Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III Institut für Sozialwissenschaften Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – Das Beispiel Moskau Alina Schellig Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau Gliederung 1. EINLEITUNG ......................................................................................................... 3 2. GESELLSCHAFT UND STÄDTISCHER RAUM IN DER TRANSFORMATION ... 4 2.1. ZUR POSTSOZIALISTISCHEN TRANSFORMATION DER SOZIALSTRUKTUR: VON DER UNGERECHTEN GLEICHHEIT ZUR UNGERECHTEN UNGLEICHHEIT .................................... 4 2.2. SOZIALSTRUKTUR UND SEGREGATION DES STÄDTISCHEN RAUMES: STÄDTE ALS SPIEGELBILD GESELLSCHAFTLICHER PROZESSE? ......................................................... 8 3. MOSKAU ............................................................................................................. 12 3.1. STADTRÄUMLICHE GLIEDERUNG......................................................................... 12 3.2. AUSGANGSSITUATION ....................................................................................... 13 3.3. DIE POSTSOZIALISTISCHE PHASE ....................................................................... 15 4. FAZIT ................................................................................................................... 20 LITERATUR ............................................................................................................ 21 2 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 1. Einleitung Das Ende des sozialistischen Systems führte innerhalb der Gesellschaft zu einer Zunahme sozialer Ungleichheiten und einer verstärkten sozialen Polarisierung zwischen wenigen ‚Gewinnern’ der Transformation und vielen Verlierern. Große Teile der Bevölkerung erfuhren eine Verschlechterung der sozialen Lage, nicht wenige Einkommen fielen unter das Existenzminimum. Stehen Sozialstruktur und städtische Raumentwicklung in einem Zusammenhang, so ist davon auszugehen, dass der gesellschaftliche Umbruch mit seinen weitreichenden Folgen für die Sozialstruktur seine Spuren im städtischen Raum hinterlässt. Ausgehend vom Konzept der Segregation soll im Folgenden für das postsozialistische Moskau untersucht werden, welche städtischen Veränderungen seit Ende des Sozialismus beobachtet werden können und wie diese in Zusammenhang stehen mit der veränderten (und zumeist verschlechterten) sozialen Lage der ansässigen Bevölkerung. Dazu erfolgt im Rahmen dieser Arbeit zunächst eine kurze Einführung in die Auswirkungen des postsozialistischen Transformationsprozesses auf die soziale Lage der russischen Gesellschaft und daran anschließend eine Einführung über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und ungleichen Verteilungsmustern im städtischen Raum. Im anschließenden Abschnitt werden am Beispiel Moskaus die wesentlichen städtischen Entwicklungsprozesse der postsozialistischen Phase aufgezeigt – im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und städtischer Segregation. 3 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 4 2. Gesellschaft und städtischer Raum in der Transformation Diese Arbeit befasst sich mit den Auswirkungen der postsozialistischen Transformation auf die Gesellschaft und den städtischen Raum und beleuchtet dabei schwerpunktmäßig die Veränderung der sozialen Lage der Bewohner sowie ihre Verteilung im Raum. Bevor die relevanten städtischen Prozesse am Bespiel Moskaus aufgezeigt werden, erfolgt in diesem Abschnitt eine kurze Einführung in die theoretischen Grundlagen. 