild des Klassischen – personifiziert in Beethoven – gerecht zu werden und es als Messlatte an das eigene Komponieren anzulegen. Bei aller Strenge und Klassizität hatte Brahms übrigens tro­ ckenen Humor; als eine ihn anschwärmende Dame der Gesellschaft fragte, wie er es fertig bringe, so tief empfundene Adagios zu schreiben, antwortete er lakonisch: »Weil meine Verleger es so bestellen...« Hinter dem Witz der Antwort verbirgt sich aber auch Abwehr: Über so ernste, persön­ liche Dinge wie das Geheimnis des Schaf­ fens ist im Konversationston nicht zu spre­ chen. »SYMPHONIE MIT OBLIGATEM KLAVIER« Brahms schrieb »nur« vier Symphonien – jedoch auch die These, es seien acht, hat einiges für sich. Neben dem Block der Sym­ phonien steht, gleich eindrucksvoll, die Gesamtheit der vier Instrumentalkonzerte: die beiden Klavierkonzerte, das Violinkon­ zert und das Doppelkonzert für Violine und Violoncello. Brahms’ Instrumentalkonzerte sind in Gestus und struktureller Konzep­ tion der Gattung der Symphonie sehr nahe; bestand bis Mozart das Wesen des Kon­ zerts darin, dass Soloinstrument und Orchester als »Gegenspieler« auftraten, einander abwechselten und kontrastier­ ten, so zeigt sich bereits bei Beethoven die Tendenz, das konzertierende Instrument in den symphonischen Fluss zu integrieren. Brahms steigerte diese Einbettung des Soloinstruments in das Gewebe des Sym­ phonischen zu einem Extrem, und Eduard Hanslicks Bezeichnung des 2. Klavierkon­ zerts als einer »Symphonie mit obligatem Klavier« ist nicht bloß ein journalistisches Schlagwort, sondern trifft trotz seiner Überspitzung etwas Richtiges und Wesent­ liches. Dabei ging zweifellos die Durchsichtigkeit der Instrumentation, wie sie etwa Mozarts Klavierkonzerte auszeichnet, ein wenig verloren. Der Vorwurf des »Dickflüssigen«, »Unelastischen«, auch der »schwerblüti­ gen Gedankentiefe« wurde Brahms gele­ gentlich gemacht, und es bleibt dem Urteil des Hörers überlassen, ob dies bloß Ver­ dikte aus dem Munde Übelwollender oder doch – freilich negativ zugespitzte – Ein­ sichten in Brahms’ Kompositionstechnik sind. Nicht zu vergessen wäre allerdings bei derartigen Beurteilungen, dass auch Brahms im Fluss einer historischen Ent­ wicklung stand, die zu »Schwere« im Sinne höherer kompositorischer Komplexität ten­ dierte; man denke an die symphonische Befrachtung der Klavierkonzerte Max Re­ gers oder Ferruccio Busonis, gegen die sich Brahms’ 2. Klavierkonzert geradezu trans­ parent ausnimmt. Als hätte der Komponist einen Ausgleich für die Dominanz des Sym­ phonischen schaffen wollen, finden sich im langsamen 3. Satz kammermusikalische Elemente, indem hier ein zweites Solo­ instrument, das Violoncello, eine führende Rolle spielt. Zunächst gehen Klavier und Violoncello ihre Wege völlig getrennt; erst in der Reprise treten sie in eine unmittel­ bare Beziehung zueinander und erinnern daran, dass Brahms als Komponist von Kammermusik auf gleicher Höhe stand wie als Symphoniker. Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 16 1. SATZ: ROMANTIK UND KLASSIZITÄT Formenstrenge und feingliedrige themati­ sche Arbeit weisen Brahms im 2. Klavier­ konzert ebenso wie in seinen anderen gro­ ßen Orchesterwerken als »Klassizisten« aus, und dennoch beginnt dieses Werk so »romantisch« wie kaum ein anderes. Im Solohorn ertönt – leise, wie aus der Ferne – das Hauptthema, in das sich das Klavier sogleich mit zarten, im B-Dur-Dreiklang aufsteigenden Akkordzerlegungen ein­ schaltet, die charakteristisch aufsteigen­ de kleine Terz des Hornmotivs einen Takt später gleich einem Echo aufgreifend. In analoger Weise wird dieser Vorgang mit dem zweiten Teil des Themas wiederholt. Die anschließende solistische Klavierpas­ sage führt in die Orchesterexposition mit ihren klar profilierten Themen: Das erste ist eine Abwandlung des Hornthemas, das zweite eine zarte, chromatisch getönte Streicherepisode. Den Höhepunkt der Ex­ position bilden markante Trillerfiguren des Klaviers, kombiniert mit dem Zitat des Hauptthemas. Der Beginn der Durchfüh­ rung greift den Prolog auf, geht aber so­ gleich in die komplexe thematische Verar­ beitung über, die dieser formale Abschnitt erwarten lässt. Abspaltungen der Themen, Umfärbungen der motivischen Partikel durch immer neue Instrumentation und die Durchdringung des Orchestersatzes durch den stets höchst virtuos geführten Kla­ viersatz verschleiern jedoch auf raffinier­ te Weise die Struktur des Gesamtverlaufs, dessen – auch für den erstmaligen Hörer nachvollziehbare – Einheit vor allem durch die charakteristische und einprägsame Ge­ stalt des Hauptthemenkopfes zustande kommt. 