Auf den Spuren Beethovens. Johannes Brahms - der legitime Nachfolger Ludwig van Beethovens? Als Johannes Brahms 1833 das Licht der Welt erblickte, war Beethoven bereits sechs Jahre tot. Es mußte also zu Begegnungen anderer Art kommen, die Beethovens Werk Einfluß auf das Schaffen von Brahms gewinnen ließ. Das oft zitierte und nahezu ebenso oft mißverstandene Diktum Hans von Bülows aus dem Jahre 1877 von „der zehnten Symphonie, alias der ersten von Johannes Brahms“ meint zwar wohl kaum eine Bewertung des Werkes als Nachfolger von Beethovens 9. Symphonie im Sinne einer evolutionären Weiterentwicklung der Gattung Symphonie, ordnet aber Brahms’ Erstling in die symphonische Welt Beethovens (und Mozarts als deren Ausgangspunkt) ein. Wenig später wird ein weiterer Rezensent (Friedrich Chrysander?) ebenfalls von der „Zehnten“ sprechen und dies auf das Finalproblem beziehen - die Rückkehr zu einem rein instrumentalen Finale, wenngleich mit Elementen des Vokalen, mithin dem Problem des Komponierens „nach Beethoven“, speziell auch nach dessen 9. Symphonie. Dieser anerkennende Vergleich mit Beethoven fußte weniger auf einer Stilkritik der Werkes von Brahms als einer auf einer generellen Würdigung seines Ranges als Komponist bzw. auf der Einschätzung, Brahms und Beethoven hätten eine ähnliche Persönlichkeitsstruktur, die sich in den Worten des Wiener Musikkritikers und schriftstellers Eduard Hanslick in einem gleichartigen „strengen ethischen Charakter“ ihrer Musik niederschlage, der „das Große und Ernste, Schwere und Complizirte“ gemeinsam sei. Tatsächlich wurde andererseits schon früh die Gefahr gesehen bzw. der Vorwurf geäußert, Brahms könne zu einem Epigonen Beethovens werden. Hanslick forderte Brahms in der Wiener Presse vom 10. Dezember 1862 öffentlich auf, das 2. Scherzo aus seiner Serenade op. 11 (1858) wegen seiner allzu direkten Anlehnung an das Scherzo von Beethovens 2. Symphonie op. 36 zu eliminieren. Und so ist die offene Anspielung auf das Thema der Freuden-Ode aus Beethovens 9. Symphonie op. 125 im Finale seiner 1. Symphonie op. 68 aus dem Blickwinkel von Brahms auch als eine offensive und selbstbewußte Begegnung eben dieses Epigonen-Vorwurfs zu verstehen. (Später ist dieser Vorwurf mehr dem Parteienstreit zwischen den „Konservativen“ und der neudeutschen Schule um Wagner, Liszt und Bruckner entsprungen. Hugo Wolf deklarierte vor diesem Hintergrund Brahms abschätzig als „Beethoven Nr. 2“.) Woraus ließ sich ein immerhin von drei namhaften Fachleuten bemerktes Naheverhältnis zwischen Brahms und Beethoven herleiten? Und auch Brahms selbst hat diese Verknüpfung gesehen und aufgegriffen. Dies läßt sich an zwei Punkten exemplarisch zeigen. Brahms und sein Künstlerfreund Joseph Joachim, der spätere erste Ehrenpräsident des Vereins Beethoven-Haus, sprachen gegenseitig Beethoven häufig nicht mit Namen an, sondern bezeichneten ihn als den „Hohen“. Und als im September 1879 eine gemeinsame Konzertreise anstand und Brahms vorschlug, bei den Konzertankündigungen ihrer beiden Namen in alphabetischer Reihenfolge - also seinen an erster Stelle zu bringen, da zog sich Joachim bezeichnenderweise mit der nur in umgekehrter Reihenfolge passenden Namensunterlegung unter das „Schicksalmotiv“ aus Beethovens 5. Symphonie op. 67 elegant aus der Affäre: „... Natürlich hatte ich schon selbst gefunden, daß man nur Brahms=Joachim ankündigen darf; obwohl auf alle Fälle doch so gelesen würde: Notenbsp. Die Taktlosigkeit ist jedenfalls nur Gedankenlosigkeit, nicht Bewußtheit.