6 Überraschungen in der MRT

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Überraschungen in der MRT
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir versucht, MR-Befunde bei der klassischen Multiplen Sklerose, bei Varianten der
Multiplen Sklerose und MRT-Befunde, die Verwirrung stiften
können, darzustellen.
Die MRT kann bei der klinischen Verdachtsdiagnose Multiple Sklerose jedoch auch völlig andere Diagnosen überraschend
ans Tageslicht bringen. Ein paar dieser klinisch und manchmal
auch radiologisch kniffligen Fälle wollen wir im letzten Kapitel
bildlich illustrieren und einige Charakteristika der Krankheitsbilder aufführen. Genau diese Differentialdiagnosen sind übrigens der Grund dafür, warum bei der klinischen Verdachtsdiagnose MS eigentlich immer eine MRT-Untersuchung gemacht
werden sollte.
6.1
Multiple Kavernome
Zu Beginn meiner neuroradiologischen Ausbildung Mitte
der 80er Jahre wurde die MRT ganz langsam in die klinische
Routine eingeführt. Eine der ersten Überraschungen waren
Patienten mit Kavernomen und noch mehr solche mit multiplen Kavernomen. Wenn diese Kavernome dann auch noch
im Hirnstamm und im Rückenmark lagen, war die klassische
Fehldiagnose Multiple Sklerose.
Kavernome sind sog. Low-Flow-Gefäßmalformationen, die
heute per MRT diagnostiziert werden. Der Low-Flow-Charakter ist auch der Grund, warum Kavernome selten katastrophal
bluten und oftmals nur durch Sickerblutungen neurologische
Symptome hervorrufen. Grundsätzlich wird das Blutungsrisiko mit ungefähr 0,7 % pro Jahr und pro Läsion eingestuft.
Andere Symptome, mit denen sich Kavernome präsentieren,
können epileptische Anfälle sein, in seltenen Fällen auch
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Kopfschmerzen. Letztere sind wahrscheinlich nur dann in
ursächlichem Zusammenhang mit den Kavernomen zu sehen,
wenn die Kavernome sehr oberflächennah lokalisiert sind und
es rezidivierende kleine Sickerblutungen in den Subarachnoidalraum gibt.
Multiple Kavernome können nach Ort und Zeit disseminierte
klinische Probleme bereiten, weil sie jeweils asynchron bluten
können und sich dann – je nach Lokalisation – mit supratento-
a
Abbildung 6.1a, b
CT eines Hirnstammkavernoms. Die
CT-Aufnahmen sind
oft wenig spezifisch
und zeigen lediglich
die Verkalkung an.
Die sagittale T1gewichtete MRT (b)
zeigt deutlich das
Kavernom und die
dorsal davon gelegene Blutung.
b
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c
d
e
Abbildung 6.1c–e Typisches Kavernom im T2-Bild mit popcornartigem
Signal im Zentrum und dem typischen Hämosiderinring. Das korrespondierende T1-Bild bestätigt die Diagnose, zeigt den Hämosiderinring aber etwas weniger deutlich (d). Die Gradientenechobilder (e)
zeigen multiple größere und kleinere Kavernome bei einer familiären
Kavernomatose.
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f
Abbildung 6.1f Axiale und koronare Darstellung eines frontobasalen
Kavernoms, das etwas atypisch kein popcornartiges zentrales Muster
hat, sondern eine fast homogene Signalauslöschung durch das Hämosiderin zeigt.
riellen, infratentoriellen oder spinalen Symptomen bemerkbar
machen. Multiple Kavernome kommen in bis zu 90 % der familiären Fälle vor und immerhin bei etwa einem Viertel der
sog. sporadischen Fälle. Die Inzidenz der familiären Formen
scheint besonders hoch zu sein bei Patienten aus Südeuropa,
speziell aus Spanien. Kavernom-Gene wurden gefunden auf
den Chromosomen 7q, 7p und 3q.
Man kann sich also leicht vorstellen, dass multiple Kavernome klinisch durchaus den Eindruck einer Multiplen Sklerose
hinterlassen können. Die MRT-Untersuchung bringt bei diesen
Patienten jedoch erfreulicherweise sofortige Klarheit.
