216 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 1800 1808 Wegener, Heide 2007 Entwicklungen im heutigen Deutsch ! wird Deutsch einfacher? Deutsche Sprache 35: 35!62. Wegener, Heide 2008 Der Erwerb eines komplexen morphologischen Systems in DaZ ! der Plural deutscher Substantive. In: Patrick Grommes und Maik Walter (Hg), Fortgeschrittene Lernervarietäten, 93!118. Tübingen: Niemeyer. Weinrich, Harald 1993 Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim: Duden. 1809 Heide Wegener, Potsdam (Deutschland) 1801 1802 1803 1804 1805 1806 1807 1810 21. Syntax 1815 1. 2. 3. 4. 5. 1816 1. Einleitung 1811 1812 1813 1814 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 Einleitung Syntaxtheoretische Vielfalt, Sprachtypologie und DaF/DaZ. Zur Forschungslage Die Syntax der deutschen Gegenwartssprache aus DaF/DaZ-Perspektive Deutsche Syntax als Lerngegenstand Literatur in Auswahl Die Syntax (früher auch «Satzlehre» genannt) befasst sich mit den Regularitäten, die der Bildung von Sätzen zugrunde liegen. Dabei wird der Begriff Satz einerseits in einem eher vortheoretischen und nicht ganz präzisen Sinne als eine sprachliche Einheit verstanden, die (heutzutage) in der Schrift durch so genannte große Satzzeichen ! Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Semikolon ! abgegrenzt wird (oder werden könnte) und in der gesprochenen Sprache durch eine spezifische finale Intonation (Dudengrammatik 2009: 105!106) gekennzeichnet ist. Dieser tradierte Satzbegriff bietet nicht zuletzt mit Bezug auf die gesprochene Sprache erhebliche Abgrenzungsprobleme (s. unter anderen Ehlich 1992). Andererseits wird der Satz einfach als der Gegenstand einer syntaktischen Theorie verstanden, d. h. als das, was die syntaktische Theorie selber als einen Satz definiert. Die beiden verschiedenen Satzbegriffe unterscheiden sich allerdings in der Praxis lediglich an den Rändern; im Kern sind sie weitgehend deckungsgleich im Hinblick darauf, welche sprachlichen Ausdrücke jeweils als Sätze kategorisiert werden und welche nicht. Von diesem Kernbereich wird im Folgenden die Rede sein, und zwar eingeschränkt auf die geschriebene Sprache (für die Grammatik der gesprochenen Sprache s. Dudengrammatik 2009: 1198!1217). So wollen wir davon ausgehen, dass zu einem prototypischen Satz des Deutschen zumindest ein finites Verb (eine im Hinblick auf Tempus/Modus, Numerus und Person flektierte Verbalform) gehört. Die kleinsten Bausteine der Syntax im traditionellen Sinne des Wortes sind morphologische Wörter, d. h. Wortformen, die im Hinblick auf die für die jeweilige Wortart rele- 21. Syntax 217 vanten grammatischen Merkmale (Kasus, Numerus, Tempus, usw.) spezifiziert sind. Demnach hat die Syntax eine Schnittstelle zur (Flexions-)Morphologie (s. Art. 20), weswegen die Syntax und die Morphologie oft unter der Bezeichnung Morphosyntax zusammenfasst werden. Die Syntax legt fest, wie sich morphologische Wörter zu komplexeren Kategorien ! syntaktische Phrasen ! zusammenfügen, die wiederum die Bestandteile des Satzes bilden. Charakteristisch für das Deutsche und viele andere Sprachen ist nun zum einen, dass Flexionsformen oft morphologisch unterspezifiziert oder mehrdeutig sind. So kann die Ärztin Nominativ sein wie der Arzt oder Akkusativ wie den Arzt, und bei der Verbalform tanzt kann es sich um die 3. Pers. Sg. des Präsens Indikativ handeln wie bei hilft oder um die 2. Pers. Pl. wie bei helft. Zum anderen gibt es meistens auch keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen voll spezifizierten Phrasenkategorien wie «Nominalphrase im Akkusativ» und syntaktischen Funktionen: Nominalphrasen im Akkusativ können zum Beispiel als („direkte“) Objekte von Verben dienen ! aber auch etwa von bestimmten Präpositionen regiert sein (vgl. jemanden kennen und an jemanden denken); und umgekehrt kann das „direkte“ Objekt bei bestimmten Verben (auch) beispielsweise als ein mit dass eingeleiteter Satz realisiert werden (Er hat den Vortrag nicht verstanden. vs. Er hat nicht verstanden, dass ich es ernst meine.). Da Wörter derselben Wortart sich in Hinblick auf ihre syntaktischen Konstruktionsmöglichkeiten voneinander unterscheiden können, hat die Syntax somit auch eine Schnittstelle zum Lexikon (Wortschatz). Syntaktische Regularitäten haben grundsätzlich eine semantische und/oder eine pragmatische Seite, indem die syntaktische Struktur einer komplexen Einheit sich entweder direkt auf deren Bedeutung auswirkt oder deren Verwendungsmöglichkeiten im (sprachlichen oder nicht sprachlichen) Kontext beeinflusst. So wird mit (1a), wo Arzt als Subjekt und Patientin als Objekt dient, eine ganz andere Situation beschrieben als mit (1b), wo es sich umgekehrt verhält (s. 3.2.). Und Sätze, die sich durch Erst- bzw. Zweitstellung des finiten Verbs unterscheiden (s. 3.1.), haben verschiedene syntaktisch-semantische Funktionsmöglichkeiten und ein unterschiedliches Sprachhandlungspotential, wie sich am Beispielpaar (2) veranschaulichen lässt: (2a) muss als eine Folge von zwei selbstständigen Sätzen (Aussagen), (2b) hingegen als ein komplexer Satz (ein Bedingungsgefüge) verstanden werden. 