“ Als der neunundzwangigjährige Johannes Brahms im September 1862 erstmals Wien besuchte, hat er eine blühende Musikmetropole besucht und als junger Künstler gesucht. Ihn hat aber nicht zuletzt auch die musikalische Tradition angezogen. Es war ihm klar, daß er in Wien auf den Spuren Beethovens wandelte - und das im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. So sehr sich das Stadtbild Wiens zwischen der Zeit des späten Beethoven und dem späten Brahms wandelte, so wenig haben sich die Grundstrukturen der Musikpflege verändert. Beethoven war in vielfältiger Form noch präsent, in mancher Hinsicht gar dominant. Schon in seinem ersten Brief aus Wien an seinen Freund Julius Otto Grimm weist er selbst darauf hin: „Ja, so geht’s! Ich habe mich aufgemacht, ich wohne hier, ... und kann meinen Wein trinken, wo ihn Beethoven getrunken hat.“ Später wird er seinen Vater bei dessen Wien-Besuch im Jahre 1867 nach Heiligenstadt führen und ihm das Beethoven-Denkmal zeigen. Es war für den gebürtigen Hamburger kein so großer Schritt und auch nicht einer in eine völlig fremde Welt, wie man vielleicht vermuten würde. Brahms’ Hamburger Lehrer Eduard Marxsen hatte von 1830 bis 1833 in Wien gelebt und bei dem mit Beethoven gut bekannten Ignaz Ritter von Seyfried Musiktheorie und bei dem ebenfalls dem weiteren Beethoven-Umkreis zugehörenden Carl Maria von Bocklet Klavier studiert. Seyfried bereitete damals gerade seine 1832 erschienene Veröffentlichung „Beethovens Studien im Generalbasse, Contrapunkte und in der Compositions-Lehre“ vor, in deren Anhang er übrigens das Empfehlungsschreiben abdruckte, das Beethoven im April 1817 Bocklet zur Vorlage bei den mit ihm befreundeten Wiener Musikverleger Sigmund Anton Steiner mitgegeben hatte. Ein ähnliches Schreiben hat Beethoven dem jungen Geiger (und Pianisten) auch für den durchaus einflußreichen Nikolaus Zmeskall gefertigt. Aus mündlichen Berichten wird Brahms also zumindest grob im Bilde gewesen sein, was in Wien erwarten würde. Brahms faßte schnell Tritt. Schon 1863 war er so renommiert, daß der sehr geschätzte Kontrapunktlehrer Simon Sechter, der eine ganze Generation von Komponisten zwischen Schubert und Bruckner unterrichtete, Brahms einen „Canon in der Vergrößerung nebst einer freien Oberstimme“ als Geschenk übergab, nachdem er 1823 sein op. 5, vier Fugen für Klavier, Beethoven gewidmet hatte. Auch daß Johann Strauß gerade seinen Walzer „Seid umschlungen Millionen“ op. 443 (1892) Brahms gewidmet hat, kann nur als Hinweis darauf verstanden werden, daß er Brahms auf diesem Wege in direkten Bezug zu Beethoven stellen wollte. Selbst auf dem Instrumentensektor war die Verbindungslinie noch nicht abgerissen. Brahms wohnte seit 1871 in der Karlsgasse 4 in unmittelbarer Nähe zum Haus „Im Mondschein 102“, in dem seit 1825 Conrad Graf seine Klavierfabrik untergebracht hatte, die im Vormärz als die führende in Wien galt. Graf stellte 1826 Beethoven einen Hammerflügel zur Verfügung , der heute im 2. Stock des Beethoven-Hauses zu besichtigen ist. Dieses Instrument spielte Brahms im Jahre 1874 im Hause seines Dichterfreundes Josef Viktor Widmann in Bern. Schon bei seinem legendären Besuch bei Robert und Clara Schumann im Jahre 1953 hatte Brahms seine Erstlingskompositionen ebenfalls auf einem Graf-Flügel zu Gehör gebracht. Es war jenes Instrument, das Graf Clara Wieck zur ihrer Vermählung mit Robert Schumann geschenkt hatte. Nach Robert Schumanns Tod übernahm Brahms das Instrument und hütete es als Reliquie. Zumindest für den jungen Brahms war der Hammerklaviertypus aus der Zeit des späten Beethoven durchaus noch nicht passè. (folgen Katalogbeschreibungen der Gruppe 1) Brahms als Beethoven-Sammler Es wird wenige Komponisten mit einer solch ausgeprägten Sammelleidenschaft gegeben haben wie Johannes Brahms. Schon in Hamburg begann er auch als Sammler seinen literarischen und musikalischen Interessen