Typischerweise zeigen Kavernome ein sog. Popcornmuster
mit einem gut abgegrenzten retikulären Kern mit gemischtem
Signal und einer signalarmen Randzone (Abb. 6.1). Letztere
wird repräsentiert durch zahlreiche hämosiderinbeladene
Makrophagen, die letztendlich auch die Auslöser für epileptische Anfälle als Symptom sein können. Das Zentrum des
Kavernoms und damit das popcornartige Muster werden
bestimmt durch Hohlräume mit unterschiedlichen Blutflussgeschwindigkeiten und/oder unterschiedlich thrombosierten
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Anteilen. Am besten sind Kavernome auf T2*-gewichteten
Bildern sichtbar. Diese sind zwingend zu erstellen, wenn man
nur ein einziges Kavernom sieht, da nur die T2*-gewichteten
Bilder genügend sensitiv sind, um multiple Kavernome sicher
auszuschließen. Spinal sind Kavernome wahrscheinlich sehr
selten. Man muss jedoch einschränken, dass gerade die T2-gewichteten spinalen Bilder häufig viel zu wenig suszeptibilitätsempfindlich sind – ansonsten gäbe es auch zu starke Artefakte
durch die anliegenden Knochen – und somit möglicherweise
bei einer unklaren spinalen Symptomatik auf den klassischen
T2-Bildern das eine oder andere Kavernom dem Nachweis
entgehen kann.
Quintessenz: Auch wenn klinisch örtliche und zeitliche Dissemination der neurologischen Symptome gesichert sind: Es
können auch multiple Kavernome dahinter stecken. Es wurde
ja schon mehrfach betont, dass die MRT allein auf keinen Fall
zur Diagnose Multiple Sklerose führen sollte. Die Kavernome
sind ein gutes Beispiel dafür, dass auch ein vermeintlich typischer klinischer Befund mit örtlicher und zeitlicher Dissemination der neurologischen Ausfälle nicht immer eine Multiple
Sklerose sein muss.
6.2
Spinale Meningeome
Böse Zungen behaupten, die Diagnose „MS“ stehe gar nicht so
selten für „Meningeoma spinale“. Dank der hervorragenden
spinalen Diagnostik durch die MR-Tomographie ist der Wahrheitsgehalt dieser ketzerischen Äußerungen heute sicher viel
geringer als beispielsweise noch vor 20 Jahren. Trotzdem wird
gelegentlich auch heute noch die Bildgebung bei klinischer
Verdachtsdiagnose einer spinalen Multiplen Sklerose ein spinales Meningeom zutage fördern.
Das Meningeom ist der häufigste Tumor der harten Hirnhäute, Hämangioperizytome und Hämangioblastome sind
deutlich seltener. Die Entstehung der Menigeome ist nach
wie vor nicht vollständig geklärt, das Chromosom 22 scheint
eine Rolle zu spielen, genauso wie eine Induktionsmöglichkeit
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durch weibliche Sexualhormone. Meningeome sind positiv
korreliert mit Mammakarzinomen und vergrößern sich häufig
während der Schwangerschaft. Ein anderer, pathogenetisch
wichtiger Faktor scheint eine vorangegangene Strahlentherapie zu sein. Neunzig Prozent der Meningeome entwickeln
sich supratentoriell, sehr selten (1–2 %) gibt es anaplastische
bzw. maligne Meningeome. Am häufigsten treten die Tumoren zwischen dem vierzigsten und dem sechzigsten Lebensjahr auf, Frauen sind zwei- bis viermal häufiger betroffen als
Männer. Spinal sind Meningeome nach den Neurinomen die
zweithäufigsten Tumoren und machen etwa 25 % aller spinalen Tumoren aus. Das Verhältnis spinaler zu intrakranieller
Meningeome ist etwa mit 1:8 anzusehen, 80 % der spinalen
Meningeome treten bei Frauen auf. Multiple spinale Meningeome sind hingegen selten. Die überwiegende Mehrzahl (etwa
90 %) der spinalen Meningeome sind intradural lokalisiert,
meistens lateral des Rückenmarks. Am häufigsten kommen
die spinalen Meningeome thorakal vor (80 %), der Rest entwickelt sich zervikal. Lumbale Meningeome scheinen eine extreme Rarität zu sein. Die spinalen Meningeome verhalten sich in
der Bildgebung genauso wie die kranialen. Da sie extraaxiale
Tumoren sind, nehmen sie in der Regel kräftig Kontrastmittel
auf und zeigen im Gegensatz zu den Schwannomen deutlich
seltener regressive Veränderungen mit Zysten und/oder Nekrosen (Abb. 6.2).