2.1. Zur postsozialistischen Transformation der Sozialstruktur: von der ungerechten Gleichheit zur ungerechten Ungleichheit Die Zeit nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme – also die postsozialistische Phase - bedeutet für die betroffenen Gesellschaften einen tiefen Umbruch im sozialen Gefüge. Der rapide Wandel, der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfasste, veränderte auch die Stellung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zueinander. Gemäß dem sozialistischen Leitbild der ‚sozialen Gleichheit’ waren die sozialistischen Gesellschaften relativ egalitäre Gesellschaftsformen (Vgl. SRUBAR 1998: 81), wohingegen die kapitalistischen Gesellschaften über deutlich differenziertere Schichten, Soziallagen und Lebensstile verfügen und somit auch intern stärker polarisiert sind (DELHEY 2001: 55). Prägend für die Übergangsphase von der sozialistischen zur kapitalistischen Gesellschaftsform sind daher eine erhöhte soziale Mobilität in Form vermehrter Auf- und Abstiegsprozesse (ebd.: 62), ein spürbarer Anstieg sozialer Ungleichheiten und zunehmende gesellschaftliche Polarisierungsprozesse: „Das Spektrum der Sozialen Lagen reicht nun von breiter Armut bis zu einer dünnen Schicht von Multimillionären.“ (ebd.: 135). Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 5 Der Übergang von einem staatlich gesteuerten, sozialistischen hin zu einem marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystem bringt dabei eine Neubewertung der gesellschaftlichen Ressourcen mit sich: wo nicht mehr der Staat die zentrale Verteilungsinstitution begehrter Ressourcen darstellt, sondern der Markt, wird das Einkommen zum wichtigsten Zugangskriterium (ebd.: 115). Der massive Anstieg der Einkommensarmut ist daher ein ernstzunehmendes Problem des Transformationsprozesses. Zusätzlich zu den bestehenden Armutsrisiken der „traditionellen“, „demographischen“ und der „ethnischen Armut“ 1 ist die Bevölkerung während der Transformation dem Risiko der „neuen Armut“ ausgesetzt. Diese Form der Armut wird durch die Prozesse des gesellschaftlichen Übergangs hervorgerufen – allen voran dem Umbruch im Erwerbssystem, welcher den Ausschluss großer Bevölkerungsteile aus ihren regulären Erwerbsverhältnissen umfasst (Vgl. ANDORKA / SPÉDER 1996). Empirisch kann die Anzahl der von Armut betroffenen Menschen entweder über die absolute oder die relative Armutsgrenze bestimmt werden. Unter die relative Armutsgrenze fällt, wer weniger als einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. Die absolute Armutsgrenze festgelegtes bezeichnet Existenzminimum bzw. hingegen die ein meist Bestimmung staatlicherseits eines absoluten Einkommensniveaus. Als arm werden diejenigen bezeichnet, deren Einkommen unter diese absolute Einkommensgrenze fällt (SPÉDER / SCHULTZ / HABICH 1997: 380). In Russland betraf dies im März 2003 mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt lag das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen bei 4330 Rubel (127,70 €). Das monatliche Existenzminimum betrug 2047 Rubel (60,36 €) und konnte von 26,10 % der Bevölkerung nicht erreicht werden (GOSKOMSTAT in BRADE / SÜNNEMANN / 1 Während insbesondere Personen mit niedrigen Qualifikationen von traditioneller Armut betroffen sind, gehören vor allem Ältere, Kinder, kinderreiche Familien und Alleinerziehende zur Risikogruppe der demographischen Armut. Ethnische Zugehörigkeit kann je nach Zugehörigkeit ebenfalls ein erhöhtes Armutsrisiko darstellen (Vgl. ANDORKA / SPÉDER 1996) Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 6 ANZ 2004: 91). Diese „massenhaft verbreitete Armut“ (GENOV 2003:8) betrifft nicht nur Risikogruppen wie Kinder, Alleinerziehende und Rentner sondern auch weite Teile der Erwerbsbevölkerung. Armut ist dabei weniger an Arbeitslosigkeit gekoppelt, sondern an Unterbezahlung, Lohnausstände, Kurzarbeit und Zwangsurlaub. Dies ist zurückzuführen auf die politischen Strategien der Umbruchphase – trotz massiver Deindustrialisierungsprozesse wurde dem Erhalt der Arbeitsplätze eine hohe politische Priorität eingeräumt um die Stabilität der Gesellschaft nicht zu gefährden. Massenentlassungen wurden durch Zwangsurlaub und Lohnausstände aufgeschoben. Im Prinzip kam es dadurch jedoch in den großen staatlichen Unternehmen zu einer hohen versteckten Arbeitslosigkeit (BRADE / SÜNNEMANN / ANZ 2004:95f.) – dies gilt auch für Moskau (STADELBAUER 1996: 117). Überdurchschnittlich stark sind