nach bibliophilen und wissenschaftlichen Kriterien zu frönen. Zwar sind wir oft nicht im einzelnen über den Zeitpunkt, die Provenienz und die Motivation seiner Neuerwerbungen informiert, doch ist klar, daß es ihm nicht um Handschriftenproben berühmter Vorgänger zu tun war, er vielmehr nach inhaltlichen Kriterien sammelte. Nicht immer hat er die Handschriften erworben. Seine diesbezüglichen Interessen scheinen sich schnell herumgesprochen haben. Schon im Mai 1864 schenkte der Wiener Musikfreund und -dilettant Julius Grosser dem damals 31jährigen Brahms ein bedeutendes Beethoven-Manuskript - eine von Beethovens Hauskopisten angefertigte Abschrift der Partitur der Missa solemnis op. 123 mit zahlreichen eigenhändigen Korrekturen des Komponisten. Brahms wird sich über dieses Geschenk besonders gefreut haben, enthielt er diese wichtige Quelle eines der bedeutendsten Werke Beethovens doch mit einer Widmung, die - quasi eine Summe aus Kapitel I unserer Ausstellung - einer Huldigung gleich kam: „.. wüßte ich keinen aus der Zahl der deutschen Musiker, der würdiger wäre, diese von Beethoven’s Hand geheiligte Partitur zu besitzen, als Johannes Brahms sie sei hiermit sein eigen.“ Anders als im Falle Franz Schuberts besaß Brahms von Beethoven wenige Reinschriften. Sein Interesse galt vielmehr Handschriften, die einen Blick in Beethovens Werkstatt erlaubten. Dies konnten Skizzenblätter sein Brahms besaß aufschlußreiche Blätter zur Egmont- und Leonoren-Ouvertüre, zu den Symphonien Nr. 5 op. 67 und 9 op. 125, zur Klaviersonate B-Dur op. 106, zum Klaviertrio op. 70 Nr. 2 sowie zu einer Reihe kleinerer Werke -, von Beethoven überprüfte Abschriften wie jene der Violinsonaten op. 23 und 24 (?), der Missa solemnis, der Klavierauszüge der Symphonien Nr. 7 und 8 oder der Klaviersonate As-Dur op. 110 oder Originalausgaben (Erstdrucke), in die Beethoven Korrekturen und Ergänzungen eintrug und die dadurch die Fassung letzter Hand bieten. Dies betrifft die Korrekturfahnen zur Originalausgabe der Partitur der 8. Symphonie op.93. Von keinem anderen Komponisten besaß Brahms so zahlreiche Quellen, die ihm Aufschluß über deren Arbeitsweise und die authentischen Notentexte geben konnten. Allerdings waren nach der Auktion, bei der im November 1827 Beethovens musikalischer Nachlaß versteigert wurde, in Wien auch besonders viele BeethovenHandschriften im Umlauf. Brahms beobachtete den Autographen-Markt. Über die Motivation seines Sammelns gibt er in einem Brief an Joseph Joachim vom 2. April 1892 näheren Aufschluß: „... Meine letzten Handschriften=Abenteuer: Auf den Manfred (die autographe Partitur von Robert Schumanns Musik zu Lord Byron’s Manfred op. 115, bis 1892 in Besitz von Richard Pohl ) hatte ich geboten - vor allem, damit er nicht über den Kanal und über den Ozean geriete. Der Verleger, Herr Förster, hat ihn erworben und will ihn s.Z. der Berliner Bibliothek übergeben. Der erste Satz der Adur=Cello=Sonate von Beethoven liegt bei mir, und ich habe die heimliche Angst, daß mein bescheidenes Sträuben, ihn für ein Manuskript von mir (!) zu erwerben, mich schließlich um den Schatz bringt!“ Brahms’ Befürchtungen haben sich in diesem Falle bewahrheitet. Beide Autographen waren übrigens im gleichen Jahr bei der großen Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Wien zu sehen, zu der auch Brahms Leihgaben (Autographen, Erstausgaben und Porträts von J.S.Bach, L. Cherubini, F.Grillparzer, J. Joachim, W.A.Mozart, D. Scarlatti, R. Schumann, J.Strauß jun. und C.M.v.Weber sowie das Autograph seines eigenen Requiems) zur Verfügung stellte, von seinen Beethoven-Autographen allerdings nur das Doppelautograph Beethoven/Schubert, das er Gesellschaft der Musikfreunde für deren