Bernd Oberhoff Christoph W. Gluck ORPHEUS UND EURYDIKE Ein psychoanalytischer Opernführer IMAGO Psychosozial-Verlag Bernd Oberhoff Christoph W. Gluck ORPHEUS UND EURYDIKE Ein psychoanalytischer Opernführer Psychosozial-Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. © 2003 Psychosozial-Verlag Goethestr. 29, 35390 Gießen Tel.: 0641/77819, Fax: 0641/77742 e-mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Lektorat/Satz: Lars Steinmann Umschlagabbildung: Orpheus und Eurydike Printed in Germany ISBN 3-89806-269-4 Inhalt 1. Die Handlung der Oper 7 2. Einleitung 9 3. Ouvertüre: Scheinbare Unbeschwertheit 13 4. Trauer über den Verlust der geliebten, »unabdingbar notwendigen Person« 18 5. Die Prüfungsaufgabe 26 6. Die Furien: unkontrollierbare bedrohliche Gefahren von außen und von innen 30 7. Das Elysium: Momente primär-narzisstischer Vollkommenheit 36 8. Die zerstörerischen Hassimpulse gegen die enttäuschende Primärperson 40 9. Schuldgefühle und Bemühen um Wiedergutmachung und Wiederherstellung des Liebesobjekts 55 10. Arie: »Che farò senza Euridice« – allzuschöne Musik oder Wahnsinnsarie? 62 11. Die Musik als das selbsterschaffene mütterliche Ersatzobjekt 73 12. Der Schluss 81 Literatur 85 Empfohlene Musikaufnahmen 87 Christoph Willibald Gluck (1714–1787) Orpheus und Eurydike Oper in 3 Akten Libretto: Raniero Calzabigi Uraufführung: 5. Oktober 1762 im Burgtheater in Wien unter Leitung des Komponisten Auftretende Personen Orpheus Eurydike Amor Altus Sopran Sopran Chor der Freunde des Orpheus, Chor der Schäfer und Nymphen, Chor der Furien und Larven der Unterwelt Chor der Heroen und Heroinen des Elysiums Die Handlung der Oper 1. Akt In einem Lorbeer- und Zypressenhain beweint Orpheus den frühen Tod seiner Gattin Eurydike. Eine Schar von Hirten und Nymphen stimmt einen Trauergesang an, unterbrochen von den Klagerufen des Orpheus. Orpheus zürnt den Göttern und bekundet seinen Willen, seine Eurydike aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Es erscheint Amor und verkündet, dass die Götter aus Erbarmen ihm erlauben, in die Unterwelt hinabzusteigen, unter einer Bedingung: Orpheus darf Eurydike erst anschauen, wenn er die Höhlen des Styx wieder verlassen hat. Verstößt er gegen dieses Verbot, so verliert er sie erneut und für immer. 2. Akt Als Orpheus die Unterwelt betritt, stellen sich ihm Furien und Geister entgegen, die ihn mit einem schauerlichen Gesang zu schrecken versuchen. Orpheus schildert ihnen seine Qualen und seine Sehnsucht nach seiner Geliebten. Der Gesang des Orpheus, begleitet auf seiner Leier, rührt und besänftigt schließlich die Unterweltgeister, und sie geben ihm den Weg frei, der ihn zunächst in die friedvollen und harmonischen Gefilde des Elysiums führt. Selige Geister übergeben ihm Eurydike. Orpheus ergreift – mit abgewandtem Blick – hastig die Hand der Gattin und führt sie hinweg. 8 W Orpheus und Eurydike X 3. Akt Auf dem Weg durch finsteres Gelände wandelt sich Eurydikes anfängliche freudige Überraschung, ihren Geliebten wiederzusehen, zunehmend in Ärger und Zorn wegen seiner abgewandten Haltung. Als Orpheus schließlich ihrem Flehen und Drängen nachgibt und sie anschaut, sinkt Eurydike zu Boden und stirbt. Orpheus macht sich Vorwürfe und klagt aufs neue über den nun endgültigen Verlust seiner Geliebten. Um wenigstens im Tode mit ihr vereint zu sein, will er sich das Leben nehmen. Da erscheint Amor und gibt ihm als Lohn für seine Gattentreue Eurydike zurück. Die Oper endet mit Jubelgesängen und Huldigungen an den Gott Amor. 9 Einleitung In der Geschichte der Oper ist der antike Mythos von »Orpheus und Eurydike« an exponierten Umbruchstellen zu finden: Er steht ganz am Beginn der Operngeschichte in Florenz im Jahre 1600, und zwar gleich in zwei Vertonungen, sowohl von Jacopo Peri als auch von