auch Kinder und Rentner von Armut betroffen. Aus Abbildung 1 geht hervor, dass Ende der 90er Jahre teilweise mehr als die Hälfte aller russischen Kinder unter 7 Jahren von Armut betroffen waren. Ähnliches gilt für die Gruppe der Rentner: wie aus Abbildung 2 hervorgeht, fielen die Renten Ende der 90er Jahre unter das Existenzminimum – zudem verloren die Zahlungen in Ermangelung des Abbildung 1: Anteil der Armen in Russland (Quelle: BRADE / SÜNNEMANN / ANZ 2004) Inflationsausgleiches Wert. Wer kein an realem Wohneigentum, keine Rücklagen oder Möglichkeiten eines Nebenverdienstes besaß, war zwangsläufig von Armut bedroht. Zwar führte der Wirtschaftaufschwung seit Ende der 90er Jahre allmählich zu einer allgemeinen Verbesserung der sozioökonomischen Situation der Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau russischen Bevölkerung, jedoch gehen mit dieser Entwicklung zumindest weitere Polarisierungen der Gesellschaft einher. Die subjektive Dimension dieses Prozesses wird in den Ergebnissen einer 1992 und 1998 durchgeführten Befragung deutlich: Die meisten Befragten schätzten ihre persönliche Position innerhalb der Sozialstruktur der Gesellschaft zu Beginn der 90er Jahre noch deutlich besser ein. Der Großteil der Befragten zählte sich zur Mittelschicht. Abbildung 2: Rentenentwicklung in Russland (Quelle: BRADE / SÜNNEMANN / ANZ 2004) empfanden Sechs die Jahre meisten später Befragten deutliche Statusverluste und zählten sich nun zur Schicht der Armen und sozial Schwachen (TICHONOWA 1999: 21ff.). Objektiv gesehen hat sich eine Verschiebung der Verteilung der Einkommensgruppen zugunsten der Meistverdienenden vollzogen. Die reichsten 20% der Gesellschaft weisen inzwischen einen Anteil am Gesamteinkommen von rund 47% auf und besitzen damit das 9fache der 20% mit den niedrigsten Einkommen (BRADE / SÜNNEMANN / ANZ 2004: 92f.). Wie aus Abbildung 3 hervorgeht, hat sich dieses Ungleichheitsverhältnis zwischen 1992 und Abbildung 3: Veränderungen in der russischen Einkommensverteilung 2001 verschärft (siehe auch GENOV 2003:5). Tatsächlich waren auch in der sowjetischen Gesellschaft deutliche (Quelle: BRADE / SÜNNEMANN / ANZ 2004) Statusunterschiede vorhanden, diese basierten jedoch weniger auf dem Einkommen, als auf „dem 7 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau Zugang zu einem fein ausdifferenzierten Privilegiensystem.“ (RUDOLPH / LENTZ 1999: 27). DELHEY spricht daher bei der postsozialistischen Transformation der Sozialstruktur von einem Übergang „von der ungerechten Gleichheit zur ungerechten Ungleichheit“ (DELHEY 2001: 195). 2.2. Sozialstruktur und Segregation des städtischen Raumes: Städte als Spiegelbild gesellschaftlicher Prozesse? Der Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur und der Verteilung einer Bevölkerung im Raum – als prägendes Merkmal der Stadtstruktur – lässt sich über die Mechanismen der Segregation erklären. Segregation beschreibt dabei in statischer Hinsicht disparitäre Verteilungsmuster unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Raum. In dynamischer Hinsicht beschreibt Segregation zudem die Prozesse, die zu räumlicher Differenzierung und Separierung führen. Segregation kann sich dabei auf jede Form räumlicher Verteilungsmuster beziehen, wird aber vorrangig im Zusammenhang mit der Verteilung von Wohnstandorten verwendet – insofern kann auch von „residentialer Segregation“ gesprochen werden (FARWICK 2001: 25). Die residentiale Segregation ist dabei umso höher, je mehr die tatsächliche Verteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen von einer Zufallsverteilung im städtischen Raum abweicht. Festgemacht werden kann dies generell an verschiedenen Merkmalen. Hierzu gehören insbesondere sozialstrukturelle Merkmale wie das Einkommen, die berufliche Stellung und der Bildungsstatus, demographische Merkmale wie das Geschlecht, Alter, Haushaltstypus und die Nationalität sowie kulturelle Merkmale wie die Ausprägung bestimmter Lebensstile, die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie (HÄUßERMANN 2001: 28f.). Damit eine räumliche Differenzierung nach verschiedenen Merkmalen aber erst möglich wird, bedarf es auf dem Wohnungsmarkt zwei grundsätzlicher Voraussetzungen: einer differenzierten Angebotsseite und einer ebenfalls differenzierten Nachfrageseite. Die Angebotsseite wird bestimmt durch die Rahmenbedingungen und Akteure des Wohnungsmarktes und gliedert sich 8 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 9 hinsichtlich der sozialen Segregation nach Gesichtspunkten der politischen, ökonomischen, symbolischen und sozialen Differenzierung von städtischen Räumen. Die politische Differenzierung beschreibt die Schaffung von Wohnstandorten unterschiedlicher Qualität mit Mitteln der Stadtplanung und Wohnungspolitik. Die ökonomische Differenzierung zielt auf die Preisdifferenzen zwischen den Wohnstandorten ab, während sich die symbolische Differenzierung des Wohnungsangebotes aus den positiven oder negativen Zuweisungen der Standorte über Merkmale wie Architektur und Infrastruktur ergibt. Die soziale Differenzierung einer Wohngegend rührt vor allem von dem ihr zugeschriebenen Sozialprestige – und dieses ergibt sich aus dem wahrgenommenen Sozialstatus der ansässigen Bewohnerschaft (ebd.: 31f.). Im Gegensatz zur Angebotsseite wird die Nachfrageseite des Wohnungsmarktes durch das Verhalten und die Ressourcen der wohnungssuchenden Haushalte bestimmt. Letztere können unterteilt werden in ökonomische Ressourcen wie das zur Verfügung stehende Haushaltseinkommen, kognitive Ressourcen, welche unter anderem Kenntnisse über die Situation auf dem Wohnungsmarkt umfassen, soziale Ressourcen insbesondere in Form sozialer Netze –, sowie politische Ressourcen. Hierzu gehören politische Rechte und sozialstaatliche Ansprüche. HÄUßERMANN weist zudem daraufhin, dass auch die bestehende Position auf dem Wohnungsmarkt eine Ressource darstellen kann, wenn sich aus ihr relevante Berechtigungen oder Ausschlüsse ergeben (ebd.: 32). Wie aus Abbildung 4 hervorgeht, kann das Zusammenspiel zwischen Angebot und Nachfrage zudem um die Mikro- und die Makrodimension erweitert werden. Das Konzept von einer Differenzierung von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt kann hinsichtlich der sozialen Lage auch dahingehend verstanden werden, dass soziale Ungleichheit und räumliche Ungleichheit die beiden Voraussetzungen residentialer Segregation darstellen (vgl. FRIEDRICHS 1995 und DANGSCHAT 1998). Ein Wandel der Bevölkerungs- und Sozialstruktur (vgl. Abbildung 4) kann dabei eine Veränderung der Verteilungsstrukturen der Bevölkerung im städtischen Raum auslösen – dieser Wandel kann auch auf Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 10 gesellschaftliche Transformationsprozesse zurückzuführen sein (vgl. KEIM 1999: 282). MIKRO Wohnstandortentscheidung lokale Investoren und Bauunternehmer ANGEBOT Wohnmobilität Verhalten von Regierungen und Organisationen Veränderung der Flächennutzung & des Wohnquartiers NACHFRAGE Wandel der Bevölkerungs- & Sozialstruktur Investitions- & Kapitalmärkte politische & ökonomische Strukturen MAKRO Abbildung 4: 8 Einflusssphären des Wohnungsmarktes und der sozial-räumlichen Wohnstandortverteilung nach BOURNE Quelle: FARWICK 2001:29 Veränderungen der räumlichen Position einer sozialen Gruppe stehen für ihren Auf- oder Abstieg in der Gesellschaft. Das Soziale spiegelt sich somit in der Ausprägung der städtischen Struktur und Segregation kann verstanden werden als „die Projektion der Sozialstruktur auf den Raum“ (HÄUßERMANN 2001: 28f.). Je nach Ausprägung der gesellschaftlichen Ungleichheit in der Sozialstruktur kann bei der Betrachtung der unterschiedlichen Segmente des Wohnungsmarktes von einer „Manifestation sozialräumlicher Ungleichheiten in Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 11 der Stadt“ gesprochen werden (KEIM 1999: 282), wobei Ghettoisierung und Gentrification die beiden Pole der städtischen Entwicklung markieren (ebd.: 18). Bindeglied zwischen Raum und Gesellschaft