1837 (1) a. (Ein) Arzt biss (seine) Patientin ins Ohr. b. (Eine) Patientin biss (ihren) Arzt ins Ohr. 1867 (2) a. Sie hat das Buch gekauft, so sollte sie es auch lesen. b. Hat sie das Buch gekauft, so sollte sie es auch lesen. 1868 Da Sätze letzten Endes nicht in Isolation auftreten, sondern immer in einen bestimmten sprachlichen Kontext und/oder einen Situationskontext eingebettet sind, müssen schließlich auch Schnittstellen zwischen der Syntax und der Text-/Diskursebene bzw. der pragmatischen Ebene andererseits angenommen werden. Die semantisch-pragmatischen Aspekte der Syntax sind nicht zuletzt im sprachvergleichenden Zusammenhang und damit auch aus DaF/DaZ-Perspektive von herausragender Bedeutung, geht es doch letzten Ende darum, wie das, was man in der jeweiligen Primärsprache so oder so ausdrückt, in der fremden Sprache ausdrücken kann oder muss (produktive Perspektive, s. Abschn. 4), bzw. welche Inhalte oder kommunikative Funktionen mit diesen oder jenen Konstruktionen der fremden Sprache verbunden sind und wie sie sich in der Hinsicht zu vergleichbaren Strukturen der Primärsprache verhalten (rezeptive Perspektive, s. Abschn. 4). 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865 1866 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 218 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 2. Syntaxtheoretische Viel!alt, Sprachtypologie und DaF/DaZ. Zur Forschungslage Es ist im Rahmen dieses Artikels unmöglich, der reichhaltigen Literatur zur deutschen Syntax auch nur annähernd gerecht zu werden. Erwähnt werden sollen lediglich zwei Umstände, die im gegebenen Zusammenhang von besonderem Interesse sind: die Vielfalt syntaktischer Theorien und die Fortschritte bei der typologisch-kontrastiven Einordnung des Deutschen. Seit Jahrzehnten sind mehrere syntaktische Theorien oder Beschreibungsverfahren auf dem Markt: sukzessive Versionen der generativen Grammatik, Lexikalische Funktionale Grammatik (LFG), Head-Driven Phrase Structure Grammar (HPSG), Kategorialgrammatik, Konstruktionsgrammatik, Dependenz- und Valenztheorie und anderes mehr. Sie unterscheiden sich unter Anderem in ihrer Erklärung des Spracherwerbs, in ihren Universalitäts- und Vollständigkeitsansprüchen, in ihrer Gewichtung der Syntax und, damit zusammenhängend, in ihrer Darstellung der Interaktion von Syntax und Semantik und/oder Syntax und Morphologie ! und nicht zuletzt in ihrer Formalisierung bzw. Formalisierbarkeit. In einschlägigen Einzeluntersuchungen und auch in Einführungen wie Stechow/Sternefeld (1988), Sternefeld (2006), Heringer (1996) werden z. T. neue und detaillierte Einsichten in die Syntax des Deutschen und deren Eigenart im Vergleich zu anderen Sprachen (Abraham 2004, 2005) vermittelt, die im DaF/DaZ-Zusammenhang durchaus relevant sind. Entsprechendes gilt natürlich auch für die umfassenden und theoretisch expliziten wissenschaftlichen Grammatiken von Heidolph u. a. (1981) und Zifonun u. a. (1997). Der theoretische Überbau über den zu vermittelnden Fakten stellt jedoch weitgehend eine zu hohe Hürde dar, um einen direkten Einsatz solcher Arbeiten als Lehrwerke oder curriculare Lektüre in DaF/DaZ-Studiengängen sinnvoll erscheinen zu lassen ! von Lehrwerken für Deutschlernende ganz zu schweigen. Auch weniger anspruchsvolle Referenzgrammatiken und Standardbeschreibungen der deutschen Grammatik bzw. Syntax wie die Dudengrammatik (2005/09), Eisenberg (1998), Engel (1994, 2004), Eroms (2000), Helbig und Buscha (2001) sind in theoretischer Hinsicht z. T. unterschiedlich orientiert und verwenden teilweise verschiedene Terminologien und Darstellungsverfahren. Dies ist aus der DaF/DaZ-Perspektive kaum eine ideale Lage, und zwar schon deswegen nicht, weil die Lerner und zum großen Teil auch die angehenden Lehrer nicht nur eine andere Primärsprache haben, sondern möglicherweise auch in einer anderen Grammatiktradition groß geworden sind. Terminologische Idiosynkrasien und theoretische Auseinandersetzungen, die im Wesentlichen durch die unscharfen Ränder grammatischer