Giulio Caccini. Nur sieben Jahre später legt Claudio Monteverdi als sein Erstlingswerk auf dem Gebiet der Oper seinen »Orfeo« vor, der ebenfalls in der Operngeschichte eine Ausnahmestellung erlangt und zu einem Bezugspunkt für die Opernkomponisten der folgenden Jahrhunderte wird. Und auch mit Glucks »Orfeo ed Euridice« beginnt etwas Neues: Sie ist die erste seiner sechs Reformopern, die sich von der gekünstelten und sängerisch überladenen italienischen »Opera seria« abwendet und sich um eine Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit im Gefühlsausdruck bemüht. Es ist Glucks bekannteste Oper, die seinen Ruhm als Opernkomponist begründet hat und bis in unsere Zeit hinein zum Standartrepertoire deutscher Bühnen gehört. Die besondere Wirkung und Ausstrahlungskraft dieses Opernsujets liegt sicherlich darin, dass im Zentrum der Handlung ein Sänger steht, dessen begnadete Stimme zauberische Kräfte besitzt und in der Lage ist, bei Mensch und Tier Gefühle auf wundersame Weise zu verwandeln. Mit diesem Inbegriff für die außergewöhnlichen, übernatürlichen Kräfte der Musik werden sich alle genannten Komponisten gut haben identifizieren können und das wird sie herausgefordert haben, entsprechend zauberhafte, göttliche Musik zu komponieren, die die Jahrhunderte überdauert hat. 10 W Orpheus und Eurydike X Dieser begnadete Sänger Orpheus ist jedoch gleichzeitig ein exzessiv Trauernder, der im Mythos tragisch scheitert: Er erleidet den Verlust seiner geliebten Eurydike, folgt ihr in die Unterwelt, um sie zurückzugewinnen, was ihm jedoch nicht gelingt. Er kehrt unverrichteter Dinge und enttäuscht wieder zurück und widmet sich fortan ausschließlich der Musik. Wohl um dieses Scheitern des göttlichen Sängers abzumildern bzw. ungeschehen zu machen, gab es in der Operngeschichte immer wieder Versuche, hier korrigierend einzugreifen und den tragischen Ausgang in einen glücklichen zu wenden. Diese Mythoskorrektur beginnt bereits bei den ersten beiden Opern von Peri und Caccini und setzt sich – wie wir sehen werden – auch bei Gluck fort. Doch es gibt auch die gegenteiligen Bemühungen: Wagner hat ein Jahrhundert später in Glucks Orpheus-Partitur eingegriffen und den glücklichen Ausgang wieder in einen tragischen umkomponiert. Andere Dirigenten haben den glücklichen Ausgang in Glucks »Orfeo« einfach gestrichen und an seine Stelle den Trauerchor aus dem ersten Akt wiederholt, so wie es auch Pina Bausch bei ihrer Version mit dem Wuppertaler Tanztheater praktiziert hat. Warum gibt es dieses Hin und Her bezüglich der Frage, welches nun der richtige Schluss für diese Oper ist? Offenbar ist der tragische Ausgang für einige Librettisten und Komponisten nicht aushaltbar. Warum? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, fällt nicht leicht. Vielleicht ist ein Verstehen dieses Phänomens erst dann möglich, wenn man sich mit einer Eigenart der griechischen Mythologie vertraut macht, auf die bereits der Altertumsforscher Creuzer Goethe bei einem Spaziergang im Heidelberger Schlosspark aufmerksam gemacht hat, nämlich auf den Doppelsinn des mythologischen Geschehens. So hatte Creuzer Goethe nahegebracht, »dass jede helle- W Einleitung X 11 nische Gestalt doppelt anzusehen sei, weil hinter der bloßen Realität ein höheres Symbol verborgen liege... Dieser Doppelsinn sei allen antiken Mythen immanent, wenngleich nicht immer leicht herauszufinden«[zit. nach Schmidt/Scholl (Hg.) 1994]. Hundert Jahre später wird Sigmund Freud diesen Doppelsinn für den Ödipusmythos offen legen. Verbirgt sich im Orpheus-Mythos auch ein Doppelsinn? Von einem großen und bedeutenden Werk der Operngeschichte kann man erwarten, dass es einen mythologischen Text nicht nur von seinen Handlungsoberfläche her begreift und interpretiert, sondern auch zu einem Übermittler des von Creuzer