2. SATZ: EIN SCHERZO IN EINEM ­KLAVIERKONZERT ? Ungewöhnlich ist bereits die Existenz des folgenden Satzes im Charakter eines Scherzos, denn gemäß der klassischen Tra­ dition hat ein Instrumentalkonzert nur drei Sätze: zwei Allegro-Sätze, die einen lang­ samen Mittelsatz umrahmen. Offensicht­ lich wollte Brahms dem verhaltenen, romantischen Kopfsatz ein energisches Gegenstück zur Seite stellen. Die Viersät­ zigkeit des 2. Klavierkonzerts und die Tat­ sache, dass der »Scherzo«-Satz – er wird nicht als solcher bezeichnet – gleich Beet­ hovens 9. Symphonie an zweiter Stelle steht, hat die Deutung des Werks als einer »verkappten Symphonie« zweifellos be­ stärkt. Formal lässt sich der Satz sowohl als Sonaten-Form wie auch als Scherzo-­ Form mit kontrastierendem Trio interpre­ tieren; der Mittelteil setzt sich durch seine energische Wendung nach D-Dur deutlich vom Vorangegangenen ab. »Allegro appas­ sionato« lautet die Tempobezeichnung: leidenschaftliche, vollgriffige Passagen des Klaviers entsprechen dieser Vorschrift ebenso wie die kraftvollen Steigerungswel­ len des Orchesters. 3. SATZ: »IMMER LEISER WIRD MEIN SCHLUMMER…« In absolutem Stimmungskontrast dazu steht das nun folgende Andante, in dem Brahms alle Register romantischen Klang­ zaubers zieht. Hier erhält, wie bereits erwähnt, neben dem Klavier das SoloVioloncello eine dominante Funktion, indem es die weitgespannte, liedhafte Melodik ex­ poniert. Brahms griff sie später erneut auf und unterlegte sie einem lyrischen Text: Im Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 17 Johannes Brahms (1883) Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 18 Lied »Immer leiser wird mein Schlummer« op. 105/2 begegnen wir der einprägsamen Melodie wieder. Um den Stimmungscharak­ ter dieses Einfalls zu verstehen, bedarf es jedoch keiner Worte: Die weiten Melodie­ bögen bis ans Ende auskostend, versetzen uns Klavier, Violoncello und Orchester in einen meditativen Zustand des Nachsin­ nens, des Nachvollziehens glücklicher Erin­ nerungen an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Einen Kontrastakzent setzt der rhapsodische Mittelteil, der durch die Präsenz des motivischen Beginns des Liedthemas mit seiner Umgebung eng ver­ flochten ist. 4. SATZ: UNGARISIERENDES SCHLUSSRONDO Dass letzten Endes doch keine »Sympho­ nie«, sondern ein »Konzert« auf dem Pro­ gramm steht, macht Brahms im Schluss­ satz deutlich: Hier geht es nicht um die Synthese oder Apotheose des Vorangegan­ genen, sondern um graziös-eleganten Aus­ klang. Die spielerischen, durch Punktie­ rung tänzerisch gefärbten Themen haben – ähnlich dem Rondothema im Finale des Violinkonzerts – leicht »ungarischen« Cha­ rakter, allerdings nur im Sinne einer An­ deutung. Leichtigkeit und virtuose Spiel­ freude beherrschen über weite Strecken den Satz, der die Form des Rondos mit Ele­ menten der Sonatensatzform verbindet. Eduard Hanslick, der Anmutig-Melodisches stets über Komplexität stellte, wollte – aus seiner Sicht durchaus konsequent – in die­ sem Finalsatz den bedeutendsten des gan­ zen Werks erkennen. Auch wer eine andere Wertung vornimmt, wird der Kombination von instrumentaler Transparenz und pia­ nistischer Brillanz in diesem Schlussrondo seine Anerkennung nicht versagen. DER KOMPONIST ALS INTERPRET Dass Komponisten immer wissen, was In­ strumentalisten zugemutet werden kann, ist keineswegs selbstverständlich. Richard Strauss war nicht der einzige, bei dem sich empörte Orchestermitglieder über »un­ spielbare« Passagen beschwerten und auf Änderung drängten. Nun ist der Solopart eines Konzerts ein heikler Sonderfall für Komponisten: Virtuosität in allen Facetten ist gefragt, ohne die Grenze zur »Unspiel­ barkeit« zu überschreiten. Brahms war aufrichtig genug, sich im Falle seines Violin­ konzerts einzugestehen, diese Grenze nicht selber bestimmen zu können. Nicht ausreichend vertraut mit den technischen Grenzen des Violinspiels, zog er seinen Freund Joseph Joachim zu Rate, einen der bedeutendsten Geiger des 19. Jahrhun­ derts. Auf Joachims Vorschläge geht denn auch die endgültige Ausformung