Kategorisierungen verursacht sind, sollten deshalb auf ein Minimum reduziert werden. Vor diesem Hintergrund sind typologisch-kontrastiv orientierte Darstellungen der deutschen Syntax (Grammatik), wie sie im Rahmen des am Institut für deutsche Sprache laufenden Forschungsvorhabens Die Grammatik des Deutschen im Europäischen Vergleich (s. Zifonun 2001a) erarbeitet werden, sehr willkommen. Das Vorhaben basiert auf der Grundannahme, dass es „universale Übereinstimmung“ gibt „in der Existenz einiger weniger syntaktischer oder auch morphologischer Konstruktionen, die bestimmten notwendigen kommunikativen Grundfunktionen dienen. Als solche werden genannt: die Referenz (als Grundfunktion nominaler Konstruktionen), die Prädikation (als Grundfunktion verbaler Konstruktionen im Satz) und die Attribution (als Grundform adjektivischer Konstruktionen)“ (Zifonun 2001: 9). Zu jedem Phänomenbereich ist ein interlingualer 21. Syntax funktionaler (semantisch-pragmatischer) Zugang möglich, wobei als heuristische Basis „funktionale Domänen“ dienen, die bestimmten formal definierten größeren sprachlichen Objektbereichen zugeordnet werden. Zu solchen Bereichen werden formale Differenzierungen des Deutschen in Beziehung gesetzt. Dieses Verfahren führt zu einer „fortschreitenden kontrastiven Form- und Funktionsdifferenzierung“ (ebd.), bei der invariante Merkmale, die als notwendig relativ zu dem Konstruktionstyp und der Menge der Vergleichssprachen betrachtet werden können, identifiziert und gegenüber Parametern der interlingualen Varianz abgesetzt werden (ebd.). Eine solche typologisch-kontrastive Verortung des Deutschen wäre aus DaF-/DaZ-Sicht auch mit Bezug auf ausgewählte nicht-europäische Sprachen zu wünschen. Die Vorgehensweise unterscheidet sich von breiter angelegten typologischen Vorhaben wie das Projekt Typology of Languages in Europe (EUROTYP; s. Hinweise in Zifonun 2001) ! ohne die sie andererseits kaum denkbar wäre ! durch den Fokus auf eine Einzelsprache (Deutsch) und die Feinkörnigkeit des Vergleichs und hat zugleich gegenüber der traditionellen Kontrastierung zweier Einzelsprachen (s. Hinweise in Zifonun 2001) den Vorteil einer breiteren Vergleichsbasis und einer typologisch fundierten Begrifflichkeit. 3. Die Syntax der deutschen Gegenwartssprache aus DaF/DaZ-Perspektive Im Rahmen des im Abschnitt 2 erwähnten EUROTYP-Projekts ist Deutsch als Repräsentant des Standard Average European charakterisiert worden; s. auch Askedal (2000). Aus Platzgründen konzentriert sich die folgende Synopsis der deutschen Syntax auf Bereiche oder Merkmale, in denen Deutsch von anderen zentralen europäischen Sprachen abweicht und die erfahrungsgemäß Deutschlernenden aus verschiedenen Ländern Probleme bereiten. Vorab sind als allgemeine morphosyntaktische Stolpersteine nochmals hervorzuheben, dass Deutsch eine teilweise fusionierende und unregelmäßige Flexionsmorphologie mit viel Unterbestimmtheit bzw. vielen Synkretismen besitzt (s. Art. 20) und dass weitgehend auch keine Eins-zu-Eins-Beziehung besteht zwischen morphologisch spezifizierter Form und syntaktischer Funktion (s. Abschn. 1). 3.1. Linearisierungsprinzipien und Satztypen Deutsch ist aus typologischer Sicht durch zwei zentrale wortstellungsbezogene (besser: linearisierungsbezogene) Eigenschaften gekennzeichnet: (i) In der „Grundwortstellung“ folgt das Verb oder Verbalglied allen von ihm abhängigen Phrasen (Objekten, Adverbialbestimmungen), einschließlich des Subjekts, nach: Deutsch als sog. O(bjekt)-V(erb)-Sprache. Die Grundwortstellung manifestiert sich in dass-Sätzen (5) und anderen als abhängig markierten Sätzen („Nebensätzen“) sowie in Infinitivkonstruktionen (6); und sie lässt sich an der Stellung des infiniten Vollverbs in Hauptsätzen mit komplexen Tempusformen o. dgl. beobachten; vgl. (3), (4a,c) Durch diese Linksdirektionalität unterscheidet sich Deutsch von VO-Sprachen (rechtsdirektionalen Sprachen) wie dem Englischen. 219 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 220 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 1966 (3) a. Sie hat das Buch schon gestern gekauft. b. Das Buch hat sie schon gestern gekauft. c. Aus dem Grunde hat sie das Buch schon gestern gekauft. 1967 (4) a. Hat sie das Buch gekauft? b. Kauf doch das Buch! c. Schau dir den Hut an! 1968 (5) Sie sagt, dass sie das Buch schon gestern gekauft hat. 1969 (6) Sie hat versprochen, mir das Buch zu kaufen. 