Ausstellungsbereich überließ. Daß Brahms Sammeln auch im Sinne von Bewahren verstand, geht auch aus seinem Schreiben an Clara Schumann vom Mai d.J. hervor: Er (das Autograph des Manfred) prangt auf der hiesigen Ausstellung - als Eigentum des Verlegers Fürstner in Berlin - leider - denn ich hatte sehr darauf geboten und gehofft. Jedenfalls wird es Dich freuen, daß Pohl sowohl wie Fürstner ernstlich ausgemacht haben, die Handschrift solle nicht zerteilt, nicht nach England oder Amerika verkauft werden, sondern s.Z. nach Berlin zu den übrigen Schumanniana übergehen.“ Brahms besaß noch zahlreiche weitere gedruckte Ausgaben, seien es zu Lebzeiten Beethovens erschienene Originalausgaben, seien es neuere Ausgaben. Sie dienten Brahms nicht nur zum Spielen, sie waren auch Gegenstand eines regelrechten Quellenstudiums. Brahms hat - vielleicht angeregt bzw. unterstützt von Gustav Nottebohm - verschiedene Ausgaben verglichen und dies in den Ausgaben auch textkritisch vermerkt. Es war also in erster Linie das Interesse des Komponisten und Musikforschers, das durch die Sammeltätigkeit befriedigt und weiterentwickelt wurde, nicht der mehr oder weniger eitle Wunsch, Handschriftenproben berühmter Persönlichkeiten sein eigen zu nennen. Nichtsdestotrotz wird auch Brahms von Stolz erfüllt gewesen sein, als er das berühmte Doppelautograph mit Beethovens Lied „Ich liebe Dich“ WoO 123 und Franz Schuberts fragmentarische Erstfassung des Andantino dMoll zur Klaviersonate D 568 in Besitz nehmen und die zwischenzeitlich getrennten Blätter wieder vereinigen konnte. Mit den später ergänzten Aufschriften von Anselm Hüttenbrenner und Brahms selbst ist es zu einer einzigartigen Zimelie geworden. Brahms’ Beethoven-Studien Zwei Seiten einer Medaille waren für Brahms das Sammeln von Musikhandschriften und das Studium der entsprechenden Kompositionen. Dies konnte dem Studium der Komposition selbst und ihrer Entstehung dienen oder eine mehr philologische Ausrichtung haben, schließlich auch der Vorbereitung einer Aufführung dienen. Ersteres konnte sich in Studienabschriften niederschlagen. In einem Konvolut von „Abschriften Klassischer Kanons“ notierte Beethoven wohl schon Mitte der 1850erJahre (prüfen bei Hancock, S. 39f) auch Beethovens dreistimmigen Kanon „Kurz ist der Schmerz“ WoO 163. Ferner legte er sich seit den 1860er Jahren nach und nach eine „Sammlung interessanter Stellen aus alten Meistern“ an, in der er kompositionstechnisch problematische bzw. auffällige Stellen wie erlaubte bzw. eigentlich verbotene Oktav- und Quintparallelen und ihre individuellen Lösungen bzw. Erklärungen festhielt. Es handelt sich um Werke von 32 verschiedenen Komponisten. Am häufigsten ist Johann Sebastian Bach vertreten, nach Mozart und dem RenaissanceKomponisten Luca Marenzio (1553-1599) folgt an vierter Stelle Beethoven. Brahms tat es in diesem Falle übrigens Beethoven nach, der ebenfalls Studienabschriften angefertigt hatte - hauptsächlich von Werken Bachs, Mozarts und Haydns. Brahms exzerpierte aus Beethovens Coriolan-Ouvertüre op. 62, den Streichquartetten cMoll op. 18 Nr. 4 und Es-Dur op. 74 sowie cis-Moll op.131, der Violinsonate G-Dur op. 96 und den Klaviersonaten C-Dur op. 2 Nr. 3, E-Dur op. 14 Nr.1, C-Dur op. 53, B-Dur op. 106 und schließlich c-Moll op. 111. Eine philologische Ausrichtung hatten im besonderen die Textvergleiche bei der Klaviersonate As-Dur op. 110, die Brahms im April 1862 im Rahmen der Alten Beethoven-Gesamtausgabe herausgab. Mit Beethovens 8. Symphonie op. 93 hatte er sich schon 1876 beschäftigt, als er vier Korrekturbögen zur Originalausgabe der Partitur (in seine Sammlung aufnehmen konnte ?) zu Gesicht bekam und Joseph Joachim voller Entdeckerfreude auf