des Solo­ parts seines Violinkonzerts zurück. Im Falle der Klavierkonzerte war dies an­ ders. Brahms, ein hervorragender Pianist, schrieb diese Konzerte nicht zuletzt für sich selbst: Seine pianistischen Vorlieben treten in der Partitur deutlich zutage. Die Vollgriffigkeit von Brahms’ Klavierwerken ist auch für die Ausführung des Soloparts in den Klavierkonzerten charakteristisch. Nach wie vor stellen sie für Pianisten eine Herausforderung dar; denn es gilt nicht bloß, den immens schwierigen Klavierpart technisch zu bewältigen, sondern darüber hinaus den Eindruck des »Sperrigen« oder »Klotzigen« zu vermeiden, den die akkord­ reiche Klaviersprache Brahms’ bei nicht absolut souveräner Beherrschung des In­ struments manchmal erzeugen kann. Den Vorwurf der »Unspielbarkeit« konnte im Fall des 2. Klavierkonzertes allerdings nie­ mand erheben: Brahms selbst war der In­ Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 19 Im Klavierlied »Immer leiser wird mein Schlummer« (1886) die Melodie des Andante erneut auf griff Brahms MPH_02911_Programmheft_Thielemann-RZ2.indd 15 Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 25.03.11 15:32 20 terpret des Soloparts bei der Urauffüh­ rung. DREISÄTZIGKEIT ODER VIERSÄTZIGKEIT ? Der Brahms-Biograph Max Kalbeck nimmt an, dass erste Skizzen zum 2. Klavierkon­ zert bereits im Frühjahr 1878 entstanden, und dass es sich beim 2. Satz, dem »Scher­ zo«, um eine Umarbeitung jenes Satzes handelt, den Brahms ursprünglich für das Violinkonzert komponiert, dann aber ver­ worfen hatte; interessant ist der Aspekt, dass Brahms bereits bei einem früheren Instrumentalkonzert an Viersätzigkeit ge­ dacht hatte. Die Endfassung des 2. Klavier­ konzerts entstand im Sommer 1881, den Brahms im Ort Pressbaum bei Wien ver­ brachte. Im Stil des für ihn typischen »Understatements« schrieb er am 7. Juli 1881 an Elisabet von Herzogenberg, er habe »ein ganz ein kleines Klavierkonzert geschrieben mit einem ganz kleinen zarten Scherzo«. In gleicher Weise kündigte er seinem Freund Theodor Billroth, der als Chirurg Weltruf besaß, das neue Werk an: »Hier schicke ich ein paar kleine Klavier­ stücke...« Billroth, ein begeisterter Brahms-Verehrer, hatte in diesem Fall jedoch Bedenken ge­ gen die Existenz des 2. Satzes; er disku­ tierte mit Brahms über dessen Notwendig­ keit und schrieb im Oktober 1881 an Wil­ helm Lübke, Brahms legitimiere das Scher­ zo damit, dass der 1. Satz zu simpel sei und daher vor dem »ebenfalls einfachen Andante etwas kräftig Leidenschaftliches« eingeschoben werden müsse. Billroth dürf­ te Brahms mit seinen Zweifeln angesteckt haben, denn im Begleitbrief zum Arrange­ ment seines B-Dur-Konzerts für zwei Kla­ viere an Verleger Simrock in Berlin fragte er: »Wollen wir auch lieber den 2. Satz streichen ? Das Ding ist gar zu lang ge­ rathen.« Zur Streichung des Scherzo kam es dann glücklicherweise doch nicht. »EIN WERK KLASSISCHEN ­EBENMASSES...« Der Uraufführung in Budapest am 9. No­ vember 1881 schlossen sich in knapper Folge zahlreiche Aufführungen in europäi­ schen Städten an. Brahms’ 2. Klavierkon­ zert behauptet seither seine ungebroche­ ne Beliebtheit bei Interpreten und Publi­ kum und wird als geniale Zusammenfüh­ rung der klassischen und der romantischen Tradition empfunden. Noch in einer Würdi­ gung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts durch Walther Siegmund-Schultze erfährt es höchste Anerkennung: »Ein Werk klassischen Ebenmaßes, innigs­ ter Empfindung und herzlichen Humors. Aber auch kraftvolle und tragische Töne fehlen nicht. Man kann dieses Konzert als eine großartige Schlussfolgerung aus der gesamten bisherigen Konzertliteratur – einschließlich des eigenen d-Moll-Konzerts – bezeichnen. Noch einmal hat der Hornruf Webers – aus ›Oberon‹ – und Schuberts – aus der großen C-Dur-Symphonie – bei Brahms Früchte getragen, noch einmal klingt das große Erlebnis Robert Schu­ manns nach (Scherzo), wiederum hören wir ungarische Töne (in allen Sätzen), wiede­ rum – und noch nicht zum letzten Male – klingen alte und neue Lieder auf (3. Satz). Und den Beschluss macht ein in die Sphäre höchster Kunst gehobener Tanz, wie es die Klassiker lehrten.« Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur 21 Kent Nagano DIRIGENT Pariser Uraufführung seiner einzigen Oper »Saint François d’Assise« zum musikali­ schen Assistenten ernannte. Eine wichtige Station in Naganos Laufbahn war seine Zeit als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-­ Orchesters Berlin (2000–2006), mit dem er bei den Salzburger Festspielen und im Fest­ spielhaus Baden-Baden gastierte. Der amerikanische Dirigent japanischer Ab­ stammung gilt als einer der herausragenden Dirigenten für das Opern- wie auch für das Konzertrepertoire. Seit 2006 ist er Music Director des Orchestre symphonique de Montréal und hat seinen Vertrag dort bis 2020 verlängert. Außerdem arbeitet er seit Herbst 2013 als Principal Guest Conductor und Artistic Advisor eng mit den Göteborger Symphonikern zusammen. Mit der Spielzeit 2015/16 begann Kent Nagano seine Amts­ zeit als Generalmusikdirektor und Chefdiri­ gent der Hamburgischen Staatsoper. Seinen ersten großen Erfolg feierte Kent Nagano 1984, als ihn Olivier Messiaen bei der Während seiner Zeit als Generalmusikdirek­ tor an der Bayerischen Staatsoper (2006– 2013) setzte Kent Nagano deutliche Akzen­ te. Unter seiner musikalischen Leitung wur­ den die Opern »Babylon« von Jörg Widmann, »Das Gehege« von Wolfgang Rihm und »Alice in Wonderland« von Unsuk Chin erfolgreich uraufgeführt. Beim Orchestre symphonique de Montréal leitete Kent Nagano die kom­ pletten Zyklen der Symphonien von Beetho­ ven und Mahler, Schönbergs »Gurrelieder« sowie Konzertreihen mit Werken von Henri Dutilleux (2010/11) und Pierre Boulez (2011/12). Auch an der Hamburgischen Staatsoper legte er in seiner ersten Spiel­ zeit mit der Uraufführung der Oper »Stilles Meer« von Toshio Hosokawa einen Schwer­ punkt auf zeitgenössische Musik. Als begehrter Gastdirigent steht Kent Na­ gano regelmäßig am Pult von renommierten Orchestern wie den Berliner und Wiener Phil­ harmonikern, dem New York Philharmonic und dem Chicago Symphony Orchestra. Zahl­ reiche Einspielungen unter seiner Leitung wurden mit dem Grammy ausgezeichnet. Die Künstler hommage à Kulturprogramm zur Ausstellung: Figurentheater Flamenco Literatur Kino Workshops PICASSO 22.7.–18.9.2016 Münchner Künstlerhaus Lenbachplatz 8, München www.picasso-muenchen.de 23 Nikolai Lugansky KLAVIER BBC Proms, in La Roque d’Anthéron sowie bei den Festivals von Verbier, Rheingau und Edinburgh zu erleben. Außerdem ist er Lei­ ter des Rachmaninow-Festivals in Tambow und trat bereits mehrfach in Rachmaninows einstigem Landgut, dem heutigen Museum Iwanowka, auf, dessen Förderer er ist. Beim Abschlusskonzert des ersten Rachmaninow-­ Festivals in Iwanowka im Juni 2014 spielte er dessen 3. Klavierkonzert mit dem Russi­ schen Nationalorchester unter Mikhail Plet­ nev. Der 1972 in Moskau geborene Nikolai Lugan­ sky studierte an der Zentralen Musikschu­ le sowie am Tschaikowsky-Konservatorium seiner Heimatstadt, wo Tatiana Kestner, Tatiana Nikolayeva und Sergei Dorensky zu seinen Lehrern zählten. 1994 begann mit seinem Sieg beim 10. Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau seine internationale Karriere. Seither hat Nikolai Lugansky mit Dirigenten wie Riccardo Chailly, Vladimir Fedoseyev, Valery Gergiev, Kurt Masur, Gennady Rozh­ destvensky und Yuri Temirkanov zusam­ mengearbeitet. Regelmäßig ist er bei den Zu Höhepunkten der Spielzeit 2015/16 ge­ hören Nikolai Luganskys Rückkehr zum Phil­ harmonia Orchestra, zur Tschechischen Philharmonie, zum Budapest Festival Or­ chestra und dem San Francisco, Boston und NHK Symphony Orchestra. Zudem geht er auf Europa-Tournee mit den Sankt Pe­ tersburger Philharmonikern unter Yuri Te­ mirkanov sowie als Klaviertrio zusammen mit Leonidas Kavakos und Gautier Capuçon. Im Frühjahr 2016 führte er einen Zyklus von Prokofjews Klavierkonzerten mit dem Royal Scottish National Orchestra auf, um den 125. Geburtstag des Orchesters und des Komponisten zu feiern. Rezitalabende der nächsten Zeit führen ihn in die Alte Oper Frankfurt, in die Londoner Wigmore Hall (mit Alexander Kniazev), in die Kon­ zerthäuser in Berlin und Wien, in das Pari­ ser Théâtre des Champs-Elysées, dem Gro­ ßen Saal des Moskauer Konservatoriums und dem Großen Saal der Sankt Petersbur­ ger Philharmoniker. Die Künstler 24 Verabschiedung von Walter Schwarz LIEBER WALTER, den auch für unvergessene Tourneen, die Du stets sehr genossen hast. nach 40 Jahren bei den Münchner Philhar­ monikern, man sieht es Dir kaum an, gehst Du nun in den Ruhestand. Als Niederbayer hat es Dich schon mit 