Geistige Behinderung Alexander von Gontard Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes Homburg/Saar Definition nach ICD-10 • ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten • besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten • Eine Intelligenzminderung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten Klassifikation der geistigen Behinderung nach ICD-10 allgemein ICD-10 Leichte leichte Intelligenzminderung Schwere mittelgradige Intelligenzminderung schwere Intelligenzminderung schwerste Intelligenzminderung IQ Anteil F 70 50-69 80 % F 71 35-49 12 % F 72 20-34 7% F 73 < 20 <1 % Prävalenz Schwere geistige Behinderung (IQ < 50): 0,43% Leichte geistige Behinderung (IQ 50-70): 3,0% Gesamt: 3,43% Zwei-Gruppen-Vergleich: leichte und schwere geistige Behinderung • Leichte geistige Behinderung (IQ 50-70): • ähnliche psychische Störungen wie bei Kindern ohne geistige Behinderung • Prävalenz erhöht: 30-50% • Schwere geistige Behinderung (IQ < 50): • tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Autismus, Hyperaktivität, Stereotypien und Automutilation • Prävalenz deutlich erhöht: 40-65% Zwei-Gruppen-Vergleich: leichte und schwere geistige Behinderung • • • • • Leichte geistige Behinderung (IQ 50-70): linkes Ende der IQ-Normalverteilung polygener-multifaktorieller Erbgang Einfluss von familiär-kulturellen Umweltfaktoren Geschwister und andere Verwandte ersten Grades häufig ebenfalls geistig behindert • Schwere geistige Behinderung (IQ < 50): • organische Ursache nachweisbar • IQ Verteilung nach einer zweiten Kurve mit einem Gipfel um einen IQ von 30 • Geschwister und andere Verwandte durchschnittlich intelligent Zwei-Gruppen-Vergleich: leichte und schwere geistige Behinderung Ätiologie der geistigen Behinderung • Unbekannte Ursachen • Epidemiologie: Hagberg, 1981 • leichte geistige Behinderung: 55% • schwere geistige Behinderung: 18% • Epidemiologie: Stromme und Hagberg, 2000 • leichte geistige Behinderung: 32% • schwere geistige Behinderung: 4% Diagnostische Schritte Empfehlungen der American Academy of Pediatrics: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Klinische Anamnese Familienanamnese (mit Stammbaum) Dysmorphologische Untersuchung Neurologische Untersuchung Chromosomenanalyse FISH: subtelomerische Anomalien Moleklargenetik: Fragiles-X Syndrom Molekulargenetik: andere Syndrome Bildgebung (MRI) Stoffwechseluntersuchungen Moeschler 2006 Diagnostik: Ätiologische Zuordnung • 178 Probanden aus einer Bevölkerung von 30037 Kindern; mehrere diagnostische Schritte: • 26 durch Familienanamnese, Stammbaumanalyse, Erfassung von Substanzmissbrauch während der Schwangerschaft • 71 durch exakte klinische Untersuchung und Erfassung der Dysmorphiezeichen • 31 durch Chromosomenanalysen, FISH-, metabolische Untersuchungen und bildgebende Verfahren • bei 15% (27) der Patienten Revision der Diagnosen • Stromme und Magnus, 2000 Ätiologie der geistigen Behinderung Stromme und Hagberg , 2000 Ätiologie Biologischorganisch schwere 96% leichte 68% Pränatal Perinatal Postnatal Undeterminiert Unbekannt 70% 4% 5% 18% 4% 51% 5% 1% 11% 32% Genetik der geistigen Behinderung: Wiederholungsrisiken Ätiologie exogene Störungen autosomal rezessiv autosomal dominant X-chromosomal rezessiv Wiederholungsrisiko (bei max. Penetranz) 0% 25% 50% 50% der Söhne von Überträgerinnen polygen-multifaktoriell