1970 (ii) In sog. Hauptsätzen steht das finite Verb (die Personalform des Verbs) jedoch am Satzanfang, und zwar entweder ganz am Anfang wie in (4) oder an zweiter Stelle wie in (3): Deutsch als Verbzweit- bzw. V2-Sprache). Die Position vor dem finiten Verb wird in der deutschen grammatischen Tradition meistens als Vorfeld, heute auch als Topikposition bezeichnet. Hier kann im Normalfall nur ein Satzglied stehen, sei es das Subjekt (3a), ein Objekt (3b) oder eine Adverbialbestimmung (3c). Wird ein anderes Satzglied als das Subjekt dort platziert, so muss das Subjekt dem finiten Verb nachfolgen (3c). Das Deutsche teilt dieses sprachtypologisch eher seltene Merkmal mit dem Niederländischen und den skandinavischen Sprachen. Englisch hingegen weist wie Französisch die Grundabfolge „Subjekt vor finitem Verb“ auf und erlaubt mehr als ein Satzglied vor dem finiten Verb. Nach den Positionsmöglichkeiten des finiten Verbs unterscheidet man drei Satztypen, die heute oft als Verbzweit-, Verberst- und Verbletzt-Sätze bezeichnet werden. Die beiden ersteren (die Hauptsatztypen) werden primär als syntaktisch selbstständige Sätze verwendet und sind dabei verschiedenen Sprachhandlungstypen zugeordnet: Behauptungen, Feststellungen und dgl. müssen als Verbzweit-Sätze ausgedrückt werden (3), während Entscheidungsfragen, Befehle und Aufforderungen typisch als Verberst-Sätze realisiert werden (4). Verbletzt-Sätze sind demgegenüber im typischen Fall syntaktisch-semantisch untergeordnet, indem sie als Satzglieder oder Teile von Satzgliedern in komplexe selbstständige Sätze eingebettet sind (5). Es handelt sich jedoch insgesamt um prototypische Form-Funktion-Zuordnungen, die in unterschiedlicher Weise durchbrochen werden können. So dient der Verberst-Satz in (2b) als untergeordneter Bedingungssatz. Die Position des finiten Verbs im Hauptsatz steht gewissermaßen im Widerspruch zu der grundsätzlichen Linksdirektionalität des Deutschen. Das Ergebnis ist die wohlbekannte Verbalklammer: Umfasst das Verbalglied zusätzlich zum finiten Verb auch infinite Verbalformen oder eine trennbare Partikel, so erscheinen die anderen Satzglieder, wenn man vom etwaigen Vorfeld absieht, von diesen beiden Teilen des Verbalgliedes „umklammert“; vgl. (3) und (4a, c). Besteht das Verbalglied lediglich aus dem finiten (Voll-)Verb, so gibt es freilich keine Verbalklammer ! und Deutsch mag sich oberflächlich betrachtet als eine Verb-Objekt-Sprache manifestieren (4b). In Verbletzt-Sätzen, wo das ganze Verbalglied im Schlussfeld steht, bildet das besondere Einleitewort (z. B. dass), das dieser Satztyp verlangt, den ersten Teil einer entsprechenden Satzklammer (5). Untergeordnete Sätze und auch nicht satzförmige Phrasen können oder müssen jedoch u. U. nach rechts „ausgeklammert“ ! extraponiert ! werden wie die Infinitivkonstruktion (mir das Buch zu kaufen) relativ zum übergeordneten Satz in (6). Die Linearisierung innerhalb der Satzklammer, im sog. Mittelfeld, wird durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedener Prinzipien ! Form, syntaktisch-semantische 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 21. Syntax Funktion, Eigensemantik (Belebtheit, Bestimmtheit), Informationsstruktur ! reguliert (Zifonun u. a. 1997, Bd. 2). Hier sei lediglich betont, dass die interne Abfolge der kasusmarkierten nominalen Satzglieder (Subjekt, direktes und indirektes Objekt) variieren kann ! anders als in Sprachen, die diese primären syntaktischen Funktionen primär durch die Wortstellung markieren. Zu einem finiten Verb gehört im Deutschen ! anders als etwa im Italienischen ! ein explizites Subjekt (im Nominativ, wenn (pro)nominal realisiert), nach dem sich die Personalendung des Verbs in Person und Numerus richtet (Subjekt-Verb-Kongruenz). Echt subjektlos sind mit wenigen Ausnahmen lediglich (mit werden gebildete) Passivsätze, die Aktivsätzen ohne Akkusativobjekt entsprechen. Das finite Verb steht dann in der 3. Pers. Sing. (s. 3.2.). Deutsch erlaubt im Unterschied etwa zum Englischen kein „Präpositionsstranden“ und in der Regel auch keine „lange Bewegung“. Das heißt für Verbzweit-Sätze Folgendes: Man kann eine Präposition und die von ihr regierte Nominalphrase nicht trennen, indem man letztere ins Vorfeld stellt (topikalisiert) und die Präposition im Satzinnern bzw. am Satzende belässt (7); und man kann ein Satzglied nicht aus einem untergeordneten Satz über die Satzgrenze hinweg topikalisieren (8). Entsprechende Beschränkungen gelten für Relativsätze (9). (7) (8) (9) a. *! Den Stuhl solltest du dich nicht setzen auf _. b. Auf den Stuhl solltest du dich nicht setzen. / Du solltest dich nicht auf den Stuhl setzen. a. *! Den Stuhl glaube ich nicht, [dass ich mir _ leisten kann]. b. Ich glaube nicht, [dass ich mir den Stuhl leisten kann]. / Den Stuhl kann ich mir, glaube ich, nicht leisten. a. *! Das ist ein Stuhl, den du dich nicht setzen auf _solltest. b. Das ist ein Stuhl, auf den du dich nicht setzen solltest. 