eine interessante Lesart im Menuett-Trio hinwies. ((gehört verschoben zu den Katalogbeschreibungen -Studien o. -Sammler!!: Korrekturbögen zur 8.Symphonie GdM. Am 24. Mai 1876 schrieb Brahms an Joseph Joachim. “... Kürzlich habe ich einen sehr überraschenden Fund gemacht: mehrere Korrekturbogen zur ältesten Partiturausgabe (Steiner) von Beethovens 8ter Sinfonie. Vor allem finde ich wichtig - nein schön, daß der 3te Takt des Menuett-Trios so heißt: Notenbeispiel Bis dahin wußte man nicht, daß Beethoven diese Partitur korrigiert habe! Aber jetzt möchte ich wissen, woher die Lesart kommt: Notenbeispiel Auf solche Weise verdirbt’s etwa Unsereiner - fällt ihm je einmal etwas Passables ein. Ich meine, die schöne Melodie sei durch das kleine pikante Zuviel wie verzerrt. ...“ (Die erste (?) Lesart entspricht übrigens jener in der autographen Partitur.) Einen vergleichbaren Brief wird Brahms noch 18 Jahre später an den Dirigenten Felix Weingartner richten.)) Brahms Studium der Werke Beethovens kam naturgemäß auch den durch ihn geleiteten oder bestrittenen Aufführungen zugute. Diese illustriert Kapitel IV der Ausstellung. Neugier, Entdeckerfreude und sein generelles Bestreben, dem Publikum möglichst viele Facetten von Beethovens Schaffen vorzustellen, fielen zusammen, als Brahms im Jahre 1884 völlig unbekannte Werke Beethovens kennenlernte. Sein Freund Eduard Hanslick hatte ihm die Möglichkeit verschaffen können, als unerwartet zwei aus der Enstehungszeit der Kompositonen stammende Abschriften, die einzigen Quellen zu zwei der bedeutendsten und zudem bisher nicht aufgeführten und nicht gedruckten Werken Beethovens aus der Bonner Zeit im Antiquariatshandel auftauchten und den Weg in Wiener Privatbesitz fanden: Die Trauer-Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. WoO 87 und die Kantate auf die Erhebung Leopolds II zur Kaiserwürde WoO 88, im Frühjahr bzw. Herbst des Jahres 1790 entstanden. Brahms studierte diese Werke begierig und gab in seinem Dankschreiben an Hanslick eine stilkritische Bewertung ab: „... Also zwei größere Werke für Chor und Orchester aus einer Zeit, in die wir bis dahin keine Komposition von irgend einer Bedeutung setzen konnten. Wäre nicht das historische Datum (Februar 1790), so würde man jedenfalls auf eine spätere Zeit raten - aber freilich, weil wir eben von jener Zeit nichts wußten! Stände aber kein Name auf dem Titel, man könnte auf keinen andern raten - es ist alles und durchaus Beethoven! Das schöne edle Pathos, das Großartige in Empfindung und Phantasie, das Gewaltige, auch wohl Gewaltsame im Ausdruck, dazu die Stimmführung, die Deklamation und in beiden letzteren alle Besonderheiten, die wir bei seinen späteren Werken betrachten und bedenken mögen.“ Ergebnis des Studiums war auch, daß Brahms in seiner Funktion als Direktionsmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde eine Aufführung der Trauer-Kantate auf den Tod Josephs II. vorschlug, die auch bereits am 23.November d.J. zustande kam. Es dürfte sich um eine Uraufführung gehandelt haben! Brahms als Beethoven-Interpret Das Studium Beethovenscher Kompositionen, das wie wir bereits gesehen haben, auch Textvergleiche einschloß, mag z.T. auch durch geplante Aufführungen ausgelöst worden sein. Stellvertretend für andere sind in der Ausstellung zu sehen seine Dirigierpartitur der Missa solemnis op. 123 - für die Wiener Aufführung vom 6. Dezember 1874 benutzte er die Originalausgabe von Schott - und des Chors zum Festspiel „Die Weihe des Hauses“ WoO 98, den er am 23. März 1873 im Musikverein zu Gehör brachte. Daß Brahms gerade diese Komposition auswählte, die Beethoven im September 1822 für die Einweihung des Theaters in der Josephstadt komponiert