Ilse Aichinger

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Ilse Aichinger
Ilse Aichinger
Schriftstellerin
1921
1. November: Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga werden in Wien als
Töchter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers geboren.
1926
Nach der Scheidung der Eltern wächst Aichinger bei der Mutter in Wien auf.
1938-1945
Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Die Mutter verliert ihre Stelle als städtische
Ärztin. Die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter werden deportiert und
ermordet. Ihrer Schwester gelingt 1939 die Flucht nach England.
Nach Abschluss des Gymnasiums bekommt Aichinger als Halbjüdin keinen Studienplatz.
Im Zweiten Weltkrieg werden sowohl Mutter als auch Tochter dienstverpflichtet.
1945
Aichinger beginnt ein Medizinstudium, das sie jedoch nach fünf Semestern abbricht, um
ihren ersten Roman "Die größere Hoffnung" zu beenden.
1. September: Aichingers Text "Das vierte Tor" thematisiert zum ersten Mal in der
österreichischen Literatur die Konzentrationslager.
1946
Aichinger erregt mit ihrem Essay "Aufruf zum Misstrauen" erstmals Aufsehen. Sie ruft
dazu auf, "uns selbst [zu...] misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer
Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir
misstrauen!".
1948
Der Roman "Die größere Hoffnung" wird veröffentlicht. Inhalt des Werkes ist eine
autobiografische Schilderung der Kriegszeit in Wien. Es bleibt ihr einziger Roman.
1949/50
Tätigkeit als Lektorin beim S. Fischer Verlag in Wien und Frankfurt/Main.
1950/51
Assistentin bei Inge Aicher-Scholl (1917-1998) an der Ulmer Hochschule für Gestaltung.
ab 1951
Mitglied der "Gruppe 47" .
1952
Der Erzählband "Rede unter dem Galgen" erscheint und wird in der Öffentlichkeit viel
beachtet. 1953 wird der Band neu aufgelegt und unter dem Titel "Der Gefesselte"
herausgegeben.
Mai: Aichinger wird auf der dritten Tagung der "Gruppe 47" für ihre "Spiegelgeschichte"
zur Preisträgerin des jährlich vergebenen Literaturpreises ernannt.
1953
Heirat mit dem Schriftsteller Günther Eich. Aus der Ehe gehen die Kinder Clemens und
Mirjam hervor.
Aichinger veröffentlicht ihr erstes Hörspiel "Knöpfe". Es folgen weitere Hörspiele, die
Aichinger auch in diesem Bereich als Autorin bekannt machen.
1955
Auszeichnung mit dem Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf.
ab 1956
Mitglied der Berliner Akademie der Künste.
1957
Aichinger erhält den Literaturpreis der freien Hansestadt Bremen.
Mitglied des deutschen PEN-Zentrums.
Veröffentlichung von "Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge".
Sie dramatisiert das Hörspiel "Knöpfe", das in Berlin uraufgeführt wird.
1963
Aichinger zieht mit ihrer Familie nach Groß-Gmain bei Salzburg.
1963-1970
Der Erzählband "Wo ich wohne" (1963) wird veröffentlicht. Wie auch Aichingers
Hörspiele, lösen sich ihre Erzählungen immer mehr vom herkömmlichen
Wirklichkeitsbegriff. Es dominieren Irrealität und Traumerfahrungen.
In den Folgejahren erscheinen der Band mit Erzählungen "Eliza Eliza" (1965), vier
Hörspiele im Sammelband "Auckland" (1969) und der Erzählband "Nachricht vom Tag"
(1970).
1971
Auszeichnung mit dem Nelly-Sachs-Preis.
1976
Der Sammelband "Schlechte Wörter", in dem Erzählungen, Kurzprosa und das Hörspiel
"Gare maritime" zusammengestellt sind, zeigt eine Veränderung in Aichingers Schreibstil
von der Wahrheitssuche zur subversiven Sprachkritik.
ab 1977
Aichinger ist korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung.
1978
Unter dem Titel "Verschenkter Rat" erscheint eine Gedichtsammlung aus den Jahren
1955 bis 1978.