3.2. Der Verbalbereich Vollverben unterscheiden sich im Hinblick darauf, welche Arten syntaktischer Ergänzungen (nominale, präpositionale, satzförmige, …) sie im Aktiv zu sich nehmen können oder müssen und wie die entsprechenden Aktanten an dem vom Verb beschriebenen Geschehen beteiligt sind, d. h. welche „semantischen Rollen“ (Agens, d. h. handelnde oder verantwortliche Person, Wahrnehmer, Empfänger, Nutznießer, Patiens …) sie tragen. Diese Eigenschaft wird of die syntaktisch-semantische Valenz des Verbs genannt. Besonders wichtig sind aus DaF/DaZ-Sicht der Gebrauch der Kasus (Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv) zur Markierung nominaler Satzglieder und die Zuordnung von semantischen Rollen zu solchen Satzgliedern. Im Normalfall gelten folgende Regeln: (i) Die Agensrolle ! allgemeiner: die einem Agens ähnlichste Rolle ! fällt dem Subjekt zu, das im Nominativ steht. (ii) Wenn das Verb sich mit nur einem Kasusobjekt verbindet, handelt es sich um ein Akkusativobjekt (jemanden lieben). (ii) Nimmt das Verb zwei Kasusobjekte zu sich, so ist das eine ein Akkusativ-, das andere ein Dativobjekt, und letzteres trägt die Rolle des Empfängers, Nutznießers o.dgl. (jemandem etwas schenken/erzählen). Es gibt jedoch auch Verben mit abweichender, mehr oder weniger idiosynkratischer Kasusoder Rollenzuordnung (jemandem gehorchen, jemanden eines Verbrechens bezichtigen, je- 221 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 2033 2034 2035 2036 2037 2038 2039 2040 2041 2042 2043 2044 2045 2046 222 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 2047 manden [einer Prüfung]Dativ unterziehen), deren syntaktisches Verhalten man sich als Lerner dann besonders merken muss. Der Dativ kennt darüber hinaus auch eine freiere Verwendung zur Bezeichnung des Interessenten, Nutznießers, Urteilenden o. dgl., die sich in der Praxis allerdings nicht so leicht vom valenzbedingten Dativ abgrenzen lässt (Der Rock war ihr zu lang. ! Rede mir bitte nicht mehr davon!) Auffällig ist im Vergleich zu vielen anderen Sprachen der sog. possessive Dativ bzw. Pertinenzdativ (Dem Jungen fielen die Augen langsam zu.). Die Zuordnung von syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen ändert sich im Passiv, das im Defaultfall mit dem Hilfsverb werden " Partizip Perfekt gebildet wird: Das Subjekt des Aktivs wird dann zu einer optionalen Präpositionalphrase „heruntergestuft“. Nimmt das Verb im Aktiv ein Akkusativobjekt, so wird dieses zugleich zum Subjekt des Passivs „heraufgestuft“ (10). Gibt es im Aktiv kein Akkusativobjekt, so bleibt das Passiv subjektlos (11, 12). Neben dem normalen werden-Passiv gibt es andere passivische Konstruktionstypen, bei denen die Zuordnung anders verläuft (Rezipienten- bzw. bekommen-Passiv) oder zusätzliche Bedeutungsänderungen stattfinden (Zustands- bzw. sein-Passiv). 2048 2049 2050 2051 2052 2053 2054 2055 2056 2057 2058 2059 2060 2061 2062 2063 2064 2065 (10) a. Die Mechaniker reparierten schnell den Motor. b. Der Motor wurde schnell (von den Mechanikern) repariert. (11) a. Kann man ihnen nicht helfen? b. Kann ihnen nicht geholfen werden? (12) a. Hier meckern alle ständig. b. Hier wird ständig gemeckert. 2081 Einige wenige Verben ! vor allem sein, werden, bleiben und machen ! verbinden sich mit Adjektivphrasen. Das Adjektiv bleibt in dieser prädikativischen Funktion undekliniert (Bücher sind teuer. Wir machen das Loch größer.) Verben werden im Deutschen in den finiten Kategorien Tempus (Präsens/Präteritum), Modus (Indikativ/Konjunktiv), Person und Numerus (morphologisch) flektiert (s. Art. 20). Passivformen, Perfekt- und Futurtempora und der sog. Konditional (würde " Infinitiv) sind keine einfachen Flexionsformen, sondern syntaktische Konstruktionen, die als Minimum aus einer finiten Form eines sog. Hilfsverbs und einer infiniten Form (dem Infinitiv oder dem Partizip Perfekt des Vollverbs) bestehen. Die Hilfsverben (haben, sein, werden) sind Teile eines differenzierten Systems „infinitregierender Verben“ (Dudengrammatik 2009: 415!417), zu dem u. a. auch die Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen) gehören. Mit Hilfe solcher infinitregierenden Verben können ganze Ketten von Verben gebildet werden, deren interne Abfolge am Satzende mit gewissen Ausnahmen auch dem Prinzip der Linksdirektionalität (s. 3.1.) gehorcht: Als Hauptregel gilt, dass ein infinites Verb unmittelbar vor dem regierenden Verb steht (…, dass sie wieder nichts getan3 haben2 wird1; …, dass die Daten versehentlich gelöscht4 worden3 sein2 sollen1). 