hatte und die - erst 1888 erstmals im Druck erschienen - schnell wieder aus dem Konzertrepertoire verschwand , zeigt, daß er als Konzertdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde (1872-1874) abseits der ausgetretenen Repertoirepfade zu wandeln gesonnen war. Dies führte umgekehrt sogar dazu, daß sich die Direktion der Gesellschaft Sorgen machte und Brahms vorsorglich ihre Überzeugung zum Ausdruck brachte, „daß Sie (Brahms) darauf bedacht sein werden, das Repertoire durch passende Vertheilung des Stoffes und Einfügung wirksamer Orchester- event(uell) Solonummern zu einem eben so künstlerisch bedeutenden wie anziehenden zu gestalten ...“ Brahms ließ sich bezüglich des Aufführungsmaterials auch immer wieder vom Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde, damals der als Haydn-Forscher berühmt gewordene Carl Ferdinand Pohl, beraten. Mancher Schatz des Archivs wurde dabei vorübergehend der Vergessenheit entrissen. Für Beethovens Chor etwa benutzte Brahms eine noch auf Beethoven selbst zurückgehende Quelle. Es handelt sich um die von Beethovens Kopist Wenzel Rampel angefertigte und von Beethoven überprüfte Abschrift, die Beethoven seinem Mäzen und Schüler Erzherzog Rudolph am 27. Februar 1823 zum Geschenk gemacht hatte und mit dessen Nachlaß ins Musikvereinsarchiv kam. Auch so konnte also die Nähe zu Beethoven zum Ausdruck kommen. Es muß auffallen, daß Brahms alle Orchesterwerke Beethovens nur einmal zur Aufführung brachte. Dies hatte vielleicht nicht nur damit zu tun, daß er als Dirigent nicht so häufig auftrat wie als Pianist. Fast scheint es, als ob Aufführung und der Wunsch, eine bestimmte Komposition eingehender zu studieren, sich gegenseitig bedingten. Selbst nach einer Aufführung war also ein wesentlicher Zweck für Brahms schon erreicht. Er hatte sich mit einem Werk Beethovens intensiver beschäftigen können. Gleich für sein erstes Konzert als Chormeister der Wiener Singakademie am 15. November 1863 im großen Redoutensaal, in dem 39 Jahre zuvor Beethovens Kantate „Der glorreiche Augenblick“ op. 136 seine Uraufführung erlebt hatte, hatte er Beethovens Opferlied op. 121b auf das Programm gesetzt. Ebenda hatte am 25.12.1815 auch die zweite öffentliche Aufführung der Ouvertüre „zur Namensfeier“ op. 115 stattgefunden, die Brahms wie auch den Elegischen Gesang op. 118 bei anderer Gelegenheit dirigierte. Von den „großen“ Orchesterwerken wählte Beethoven noch die Fantasie für Klavier, Chor und Orchester c-Moll op. 80 für eine Aufführung im Dezember 1873. Wie wir bereits gesehen haben, war Brahms durch Schenkung in den Besitz einer originären Quelle zur Missa solemnis op. 123 gekommen, die ihn zu einer Aufführung geradezu verpflichtete. Das gilt auch (wenn auch nur auf den Klavierauszug bezogen) für die 8. Symphonie op. 93, mit der sich Brahms wie erwähnt mehrfach beschäftigte und die er im Jahre 1881 in Breslau dirigierte. Auch in seiner Doppelrolle als Pianist und Komponist bewegte sich Brahms ja in Beethovens Fußstapfen. Beethoven nahm im Repertoire des Konzertpianisten und Dirigenten Brahms - von seinen eigenen Werken einmal abgesehen - den ersten Platz ein. Schon für seinen erstes Auftreten in Wien mit einem Solokonzert wählte er im März 1863 Beethovens 4. Klavierkonzert op. 58. Dieses Konzert bevorzugt Brahms gegenüber dem 5. Klavierkonzert op. 73, das er (neben dem Tripelkonzert op. 56) ebenfalls im Repertoire hatte, aber nur bei drei Tourneen in größerem zeitlichem Abstand spielte. Wie es für einen damaligen ambitionierten Pianisten geziemte, der zugleich auch Komponist war, hat Brahms (wie Clara Schumann) zu seinem Lieblingskonzert eine eigene Kadenz geschrieben. Umgekehrt erfahren wir aus einem Schreiben an