leichte idiopathische geistige Behinderung 3,2-5,4%, schwere idiopathische geistige Behinderung 3,6-5,2% Verhaltensphänotyp Verhaltensphänotyp • Charakteristisches Muster von motorischen, kognitiven, sprachlichen und sozialen Auffälligkeiten • psychiatrische Störungen, aber auch subklinische Symptome • Assoziation mit einer biologisch begründeten Störung • Flint und Yule (1994) Verhaltensphänotyp • Phänomischer Zugang: • Beobachtung des Verhaltensphänotyps • Identifikation der biologischen Grundstörung • heterogene, nicht eng definierte diagnostische Gruppen • Beispiele: Rett Syndrom, Frühkindlicher Autismus Verhaltensphänotyp • Genomischer Zugang: • diskrete, identifizierbare Syndrome • Identifikation des Verhaltensphänotyps • genetische und Umweltfaktoren können differenziert werden • Beispiele: Down Syndrom, Fragiles-XSyndrom Vier Syndrome – vier Verhaltensphänotypien • Prader-Willi Syndrom 1:10000-1:24000 • Fetales Alkohol Syndrom 1:700 • Tuberöse Hirnsklerose 1:10000 • Fragiles-X Syndrom 1:4000 Prader-Willi-Syndrom • Prävalenz: 1:10000 – 1: 24000 • • • • Genetik: 70% Deletion 15q11-13 (väterlich) 29% zwei mütterliche Chromosomen 15 1% veränderte Methylierung, keine Gen-Expression • Körperliche Symptome: • Kleinwuchs, Hypogonadismus, Hypotonie, kleine Hände und Füße, Adipositas, Skoliose, • Dysmorphiezeichen: schmale Stirn, mandelförmige Augen, schräge Lidachsen, meist offener Mund Prader-Willi-Syndrom • Kognition: • 5% IQ>85, 27% IQ 70-85, 34% leichte, 5% schwere, 1% schwerste geistige Behinderung • Verhalten: • NG: Fütter- und Schluckstörung, Hypotonie • Später: Gesteigertes Essverhalten, Adipositas Prader-Willi-Syndrom • • • • • Verhalten: Wutausbrüche Selbstverletzung Repetitives Verhalten Affektive Störungen Fetales Alkoholsyndrom • Erstbeschreibung: 1968 • Häufigste teratogene Störung: 1:700 (1:2500-1:100) • Ursache: mütterlicher Alkoholkonsum während der SS (andere teratogene Faktoren, genetisch bedingte fetale Empfindlichkeit?) Fetales Alkoholsyndrom • 1. 2. 3. Symptome: Minderwuchs, Mikrozephalie, Gewicht < 10.p ZNS-Beteiligung Gesichtsdysmorphie • • • • Klassifikation: 3 Symptome: FAS 2 Symptome: FAE Neuer Begriff: Fetal alcohol spectrum disorder (FASD) Fetales Alkoholsyndrom • • • Körperliche Zeichen: Minderwuchs, Mikrozephalie, Muskelhypotonie, Hyperexzitabilität Epikanthus, Ptosis, antimongoloide Lidachsen, kleine Lidöffnung, verkürzter Nasenrücken, flaches Gesicht, schmales Lippenrot, verstrichenes, verlängertes Philtrum, Mandibulahypoplasie, hoher Gaumen, BradyKlinodaktylie V, Trichterbrust, Herzfehler, Genital- und Urogenitalfehlbildungen, Hüftluxation Fetales Alkoholsyndrom • • • • • • Verhalten: NG: Trinkschwäche, Gedeihstörungen, Störung des Schlaf-Wach-Zyklus, Hyperexzitabilität, Unruhe KK: Impulsivität, Hyperaktivität, Distanzlosigkeit – freundlich, sozial orientiert Sprachentwicklungsstörungen, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen Visuo-motorische Koordinationsschwächen, Phobien, Ess-Störungen, depressive Symptome, Wutausbrüche, Stereotypien SK: IQ-Minderung (IQ 68), Sonderbeschulung Tuberöse Sklerose (TSC) • Prävalenz: 1:10000 (Expression: hohe Variabilität) • • • • • • • • Genetik: 2/3 spontane Neumutationen, 1/3 autosomal dominant Wiederholungsrisiko: 1-2% Mutation, 50% aut. Dominant Moleklargenetik: TSC 1: 9q34.3 TSC 2: 16p13.3 Genprodukt: Tuberin Tuberöse Sklerose (TSC) • Körperliche Symptome: • Weiße, depigmentierte Flecken (white spots) • Cerebrale Anfälle: 62% • CNS-Tumoren (Gliome) mit Verkalkungen • Haut: Adenoma Sebaceum, Angiofibrome • Finger-, Fußnägel: Fibrome • Tumore: Niere, Herz, Lunge Tuberöse Sklerose (TSC) • Kognition: • Geistige Behinderung: 50-60% • Bimodale Verteilung: • 1. Gruppe: schwere geistige Behinderung (2/3) • 2. Gruppe: normale IQ-Werte (1/3) Tuberöse Sklerose (TSC) • Verhaltensphänotyp: • Tiefgreifende Entwicklungsstörung insgesamt: 50-86% • Frühkindlicher Autismus: 50-60% • Bei Autismus: 0,4-3% TSC • Hyperaktivität: • ADHD: 43-52% Tuberöse Sklerose (TSC) • • • • • Verhaltensphänotyp: Expressive Sprachstörung Schlafstörungen Wutausbrüche, aggressives Verhalten Selten Angststörungen, Depression Tuberöse Sklerose (TSC) • Verhaltensphänotyp: • Abhängig von Zahl, Größe und Lokalisation der ZNS-Fibrome • Temporallappen • Zahl Autismus geistige Behinderung Epilepsie Fragiles-X Syndrom X Chromosom • Geistige Behinderung: 30% häufiger beim männlichen Geschlecht (Raymond 2006) • X linked mental retardation (XLMR): • Nicht-syndromische XLMR: 200 Formen • Syndromische XLMR: 70 Formen • Wichtigstes Syndrom: Fragiles-X Syndrom Fragiles-X-Syndrom (FXS) • Prävalenz: 1:4000 • zweithäufigste genetische Ursache der geistigen Behinderung Fragiles-X-Syndrom (FXS) • Erstbeschreibung 1943 (Martin & Bell) • Zytogenetik 1969 (Lubs) • Molekulargenetik 1991 (Verkerk) • Genexpression 2002 (Hagerman) Fragiles-X-Syndrom (FXS) • Zytogenetik fragile Stelle Xq27.3 • Molekulargenetik FMR-1 Gen CCG Triplet Repeats Deletionen Punktmutationen Methylierung • Genprodukt FMR-1 Protein Antizipation CGG Repeats normal 5-50 weibl. Überträgerin Prämutation 50-200 männl. Überträger weibliche Meiose weibl. Vollmutierte Vollmutation 200-2000 Methylierung männl.Vollmutierte Inhibition: Genexpression Mangel an FMR-1 Protein Phänotyp FMR-1 Protein • Hohe Expression im ZNS • Mangel: zellulären Überproliferation im Cerebellum, Cortex und Hippocampus • niedriger bei Jungen mit einer Vollmutation (12%) als bei vollmutierten Mädchen (51%) • korreliert mit IQ • im Blut nachweisbar Ausprägung des Phänotyps • • • • • FMR-1 Protein Spiegel Mosaik (Voll-/Prämutation) Quotient der X-Chromosom Inaktivierung Grad der Methylierung Umweltfaktoren (Dyer-Friedman, 2002) FXS: Vollmutation männlich Somatischer Phänotyp: erst ab spätem Kindes- bzw. Jugendalter •langes, schmales Gesicht, große Ohren, Macroorchidie (80%) •Überstreckbarkeit der Gelenke, Plattfüße, Muskelhypotonie, weiche Haut, hoher Gaumen, vorgewölbte Stirn, Makrozephalie, Myopie • Sinusitis, Otitis media, zerebrale Anfälle (20%), kardiale Probleme: Mitralklappenprolaps, Aortenbogendilatation •normale Lebenserwartung FXS: Vollmutation männlich Verhaltensphänotyp: •Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsprobleme, Wutanfälle, leichte Irritierbarkeit •15-17% formale Kriterien des frühkindlichen Autismus •autistische Verhaltensweisen: Blickvermeidung, Handflattern, soziale Ängstlichkeit, keine Empathiestörung •Expressive Sprachstörung: Echolalie, Perseveration, Selbstgespräche •Störung der Grob- und Feinmotorik • Behavioral Phenotypes in Four Mental Retardation Syndromes: Fetal Alcohol Syndrome, Prader-Willi Syndrome, Fragile-X Syndrome and Tuberosis Sclerosis • Hans-Christoph Steinhausen, Alexander von Gontard, Hans-Ludwig