14 Jahren an das Münchner Konservatorium gezogen, um bei dem berühmten Hermann Gschwendtner Schlag­ zeug zu studieren. Mit 18 jedoch ging es in die Ferne nach Montre­ al, wo Du zunächst einige Monate mit einer Münchner Volksmusik­ gruppe im »Petit Munich« spiel­ test. Hier schon zeigte sich Dein Talent und die große Begeiste­ rung für das Drumset! In den folgenden drei Jahren warst Du als Drum­ mer in einer Profi-Tanzband so erfolgreich, dass Du beinahe in Kanada geblieben wärst. Ein Bayer fühlt sich aber nur in Bayern wirklich zuhause, und so kamst Du wieder zurück nach München, um 1976 Solo-­ Pauker und Schlagzeuger bei uns zu wer­ den. Celibidache, Levine, Thielemann, Maa­ zel und Gergiev als Deine Chefdirigenten sorgten neben künstlerischen Sternstun­ Deine Leidenschaft für Jazz- und Pop-­ Musik, die Du in den Bands »Zarathustra« und »Amphibium« (mit der Du bei den legendä­ren Philharmonischen Bällen in der Olympia­halle immer für großartige Stimmung sorgtest) ausleben konntest, führte dazu, dass Du seit Jahr­ zehnten immer sonntags abends in der ARD zu hören bist – in der Titelmelodie des »Tatort«! Wir werden Dich als einen sehr musikalischen und stets gut ge­ launten Kollegen vermissen, auch wenn wir uns an Dein »Timing« zu Proben und Konzerten nur schwer gewöhnen konnten... Es gibt das Gerücht, dass das heimliche Vorstellen Dei­ ner Uhren um 15 Minuten für Milderung gesorgt haben soll. Jedoch wissen wir auch, dass wir Dich als echten Haidhause­ ner nahezu täglich an Deinem 2. Zuhause, der Konditorei Wölfl, antreffen können. Alles Liebe wünschen Dir Deine Schlag­ zeugkollegen! Aus dem Orchesterleben 25 25 Max Reger und die Münchner Philharmoniker GABRIELE E. MEYER VORSPIEL Noch vor seinem ersten Auftritt als Dirigent bei den Münchner Philharmonikern am 15. Dezember 1905 (damals noch Kaim­ bzw. Konzertvereins­Orchester) hatte sich Max Reger schon einen Namen als Komponist von Orgelwerken, Liedern und Kammermusik ge­ macht. In einem Brief vom 5. November 1900 bittet der selbstbewusste Komponist den mit ihm befreundeten Sänger Joseph Loritz, sich bei Franz Kaim für eine Dirigentenstelle ein­ zusetzen: »Wäre es für mich nicht möglich, beim Kaimorchester als – sollte es sein – letzter Dirigent unterzukommen ? Ich bin nun zwei Jahre hier [in Weiden] und der allzu­ lange Aufenthalt in der ›Wüste‹ taugt nichts !« Kaim aber zeigte sich an einem Musiker ohne einschlägige Erfahrung verständlicherweise nicht interessiert. Nach der Übersiedlung in die Haupt­ und Residenzstadt Anfang Sep­ tember 1901 sah sich Reger zunächst hefti­ ger Ablehnung seitens der »Neudeutschen Schule« um Ludwig Thuille, Rudolph Louis, Max Schillings u. a. ausgesetzt. Doch gelang es ihm mit großer Beharrlichkeit, seine Mu­ sik als inzwischen anerkannter Liedbegleiter und Kammermusikpartner auch auf diesem Wege in München durchzusetzen, obwohl die öffentliche Meinung über den Komponisten weiterhin geteilt blieb. Gleichwohl schwärm­ ten Konzertbesucher wie Kritiker von Regers hochsensiblem und einfühlsamem Klavier­ spiel, mit dem er eigene und fremde Werke in einer »schlechthin vollendeten Weise« gestaltete. Zu Regers bevorzugten Mitstrei­ tern gehörten neben dem Bariton Loritz die Altistin Anna Erler­Schnaudt, der Geiger Henri Marteau, der Pianist August Schmid­ Lindner und das Hösl­Quartett. Auch wenn in den Annalen der Philharmoniker nur zwei Auftritte Regers verzeichnet sind, so waren seine Werke ab 1909 bis zum Tod des Kom­ ponisten am 11. Mai 1916 sehr oft zu hören. REGERS DEBÜT ALS DIRIGENT 1905 bestimmte der »Porges’sche Chorver­ ein« Reger zum Nachfolger des im Februar des Jahres verstorbenen bisherigen Leiters Max Erdmannsdörfer. Auf dem Programm des Konzerts vom 15. Dezember 1905, das »in Verbindung mit dem Kaim­Orchester« im Odeonssaal stattfand, standen Chor­ und Max Reger zum 100. Todestag 26 Orchesterwerke von Franz Liszt und Hugo Wolf. Regers dirigentische Leistung sah sich, man möchte fast sagen, zwangsläufig har­ scher Kritik vor allem von Seiten seines al­ ten Widersachers Rudolph Louis ausgesetzt, der auch für die »Münchner Neuesten Nach­ richten« tätig war. Dieser leitete seine Be­ sprechung mit der Binsenweisheit ein, dass man ein Musiker ersten Ranges sein kann, ohne zum Dirigenten besonders befähigt zu sein, demzufolge bei einem ersten Ver­ such auf einem »bislang fremden