In dem Band "Meine Sprache und ich" fasst Aichinger einen Großteil der zwischen 1949
und 1968 entstandenen Erzählungen zusammen. Der Titelessay thematisiert die
Unzulänglichkeit der Sprache als Ausdrucksmittel.
1982
Aichinger erhält den Petrarca-Preis.
1983
Auszeichnung mit dem Franz-Kafka-Preis.
1984
Umzug nach Frankfurt/Main.
Aichinger erhält den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis.
ab 1985
Aichinger veröffentlicht immer weniger. Von Zeit zu Zeit fasst sie ihre Gedanken in
prägnanten Sätzen zusammen, wie "Zum Kranklachen wäre alles, wenn es nicht zum
Totlachen wäre".
1987
Der Europalia-Literatur-Preis der Europäischen Gemeinschaft wird an Aichinger
verliehen.
1991
Zu ihrem 70. Geburtstag erscheint Aichingers Gesamtwerk in acht Bänden,
herausgegeben von Richard Reichensperger (1961-2004).
Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
an Aichinger.
1995
Aichinger erhält für ihr Lebenswerk den Großen Österrreichischen Staatspreis für
Literatur.
1996
Oktober: Aichinger gehört zu den über 100 Unterzeichnern der "Frankfurter Erklärung"
gegen die für 1998 geplante Rechtschreibreform.
Veröffentlichung von "Kleist, Moos, Fasane"; ein Sammelband kleinerer Arbeiten aus
mehreren Jahren.
November: In einem ZEIT-Interview zu ihrem 75. Geburtstag sagt Aichinger: "Aber die
größte Begabung ist doch die, auf der Welt sein zu können. Es auszuhalten, mit einem
gewissen Frohsinn."
Uraufführung der dramatischen Fassung von "Zu keiner Stunde" am Wiener
Volkstheater.
1997
Juni: Eine "Interessengemeinschaft österreichischer Autoren" kämpft dagegen, dass
literarische Texte in Schulbüchern entsprechend der Rechtschreibreform verändert
werden. Neben Elfriede Jelinek (geb. 1946), Johannes Mario Simmel (geb. 1924), Ernst
Jandl (geb. 1925) und anderen, unterschreibt auch Aichinger eine öffentliche
Untersagungserklärung.
1998
Ihr Sohn, Clemens Aichinger, kommt bei einem Unfall ums Leben.
2000
Auszeichnung mit dem Joseph-Breitbach-Preis.
2001
Nach 14jähriger Schreibpause erscheint ihre Autobiografie "Film und Verhängnis.
Blitzlichter auf ein Leben".
2005
Veröffentlichung des Buches "Unglaubwürdige Reisen".
Werk
Zitate
Über die Kriegszeit
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Der Krieg war meine glücklichste Zeit. Der Krieg war hilfreich für mich. Was ich da
mitangesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Die Kriegszeit war voller
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Hoffnung. Man wußte sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute
nicht mehr weiß. Der Krieg hat die Dinge geklärt.
Ich hab einmal [...] gesagt, dass der Zweite Weltkrieg meine glücklichste Zeit war.
Obwohl ich gesehen hab, dass man meine Angehörigen weggeschleppt hat in Viehwägen,
hab ich ganz sicher daran geglaubt, dass sie wiederkommen. Deshalb war auch die Zeit
NACH dem Zweiten Weltkrieg für mich die schwierigste, weil kein Mensch
zurückgekommen ist.
[Der] Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und
die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war
sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf
der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und
die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.
Über das Schreiben
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Ich habe das [Schreiben] seit jeher für einen sehr schwierigen Beruf gehalten. Und ich
wollte nie Schriftstellerin werden. Ich wollte Ärztin werden, das ist gescheitert an meiner
Ungeschicklichkeit. Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit
schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie
möglich festhalten. Als das Buch [Die größere Hoffnung] dann bei Fischer erschienen
ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen,
nicht in zwanzig.
Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müßte man
doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben
rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin. Sich als Autor allein zu definieren,
ist heute nicht mehr möglich. Egal ob man Installateur, Krankenpfleger oder im Büro ist.
