Lehrbausteine Stadt | Landschaft | Planung Stadtquartier und Sozialraum Die sozialräumliche Gliederung der Städte – eine erste Näherung Quartier und Stadt, Mensch und Raum Was sind »Quartiere«? Welche Bedeutung hat die Gliederung der Stadt und wodurch werden die Stadtteile unterscheidbar? Was macht einen Raum »sozial« und wie wirkt der Raum zurück auf die, die ihn bewohnen? Solche Fragen werden in der Vorlesungsreihe »Annäherungen an Stadt und Landschaft« kurz angesprochen (vgl. dazu u.a. auch die Lehrbausteine -> Raum und Verhalten; -> Stadtstruktur/ Stadtbaustein). Daher sei an dieser Stelle an zwei Anhaltspunkte erinnert: • Die Gliederung Venedigs (in die Sestriere) – ein Ausgangspunkt für die Betrachtungen zur Gliederung der Stadt; • Ein Zitat, das Bourdieu als Anlass für Überlegungen zu den Wechselwirkungen von Mensch und Raum gab: »Soziologie muss zur Kenntnis nehmen, dass menschliche Wesen zugleich biologische Individuen und soziale Akteure sind, die (…) durch ihre Beziehung zu einem sozialen Raum (…) konstituiert werden«. (Pierre Bourdieu 1991) »Segregation« ein aktuelles Thema Die sozialräumliche Prägung in unseren Städten ist ein aktuelles Thema in der Stadtentwicklung. Sie wird unter unterschiedlichsten Stichworten wie »Polarisierung«, »Spaltung der Städte«, »räumliche Exklusion« oder »Segregation« behandelt. Allgemein gesprochen, geht es innerhalb des aktuellen Diskurses einerseits darum, wie sich gesamtgesellschaftliche Ungleichheit darstellt und räumlich niederBaustein Stadtquartier und Sozialraum | Berding schlägt. Andererseits behandelt es das Thema der Modifizierung gruppenspezifischer Lebenslagen durch den Raum. Die Segregation – vor allem im Ausdruck der Konzentration sozial oder ökonomisch benachteiligter oder ethnisch marginalisierter Bevölkerungsgruppen – stellt sich als ein Problem der Stadtentwicklung dar, das sich gesamtstädtisch in einer zunehmenden Polarisierung des Stadtraums und kleinräumig in einer Entmischung der Stadtquartiere zeigt (vgl. u. a. Harth et al. 2000; Kronauer 2002; Häußermann, Siebel 2004). Bereits in der Historie zeigte sich in vielen europäischen Großstädten die soziale Ungleichheit in den Trennlinien zwischen Großbürgertum, Kleinbürgertum und proletarischer Arbeiterschaft, die in unterschiedlichen Vierteln und damit räumlich segregiert lebten. Bestimmte Muster der Verteilung werden in Veröffentlichungen als Eigenart der europäischen Stadt gesehen. Dieses Phänomen wird vielfach mit der These verknüpft, dass sich die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft in den Städten zeigt. Es wird unterstellt, dass sich die Hoffnung und die Chance auf sozialen Aufstieg, Beschäftigung und Wohnraum in der Stadt mit einer Vielfalt der Angebote leichter realisieren lasse. »Die Stadt ist der Ort, an dem ein Überschuss an Möglichkeiten den Individuen die Integration in die verschiedenen Dimensionen der modernen Gesellschaft überhaupt erst ermöglichte.« (Krämer-Badoni 2001:23) Segregation wird – wenn sie unfreiwillig erfolgt – immer auch als Ausdruck sozialer Ungleichheit gesehen: Da zumeist Minderheiten oder so genannte Randgruppen, »relativ statusniedere Bevölkerungsgruppen«, in bestimmten Bereichen der Zugang zu sozial höher bewerteten Gruppen verwehrt wird (Schäfers 1995, 273). Wohingegen bei der freiwilligen Segregation die Vorteile der Solidarisierung anerkannt werden: Die Angehörigen der segregierten Gruppe grenzen sich absichtlich von anderen ab, um sich sozial zu distanzieren, die eigene Identität oder den sozialen Status abzu1|2 sichern bzw. um die Gruppensolidarität und gruppeninterne Netzwerke zu nutzen. Insbesondere der integrative Charakter einer »ethnischen Kolonie« wird als Schutzraum für Zuwanderer dargestellt, in dem sie sich auf der Grundlage der Anerkennung ihrer mitgebrachten Identität mit der neuen Heimat