Gebiete der ausübenden Tonkunst« eine vollkomme­ ne Leistung gar nicht erwartet werden kön­ ne. »Alles, das Eckige, Ungelenke und Unge­ schickte der Bewegungen, die peinliche, von vornherein jede Freiheit in der Direktions­ führung unmöglich machende Abhängigkeit von der Partitur, der Mangel an jeglichen Anzeichen für einen wahrhaft belebenden und anfeuernden Einfluß auf die Ausführen­ den, all’ das beweist doch wohl, daß Reger, dem sonst so phänomenal begabten Musi­ ker, das angeborene Dirigententalent so gut wie gänzlich mangelt. Das offen auszu­ sprechen, halte ich umsomehr für Pflicht, als es schade wäre, wenn eine solche Bega­ bung, der als Komponist, als Klavierspieler, als Lehrer die weitesten und fruchtbarsten Betätigungsgebiete offen stehen, ihre kost­ bare Zeit auf Bestrebungen verschwenden würde, die schwerlich zu einem nachhalti­ gen Erfolge führen können.« Man kann sich Regers Zorn auf seinen Intimfeind Louis trotz dessen ausdrücklicher Anerkennung für die sorgfältige Einstudierung der Chöre lebhaft vorstellen. Aber auch die anderen Stimmen beurteilten das Debüt eher skep­ tisch: »Das geborene Dirigiertalent, das sich als solches gleich beim ersten Erschei­ nen am Pulte unzweifelhaft kundgibt, ist Reger jedenfalls nicht.« ZWISCHENSPIEL Etwa zu derselben Zeit begann Reger ver­ mehrt für große Besetzungen zu schreiben. Fiel der erste Versuch, die »Sinfonietta« bei der Münchner Erstaufführung durch das Kgl. Hofopernorchester unter der Leitung von Felix Mottl noch durch – worauf sich Regers Schüler an Rudolph Louis mit einer nächt­ lichen Katzenmusik rächten, auf die der Kri­ tiker mit »einem öffentlichen Dank an jene Herren« reagierte, »welche ihm in so liebens­ würdiger Weise Bruchstücke aus dem neues­ ten Werk ihres Meisters« nahegebracht hät­ ten – , so wuchs das Interesse an den Werken Regers doch stetig. In Ferdinand Löwes Chef­ dirigentenzeit wurden gleich vier symphoni­ sche Werke erstmals vorgestellt: »Sympho­ nischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108 (22. November 1909), »Eine Lustspiel­ ouvertüre« op. 120 (4. April 1911), das »Konzert im alten Stil« op. 123 (18. Dezem­ ber 1912) und, am 29. Dezember 1913, »Eine Ballett­Suite« op. 130. Außerdem erklan­ gen, ebenfalls als Münchner Erstaufführun­ gen, das Violinkonzert op. 101 unter der Leitung von Ossip Gabrilowitsch mit Alexan­ der Schmuller als Solisten (23. März 1912) und »Eine romantische Suite« nach Eichen­ dorff op. 125, die der Dirigent Franz von Hoesslin aus der Taufe hob (25. Oktober 1912). REGERS ZWEITER AUFTRITT Ende 1907 nahm »der wilde Oberpfälzer« – er hatte von den Münchner Querelen um seine Person nun endgültig genug – die Be­ rufung zum Konservatoriumslehrer und Uni­ versitätsmusikdirektor in Leipzig an. Die nachfolgenden Jahre seines Engagements als Dirigent der Meininger Hofkapelle von 1911 bis 1914 ließen ihn, wie nicht nur sein Schüler Alexander Berrsche feststellte, zu Max Reger zum 100. Todestag 27 Max Reger zum 100. Todestag 28 einem »Orchesterleiter ersten Ranges« so­ wohl in künstlerischer als auch in organisa­ torischer Hinsicht reifen. Regers zweiter und letzter Auftritt als Dirigent bei den Münch­ ner Philharmonikern fiel allerdings in eine Zeit, in der die Welt schon aus den Fugen geraten war. Doch trotz kriegsbedingter Schwierigkeiten konnte der Konzertbetrieb in der Spielzeit 1914/15 noch in vollem Um­ fang aufrechterhalten werden. Auf dem Pro­ gramm des von »Generalmusikdirektor Max Reger« geleiteten 8. Abonnementskonzerts am 1. Februar 1915 standen, neben Mozarts »Haffner­Symphonie«, »Eine vaterländische Ouvertüre« op. 140, »gewidmet dem deut­ schen Heere« und, ebenfalls als Münchner Erstaufführung, die 1914 entstandenen »Va­ riationen und Fuge über ein Thema von Mo­ zart« op. 132. Vor allem dieses Werk wurde mit großem Beifall bedacht. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« rühmten den »Reich­ tum an Polyphonie, wie er nur dem kontra­ punktischen Genie Regers zu Gebote steht. Daß dieses Werk trotz der außerordentlich kunstvollen thematischen Arbeit auch präch­ tig klingt, beweist vor allem die schöne ach­ te Variation. Es versteht sich bei Reger von selbst, daß die über ein reizvolles achttak­ tiges Thema gehende Fuge glänzend gebaut ist.