Klassischerweise wird das sog. „Dural-tail“-Zeichen beobachtet, das ist eine Anreicherung der angrenzenden Dura
über die eigentliche Tumorbegrenzung hinaus. Histologisch
stecken hinter diesem „dural tail“ jedoch eindeutig Tumorzellen, die die Dura dann über das eigentliche Tumorkerngebiet
hinaus bereits infiltriert haben.
Selten können auch spinale Meningeome so ausgeprägt
verkalkt sein, dass sie in der MRT in allen Sequenzen ein sehr
dunkles Signal aufweisen und kaum Kontrastmittel aufnehmen. Die klinischen Symptome hängen natürlich vom Ort und
von der Wachstumsrichtung des Tumors ab, entwickeln sich
jedoch aufgrund des langsamen Wachstums der Meningeome
eher schleichend und nicht akut. Klinisch ist somit eine dif92
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Abbildung 6.2a, b Sagittales KM-Bild beim spinalen Meningeom. Auf
dem axialen Bild (b) wird
deutlich, dass der Tumor
bereits den größten Teil
des Querschnitts des
Spinalkanals eingenommen hat.
a
b
c
d
Abbildung 6.2c T2-Bild eines
Abbildung 6.2d Das Bild zeigt
deutlich verkalkten Meningeoms, die Kontrastmittelaufnahme des
das daher auch im T2-Bild ein
Tumors.
relativ niedriges Signal hat.
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ferentialdiagnostische Abgrenzung vor allem gegenüber der
chronisch-progredienten Verlaufsform der Multiplen Sklerose
zu treffen.
6.3
Ischämie plus MS
Eine kausale Koinzidenz von Multipler Sklerose und einem
ischämischen Hirninfarkt gibt es nicht. Die MS begünstigt keinen der klassischen Hirninfarkt-Risikofaktoren. Andererseits
schützt die MS natürlich auch nicht vor einem ischämischen
Hirninfarkt und da es sich sowohl bei der MS als auch bei der
zerebralen Ischämie um häufige Krankheitsbilder handelt, ist
eine zufällige Koinzidenz von beidem vor allem im etwas höheren Lebensalter natürlich nicht unwahrscheinlich und dann
kann es klinisch zumindest mal zu Verwirrungen kommen. Da
das Schädigungsmuster bei der MS und bei der Ischämie aber
grundverschieden ist, sollte die MRT in jedem Fall Klarheit
bringen (Abb. 6.3).
6.4
Optikustumoren
Optikustumoren können leicht zu einer einseitigen Erblindung führen und je nach Akuität des klinischen Ereignisses
unter Umständen auch mit einer Neuritis nervi optici verwechselt werden. Meningeome der Optikusscheide sind selten
und kommen am häufigsten bei Frauen im mittleren Lebensalter vor. Sie entstehen an den Arachnoidalzellen der Optikusscheide und wachsen entlang des Subarachnoidalraumes des
Nervus opticus. Klinisch präsentieren sie sich in der Regel mit
einem Visusverlust, einem Papillenödem oder im späteren Stadium einer Papillenatrophie. Ein assoziierter Exophthalmus
ist eher selten und dann oft auch weniger prominent als bei
Optikusgliomen. Wie auch an anderen Stellen innerhalb des
Schädels kann es an den angrenzenden Knochen zu einer Hyperostose kommen. Die bildgebende Differentialdiagnose zum
Optikusgliom ist relativ leicht, wenn man das sog. „Amtrack“94
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a
Abbildung 6.3a Spinales T2-Bild mit
einer langstreckigen Signalanhebung.
c
Abbildung 6.3c Unauffälliger
MR-Befund auf Höhe der
Stammganglien.
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b
Abbildung 6.3b Subkortikale
Signalanhebung im FLAIR-Bild.
Die Veränderungen in (a) und
(b) sind völlig atypisch für eine
vaskuläre Genese und passen
am besten zu einer MS.
d
Abbildung 6.3d Typischer
Stammganglieninfarkt, der ca.
4 Monate nach der MS-Erstsymptomatik (und nach Anfertigung der MRT-Aufnahme
unter c) auftrat. Die Genese
der Ischämie blieb unklar.