auseinandersetzen können. In der Stadt- und Wohnungspolitik wurde »Segregation« als Ausdruck sozialer Ungleichheit häufig als Problem definiert und zum Anlass genommen, so genannte benachteiligte Quartiere mit dem Einsatz von öffentlichen Programmen als Wohnund Lebensraum zu stärken. Im Kontext der Diskussion um Segregation und Integration wird das Quartier als »Sozialraum« vermehrt zum Gegenstand von Analyse, Planung und Handlungsstrategien. Dabei zeichnet sich ein allgemeiner Trend ab, die Stadt oder einzelne Stadtteile nicht nur als stadträumliche oder administrative Einheiten, sondern als Lebensräume mit jeweils komplexen Strukturen und Verflechtungen zu betrachten. Die klassische Sozialraumanalyse richtet den Fokus auf die Verteilung sozialer Gruppen im städtischen Raum und vergleicht in einer gesamtstädtischen Betrachtung die Teilräume einer Stadt, um so Segregation (vor allem Armut und Ausgrenzungsprozesse) im Stadtraum abbilden zu können. Daneben hat sich inzwischen im Zusammenspiel von unterschiedlichen Disziplinen (Stadtsoziologie, Stadtplanung, Geografie, sozialer Arbeit etc.) eine Perspektive etabliert, die über dieses Verständnis hinausgeht und den »Sozialraum-Begriff« umfassender definiert. Diese Sichtweise rückt die sozialräumlichen Nutzungsmuster in das Zentrum der Betrachtung. Hierzu gehören »Aktionsraum- und Lebensraumanalysen«, die sich mit den inneren Strukturen und Qualitäten eines ausgewählten städtischen Teilraumes beschäftigten. (vgl. Riege, Schubert 2002). Ergebnisse von Sozialraumanalysen können dazu beitragen, die sozialen und räumlichen Strukturen und Zusammenhänge im Stadtquartier besser zu verstehen, um so etwaige Handlungsbedarfe, aber auch spezifische Qualitäten und Potenziale erkennen zu können. Die so gewonnenen Erkenntnisse können dazu ge- Baustein Stadtquartier und Sozialraum | Berding nutzt werden, maßgeschneiderte (planerische) Strategien und Konzepte zu entwickeln. In den letzten Jahren sind zum Beispiel zahlreiche Wohnsiedlungen und Wohnprojekte entstanden, die eine gegenseitige Unterstützung der Bewohner, die Organisation von Netzen nachbarschaftlicher Hilfe und neue Möglichkeiten eines generationsübergreifenden Zusammenlebens zum Ziel haben. Das Interesse an solchen Projekten wird jedoch häufig von dem Wunsch nach Nachbarn mit ähnlichen Interessen und Lebensstilen getragen. Die Möglichkeiten, »nachbarschaftliche Beziehungen« allein planerisch zu steuern, werden dabei gemeinhin als begrenzt angesehen. Gut geplante Räume für Aneignung und Kommunikation sowie Einrichtungen der sozialen Infrastruktur können jedoch nachbarschaftliches Zusammenleben unterstützen und auch die Beteiligung der Bewohner an Planungs- und Umsetzungsprozessen fördert ebenfalls lebendige Nachbarschaften. Stand: 08|08 Literatur _Bourdieu, Pierre (1991): Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In: Wentz, Martin: Stadt-Räume. Frankfurt a. M. S. 25–34 _Harth, Annette; Scheller, Gitta; Tessin, Wulf (Hg.) (2000): Stadt und soziale Ungleichheit. Opladen _Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie. Frankfurt/New York _ILS (Hg.) (2006): Sozialraumanalyse. Soziale, ethnische und demographische Segregation in den nordrhein-westfälischen Städten. Dortmund _Keller, Thomas (1998): Sozialraumbezug als fachlicher Standard in der sozialen Arbeit. Essen _Krämer-Badoni, Thomas (2001): Urbanität und gesellschaftliche Integration. (DfK Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften 40. Jg., 2001/ I). Berlin. S. 12–26 _Nikodem, Claudia; Schulze, Erika; Yildiz, Erol (2001): Die soziale Grammatik des urbanen Zusammenlebens. In: W.-D. Bukowet al. (Hg.): Auf dem Weg zur Stadtgesellschaft. Opladen, S. 209 ff. _Riege, Marlo; Schubert, Herbert (Hg.) (2002): Sozialraumanalyse. Opladen _Schäfers, Bernhard (Hg.) (1995): Grundbegriffe der Soziologie. 4. Aufl. Augsburg 2|2