Richard Heuberger vom x.x 18xx, weshalb er Beethovens 3. Klavierkonzert op. 37 wohl nicht in sein Repertoire aufnahm. Er verglich es mit Mozarts c-Moll-Konzert KV 491, das er Clara Schumann empfohlen und zu dem er spätestens 1861 ebenfalls eine Kadenz, sein WoO posthum 15, verfaßt hatte (o. Imperfekt? Vgl. Datierung des Briefes !!?). „Ich finde immer, daß z.B. Beethovens c-moll-Konzert viel kleiner, schwächer ist, als das Mozartsche. Sie wissen ja, wie ich über Beethoven denke! Ich verstehe sehr gut, daß die neue Persönlichkeit Beethovens, die neue Aussicht, die seine Arbeiten den Leuten gewährten, ihnen denselben größer, bedeutender erscheinen ließ. Aber schon fünfzig Jahre nachher müßte man das Urteil richtigstellen können. Ich gebe zu, das Beethovensche Konzert ist moderner, aber nicht so bedeutend! Ich sehe auch ein, daß Beethovens erste Sinfonie den Leuten so kollosal imponierte. Das ist eben eine neue Aussicht! Aber die drei letzten Mozartschen Sinfonien sind doch viel bedeutender! Dies spüren jetzt schon hier und da die Leute! ... Ja, die Rasumowsky-Quartette, die späteren Sinfonien, das ist eine neue bedeutende Welt. Sie meldete sich schon in der II. Sinfonie.“ (Bezüglich der Symphonien äußert er also eine ganz ähnliche Einschätzung wie Bülow.) Kurioserweise wurde Brahms bis vor zwanzig Jahren eine Kadenz gerade zu Beethovens 3. Klavierkonzert zugeschrieben, die in Wirklichkeit Ignaz Moscheles zum Autor hat. Unter den Klaviersonaten bevorzugte er - zumindest bei öffentlichen Auftritten - die Sonata quasi una Fantasia Es-Dur op. 27 Nr. 1, die „Waldstein“-Sonate C-Dur op. 53 (die er, wie bereits erwähnt, auch auf „interessante Stellen“ hin durchgesehen hat) und auch das ursprünglich deren 2. Satz bildende Andante favori F-Dur WoO 57, die Sonate F-Dur op. 54 sowie - mit den höchsten Aufführungszahlen - die beiden Sonaten E-Dur op. 109 und cMoll op. 111, also Werke aus zwei zeitlich eng umrissenen Schaffensperioden Beethovens, nämlich 1800-1804 bzw. 1820-1822. An ihnen mag Beethoven die der Fantasie nahestehenden Sätze besonders angezogen haben, gehörte doch auch die Fantasie H-Dur op. 77 zu den von Brahms bevorzugten Klavierwerken Beethovens. Auch von anderen Komponisten nahm Brahms nicht die gängigen, „großen“ Werke in seine Konzertprogramme auf, sondern etwa auch eine Gavotte von Christoph Willibald Gluck oder ein Rondo von F. Couperin. Für einen Duoabend mit Joseph Joachim am 23. November 1867 im Wiener Musikverein hatte Brahms in einem ersten Programmentwurf die Klaviersonate e-Moll op. 90 vorgesehen, das Programm dann aber doch kurzfristig umgestellt. Es war weniger anspruchsvoll und mehr den Erwartungen des Publikums gerecht werdend. Es nimmt nicht Wunder, daß Brahms, der die Gattung der Variationen gleich durch mehrere Meisterwerke bereicherte und selbst von seinen Gegner als unumstrittener Meister auf diesem Gebiet und - in deren Augen nur hier - Beethoven gleichrangig angesehen wurde, als Pianist Beethovens Eroica-Variationen op. 35 und häufig auch dessen c-Moll-Variationen WoO 80 spielte. Gegenüber Joseph Joachim äußerte er der junge Brahms einmal: „Ich mache manchmal Betrachtungen über die Variationenform und finde, sie müßten strenger, reiner gehalten werden. Die Alten behielten durchweg den Baß des Themas, ihr eigentliches Thema, streng bei. Bei Beethoven ist die Melodie, Harmonie und der Rhythmus so schön variiert. Ich muß aber manchmal finden, daß Neuere (wir beide!) mehr - ich weiß den rechten Ausdruck nicht - über dem Thema wühlen. Wir behalten oft die Melodie ängstlich bei, aber behandeln sie nicht frei, schaffen eigentlich nichts Neues daraus, sondern beladen sie nur. Aber die Melodie ist deshalb gar nicht zu erkennen.