M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG Peter Riedesser Michael Schulte-Markwort Kinder körperlich kranker Eltern Psychische Folgen und Möglichkeiten der Prävention ZUSAMMENFASSUNG Eine schwere körperliche Erkrankung einer Mutter oder eines Vaters greift auf vielfache Weise in die Beziehung zwischen Eltern und Kind ein und kann die weitere Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen. Kinder körperlich kranker Eltern sind als eine Risikopopulation im Hinblick auf die Entwicklung psychiatrischer Störungen zu betrachten. Man kann spezifische Belastungen dieser Kinder und Jugendlichen nach entwicklungsspychologischen Gesichtspunkten, Art und Verlauf der Erkrankung der Eltern (akut, chronisch, letal) und dem Fehlen oder Vorhandensein protektiver Faktoren (zum Beispiel kompensatorische Bezugsperson) differenzieren. Unter präventiven Gesichtspunkten ist es erforderlich, die alters- und krankheitstypischen Belastungen der Kinder körperlich kranker Eltern weiter zu erforschen und in ein familienorientiertes Behandlungskonzept zu integrieren. Schlüsselwörter: Elterliche Erkrankung, Coping, Prävention, psychische Störung im Kindes- und Jugendalter, Risikogruppe Children of Physically Ill Parents: Mental Health Development and Prevention Severe physical illness in a mother or father influences the relationship between parents and child in many ways and may profoundly affect the development of the child. Children of physically ill parents have to be classified as a risk group since they are susceptible for the development of psychiatric disorders. Specific stress factors can be differentiated according to aspects of developmental psychology, type and course of the parents’ disease (acute, chronic, lethal) and the absence or presence of protective factors (such as a compensatory reference person). Considering preventive aspects, it is essential to further investigate the age- und disease-related stress factors to which children of physically ill parents are exposed and to integrate them into a family-oriented therapeutic plan. Key words: Parental disease, coping, mental health prevention, child and adolescent psychiatric disorder, risc population D ie schwere körperliche Erkrankung einer Mutter oder eines Vaters greift auf vielfache Weise in die Beziehung zwischen Eltern und Kind ein und kann die psychische und soziale Entwicklung des Kindes nicht nur erschweren, sondern auch nachhaltig beschädigen. Kinder von körperlich kranken Eltern werden seit der Untersuchung von Rutter (1966) als Risikogruppe für die Entwicklung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung eingestuft. Genaue Zahlen über die Prävalenz der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind bislang nicht bekannt, analog zu Schätzungen in den Vereinigten Staaten kann jedoch davon ausgegangen werden, daß auch in Deutschland 5 bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen einer solchen gravierenden Belastung einmal, mehrfach oder chronisch ausgeliefert sind. Es handelt sich also um ein millionenfach auftretendes Phänomen, das in unserem Versorgungssystem bislang weder klinisch oder wissenschaftlich, noch im Hinblick auf präventive Konzepte ausreichend berücksichtigt worden ist und als ein Querschnittsthema für die gesamte klinische Medizin erhöhter Aufmerksamkeit bedarf. Schon die frühe Beschäftigung mit schädigenden und protektiven Faktoren in der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung (beispielsweise in der Kauai-Studie) hat gezeigt, daß elterliche Erkrankungen einen Risiko- oder Belastungsfaktor für die Ausbildung einer kinder- und jugendpsychiatrischen Störung bedeuten (56). Über die Beschäftigung mit Kindern sterbender Eltern (18, 19) hat das Thema vereinzelt Eingang in die empirische Forschung gefunden. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters (Direktor: Prof. Dr. med. Peter Riedesser), Universitäts-Krankenhaus, Hamburg-Eppendorf SUMMARY Neuere Überblicksarbeiten über die noch spärliche, erst in langsamer Entwicklung befindliche Forschung auf diesem Gebiet (2, 40, 59) kommen zu dem Ergebnis, daß die Auswirkungen elterlicher körperlicher Erkrankungen auf Kinder entscheidend abhängen von der Art der Erkrankung (akuter oder schleichender Beginn, kontinuierlicher oder rezidivierender Verlauf, gute oder schlechte Prognose) und ihrem Einfluß auf die elterliche Beziehungsfähigkeit zum Kind (unter anderem reale und emotionale Verfügbarkeit). Von zentraler Bedeutung ist außerdem der kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand des Kindes und das Vorhandensein oder Fehlen protektiver Faktoren. Unsere Kenntnisse über die spezifischen Reaktionen von Kindern kranker Eltern sind bislang unzureichend. Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wird in Zukunft zu klären sein, ob die elterliche Erkran- Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 (41) A-2353 M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG kung eine spezifische oder unspezifische Belastung darstellt und mit welchen individuellen Bedingungen auf Seiten des Kindes und seiner psychosozialen Umwelt Wirkzusammenhänge bestehen. Sinnvoll ist eine Unterteilung nach der Art der körperlichen Erkrankung. Bislang liegen Ergebnisse zu den nachfolgenden somatischen Störungen von Eltern vor. Krankheitsbild der Eltern Krebserkrankung Untersuchungen von Kindern brustkrebskranker Mütter zeigen, daß sich die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern in 25 Prozent der Fälle verschlechtern (30). Die Kinder krebskranker Eltern, die sich im Präterminalstadium befinden, sind signifikant depressiver, ängstlicher und zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten (45). Selbstwert und soziale Kompetenz sind erniedrigt. Töchter krebskranker Mütter sind belasteter als Söhne oder Töchter krebskranker Väter (21), wahrscheinlich weil sie familiäre Pflichten stärker übernehmen und in besonderer Weise identifiziert sind (6). Dadurch werden oftmals Probleme der Verselbständigung deutlich (54). Jugendlichen gelingt es besser als Kindern, ein angemessenes Coping zu leisten (10), wobei Eltern häufig die Belastung ihrer Kinder unterschätzen (53). Dialysepatient Kinder von dialysepflichtigen Eltern reagieren häufig mit einem Leistungsabfall in der Schule (26), mißlungenem Coping (57) im Sinne von Aggressionsbildungen (16), Eskapismus oder Somatisierungstendenzen, depressiven und hypochondrischen Verhaltensmustern (5, 50). Innerhalb der Familien kommt es vermehrt zu Verleugnung und massi- ven Spannungen (48), Kommunikationsstörungen (32) mit Verschiebungen von Aggression und Empathiemangel (31). Neurologische Erkrankung Kinder von Eltern, die an multipler Sklerose erkrankt sind, zeigen signifikant mehr Ängste als Kontrollgruppen mit Kindern gesunder Eltern (3) und eine Tendenz zu vermehrten Körperbildstörungen (34, 48). Die Familien halten weniger zusammen als Familien aus nicht klinischen Kontrollgruppen (35), zeigen weniger Außeninteressen und bewältigen die Erkrankung eines Elternteils zu 50 Prozent maladaptiv (37). Kinder von epilepsiekranken Eltern entwickeln etwa zu einem Drittel psychische Störungen (38). Zwei Drittel der Kinder von Eltern Koronarpatient Übermäßige Besorgtheit bezüglich der eigenen körperlichen Unversehrtheit bis hin zu starken hypochondrischen Ängsten finden sich bei Kindern von koronarkranken Eltern (25). Nach einem Herzinfarkt eines Elternteils reagieren besonders die sechs- bis zwölfjährigen Kinder mit Irritationen, während die Jugendlichen verständnisvoll handeln können. Nach drei Monaten hat sich auch bei den Familien mit jüngeren Kindern das Familienleben wieder normalisiert (12), wobei es positive Korrelationen zwischen der sozialen Integration der Familie und dem intrafamiliären