2082 3.3. Der Nominalbereich 2066 2067 2068 2069 2070 2071 2072 2073 2074 2075 2076 2077 2078 2079 2080 2083 2084 2085 Nominalphrasen ! heute oft Determinativphrasen genannt ! haben ein Substantiv oder ein Pronomen als lexikalischen Kern (die armen Menschen ! wir Armen) und weisen im Kontext immer einen bestimmten Kasus (Nominativ, Akkusativ, Dativ oder Genitiv) 21. Syntax auf, der am lexikalischen Kern (Menschen bzw. wir) und den mit ihm kongruierenden Bestandteilen der Nominalphrase (die armen bzw. Armen) mehr oder weniger eindeutig (s. Abschn. 1) markiert wird. Der Kasus wird der Nominalphrase „von außen“ zugewiesen, d. h. er hängt von ihrer syntaktischen Funktion auf: Der Nominativ ist im Wesentlichen dem Subjekt vorbehalten, nominale Ergänzungen von Verben stehen im Akkusativ oder Dativ, selten im Genitiv (s. 3.2.), Präpositionen regieren vorwiegend den Dativ (mit, zu, gegenüber, laut…), den Akkusativ (durch, für, …) oder einen von beiden, je nach dem Zusammenhang (an, auf, …); Genitivrektion ist weitgehend auf neuere, komplexe Präpositionen beschränkt (anhand, aufgrund, …). In seiner Hauptfunktion markiert der Genitiv, dass die betreffende Nominalphrase einem anderen Substantiv als Attribut untergeordnet ist; er folgt dabei im Normalfall dem übergeordneten Substantiv unmittelbar nach (das Haus meiner Großmutter, Einwände des Chefs, die Hälfte seines Vermögens, die Kunst des Singens). Dabei deckt der nachgestellte Genitiv ein breiteres Funktionsspektrum ab als der vorangestellte Genitiv, der meistens Zugehörigkeit ausdrückt. ! Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Nominalphrasen mit substantivischem Kern, die im Deutschen eine besonders komplizierte Struktur aufweisen können. Die Substantivphrase wird grundsätzlich durch ein Determinativ (der/die/das, ein/eine/ ein, jeder/jede/jedes, einige, …) eingeleitet, das im Kasus, Numerus und Genus mit dem Substantiv übereinstimmt (der Mensch, dem Menschen, die Menschen). Anstelle des Determinativs kann allerdings auch ein (vorangestelltes) Genitivattribut ! im Normalfall der Genitiv eines Eigennamens o. dgl. ! erscheinen (Luthers Bibelübersetzung). Wird kein anderes Determinativ gewählt, so muss mit gewissen Ausnahmen der bestimmte Artikel (der/die/das) oder der unbestimmte Artikel (ein/eine/ein) bzw. (im Plural und bei Stoffnamen) der „Null-Artikel“ verwendet werden. Die Artikelwahl stellt für viele Deutschlernende ein Problem dar, sei es, weil die Primärsprache (Un-)Bestimmtheit der Referenz morphosyntaktisch gar nicht markiert oder weil der bestimmte und der unbestimmte Artikel im Deutschen die Definitheitsdimension etwas anders aufteilen als in der jeweiligen Primärsprache. Substantive können nach links und nach rechts durch Attribute erweitert werden. Die pränominale Position ! zwischen Determinativ und Substantiv ! ist adjektivischen Erweiterungen (einschl. Partizipialattribute) vorbehalten. Das Adjektiv wird in dieser Funktion dekliniert nach Regeln, die den meisten Lernern recht kompliziert erscheinen (ein armer Mensch, der arme Mensch, arme Menschen, die armen Menschen, mit großem Vergnügen, mit dem größten Vergnügen usw.). Insgesamt bilden Determinativ, pränominale Attribute und Substantiv eine durch die Kasus-, Numerus- und Genuskongruenz markierte Einheit, die manchmal als Substantivrahmen bezeichnet wird. Adjektive und insbesondere Partizipien lassen sich nun ihrerseits durch abhängige Phrasen unterschiedlicher Art erweitern, und zwar nach links in Übereinstimmung mit der grundlegenden Linksdirektionalität des Deutschen (sog. erweiterte vorangestellte Adjektiv-/Partizipialattribute). Da sich mit einem Substantiv außerdem mehrere aneinander gereihte oder explizit koordinierte Attribute verbinden lassen, kann der pränominale Bereich stark aufschwellen, so dass das Determinativ (wenn explizit vorhanden) und der substantivische Kern der Nominalphrase in der Praxis durch umfangreiche und verschachtelte pränominale Attribute weit auseinander gerissen werden (13). (13) a. (bei) allen sozial lebenden, keine Einzelreviere verteidigenden Säugern b. gut präparierte und bei Schneemangel künstlich beschneite Pisten 223 2086 2087 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095 2096 2097 2098 2099 2100 2101 2102 2103 2104 2105 2106 2107 2108 2109 2110 2111 2112 2113 2114 2115 2116 2117 2118 2119 2120 2121 2122 2123 2124 2125 2126 