“ Aus einem Bericht des Brahms-Biographen Max Kalbeck wissen wir, daß Brahms auch eine Klavierfassung der Fuge aus Beethovens Streichquartett C-Dur op. 59 Nr. 3 erstellt hat, die - weil er sie „für sich allein behalten wollte“ unveröffentlicht blieb und heute verschollen ist. Es ist bezeichnend, daß er gerade diesen Satz wählte. Sie dokumentiert neuerlich sein großes Interesse an kontrapunktischen Formen. Vom langsamen Satz dieses Quartetts war im Wiener Musikverlag Artaria schon 1818 ein Übertragung für Klavier erschienen, viel später folgte eine Klavierübertragung aller Streichquartette Beethovens durch Friedrich Wilhelm Markull (18161887?), erschienen im Verlag Holle, Wolfenbüttel. Als Klavierbegleiter pflegte Brahms die Violinsonaten op. 30, die „Kreutzer“-Sonate op. 47 und die Violinsonate G-Dur op. 96, mithin die damals gängigen Werke. Joseph Joachim begleitete er auch der Violinromanze F-Dur op. 50 aus dem Klavierauszug. Als Liedbegleiter von Julius Stockhausen brachte Brahms 1861 in seiner Heimatstadt den Liederkreis „An die ferne Geliebte“ op. 98 und zwei Jahre später in Wien Bearbeitungen von Schottischen Liedern zu Gehör. Soweit nicht Korrespondenz zwischen den Duopartnern Aufschluß gibt, ist schwer zu beantworten, inwieweit die Werkauswahl mehr auf die Solisten oder eben Brahms selbst zurückging. Johannes Brahms und das Beethoven-Haus Als nur indirekt dem Thema Brahms und Beethoven zugehörig soll die Ausstellung mit einem Appendix enden, der die Verbindung von Brahms mit dem Beethoven-Haus dokumentiert. (Zum Thema „Johannes Brahms und Bonn“ siehe die parallel erscheinende Publikation, herausgegeben im Auftrag der Stadt Bonn: Stadt-Archiv und Stadtmuseum sowie des Beethoven-Hauses von Martella Gutiérrez-Denhoff, Bonn 1997. Sie zeigt Brahms’ Aufenthalte in Bonn seit 1853 und die Beziehungen zu seinen Bonner Freunden auf.) Es lag nahe, daß der im Februar 1889 gegründete Verein Beethoven-Haus, der es sich zum Ziel gemacht hat, Beethovens Geburtshaus vor dem Verfall zu bewahren und zu einer Gedenkstätte einzurichten, bestrebt war, gerade auch Johannes Brahms als Ehrenmitglied zu gewinnen, der auf diese Weise das Vereinsanliegen ideell unterstützen und ihm entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit sichern sollte. Bezeichnenderweise war Brahms der erste überhaupt, der als potentielles Ehrenmitglied genannt wurde. Der Vereinsvorstand hatte Joseph Joachim die Ehrenpräsidentschaft angetragen und so auch die Brücke zu Brahms geschlagen. Im Mai 1889 nahm Brahms die Wahl an. Sein Name findet sich unter einem öffentlichen Aufruf als einer jener, „welche durch die Annahme der Ehrenmitgliedschaft dem Verein die erste wirksame Förderung angedeihen ließen“ und die „alle Verehrer Beethoven’s aufrufen, durch Eintritt in den Verein, durch Schenkungen für unser Beethoven-Museum oder durch Gewährung sonstiger Mittel zur Ausführung und Vollendung unseres Werkes beizusteuern.“ Brahms tat dies, indem er zu einer großen Beethoven-Ausstellung, die der junge Verein Beethoven-Haus im Mai 1890 veranstaltete vier wertvolle Beethoveniana als Leihgabe zur Verfügung stellte. Eine dieser Leihgaben, die einzige erhaltene Handschrift von Beethovens Vater, hat er drei Jahre später dem Beethoven-Haus als Geschenk überlassen, ebenso wie sein Porträt in der Radierung von Ludwig Michalek. Für die 1890, 1893 durchgeführten Kammermusikfeste und das für 1895 geplante wurde Brahms ohne Erfolg um seine Mitwirkung gebeten. Als 1897 wieder ein Kammermusikfest anstand, wurde die Programmplanung nach Brahms’ Tod am 3. April kurzfristig verändert und mit einem Schwerpunkt auf dessen Werke zugleich als „Gedächtniß-Feier für Johannes Brahms“ veranstaltet.