Zusammenhalt gibt (13). Rheumatoide Arthritis Analog zu einer Kontrollgruppe mit Kindern depressiver Eltern zeigen die Kinder von Eltern mit rheumatoider Arthritis signifikant schlechtere Selbstwertgefühle und mehr psychische Symptome (24). Später kann es bei einem Drittel der Familien zu Ablösungsproblemen der Jugendlichen aus dem „kranken Elternhaus“ kommen (55). Schmerzpatient Der Familienzusammenhalt bei Schmerzfamilien ist signifikant geringer als bei gesunden Familien bei gleichzeitig gesteigerter Konflikthaftigkeit (14); die Kinder zeigen signifikant häufiger Somatisierungstendenzen (33). mit Chorea Huntington reagieren maladaptiv auf die Krankheit, indem sie von der Angst besetzt sind, dieselbe Krankheit zu bekommen und daher depressive und hypochondrische Symptome entwickeln (36). Diabetiker Bei Kindern diabetischer Eltern wurden Tendenzen der Rationalisierung und Verleugnung gefunden, bei gleichzeitiger Angst, sie könnten auch eines Tages an Diabetes erkranken (27). Die Eltern bagatellisierten psychische Probleme ihrer Kinder. A-2354 (42) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 Körperlich behindert und/oder verunfallt Obwohl in der Bundesrepublik Deutschland fast acht Prozent der Bevölkerung als schwerbehindert anerkannt sind, findet die Situation körperbehinderter Eltern kaum Niederschlag in der Literatur. Einzelne Arbeiten hierzu zeigen, daß behinderte Menschen sich gut in der Lage fühlen, Eltern zu werden und Kinder zu erziehen (4). Auch Hypothesen bezüglich schlechterer Anpassung von Kindern querschnittsgelähmter Väter ließen sich nicht in allen Untersuchungen M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG bestätigen (8, 9). Andere Arbeiten zeigen, daß diese Familien von den Rollenwechseln ihrer Eltern gekennzeichnet sind, die nicht mehr in allen Bereichen aktiv am Leben teilnehmen können und dadurch die Familie belasten (11). Einzelne Kasuistiken beschreiben schwere Selbstverletzungen im Rahmen identifikatorischer Prozesse (23). Kinder kopfverletzter Eltern sind in vielen Fällen Kindern psychisch kranker Eltern gleichzusetzen, da die psychischen Veränderungen der Eltern zumindest passager oft erheblich sind (51). Verstorben Die Berichte über verwaiste Kinder zeigen ein breites Spektrum an möglichen Störungen. Die Ergebnisse reichen von unspezifischen Verhaltensauffälligkeiten (58), Delinquenz (22), Schulleistungsstörun- gen (1, 15, 42), Depressionen (28, 52), bis zu Somatisierungsstörungen (58). Die Belastungen der Kinder entstehen durch unterschiedliche Belastungsgefüge im Verlauf elterlicher Erkrankungen (Tabelle). Im Verlauf der akuten oder chronischen elterlichen Erkrankung spielt das Erleben der betroffenen Kinder eine zentrale Rolle und sollte auch bei der Planung und Durchführung der Behandlung der Eltern berücksichtigt werden (Textkasten Belastungen). Bei Kindern aller Altersstufen erfordern die durch eine schwere Erkrankung eines Elternteils hervorgerufenen Veränderungen eine große Anpassungsleistung; je nach kognitivem Entwicklungsstand reagiert das Kind mit alters- und persönlichkeitsspezifischen Überlegungen zur Ätiologie, zur Therapie und zur Gestaltung von gegenwärtigem Alltag und Zukunft (Textkasten Reaktionen). Tabelle Bedingungsfaktoren Elterliche Erkrankung Psychosoziale Bedingungen Kindliche Faktoren Art: Reale elterliche Verfügbarkeit Alter akut schleichend chronisch Verlauf: kontinuierlich rezidivierend nicht vorhersagbar Prognose: gut schlecht infaust Residuen Entwicklungsstand Emotionale elterliche Verfügbarkeit Kognition Verfügbarkeit des gesunden Elternteils Psychosoziale Kompetenz Kompensierende Beziehungen Anpassungsniveau Einbeziehung in die elterliche Behandlung Materielle Bedingungen Vorbestehende Stressoren Andere Lebensereignisse Vererblichkeit Alter des betroffenen Elternteils Gesundheit des anderen Elternteils Coping-Strategien Eigene Berechnungen nach (1) (Groß-)familiäre Beziehungsstruktur Beziehungen zur Peer Group Bewältigungsstrategien Geschwisterbeziehungen Entwicklungspsychopathologische Aspekte Je nach Entwicklungsstand und eventuell schon vor Krankheitsbeginn bestehender individueller und familiärer Problematik und bei Fehlen protektiver Faktoren (zum Beispiel konstant verfügbare zusätzliche Bezugspersonen) können massive Interferenzen mit Entwicklungsaufgaben erfolgen, von der Störung des Bindungsaufbaus in der frühen Kindheit bis hin zum Ablösungsprozeß in der Adoleszenz. Als klinisch und wissenschaftlich fruchtbarer Bezugsrahmen für das Verständnis der Probleme der Kinder kranker Eltern soll hier eine entwicklungspsychopathologische Betrachtungsweise der Eltern-Kind-Beziehung am Beispiel tumorkranker Mütter dargestellt werden. Erkrankt eine Mutter schon während der Schwangerschaft an einem Tumor, kann die vorgeburtliche Beziehung auf empfindliche Weise gestört werden, indem die erforderliche psychische Akzeptierung und „Besetzung“ des Ungeborenen durch schwere depressive Zustände und Zukunftsängste erschwert wird. Ebenso, wenn eine Chemotherapie und/oder Strahlentherapie aus Rücksicht auf den Fetus nicht sofort und in der hinreichenden Dosierung erfolgen kann. So kann sich ein tragischer Zielkonflikt zwischen dem Recht der Mutter auf Überleben und dem Recht des Ungeborenen auf körperliche Unversehrtheit ergeben, mit ausgesprochener oder unausgesprochener Vorwurfshaltung der Mutter gegenüber dem Kind und beim Kind in einer bewußten oder unbewußten „Überlebensschuld“ gegenüber der Mutter. In der Säuglings- und Kleinkindzeit kann der frühe Beziehungsaufbau zwischen Mutter und Kind durch die schwere psychische Belastung der Mutter und häufige Trennungen infolge von Krankenhausaufenthalten empfindlich gestört werden. Ältere Kinder beginnen, realistische Vorstellungen von der Irreversibilität des Todes zu entwickeln und erleben dadurch ein verstärktes Gefühl für die Bedrohung des Lebens der Mutter, zumal, wenn sie Krankheitssymptome und Nebenwirkungen der Thera- Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 (43) A-2355 M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG pie, wie Haarausfall, Erbrechen, Amputationen und anderes miterleben. Weil sie keine realistischen Erklärungen erhalten, bilden sie zum Teil noch bedrohlichere Phantasien aus als es der medizinischen Realität im Hinblick auf Diagnose, Ätiologie und Prognose entspricht. Jugendliche, deren normale Entwicklungsaufgabe darin besteht, sich vom Elternhaus zu lösen, können eine schwere Ausbruchsschuld entwickeln, zumal, wenn sie parentifiziert worden sind, das heißt „elterliche“ Verantwortung für die eigenen, schwerkranken Eltern übernehmen mußten. Von besonderer Belastung ist die Brustkrebserkrankung einer Mutter für ihre heranwachsende Tochter, wenn deren Pubertät (mit einem „benignen Brustwachstum“) mit der Krankheit der Mutter (einem „malignen Brustwachstum“) zusammenfällt. Adoleszente Mädchen können in dieser krisenhaften Entwicklungsphase, in der ihre Ängste, Wünsche und Phantasien um die sich entwickelnde Weiblichkeit, um Sexualität und Mutterschaft kreisen, erheblich belastet sein und mit vielfältigen Symptomen reagieren (6). Klinische Aspekte Kinder und Jugendliche können bei der Bewältigung der schweren Erkrankung eines Elternteils scheitern und ein breites Spektrum von Symptomen entwickeln, von vor- c c c c Reaktionen von Kindern körperlich kranker Eltern Phantasien zur Ätiologie (mit oft magischer Schuldzuschreibung) Gedanken über die Therapie (mit oft irrationalen Vorstellungen) Überlegungen zur Zukunft der Familie und zur eigenen Lebensperspektive Bemühungen um funktionale Alltagsbewältigung (beispielsweise frühe Autonomie, Verantwortungsübernahme für andere Familienmitglieder) übergehenden Anpassungsstörungen bis hin zu posttraumatischen Streßsymptomen. Im Textkasten Symptome