stellen die jeweiligen Mechanismen des Wohnungsmarktes dar, wie z.B. der freie Markt, politisch - administrative Planung oder freie Wohnstandortwahl (HÄUßERMANN 2001: 29, KEIM 1999: 282). Dominieren die Verteilungsmechanismen des freien Marktes, ergeben sich typischerweise für die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen Wohnstandorte mit geringer Lagegunst. Dazu gehören insbesondere traditionelle Arbeitergebiete mit problematischen Standortbedingungen wie einer peripheren Lage zum Stadtzentrum, einer hohen Umweltbelastung durch Lärm, Staub und Geruch – ausgelöst insbesondere durch Verkehrs-, Gewerbe- und Industrieanlagen - sowie Wohngebiete mit einer unattraktiven Bausubstanz (FARWICK 2001:64). Wie im nächsten Abschnitt der Arbeit aufgezeigt wird, können die hier beschriebenen Prozesse auch für die gegenwärtige städtische Entwicklung Moskaus beobachtet werden. Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 12 3. Moskau Es gibt keine systematischen Bevölkerungsverteilung nach Daten über Einkommen die in Veränderung Moskau. Die der einzigen Rückschlüsse, die für die Veränderung der Bevölkerungsgruppen während der postsozialistischen Phase gezogen werden können, lassen sich den Beschreibungen der aktuellen städtischen Entwicklungen entnehmen. Zu den relevanten Entwicklungen der Transformationsphase gehören in der Innenstadt eine rapide Citybildung nach westlichem Vorbild, gekennzeichnet durch die Herausbildung von Zonen des gehobenen Konsums sowie die Entstehung zahlreicher hochwertiger Büroflächen. Zudem ist die Herausbildung und Ausbreitung eines Wohnungsmarktsegmentes beobachten. Beide Entwicklungen haben für dabei elitäres eine Wohnen zu Verdrängung der einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen zur Folge – sowohl in den innerstädtischen Gebieten als auch zunehmend in den Gebieten der mittleren Peripherie. 3.1. Stadträumliche Gliederung Der Moskauer Stadtraum kann grob in die folgenden Gebiete untergliedert werden: Das Stadtzentrum, die mittlere und die äußere – Peripherie wie auch der Generalisierung der Moskauer Stadtstruktur nach funktionalen Entwicklungsbereichen in der nebenstehenden Abbildung 5 zu entnehmen ist. Charakteristisch ist ein konzentrisches Wachstum der Stadt nach außen Abbildung 5: Modell der funktionalen Struktur Moskaus (Quelle: LENTZ 2002) mit einer typischen Abfolge verschiedener Bauformen: den vorrevolutionären und stalinzeitlichen Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 13 Bauten im Stadtzentrum, dem Ring aus Wohnvierteln der ersten Generation industriellen Wohnungsbaus zu Zeiten Chruscews sowie den zahlreichen Großsiedlungen in den äußeren Stadtgebieten. Als Stadtzentrum werden vor allem die Gebiete innerhalb des Gartenringes betrachtet. Diese sind vorwiegend geprägt durch die Funktion einer Geschäftscity mit Einzelhandel und Büroflächen. Daran schließen sich die Stadterweiterungsgebiete ab den 1950er Jahren an – bezeichnet als Moskauer Peripherie. Diese Gebiete umfassen größere Wohngebiete aus der Zeit des industriellen Wohnungsbaus, die hinsichtlich ihrer Bewohnerzahl unterversorgt sind mit Arbeitsplätzen, Infrastruktur und Wohnfolgeeinrichtungen. Der Bereich der inneren Peripherie ist dabei gekennzeichnet durch Bauten des industriellen Wohnungsbaus aus der Zeit Chruscews – die so genannten ‚Chruscobys’. Diese Gebäude sind zumeist fünfstöckig und zum Teil aus Ziegeln, später aus Fertigbetonplatten erbaut. Da viele dieser Bauten unter hohem Zeitdruck und unter Verwendung schlechter Baumaterialen errichtet wurden, ist die Qualität dieser Gebäude entsprechend minderwertig und viele von ihnen sind inzwischen abrissreif. Außerhalb eines Gürtels ausgedehnter Industrieanlagen, der sich seit dem 19. Jahrhundert insbesondere im Südosten und Osten entlang des städtischen Eisenbahnringes entwickelt hat, befinden sich die Wohngebiete der äußeren Peripherie. Diese umfassen insbesondere die Großwohnsiedlungen der jüngeren Vergangenheit mit ihren hochgeschossigen