« Fünf eigene Lieder, mit Reger am Kla­ vier, und drei orchestrierte Brahms­Lieder, gesungen von Anna Erler­Schnaut, rundeten das Programm ab. Der Komponist Max Reger wurde ebenso gefeiert wie der Dirigent und Liedbegleiter. Selbst der damals amtierende Oberbürgermeister der Stadt München, Wil­ helm von Borscht, sprach Reger seinen auf­ richtigsten Dank aus: »Die grösste Anerken­ nung für Sie liegt in dem Erfolg, den Ihr Auftreten bei uns zeigte: der Besuch unse­ rer Abonnementskonzerte war mit Ausbruch des Krieges noch nie so stark, wie bei Ihrem Konzert, die Begeisterung des Publikums für Ihre bewundernswerten Leistungen war grösser und herzlicher denn je.« NACHSPIEL Die im Brief des Oberbürgermeisters aus­ gesprochene Erwartung, »Euer Hochwohl­ geboren auch noch bei anderen Gelegenhei­ ten in der Tonhalle begrüssen zu dürfen«, erfüllte sich nicht mehr. Max Reger starb mit nur 43 Jahren am 11. Mai 1916. Doch sein gesamtes Orchesterwerk bildete bis in die 40er Jahre einen festen Bestandteil in­ nerhalb der philharmonischen Programm­ gestaltung, wobei es nach Regers Tod noch zu weiteren Münchner Erstaufführungen kam. So stellte Komponisten­Kollege Hans Pfitzner die Orchesterfassung der 1904 ursprünglich für zwei Klaviere zu vier Hän­ den komponierten »Variationen und Fuge über ein Thema von Beethoven« op. 86 vor, der »Gesang der Verklärten« op. 71 erklang in einer Bearbeitung von Karl Hermann Pill­ ney, die von Florizel von Reuter zu Ende ge­ führte »Symphonische Rhapsodie für Violi­ ne und Orchester« op. 147 erlebte 1932 ihre Uraufführung, der erste Satz des un­ vollendet gebliebenen lateinischen »Requi­ ems« op. 145a seine philharmonische Erst­ aufführung. Nach 1945 aber standen zu­ nächst ganz andere Komponisten im Vor­ dergrund – Reger hatte ja bereits zu seiner Zeit das Schicksal ereilt, mit seinem Schaf­ fen zwischen alle Stühle geraten zu sein. Dennoch hatte er innerhalb der zwischen Schönberg, Strawinsky und der »Münchner Schule« angesiedelten musikalischen Ex­ trembereiche einen ganz eigenen Weg ge­ funden. Regers unruhig oszillierende Har­ monik und seine meisterliche Beherrschung der Polyphonie, auch seine bisweilen »klas­ sizistisch« anmutende Einfachheit lohnen eine Wiederbegegnung allemal. Max Reger zum 100. Todestag 29 Donnerstag 14_07_2016 20 Uhr b Mittwoch 14_09_2016 20 Uhr a Donnerstag 15_09_2016 20 Uhr e4 Samstag 17_09_2016 19 Uhr d GALINA USTWOLSKAJA Symphonie Nr. 3 »Jesus, Messias, errette uns!« SERGEJ RACHMANINOW Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-Moll op. 30 DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 43 RICHARD STRAUSS »Don Juan« op. 20 HECTOR BERLIOZ »Les Troyens«, V. Akt RICHARD STRAUSS »Ein Heldenleben« op. 40 VALERY GERGIEV, Dirigent BEHZOD ABDURAIMOV, Klavier ALEXEI PETRENKO, Sprecher VALERY GERGIEV, Dirigent YULIA MATOCHKINA, Sopran YEKATERINA KRAPIVINA, Mezzosopran SERGEJ SEMISHKUR, Tenor EVGENY AKHMEDOV, Tenor YURI VOROBIEV, Bass PHILHARMONISCHER CHOR MÜNCHEN, Einstudierung: Andreas Herrmann Samstag 16_07_2016 20 Uhr KLASSIK AM ODEONSPLATZ PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Suite aus dem Ballett »Schwanensee« op. 20 a PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 RICHARD STRAUSS Orchestersuite aus der Komödie für Musik »Der Rosenkavalier« op. 59 MAURICE RAVEL »Boléro« VALERY GERGIEV, Dirigent DANIIL TRIFONOV, Klavier Vorschau 30 Die Münchner Philharmoniker 1. VIOLINEN Sreten Krstič, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici, Konzertmeister Julian Shevlin, Konzertmeister Odette Couch, stv. Konzertmeisterin Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin Claudia Sutil Philip Middleman Nenad Daleore Peter Becher Regina Matthes Wolfram Lohschütz Martin Manz Céline Vaudé Yusi Chen Iason Keramidis Florentine Lenz 2. VIOLINEN Simon Fordham, Stimmführer Alexander Möck, Stimmführer IIona Cudek, stv. Stimmführerin Matthias Löhlein, Vorspieler Katharina Reichstaller Nils Schad Clara Bergius-Bühl Esther Merz Katharina Schmitz Ana Vladanovic-Lebedinski Bernhard Metz Namiko Fuse Qi Zhou Clément Courtin Traudel Reich Asami Yamada BRATSCHEN Jano Lisboa, Solo Burkhard Sigl, stv. Solo Max Spenger Herbert Stoiber Wolfgang Stingl Gunter Pretzel Wolfgang Berg Beate Springorum Konstantin Sellheim Julio López Valentin Eichler VIOLONCELLI Michael Hell, Konzertmeister Floris Mijnders, Solo Stephan Haack, stv. Solo Thomas Ruge, stv. Solo Herbert Heim Veit