sind häufig gefundene Symptome aufgelistet (2, 19, 40, 44, 59). Eltern, die selbst schwer erkrankt sind, erleiden oft eine Erschöpfung ihrer empathischen Kompetenz gegenüber ihren Kindern, können daher Signale der Not, die von Kindern ausgesendet werden, nicht wahrnehmen und neigen zur Unterschätzung der Belastung ihrer Kinder (53). Häufig leiden sie an Schuldgefühlen, weil sie ihren elterlichen Funktionen nicht mehr hinreichend nachkommen können. Besondere Gefährdungen, die aus kasuistischen Beobachtungen und auch ersten empirischen Untersuchungen (29) deutlich geworden sind, ergeben sich für besondere Risikogruppen. Präventive Ansätze Kinder kranker Eltern benötigen eine – altersgemäß formulierte, individuell dosierte – kognitive Orientierung, und zwar über das Krankheitsbild, seine Ätiologie, die mögliche Ansteckbarkeit und Vererbbarkeit und über die geplante Therapie. Eine Schweigespirale zwischen Eltern, Kind und Arzt erschwert adaptative Vorgänge. Erst vor dem Hin- c c c c Belastungen von Kindern körperlich kranker Eltern Miterleben der körperlichen Symptomatik durch Krankheit oder Unfall (inklusive Rückfälle, Chronifizierung, Terminalstadium) Miterleben von eingreifenden medizinischen Maßnahmen (zum Beispiel operative Eingriffe, Bestrahlungen, Chemotherapie) Erleben der psychischen Reaktionen der Eltern und Geschwister (zum Beispiel Depressivität, Angstzustände) Erleben von krankheits- oder unfallbedingten Trennungen (zum Beispiel durch Klinikaufenthalte) A-2356 (44) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 tergrund einer hinreichend vermittelten medizinischen Realität lassen sich mögliche realitätsverzerrende Phantasien von Schuld, Bedrohung und anderem erkennen und bearbeiten. Einzelne Monographien zeigen inzwischen Wege der Bewältigung für alle Betroffenen auf und verweisen auf elaborierte Konzepte der professionellen Betreuung der betroffenen Familien (43). Bislang beschriebene Interventionsprogramme für Kinder tumorkranker Eltern zeitigen positive Ergebnisse: Jüngere Kinder können ihre Schuldgefühle bewältigen, ältere sind entlastet durch die Möglichkeit, Probleme besprechen und lösen zu können (10, 45, 49) . Eine Einbeziehung Jugendlicher in die hämodialytische Behandlung stärkt deren Selbstvertrauen und ist bei der Identitätsfindung hilfreich (20), bei jüngeren Kindern verbessert sie die Auseinandersetzung mit der elterlichen Erkrankung (17) und damit die Adaptation (26). Eine solche Orientierung sollte, wenn möglich, durch die Eltern selbst und die behandelnden Ärzte erfolgen. Da diese jedoch häufig aus verschiedenen Gründen sich nicht dazu imstande fühlen, sollten sie dabei unterstützt werden. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten der präventiven Intervention (43), die individuell und in Absprache mit dem kranken Elternteil realisiert werden sollten. Der Textkasten Intervention zeigt ein paar Möglichkeiten auf. c c c c c c c c Symptome dysfunktionaler Bewältigung Regressive Symptome (zum Beispiel Daumenlutschen, Trennungsangst, Enuresis) depressive Symptome mit/ohne Suizidalität Angstsymptome Konzentrations- und Lernstörungen Zwangssymptome Konversionssymptome Verwahrlosung, Drogenabusus Überanpassung („pathologische Unauffälligkeit“) M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG/FÜR SIE REFERIERT c c c c c c c Möglichkeiten der präventiven Intervention Rechtzeitige Abklärung der Indikation für eine weiterführende kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik/Therapie Elternberatung Familiengespräche Familientherapie Einzelgespräche mit dem Kind Einzeltherapie für das Kind Gruppengespräche mit betroffenen Kindern/Eltern Angesichts des Ausmaßes der Problematik der Kinder körperlich kranker Eltern entsteht ein dringender Handlungsbedarf, der zum Beispiel zum Aufbau von kinder- und jugendpsychiatrischen Konsiliardiensten in somatischen Kliniken führen