Das ist noch eine andere Welt, auch wenn sie einen anödet. Wenn mich jemand nach
meinem Beruf fragt, sage ich „privat“.
Das Schreiben spielt die Rolle, dass es mir vielleicht vorkommt, als hätte alles einen
gewissen Sinn. Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine
Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig.
Auszeichnungen
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1952: Literaturpreis der Gruppe 47; Ehrung im Rahmen des René-Schickele-Preises
(zusammen mit Franziska Becker, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Luise Rinser und Heinz
Risse; Hauptpreisträger: Hans Werner Richter)
1955: Immermann-Preis; Literaturpreis der Stadt Bremen (für Der Gefesselte.
Erzählungen; Preisträgerin zusammen mit Herbert Meier)
1961: Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (zusammen mit
Joachim Maass)
1968: Anton-Wildgans-Preis
1971: Nelly-Sachs-Preis. Laudatio: Karl Krolow
1974: Literaturpreis der Stadt Wien (zusammen mit Manès Sperber)
1975: Roswitha-Preis
1979: Georg-Trakl-Preis
1979: Franz-Nabl-Preis
1982: Petrarca-Preis. Laudatio: Michael Krüger
1983: Franz-Kafka-Preis. Laudatio: Wendelin Schmidt-Dengler
1984: Marie-Luise-Kaschnitz-Preis
1984: Günter-Eich-Preis (Lyrik)
1987: Europalia-Literatur-Preis der Europäischen Gemeinschaft
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1988: Weilheimer Literaturpreis
1991: Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Laudatio:
Peter Horst Neumann
1991: Peter-Rosegger-Preis; Manès-Sperber-Preis (zusammen mit Albert Drach)
1995: Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur; Österreichischer Staatspreis für
Europäische Literatur
1997: Erich-Fried-Preis
2000: Joseph-Breitbach-Preis (zusammen mit W. G. Sebald und Markus Werner)
2002: Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.
Laudatio: Günter Traxler
Werke
Prosa
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Die größere Hoffnung. Roman. Bermann-Fischer, Amsterdam 1948.
Rede unter dem Galgen. Erzählungen. Jungbrunnenverlag, Wien 1952.
Der Gefesselte. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1953 (darin: Das FensterTheater)
Eliza Eliza. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1965.
Nachricht vom Tag. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1970.
Meine Sprache und ich. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1978.
Kleist, Moos, Fasane. S. Fischer, Frankfurt am Main 1996.
Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. S. Fischer, Frankfurt am Main 1997.
Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001.
Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. Edition Korrespondenzen, Wien 2004.
Unglaubwürdige Reisen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005.
Subtexte. Edition Korrespondenzen, Wien 2006.
Lyrik
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Verschenkter Rat. S. Fischer, Frankfurt am Main 1978.
Kurzschlüsse. Edition Korrespondenzen, Wien 2001.
Hörspiele
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Knöpfe. 1953.
Zu keiner Stunde. S. Fischer, Frankfurt am Main 1957.
Französische Botschaft. 1960.
Weiße Chrysanthemen. 1961.
Besuch im Pfarrhaus. Ein Hörspiel. Drei Dialoge. S. Fischer, Frankfurt am Main 1961.
Nachmittag in Ostende. 1968.
Die Schwestern Jouet. 1969.
Auckland. Vier Hörspiele. S. Fischer, Frankfurt am Main 1969.
Gare Maritime. 1976.
Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. S. Fischer, Frankfurt am Main 1980.
Sammelbände
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Wo ich wohne. Erzählungen, Gedichte, Dialoge. Fischer, Frankfurt am Main 1963.
Heinz F. Schafroth (Hrsg.): Dialoge, Erzählungen, Gedichte. Reclam, Stuttgart 1971.
Schlechte Wörter. S. Fischer, Frankfurt am Main 1976.
Gedichte und Prosa. Gymnasium Weilheim, Weilheim i. OB. 1980.
Werke in acht Bänden. S. Fischer, Frankfurt am Main 1991.
Aufzeichnungen 1950–1985. Reclam, Leipzig 1992.
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