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Zeichen beachtet, dass die Signalunterschiede zwischen dem
Optikus selbst und dem perineuralen Tumor auf kontrastangehobenen und nicht kontrastangehobenen Bildern beschreibt
(Abb. 6.4). Manchmal ist es jedoch schwierig, eine Perineuritis
von einem kleinen Meningeom zu unterscheiden, insbesondere dann, wenn die Nervenscheide erheblich geschwollen
ist und es durch die Entzündung auch zu einem meningealen
Enhancement kommt. Hat ein Patient also einen unilateralen
Visusverlust und keine MS-Plaques – bei der klinischen Verdachtsdiagnose MS – ist eine dünnschichtige und Mehrebenendarstellung des N. opticus zwingend notwendig. Auch auf
die Kontrastmittelgabe darf nicht verzichtet werden. Andersherum: Sieht man bei diesem klinischen Symptom klassische
MS-Veränderungen, zum Beispiel im Balken, ist eine dünnschichtige Darstellung des N. opticus nicht unbedingt nötig.
Den Demyelinisierungsherd im N. opticus wird man ohnehin
nicht immer nachweisen können. Die Diagnose MS ist mit den
Veränderungen im Balken hinreichend sicher.
Abbildung 6.4a Axiales T2-Bild
beim Optikusmeningeom
links. Auffällig ist lediglich
ein verdickter Nervus opticus,
ohne dass auf dem T2-Bild eine
nähere Differentialdiagnose
möglich wäre.
a
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b
c
Abbildung 6.4b, c Axiale und sagittale T1-Aufnahmen nach KM-Gabe.
d
e
Abbildung 6.4d, e Optikusneuritis: Auf beiden
Abbildungen ist die
e
liquorgefüllte Optikusscheide auf der linken Seite infolge der Schwellung des Nervus opticus nicht erkennbar. Rechts ist die Optikusscheide
sowohl axial als auch koronar gut erkennbar.
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6.5
Primäre Lateralsklerose
Die primäre Lateralsklerose (PLS) ist eine degenerative Motoneuronerkrankung, die in den Formenkreis der amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) gehört. Im Unterschied zur ALS ist bei
der PLS ausschließlich das erste motorische Neuron betroffen,
Symptome des Ausfalls des zweiten motorischen Neurons
wie bei der ALS fehlen. Verglichen mit der ALS hat die PLS
a
c
b
d
Abbildung 6.5a–d Primäre Lateralsklerose mit Degeneration der Pyramidenbahnen. (a) Im axialen T2-Bild fallen die symmetrischen Signalanhebungen biparietal auf. (b) Das koronare FLAIR-Bild zeigt in dieser
Schnittebene ebenfalls „nur“ symmetrische Demyelinisierungsherde.
Parallel zur Pyramidenbahn wird allerdings deutlich, dass es sich um eine
Systemerkrankung handeln muss (c), bei der auch transkallosale Fasern
betroffen sind (d).
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einen vergleichsweise langsamen Verlauf. Die Kombination
von gesteigerten Reflexen, pathologischen Reflexen, bulbärer
Symptomatik mit im Vordergrund stehender Dysarthrie und
chronisch progredienter Gangstörung kann klinisch jedoch
zunächst leicht auf die Fährte einer Multiplen Sklerose führen.
Hilfreich ist auch in diesem Fall die kraniale Bildgebung, die
bei der MS eben die typischen Veränderungen aufweist und
bei der PLS gar nicht so selten eine isolierte Degeneration der
Pyramidenbahn auf den FLAIR- bzw. den T2-gewichteten
Bildern zeigt (Abb. 6.5). Das MRT-Bild allein ist zwar nicht
beweisend, jedoch in letzter Zeit zunehmend ein wichtiger
Mosaikstein in der Diagnostik dieser an sich relativ seltenen
Erkrankung geworden. Die klassische primäre Lateralsklerose
geht einher mit einer isolierten progredienten Degeneration
der Pyramidenbahn ohne Sensibilitätsstörungen und ohne
zerebelläre oder kognitive Beeinträchtigung. Es ist allerdings
nicht so selten, dass Patienten mit einer initialen primären Lateralsklerose bei längerem Verlauf über 8 oder 10 Jahre auch
zunehmend Symptome des Ausfalls des zweiten motorischen
Neurons aufweisen und das Krankheitsbild somit in eine amyotrophe Lateralsklerose übergeht.