Wenk-Wolff Sissy Schmidhuber Elke Funk-Hoever Manuel von der Nahmer Isolde Hayer Sven Faulian David Hausdorf Joachim Wohlgemuth Das Orchester 31 KONTRABÄSSE Sławomir Grenda, Solo Fora Baltacigil, Solo Alexander Preuß, stv. Solo Holger Herrmann Stepan Kratochvil Shengni Guo Emilio Yepes Martinez Ulrich Zeller FLÖTEN Michael Martin Kofler, Solo Herman van Kogelenberg, Solo Burkhard Jäckle, stv. Solo Martin Belič Gabriele Krötz, Piccoloflöte OBOEN Alois Schlemer Hubert Pilstl Mia Aselmeyer TROMPETEN Guido Segers, Solo Bernhard Peschl, stv. Solo Franz Unterrainer Markus Rainer Florian Klingler POSAUNEN Dany Bonvin, Solo David Rejano Cantero, Solo Matthias Fischer, stv. Solo Quirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune Ulrich Becker, Solo Marie-Luise Modersohn, Solo Lisa Outred Bernhard Berwanger Kai Rapsch, Englischhorn PAUKEN KLARINETTEN Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger Jörg Hannabach Alexandra Gruber, Solo László Kuti, Solo Annette Maucher, stv. Solo Matthias Ambrosius Albert Osterhammer, Bassklarinette FAGOTTE Lyndon Watts, Solo Jürgen Popp Johannes Hofbauer Jörg Urbach, Kontrafagott HÖRNER Jörg Brückner, Solo Matias Piñeira, Solo Ulrich Haider, stv. Solo Maria Teiwes, stv. Solo Robert Ross Stefan Gagelmann, Solo Guido Rückel, Solo Walter Schwarz, stv. Solo SCHLAGZEUG HARFE Teresa Zimmermann, Solo CHEFDIRIGENT Valery Gergiev EHRENDIRIGENT Zubin Mehta INTENDANT Paul Müller ORCHESTERVORSTAND Stephan Haack Matthias Ambrosius Konstantin Sellheim Das Orchester 32 IMPRESSUM BILDNACHWEISE Herausgeber: Direktion der Münchner Philharmoniker Paul Müller, Intendant Kellerstraße 4 81667 München Lektorat: Christine Möller Corporate Design: HEYE GmbH München Graphik: dm druckmedien gmbh München Druck: Gebr. Geiselberger GmbH Martin-Moser-Straße 23 84503 Altötting Abbildungen zu Max Re­ ger: Fritz Stein, Max Re­ ger, Laaber 1980; Susan­ ne Popp / Susanne Shigi­ hara, Max Reger am Wen­ depunkt zur Moderne – Ein Bildband mit Doku­ menten aus den Bestän­ den des Max-Reger-Insti­ tus, Bonn 1987; Abbildun­ gen zu Johannes Brahms: Joseph Müller-Blauttau, Johannes Brahms – Leben und Werk, Königsstein 1960; Christian Martin Schmidt, Johannes Brahms und seine Zeit, Laaber 1983; Christiane Jacob­ sen (Hrsg.), Johannes Brahms – Leben und Werk, Wiesbaden 1983. Künst­ lerphotographien: Ben Ea­ lovega (Nagano), Marco Borggreve / Naïve-Ambroi­ sie (Lugansky). TEXTNACHWEISE Michael Kube, Thomas Leibnitz und Gabriele E. Meyer schrieben ihre Tex­ te als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Stephan Kohler verfasste die lexikalischen Werkan­ gaben und Kurzkommen­ tare zu den aufgeführten Werken. Künstlerbiogra­ phien: nach Agenturvorla­ gen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist sei­ tens der Urheber geneh­ migungs- und kosten­ pflichtig. TITELGESTALTUNG »Das vier Sätze, anstelle der sonst üblichen drei Sätze, umfassende 2. Kla­ vierkonzert von Brahms stellt inhaltlich keine fest umrissene Programmmusik dar, wodurch die Idee ent­ stand, die Bandbreite der Emotionen des Zuhörers auf ein in vier Quadranten aufgeteiltes Gesicht zu übertragen. Den großen Gestus der Brahms’schen Musik habe ich auf ein ex­ Impressum pressives Minimum redu­ ziert, sodass man genauer hinsehen muss, um die fei­ nen emotionalen Unter­ schiede zwischen den ein­ zelnen Feldern wahrzuneh­ men. Die Farben der Klavi­ atur Schwarz und Weiß stellen das verbindende Element zwischen ihnen her.« (Sonja Herpich, 2016) DIE KÜNSTLERIN Sonja Herpich, 1979 gebo­ ren in Höchstädt a. d. Do­ nau, ist seit 2007 als frei­ schaffende Fotografin tä­ tig. Seit 2011 gehört sie dem Fototeam des Maga­ zins MUH an. Bekannt wurde sie 2012 durch ihr Fotoprojekt »half kit­ chen«, für das sie sich als Wiesn-Bedienung vor und nach dem Dienst täglich porträtiert hat. Im selben Jahr erhielt die Wahl­ münchnerin eine Auszeich­ nung bei den begehrten Lead Awards. Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt In freundschaftlicher Zusammenarbeit mit VALERY GERGIEVS DAS FESTIVAL DER MÜNCHNER PHILHARMONIKER — GASTEIG Freitag 11_11_2016 ERÖFFNUNGSKONZERT Samstag 12_11_2016 PROKOFJEW–MARATHON PETER UND DER WOLF TANZPROJEKTE Sonntag 13_11_2016 PROKOFJEW SYMPHONIEN MOZART VIOLINKONZERTE INFOS UND KARTEN BEI MÜNCHEN TICKET & MPHIL.DE 3 M FÜ U TA R SI GE AL K LE ’15 ’16 DAS ORCHESTER DER STADT