angesprochenen »Doppelsinns« wird. Glucks »Orpheus und Eurydike« ist solch ein großes und geniales Werk, das speziell durch seine Musik auch eine zweite, untere Sinnebene mit einbezieht und vor dem Zuhörer ausbreitet, die jedoch – auch hier müssen wir Creuzer zustimmen – »nicht immer leicht herauszufinden« ist. Unser psychoästhetisch geschultes Ohr muss uns dabei behilflich sein, diese Tiefenebene in Glucks Musik zu erhaschen. Dabei werden wir zweierlei Erfahrungen machen: Wir werden erstaunt sein über die tiefe psychologische Wahrheit, die Glucks Musik diesem Mythos entlockt. Aber wir werden mitunter auch verwundert sein, über die Deutung, die der Orpheus-Mythos durch Glucks Musik erfährt. Da jede Deutung immer eine subjektive Deutung ist, liegt es in der Natur der Sache, dass sie möglicherweise genauso viel über den Mythos wie über den Deuter auszusagt. Diesen Rest an Uneindeutigkeit müssen wir auf uns nehmen und aushalten, wenn wir uns im Folgenden dem doppelten Sinn dieser Oper annähern wollen. Doch wie der mythologische Text den Komponisten in seinen unbewussten Sinn hineinzieht, so wird er auch uns unausweichlich in das unbewusste Drama 12 W Orpheus und Eurydike X hineinziehen, wobei dem Hörer keine Eingewöhnungszeit vergönnt ist, sondern der vermutete Doppelsinn ihm bereits in der Ouvertüre unvermittelt entgegenspringt. Abb. 1: Anfangstakte der Ouvertüre zu Glucks »Orpheus und Eurydike« 1. Ouvertüre: Scheinbare Unbeschwertheit Die Ouvertüre wirkt durch ihren unbekümmert musikantischen Schwung angenehm und irritierend zugleich. Diese Widersprüchlichkeit im Erleben spiegelt sich auch in der Beurteilung dieser Musik in der musikwissenschaftlichen Literatur wider, die schwerlich auf einen Nenner zu bringen ist. So lesen wir bei Amalie Abert im Vorwort der Gluck-Gesamtausgabe: »Auch die Ouvertüre bewegt sich mit ihrem unverbindlichen festlichen Charakter noch ganz auf dem Boden der Tradition. Ihre Handlung ist so neutral, dass man sie nach gutem alten Seria-Brauch noch 1813 bei einer Aufführung der Oper im Mailänder Konservatorium durch eine andere, die Ouvertüre zu Iphigenie en Aulide ersetzen konnte, ohne dass es störend gewirkt hätte« (Abert 1963, S. VIII). Ähnlich urteilt von Waltershausen: »Von einem auf die Handlung hinweisenden Stimmungsgehalt kann hier nicht die Rede sein...Thematische Zusammenhänge mit den übrigen Teilen der Partitur sind nicht vorhanden, ebenso fehlt die Überleitung in die erste Szene« (v. Waltershausen 1923, S. 105). Bei einer von mir besuchten Aufführung von »Orpheus und Eurydike« im Staatstheater Kassel wurden während der Ouvertüre von 14 W Orpheus und Eurydike X Handwerkern noch letzte Korrekturen am Bühnenbild vorgenommen. Offenbar wollte man damit zum Ausdruck bringen, dass diese Musik noch kein eigenes Thema enthält, sondern nur eine unspezifische Überleitung zum eigentlichen Beginn der Oper darstellt. Stimmt diese Anschauung, dass es sich bei dieser Ouvertüre um ein beliebiges, austauschbares Musikstück handelt? Es sprechen einige Tatsachen dagegen. Gluck selbst spricht wenige Jahre später im Vorwort zu »Alceste« davon, dass die Ouvertüre im Zusammenhang mit der nachstehenden Handlung stehen solle: »Ich bin der Meinung, dass die Ouvertüre den Zuhörer auf den Charakter der Handlung, die man darzustellen gedenkt, vorbereiten und ihm den Inhalt derselben andeuten solle« (Gluck, zit. n. Schmid 1854, S. 135). Wenn die Ouvertüre also auf die nachfolgende Handlung hinweist, welche Szenen oder Themen sind dann gemeint? Bei Moser lesen wir: »Es gibt nur eine Möglichkeit der Deutung. Sie meint die in allen anderen Orpheus-Opern ausführlich behandelte Hochzeit zwischen Orpheus und Eurydike, die nur im Obenhin fröhlich verläuft, während hinter dem lauten Prunk schon das Verhängnis lauert, die heimliche