sollte. Es gilt, auch in Deutschland systematisch weitere Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln und wissenschaftlich zu evaluieren. Es besteht also großer Forschungsbedarf (Textkasten Forschungsbedarf) (40, 59). Resümee Zusammenfassend soll nochmals betont werden, daß das Bemühen, alle Erkrankungen von Eltern auch aus der Sicht ihrer Kinder zu betrachten, in unser ärztliches Denken und Han- Forschungsbedarf c Weitere Herausarbeitung krankheits- und therapiespezifischer Belastungen von Kindern verschiedener Altersstufen c Identifizierung weiterer Risikogruppen c Identifizierung von protektiven Faktoren (Kind, Familie, soziales Umfeld) c Entwicklung und Evaluierung von Interventionskonzepten c Erforschung der Implementierung entsprechender Konzepte in das medizinische Versorgungssystem deln eingehen muß, auch wenn dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher noch die Ausnahme ist. Ziel muß es sein, durch einen präventiven Ansatz dafür Sorge zu tragen, daß Kinder an den Krankheiten ihrer Eltern psychisch nicht dekompensieren und erkranken, sondern durch Vermittlung geeigneter Hilfen diese Belastungen verarbeiten können, und zwar möglichst kreativ und entwicklungsfördernd (2, 40). Wenn unser medizinisches Versorgungssystem und auch die Öffentlichkeit für die spezifischen Gefährdungen und Bedürfnisse der Kinder kranker Eltern ausreichend sensibilisiert werden können, ist zu hoffen, daß ein solches familienori- Botulinustoxin oder Nitroglyzerin bei chronischer Analfissur? Die laterale interne Sphinkterotomie kann zu einer Stuhlinkontinenz führen. Um dies zu vermeiden, wird in zunehmendem Maße auch mit konservativen Maßnahmen versucht, eine chronische Analfissur zur Ausheilung zu bringen. In einer prospektiven Studie mit 50 Erwachsenen mit symptomatischer chronischer posteriorer Analfissur wurden entweder zweimal 20 Einheiten Botulinustoxin oder eine 0,2 prozentige Nitroglyzerinsalbe zweimal täglich über sechs Wochen appli- ziert. Nach zwei Monaten waren die Fissuren bei 24 von 25 Patienten (96 Prozent) nach Gabe von Botulinustoxin abgeheilt, in der Nitroglyzeringruppe nur in 15 von 25 Fällen (60 Prozent). Eine Stuhlinkontinenz hatte keiner der Patienten entwickelt. Fünf Patienten in der Nitroglyzeringruppe klagten über vorübergehende mäßig bis starke Kopfschmerzen, während in der Botulinusgruppe keine unerwünschten Wirkungen auftraten. Von den zehn Patienten, die initial nicht auf die vor- c c c c c Risikogruppen Kinder von Eltern ohne verläßliches soziales Netz Kinder von Eltern, die zusätzlich psychische Störungen aufweisen Kinder von Eltern, die in schweren Partnerkonflikten leben Kinder von Eltern mit infauster Prognose Kinder, die selbst körperlich und/oder psychisch erkrankt oder behindert sind entiertes Betreuungskonzept in naher Zukunft zu einer Selbstverständlichkeit wird. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-2353–2357 [Heft 38] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist. Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Peter Riedesser Universitätskrankenhaus Eppendorf Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters Martinistraße 52 20246 Hamburg gesehene Behandlung angesprochen hatten, konnten alle zehn nach Wechsel des Therapieprinzips geheilt werden. Rezidive wurden während einer 15monatigen Nachbeobachtungsperiode nicht beobachtet. Die Autoren folgern, daß die Injektion von Botulinustoxin unter den nichtoperativen Maßnahmen die besten Ergebnisse zeigt. w Brisinda G, Maria G, Bentivoglio AR et al.: A comparison of injections of botulinum toxin and tropical nitroglycerin ointment for the treatment of chronic anal fissure. N Engl J Med 1999; 341: 65–69. Istitutio di Clinica Chirurgica Generale, Policlinico Universitario Agostino Gemelli, Largo Agostino Gemelli 8, 00168 Rom, Italien. Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 (45) A-2357