2127 2128 2129 2130 224 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 2131 Rechts vom Substantiv befinden sich Genitiv- und Präpositionalattribute sowie satzförmige Erweiterungen der Nominalphrase (d. h. vor allem Relativsätze), und zwar in der angegebenen Reihenfolge, sofern das Substantiv durch verschiedene Attributtypen erweitert wird (14a-b). Zu einem Substantiv kann es höchstens ein Genitivattribut geben, das ggf. dem Substantiv unmittelbar nachfolgt. Entsprechende Beschränkungen unterliegen Präpositionalattribute nicht, d. h. es können zu ein und demselben Substantiv mehrere nacheinander folgende Präpositionalattribute gleichen Ranges geben. Da es sich beim postnominalen Genitivattribut und dem nominalen Teil eines Präpositionalattributs um normale Nominalphrasen handelt, die sich ihrerseits wiederum nach links und rechts ausbauen lassen, kann auch der postnominale Bereich der Substantivphrase in der Praxis eine strukturell unübersichtliche Form annehmen (14). ! Anders als Genitiv- und Präpositionalattribute können satzförmige Attribute durch Ausklammerung von der Bezugsphrase getrennt werden (15). 2132 2133 2134 2135 2136 2137 2138 2139 2140 2141 2142 2143 2144 2145 2146 2147 2148 2149 2150 2151 2152 2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160 2161 2162 2163 2164 2165 2166 (14) a. der Export [von Gas] [nach Europa] [durch Russland], [der neuerdings stark kritisiert wurde] b. der Einspruch [einiger Kandidaten] [während der Prüfung], [das Gespräch verlasse die vorab abgesprochene Linie] b. der Vergleich [einer Vielfalt [statistischer Daten [zur wirtschaftlichen Lage [in der Bundesrepublik]]]] c. vom Rand [des kahlen, durch den beständig wehenden Sandwind abgeschmiergelten Plateaus] (15) a. Ich möchte hier einige Denkmuster [jener Bewegung [,die den Atomstaat zu verhindern bezweckt,]] kenntlich machen. b. Ich möchte hier einige Denkmuster jener Bewegung kenntlich machen, die den Atomstaat zu verhindern bezweckt. Relativsätze werden im Allgemeinen mit dem Relativpronomen (der/die/das) eingeleitet, das im Numerus und Genus mit der Bezugsnominalphrase im übergeordneten Satz kongruiert, während sein Kasus durch seine syntaktische Funktion im Relativsatz bestimmt wird (15); das Relativpronomen kann auch als Genitivattribut dienen (15c). ! (16) a. der Friede, den wir alle wollen, hat seinen Preis. b. der Friede, dem wir dienen, hat seinen Preis. c. Neulich hat es eine Sendung über die Brüder Grimm gegeben, deren Märchen die ganze Welt liest. Die Erweiterungsmöglichkeiten der Nominalphrase werden, von Relativsätzen abgesehen, in der gesprochenen Sprache im beschränkten Ausmaß genützt. Vor allem sind erweiterte vorangestellte Attribute weitgehend auf die Schriftsprache beschränkt und auch dort teilweise textsortenabhängig. Sie erlauben es, sehr viel Information innerhalb von Nominalphrasen zu konzentrieren und somit die Informationsdichte der einzelnen Sätze zu erhöhen. Durch gleichzeitigen Ausbau nach links und nach rechts können jedoch im Endeffekt äußerst komplizierte Nominalstrukturen entstehen, die zu entschlüsseln Lesern ohne hinreichendes grammatisches Wissen Schwierigkeiten bereitet. 21. Syntax 4. Deutsche Syntax als Lerngegenstand Deutsch scheint als eine relativ schwierige Fremdsprache zu gelten ! sogar bei Lernern, deren Primärsprache mit dem Deutschen eng verwandt ist. Ein verständlicher Grund ist die weitgehend fusionierende, teilweise unterbestimmte und unvorhersagbare Flexionsmorphologie (s. Abschn. 1 und Art. 20), einschließlich der schwer durchschaubaren Genuszuordnung. Auf der syntaktischen Ebene stellen die Subjekt-Verb-Kongruenz, die Verbalvalenz, die Kasusrektion der Präpositionen, die Deklination attributiver Adjektive und die Bildung der Relativsätze aus produktiver Sicht typische Problembereiche dar. Je nach den Linearisierungsprinzipien der Primärsprache bildet die Wortstellung auf Satzebene gleichfalls eine Herausforderung. Dies gilt nicht nur für die allgemeine Linksdirektionalität, sondern auch und unter Umständen sogar noch stärker für die Regel, dass das Subjekt in einem Aussagesatz dem finiten Verb nachfolgen muss, wenn ein vom Subjekt verschiedenes Satzglied im Aussagesatz topikalisiert wird („Inversion“ nach Diehl et al. 2000). So begegnen unter Lernen ganz verschiedener Ausgangssprache immer wieder ungrammatische Konstruktionen wie *gestern, ich kam zu spät, und zwar nicht unbedingt, weil sie der jeweiligen Primärsprache im Einklang stehen, sondern vielleicht eher weil sie universellen pragmatischen Gliederungsprinzipien entsprechen (Klein 2003). Aus rezeptiver Sicht (Heringer 2001) verlangt die Linksdirektionalität von Lernern mit einer rechtsdirektionalen Primärsprache wie Englisch oder Französisch z. T. eine Umlegung ihrer Verarbeitungsheuristiken: Während sie in ihrer Muttersprache nach etwaigen topikalisierten Elementen gleich am Anfang des Satzes das Subjekt und das Verbalglied antreffen und auf dieser Grundlage Erwartungen bezüglich der nachfolgenden nicht verbalen Satzglieder aufstellen können, müssen sie jetzt lernen, aufgrund der zuerst registrierten nicht verbalen Satzglieder möglichst früh und effizient die Identität des Verbs vorauszusagen (Hawkins 1994); dabei haben die morphologischen Signale (Kasus, Subjekt-Verb-Kongruenz usw.) ein besonderes Gewicht ! auch das möglicherweise abweichend von der Muttersprache. Bei Hauptsätzen mit finitem Vollverb ist freilich wiederum eine (Subjekt-)Verb-basierte Heuristik gefragt ! wenn auch mit einem gewissen Vorbehalt, da die Möglichkeit einer am Satzende erscheinenden Verbalpartikel grundsätzlich offen gehalten werden muss (18). (17) Die Angestellten trauten dem neuen Direktor trotz seiner Freundlichkeit von Anfang an nichts Gutes zu. So wird man als Leser/Hörer des Deutschen letztlich unter Beachtung der morphologischen ,cues‘ zwischen einer der grundsätzlichen Linksdirektionalität angepassten musterorientierten und einer eher rechtsdirektionalen, aber nicht ganz zuverlässigen, verbgeleiteten Verarbeitungsheuristik wechseln müssen (Fabricius-Hansen 2009). Ähnlich flexible Techniken sind bei Verarbeitung komplexer, prä- und postnominal stark erweiterter Nominalphrasen erforderlich (s. 3.3.). Hinzu kommt, dass das Vorfeld in Verbzweit-Sätzen umfangreiche Phrasen, einschließlich untergeordneter Sätze, aufnehmen und das Mittelfeld durch Häufung von Satzgliedern aufschwellen kann ! beides im Einklang mit der grundlegenden Linksdirektionalität des Deutschen. Voll ausgenützt werden diese verschiedenen Möglichkeiten der Informationsverdichtung vorwiegend in bestimmten Varianten der Gebrauchsprosa, seltener in der Belletristik. Angesichts der Herausforderun- 225 2167 2168 2169 2170 2171 2172 2173 2174 2175 2176 2177 2178 2179 2180 2181 2182 2183 2184 2185 2186 2187 2188 2189 2190 2191 2192 2193 2194 2195 2196 2197 2198 2199 2200 2201 2202 2203 2204 2205 2206 2207 2208 2209 226 IV. Linguistische Gegenstände in ihrer Bedeutung für das Deutsche 2210 2212 gen, die Texte dieser Art fremdsprachlichern Lerner schon auf Grund der syntaktischen Struktur bieten, ist die Wichtigkeit einer (auch) rezeptiv ausgerichteten Einführung in die Syntax des Deutschen zu betonen. 2213 5. Literatur in Auswahl 2211 2214 2215 2216 2217 2218 2219 2220 2221 2222 2223 2224 2225 2226 2227 2228 2229 2230 2231 2232 2233 2234 2235 2236 2237 2238 2239 2240 2241 2242 2243 2244 2245 2246 2247 2248 2249 2250 2251 2252 2253 2254 2255 2256 2257 Abraham, Werner 2004 Focus on Germanic Typology. Berlin: Akademieverlag. Abraham, Werner 2005 Deutsche Syntax im Sprachenvergleich. Grundlegung einer typologischen Syntax des Deutschen. 2. überarb. und erw. Aufl. Tübingen: Stauffenburg. Askedal, John Ole 2000 Gemeinsamkeiten in der grammatischen Struktur europäischer Sprachen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1136! 1143, vollständig neu bearb. und erw. Aufl. 2. Berlin/New York: de Gruyter. Diehl, Erika, Helen Christen, Sandra Leuenberger, Isabelle Pelvat und Thérèse Studer 2000 Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitspracherwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer. Dudenredaktion 2009 Die Grammatik. 8. überarb. 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Allgemeine Charakteristika der Wortbildung im Deutschen Der Begriff „Wortbildung“ wird sowohl für den Prozess (eben die Bildung neuer Wörter nach bestimmten Mustern) als auch für das Ergebnis dieses Prozesses verwendet, das komplexe, „wort-gebildete“ Wort. In der deutschen Sprache spielt die Wortbildung eine ganz zentrale Rolle; sie berührt mit ihren Bildungsmustern die Bereiche der Morphologie wie der Syntax, sie kann verschiedene textuelle Aufgaben übernehmen, und sie ist das wichtigste Verfahren zur Erweiterung des Wortschatzes. Damit gehört sie auch zum Bereich der Lexikologie. Aus all diesen Gründen sollte die Wortbildung auch im Bereich der Sprachvermittlung den ihr gebührenden Platz bekommen, sie wird für den Lerner 2259 2260 2261 2262 2263 2264 2265 2266 2267 2268 2269 2270 2271 2272 2273 2274 2275 2276 2277 2278 2279 2281 2282 2283 2284 2285 2286 2287 2288 2289 2290 2291 2292 2293 2294 2295