Vorahnung des die Braut tötenden Schlangenbisses« (Moser 1940, S. 159). Ähnlich sieht es Tenschert (1951): Ausgehend von dem Kontrast der Tonart C-Dur der Ouvertüre zum c-moll der ersten Szene vermutet er, dass Gluck auf den Inhalt der Oper, nämlich auf die Hochzeit von Orpheus und Eurydike und deren anschließenden plötzlichen Tod, anspielt. Renate Ulm versucht in einer neueren Arbeit diese Frage durch W Ouvertüre: Scheinbare Unbeschwertheit X 15 eine Untersuchung des musikalischen Materials zu klären. Sie spricht in ihrer Analyse der Ouvertüre allgemein von zwei kontrastierenden »Sphären oder Stimmungen«, die als »heitere Takte« und »düstere Takte« übergangslos nebeneinander stehen (Ulm 1991, S. 67). Dass diese Stimmungswechsel abrupt geschehen, sieht sie darin begründet, dass Gluck hier noch einmal auf den Stil des Hochbarock zurückgreift, wo Gefühlswandlungen nicht fließend und allmählich, sondern nur statisch und deutlich voneinander abgegrenzt dargestellt werden. Die Verwendung von 16tel Repetitionen als ein zentrales Charakteristikum der Ouvertüre fasst sie als ein Kompositionsmittel für Dramatik auf. Dieses dramatische Ur-Thema wird von Gluck vielfach variiert und gegensätzlichen Stimmungen unterworfen. Sie kommt zu dem Ergebnis: »Die Ouvertüre – wie das Drama selbst – findet zu seinem Ausgangspunkt zurück. Sie ist keine heitere, konventionelle Opernsinfonia, sondern bereitet mit ihren düsteren Einschüben auf das Drama vor. Sie entspricht also Glucks Forderungen im Alceste-Vorwort: Die Ouvertüre solle das Drama zusammenfassen« (Ulm 1991, S. 81f.). Aber wie heißt das Drama, das hier zusammengefasst wird? Sowohl Moser als auch Ulm verweisen auf eine gewisse Doppelbödigkeit dieser Ouvertüre. Es gibt eine untere Ebene mit einer »düsteren Stimmung« (Ulm), auf der »das Verhängnis lauert« (Moser) und andererseits eine Ebene »heiterer Takte« (Ulm) mit einem »unbeschwert konventionellen Ton« (Einstein 1954, S. 107) und einer »Musik des lauten Prunks« (Moser), die diese untere Ebene überdeckt und 16 W Orpheus und Eurydike X zudeckt. Ulm erwähnt die 16tel Repetitionen als ein Charakteristikum für Dramatik. Ähnlichen 16tel Repetitionen werden wir in der Arie der Eurydike »Che fiero momento« wiederbegegnen, wo sie Ausdruck von Zorn sind. Will die Ouvertüre zum Ausdruck bringen, dass es der Zorn ist, der mittels einer scheinbaren Unbeschwertheit verborgen gehalten werden soll? Hin und wieder sind in der Ouvertüre auch weiche, traurige Töne zu hören. Diese melden sich allerdings nur kurz zu Wort und werden jeweils durch recht gewalttätige Sforzato-Schläge zum Verstummen gebracht. Die Ouvertüre hat ohne Zweifel einen gewissen musikantischen Schwung und ist deshalb angenehm anzuhören. Doch erscheint den meisten Gluck-Biographen diese Heiterkeit und Unbeschwertheit nicht ganz so eindeutig und einhellig, sondern eher etwas fragwürdig und zwielichtig. Deshalb belegen sie diese Heiterkeit mit einschränkenden Zusätzen, wie »konventionell«, »neutral« oder »unverbindlich«. Moser gebraucht ein kräftigeres Bild und spricht vom »lauten Prunk«, der »nur im Obenhin fröhlich verläuft«. Und in der Tat hat der von den Bässen und Blechbläsern vorgetragene Grundrhythmus etwas Starres und Hartes, das einige Male recht massiv auf die feineren Regungen nieder poltert und sie übertönt und zudeckt. Welches Drama erhält also in der Ouvertüre einen musikalischen Ausdruck? Es scheint, allgemein formuliert, darum zu gehen, Gefühle von Trauer einerseits und Gefühle von Zorn andererseits mit Hilfe einer scheinbaren Unbeschwertheit zu überdecken und abzuwehren. Um welchen emotionalen Konflikt es sich dabei handelt, der hier sowohl angedeutet als auch verborgen gehalten wird, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ob diese Ouvertüre ein sinnträchtiges