Spohr, Berthold P. Hauffa, Urs Eiholzer, Margitta Backes, Judith Willms, Zeno Malin 0,90,9 0,80,8 W e ig h t e d R a w S c o re s ( N = 1 4 2 ) W e ig h t e d R a w S c o re s ( N = 1 4 2 ) FAS FAS FRAX FRAX PWS PWS 0,70,7 0,60,6 TSC TSC 0,50,5 0,40,4 0,30,3 0,20,2 0,10,1 0 0 AA BB CC DD EE FF A: disruptive B: self-absorbed C: communication disturbance D: anxious E: autistic relating F: antisocial Fragiles-X Syndrom: drei andere Verhaltensphänotypien Antizipation CGG Repeats normal 5-50 weibl. Überträgerin Prämutation 50-200 männl. Überträger weibliche Meiose weibl. Vollmutierte Vollmutation 200-2000 Methylierung männl.Vollmutierte Inhibition: Genexpression Mangel an FMR-1 Protein Phänotyp FXS: Vollmutation weiblich • • • • • Verhaltensphänotyp: affektive und Angststörungen vermeidende, schizotype Persönlichkeit 65% Schüchternheit, soziale Ängstlichkeit soziale Isolation, inadäquate Affekte, unangemessene Kommunikation • ADHD (35%) FXS: Vollmutation weiblich • Kognition: • 70% unterdurchschnittlicher IQ (Lernbehinderung und geistige Behinderung) • bei normalem IQ: 66-80% neuropsychologische Defizite (tangentiale Antworten, Aufmerksamkeitsprobleme. Dyskalkulie, visuellräumliche Defizite) FXS: Prämutation weiblich • Scheu, sozial ängstlich • affektive Störungen (40%), vor allem depresssive Störungen • vorzeitige Menopause bei 20-30% (nicht bei vollmutierten) • FXTAS FXS: Prämutation männlich • Leichte Dysmorphiezeichen, Ängstlichkeit, Aufmerksamkeitsstörungen und exekutive Funktionsprobleme • Im höheren Alter (Beginn 50-70 Jahre): • Fragile X-associated tremor/ataxia syndrome (FXTAS) FXS: Prämutation männlich • Fragile X-associated tremor/ataxia syndrome (FXTAS) • Intentionstremor, Ataxie, Gleichgewichtsprobleme, Demenz, Hirnatrophie (u. a. Kleinhirnwurm) und Parkinsonismus • FMR1-Protein im Normbereich FXS: Prämutation männlich • Fragile X-associated tremor/ataxia syndrome (FXTAS) • 5 -10x höhere m-RNA Mengen mit vielen CGG-repeats • Intranucleäre Inclusionen in Neuronen und Astrozyten • Enthalten > 20 Proteine, u.a. Lamin A/C (Membranformation) FXS: Prämutation männlich • Fragile X-associated tremor/ataxia syndrome (FXTAS) • Hypothese: m-RNA Toxizität • M-RNA (vor allem mit vielen CGGrepeats) bindet Proteine → Funktionseinschränkung FXS: Prämutation männlich • Fragile X-associated tremor/ataxia syndrome (FXTAS) • Zunahme mit Alter: • 50 Jahre: 17% • 60 Jahre: 38% • 80 Jahre: 75% • Eine der häufigsten monogenen neurodegenerativen Erkrankungen FXS: Zusammenfassung Vier Verhaltensphänotypien normal 5-50 weibl. Überträgerin Prämutation 50-200 männl. Überträger weibl. Vollmutierte Vollmutation 200-2000 männl.Vollmutierte FXS: Zusammenfassung • Vier Verhaltensphänotypien • Spezifische Zusammenhänge zwischen Mutation, Transkription, somatischen Zeichen und Verhalten • Wissen entscheidend für Beratung, Förderung, Pharmakotherapie und Psychotherapie • Beispiel für Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Genetik und anderen Grundlagenfächern Zusammenfassung • Biologische und genetische Faktoren spielen in der Genese der geistigen Behinderung die wichtigste Rolle. • Eine Klassifikation nach Ätiologie ist notwendig, da einzelne Syndrome nicht nur mit typischen körperlichen Symptomen, sondern mit charakteristischen Verhaltensphänotypen assoziiert sind, die Hinweise auf spezifische Förderungserfordernisse liefern.