Gebäudekomplexen (LENTZ 2002: 31ff.) 3.2. Ausgangssituation Die Merkmale der Bevölkerungsverteilung in Moskau zeigten am Ende der sowjetischen sozialistischen Ära noch Leitbild deutliche städtischer Verbindungen Entwicklung auf. zum herrschenden Erklärtes Ziel der sowjetischen Stadtplanung war es, soziale Unterschiede einzuebnen. Dies sollte unter anderem dadurch erreicht werden, dass städtische Segregationsprozesse Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau bewusst aufgehoben wurden, indem Bewohner unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Berufsstände durch die staatliche Zuteilung von Wohnungen in den unterschiedlichen Stadtgebieten gemischt wurden (RUDOLPH / LENTZ 1999: 27). Zudem sollte auch im Zentrum der Innenstadt die Wohnfunktion erhalten bleiben (LENTZ 2002: 29). In der Realität wurden die innerstädtischen Viertel Moskaus hauptsächlich von zwei Gruppen bewohnt: den Bewohnern der Gemeinschaftswohnungen, so genannten Kommunalkas, auf der einen und den Angehörigen der staatlichen Nomenklatura sowie weiteren privilegierten Personen (hochrangige Militärs, Sportler etc.) auf der anderen Seite. Bei den Kommunalkas handelte es sich um eine spezifische sowjetische Wohnform: aus der seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden großen Wohnungsnot heraus ist dieser Typus von Gemeinschaftswohnung nach 1917 in ehemaligen großbürgerliche Wohnungen und Häusern entstanden. Ursprünglich betrafen die Kommunalkas alle Schichten, später wurden sie vor allem zur Beherbergung derjenigen Personen, die von der staatlichen Wohnungsvergabepraxis nicht oder noch nicht Gebrauch machen konnten – weil sie nicht den Dringlichkeitskriterien entsprachen (dies betraf vor allem Pensionäre und Alleinstehende) oder weil sie generell keinen Anspruch besaßen. Mitte der 90er Jahre lebten noch rund 300.000 Haushalte in den Gemeinschafswohnungen der Moskauer Innenstadt (LENTZ 2000: 17). Gerade durch den Wohnformtypus der Kommunalkas kam es zu einem Nebeneinander verschiedenster Gesellschaftsgruppen: „Für das sowjetische Moskau war enge Nachbarschaft verschiedener Schichten charakteristisch. Oft lebten immer noch Arme und Reiche, Arbeiter, Professoren, Intellektuelle wie auch Alkoholiker in einem Haus, auf einer Etage.“ (WENDINA / BRADE 1996: 18). 14 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 15 3.3. Die postsozialistische Phase Während der postsozialistischen Transformationsphase wurde zunächst das Stadtzentrum Moskaus von einer dynamischen Entwicklung erfasst. In Folge der veränderten politischen und wirtschaftlichen Regulierungsmechanismen und hier insbesondere mit der Liberalisierung der Immobilienmärkte kam es zu deutlichen Veränderungen der städtischen Zu Strukturen. beobachten sind insbesondere verschiedene Prozesse einer Citybildung nach westlichem Vorbild. Die wichtigsten Prozesse sind dabei Entstehung einer die Zone gehobenen Einzelhandels und hochwertiger Dienstleistungsangebote sowie Abbildung 6: Ausdehnung der Büroflächen im Zentrum Moskaus (Quelle: LENTZ 2000) massive Ausdehnung von privatwirtschaftlichen Büroflächen (Vgl. RUDOLPH 1997). Die Entstehung der neuartigen Einzelhandelsstrukturen und Dienstleistungsangebote hat ihre Wurzeln in der zunehmenden Differenzierung der russischen Gesellschaft – sie stellt das Angebot für eine zunehmend differenziertere Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen und bedient dabei vor allem das Nachfragepotential der ‚neuen Russen’. Das zentrale Prinzip, dass der Umbewertung der innerstädtischen Standorte zugrunde liegt, ist dabei das Grundrentenprinzip: durch die Liberalisierung des Immobilienmarktes ziehen die Flächen Investitionen an, deren potentielle Nutzung eine höhere Rendite verspricht als die gegenwärtige. Diese so genannten ‚rent gaps’ bewirken so einen Flächennutzungswandel zugunsten der renditeträchtigsten Nutzungsform (vgl. LENTZ 2000: 13 und LENTZ 2002: 30, siehe auch FARWICK 2001 in Kapitel 2.2.). Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 16 In der Innenstadt hat dies eine Ausdehnung der gewerblichen Flächen hauptsächlich gehobener Einzelhandel und Büro - zur Folge. Letzteres wird durch die Bemühungen der Stadtregierung, zügig möglichst viele Büroflächen für u.a. ausländische Unternehmen zu schaffen, verstärkt (RUDOLPH 1997). Alternativ erfolgt eine Zurückdrängung der Wohnfunktion - Wohnungsnutzungen erscheinen weniger rentabel, es sei denn sie können dem Wohnungssegment des elitären Wohnens zugeordnet werden. In diesem Segment entsprechen die Wohnungsmieten nicht selten den zu erzielenden Gewerbemieten (vgl. RUDOLPH / LENTZ 1999). Preisgünstiger Wohnraum ist im Stadtzentrum hingegen selten geworden. Die Mietpreise für Wohnraum im Zentrum betragen inzwischen das bis zu 30fache der Mietpreise der Peripherie (ebd.: 36ff.). Auf dem privaten Wohnungsmarkt der Innenstadtgebiete können sich daher nur eine kleine Schicht ‚neuer Russen’ sowie Ausländer bedienen. Insgesamt kommt es Transformationsphase damit im hinsichtlich Zentrum der Moskaus während Wohnbevölkerung zu der zwei charakteristischen Prozessen: in quantitativer Hinsicht kann eine generelle Abnahme der Wohnbevölkerung in den innerstädtischen Gebieten in Folge der Verdrängungen durch renditeträchtigere gewerbliche Nutzungen beobachtet werden, qualitativ erfolgte ein sozialer Umschichtungsprozess der Bewohnerschaft (STADELBAUER 1996: 116f., LENTZ 2000: 13). Einen spezifischen Bestandteil des qualitativen Umschichtungsprozesses bildet die Umsiedlung der Kommunalkabewohner – diese wurden ab Anfang der 90er Jahre verstärkt meist in die Großwohnsiedlungen an den Stadträndern Moskaus umgesiedelt. Im Einzelnen erfolgte die Umsiedlung vor allem durch Vermittlungsfirmen, die geeignete Gemeinschaftswohnungen - und zunehmend auch ganze Aufgänge und Häuser - auswählten und Käufer suchten, um die Ausweichwohnungen und die Sanierung finanzieren zu können. Nach Abschluss der Sanierung werden die Wohnungen dann auf dem freien Markt angeboten. Diese Vorgehensweise führte nach 1992 zu einer Abnahme der Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 17 Kommunalwohnungen im Zentrum von 45% auf 22% in zwei Jahren (WENDINA / BRADE 1996: 18). Verdrängungsprozesse betreffen jedoch nicht nur die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten Wohngebiete der Stadtzentrum im mittleren sind viele Stadtzentrum, sondern Peripherie. Durch ihre Standorte potentiell zunehmend relative auch Nähe zum für eine interessant Nutzungsumwandlung in Büroflächen. Da der Wohnungsbestand aufgrund der meist minderwertigen Baussubstanz in diesen Gebieten stark renovierungsbedürftig bis abrissreif ist, versuchen sich große Bauunternehmen in Flächensanierungen: Die ‚Chruscobys’ werden dabei abgerissen und durch moderne Hochhäuser ersetzt, die dann auf dem freien Wohnungsmarkt angeboten werden. Auch diese Entwicklung zieht die Verdrängung der ansässigen Wohnbevölkerung in die äußere Peripherie nach sich, da nicht davon auszugehen ist, dass sich die betroffenen Bewohner bei den am Standort neu entstehenden Wohnungsbeständen bedienen können (LENTZ 2002: 32). Die Verdrängungsprozesse im Moskauer Stadtgebiet sind dabei Ausdruck einer veränderten Differenzierung von Angebots- und Nachfrageseite auf dem Wohnungsmarkt (vgl. Kapitel 2.2.). Zentrales Merkmal der aktuellen Differenzierung der Angebotsseite wurde dabei mit dem Übergang zur Marktwirtschaft die ökonomische Differenzierung des Wohnungsmarktes entlang der zu erzielenden Preise. Wie aus Abbildung 7 ersichtlich wird, erfolgt die ökonomische Differenzierung der Wohnstandorte vor allem nach dem Grad der Nähe zum Stadtzentrum. Die höchsten Preise werden im Wesentlichen innerhalb des Gartenringes erzielt. Das Gefälle der Preise fällt dabei in Richtung der städtischen Peripherie, weist jedoch einige Abweichungen auf: Vergleichsweise hohe Preise werden in den westlichen und insbesondere südwestlichen Stadtgebieten erzielt, die östlichen bzw. südöstlichen Wohnstandorte weisen hingegen eher unterdurchschnittliche Quadratmeterpreise auf. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist vor allem die unterschiedliche Bewertung der Standorte: während der Südwesten ausgedehnte Parkanlagen und die Wohngebiete um die Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau Abbildung 7: Verteilung der Wohnungspreise im Moskauer Stadtgebiet (Quelle: RUDOLPH 2002) 18 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau 19 Universität umfasst und zudem ein hohes Sozialprestige genießt, zählen die Wohngebiete des Ostens und Südostens vor allem wegen der dort angesiedelten ausgedehnten Industrieanlagen und daran anschließenden Arbeiterquartiere zu den weniger begehrten Wohnstandorten (STADELBAUER 1996: 116f.). Diese spezifische räumliche Differenzierung der Angebotsseite spiegelt sich auch auf der Nachfrageseite in der Verteilung der Bevölkerungsgruppen nach ihrem Einkommen wider. Wie in Abbildung 7 wird auch in der folgenden Abbildung 8 insbesondere der Unterschied zwischen den westlichen und den östlichen Wohngebieten deutlich. $7,900 $7,750 $7,600 $6,600 $6,450 $6,400 $6,100 $6,000 $5,900 $5,900 $5,550 $5,550 $5,450 $5,350 $5,300 $5,100 $4,850 $4,850 Abbildung 8: Einkommensverteilung im Moskauer Stadtgebiet (Quelle: JONES LANG LASALLE 2002) 2 Die Unterschiede bei der Bewertung der Wohnstandorte sind dabei weniger als Ergebnisse aktueller Prozesse zu betrachten. Vielmehr sind ihre Wurzeln bereits in 2 der sowjetischen Zeit zu suchen: Die Kern-Rand-Bewegung Detaillierte Daten über die räumliche Verteilung der Moskauer Bevölkerung nach Einkommensgruppen waren leider nicht beschaffbar. der Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau Wohnbevölkerung aus dem Stadtzentrum in Richtung Peripherie stellt ebenso eine Entwicklung dar, die bereits zu sozialistischen Zeiten beobachtet werden konnte, wie auch Arbeiterwohngebiete koordinierten die im Herausbildung Osten und Wohnungsbaus der Südosten eine industriell in belasteten Folge eines sektoral Konsequenz sowjetischer Stadtentwicklungsprozesse darstellt (vgl. LENTZ 2002). 4. Fazit Grundsätzlichen können aus der städtischen Entwicklung Moskaus während der postsozialistischen Transformationsphase verschiedene Prozesse abgelesen werden, die auf eine Polarisierung der städtischen Bevölkerung im städtischen Raum nach wirtschaftlichen Merkmalen hinweisen. Hierbei ist besonders die sozioökonomische Homogenisierung des Stadtzentrums anzuführen und in dessen Folge die Verdrängung einkommensschwächerer Bevölkerungsgruppen in peripherere Gebiete Moskaus – und insbesondere in die Großwohnsiedlungen der äußeren Peripherie. Der zügigen Herausbildung elitärer Wohnformen insbesondere im Stadtzentrum und im Südwesten der Stadt steht eine Abwanderung großer Bevölkerungsteile in die randstädtischen Großwohnsiedlungen gegenüber. Dabei ist davon auszugehen, dass die gegenwärtigen Verdrängungsprozesse einkommensschwächerer zu einer Bevölkerungsgruppen verstärkten in den Segregation statusniedrigen Wohngebieten im Osten und Südosten der Stadt führen werden. In Ermangelung detaillierter Daten über das Ausmaß der innerstädtischen Wanderungsprozesse und die räumliche Konzentration der Bevölkerung nach Einkommensgruppen kann dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht empirisch belegt werden. Für eine bessere Beurteilung von Umfang und Konsequenzen der städtischen Polarisierungsprozesse Forschungsbedarf. in Moskau besteht offensichtlich noch weiterer 20 Soziale Ungleichheit und städtische Segregation in postsozialistischen Städten – das Beispiel Moskau Literatur ANDORKA, R. / SPÈDER, Z. (1996): Poverty in Hungary. in: Ott, N. / Wagner, G. G. (Hrsg.) (1996): Inequality and Poverty in East and West Europe. Berlin u.a. BRADE, I. (Hrsg.) (2002): Die Städte Russlands im Wandel. Raumstrukturelle Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts. Beiträge zur regionalen Geographie, Bd. 57, Institut für Länderkunde, Leipzig BRADE, I. / NEFJODOWA, T. 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