6.6
Müdigkeit/chronisches
Fatigue-Syndrom
Chronische Müdigkeit und erhöhte Ermüdbarkeit sind häufige
Symptome bei einer Multiplen Sklerose. Sie können durchaus
bei manchen MS-Patienten die am stärksten im Alltag behindernden Symptome sein, ungewohnt starke Müdigkeit kann
auch als klinisches Erstsymptom einer sich im weiteren Verlauf verifizierenden Multiplen Sklerose auftreten. Es scheint
sich dabei im Wesentlichen um ein Phänomen organischer
Genese zu handeln, für das multiple Faktoren verantwortlich
sind. Zum einen haben MS-Patienten häufig aufgrund von
z. B. Schmerzen, Spastizität und Nykturie eine gestörte Schlafstruktur, zum anderen spielen auch immunologische Faktoren
sowie die aufgrund der MS verordneten Medikamente eine
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Rolle. Diese chronische Müdigkeit und Abgeschlagenheit im
Rahmen der MS ist von einer z. B. depressionsbedingten Antriebslosigkeit zu unterscheiden. Sie darf auch nicht Anlass
für falsche Vorwürfe in der Form sein, dass ein MS-Patient
sich nur mehr anstrengen solle und die Müdigkeit dann schon
überwinden könne.
Trotzdem kann es im Einzelfall schwierig sein, diese organisch bedingte erhöhte Ermüdbarkeit vom sogenannten chronischen Fatigue-Syndrom zu unterscheiden. Unter letzterem
wird im Allgemeinen ein chronisches Erschöpfungssyndrom
nach Ausschluss einer organischen Diagnose verstanden und
es ist in seiner wirklichen Existenz durchaus nicht unumstritten. Das chronische Fatigue-Syndrom macht immerhin 9–26 %
aller Erschöpfungsdiagnosen aus und ersetzt heute den früheren Begriff der Neurasthenie. Es wird offenbar häufiger bei
Frauen als bei Männern diagnostiziert. Unter dem Syndrom
wird allgemein verstanden, dass es zu einer kompletten Erschöpfung der physischen und mentalen Fähigkeiten kommt,
die insbesondere einen hohen Grad an Selbstmotivation und
interner Disziplin verlangen. Die Patienten klagen in der Regel
über erhebliche Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörungen, Schlafstörungen und Muskelschmerzen. Die Diagnose
eines chronischen Fatigue-Syndroms kann nur gestellt werden, nachdem andere medizinische und psychiatrische Ursachen der chronischen Erschöpfung ausgeschlossen worden
sind. Da es immer wieder Berichte über Läsionen der weißen
Substanz bei dieser Erkrankung gab, kann es im klinischen
Alltag je nach Schwerpunkt der Klinik durchaus Diskussionen
geben, ob bei diesen Patienten nicht in Einzelfällen doch eine
Multiple Sklerose vorliegt. Zusammenfassend ist die Datenlage so, dass keine der Arbeiten zur MRT beim chronischen
Fatigue-Syndrom irgendein spezifisches Schädigungsmuster
gefunden hat. Vielmehr scheint es so zu sein, dass es innerhalb
dieser Gruppe Patienten mit einem völlig normalen MRT-Bild
und natürlich auch solche mit einer relativ großen Bandbreite
an Veränderungen der weißen Substanz gibt. In Einzelfällen
ist dieses Muster einer Multiplen Sklerose sehr ähnlich und
dann sollte auch überlegt werden, ob der chronische Erschöp100
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fungszustand nicht vielleicht sogar Ausdruck einer Multiplen
Sklerose ist.
Natürlich gibt es noch eine Fülle anderer Fallstricke für
den Kliniker in der korrekten Einordnung klinischer Symptome, die bei einer Multiplen Sklerose, aber auch bei anderen
Erkrankungen auftreten können, und in der Deutung der verschiedenen MRT-Veränderungen. Es würde den Rahmen und
auch die Intention dieses kleinen Buches sprengen, wenn wir
an dieser Stelle weiter ins Detail gingen und jede im weitesten
Sinne in Frage kommende Differentialdiagnose diskutierten.
Wir hoffen aber, durch die Demonstration der häufigeren
Differentialdiagnosen und Problemstellungen das neuroradiologisch-neurologische Interesse für die korrekte Interpretation
verschiedener klinischer und kernspintomographischer Befunde geweckt zu haben.
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