Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR utb-mehr-wissen.de Einführung in die klinisch-psychologische Diagnostik und Differentialdiagnostik Mona Auinger Zusammenfassung: Im folgenden Kapitel wird eine Einführung in die psychologische Diagnostik im Allgemeinen und weiterführend eine Auseinandersetzung mit dem Feld der klinisch-psychologischen Diagnostik gegeben. Neben sachlichen Definitionen werden ein Einblick in das praktische Vorgehen im Laufe des diagnostischen Prozesses geboten und das Strukturierte Klinische Interview nach DSMIV (SKID; Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997) sowie das Composite International Diagnostic Interview (CIDI; Wittchen, 1991) näher beschrieben. Des Weiteren wird die Bedeutung der klinischpsychologischen Differentialdiagnostik hervorgehoben und im Zuge dessen das schrittweise Vorgehen nach Saß, Wittchen und Zaudig (1999) erläutert. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, das Bewusstsein für die Relevanz eines ausführlichen und strukturierten diagnostischen Prozesses im Hinblick auf die Planung einer optimalen Intervention zu steigern. 1 Einführung in die psychologische Diagnostik Die psychologische Diagnostik stellt das Forschungsfeld der Psychologie dar, welches die Grundlagen für das psychologische Diagnostizieren in der Praxis liefern soll und kann als eine Methodenlehre im Rahmen der Psychologie bezeichnet werden (Amelang & SchmidtAtzert, 2006; Kubinger, 2006). Das psychologische Diagnostizieren stellt in einem Großteil der Bereiche der angewandten Psychologie die Grundlage jedes weiteren Handelns dar und ist somit sowohl im praktischen Alltag als auch in der Ausbildung von Psychologen eine Kerndisziplin. Nach Jäger (1999) handelt es sich beim psychologischen Diagnostizieren um „das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit dem Ziel, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren. (S. 11)“ Zur Sammlung von Informationen existieren verschiedenste psychologisch-diagnostische Verfahren, wie unter anderem Fragebögen, Intelligenz- oder Leistungstests und strukturierte Interviews, aber auch „Messmethoden“ wie die Verhaltensbeobachtung sowie die Anamnese und Exploration, als halbstrukturierte Gespräche mit dem Patienten, können als Mittel zur Erhebung der interessierenden Merkmale eingesetzt werden. Diese interessierenden Merkmale werden stets durch eine vorab in Kooperation mit dem Auftraggeber formUTB facultas.wuv 2011 ulierten Fragestellung definiert, die es im Verlauf des diagnostischen Prozesses zu beantworten gilt. Am Ende des diagnostischen Prozesses steht schließlich nicht nur die Beantwortung der Fragestellung, sondern darüber hinaus ein aus den Ergebnissen der eingesetzten psychologisch-diagnostischen Verfahren abgeleiteter Maßnahmenvorschlag, der eine Handlungsanweisung für den Auftraggeber bzw. den Klienten darstellen soll. Der Auftraggeber und der Klient müssen hierbei nicht notwendigerweise ein und dieselbe Person sein; so kann im Falle der Entwicklungsdiagnostik bspw. zwar ein Kind Klient jedoch ein Elternteil Auftraggeber sein. Psychologisches Diagnostizieren Psychologisches Diagnostizieren bezeichnet einen Prozess, der ausgehend von einer bestimmten Fragestellung mittels geeigneter psychologisch-diagnostischer Verfahren (Fragebögen, Tests, strukturierte Interviews, Verhaltensbeobachtung, Anamnese, Exploration) interessierende psychische Merkmale erhebt und mit einer aus der Beantwortung der Fragestellung abgeleiteten Handlungsanweisung endet. Felder, in welchen psychologisches Diagnostizieren von hoher Relevanz sind, sind die Pädagogische Psychologie (z.B. Entwicklungsdiagnostik, Schullaufbahnberatung), die Arbeits- und Organisationssychologie (z.B. Selektionsdiagnostik zur Mitarbeiterauswahl), die Forensische Psych1 Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR ologie (z.B. Einschätzung der Zurechnungsfähigkeit, der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen oder der Kriminalität und Aggressivität vor Vollzugslockerung), die Verkehrspsychologie (z.B. Verkehrspsychologische Untersuchung hinsichtlich Fahreignung bei zukünftigen Busfahrern oder nach Führerscheinentzug), die Gesundheitspsychologie (z.B. Evaluation der Wirksamkeit gesundheitsbezogener Kampagnen), die Psychologische Forschung und zuguterletzt die Klinische Psychologie (Amelang & Schmidt-Atzert, 2006; Kubinger, 2006). Auf die Besonderheiten des Diagnostizierens in der Klinischen Psychologie soll in den folgenden Kapiteln eingegangen werden. 2 Basiswissen zur klinischpsychologischen Diagnostik Die Klinische Psychologie beschäftigt sich mit psychischen Störungen, sowie psychischen Aspekten somatischer Erkrankungen und untersucht diese hinsichtlich ihres Auftretens, ihrer Entstehung, ihres Verlaufs und ihrer möglichen Behandlungsoptionen. Die klinisch-psychologische Diagnostik stellt schließlich das Handwerkzeug bereit, das notwendig ist, um diese Aspekte zu erfassen. In der Regel sind hierbei Klienten Einzelpersonen, die sich mit einer gewissen Problematik, die sie selbst als einschränkend erleben, an eine Institution im Kontext der klinischen Psychologie wenden. Somit geht auch der Prozess des klinischpsychologischen Diagnostizierens von der Formulierung einer Fragestellung aus und ist im Weiteren von der Bildung individueller Hypothesen zur Erklärung des Verhaltens und Erlebens des Klienten gekennzeichnet. Diese werden im Verlauf des diagnostischen Prozesses anhand ausgewählter psychologisch-diagnostischer Verfahren verifiziert, falsifiziert und spezifiziert (Kubinger, 2006; Wittchen & Hoyer, 2006). Zentraler Bestandteil der klinisch-psychologischen Diagnostik ist die Klassifikation des Patienten entsprechend seiner Symptomatik anhand allgemein anerkannter Diagnosesysteme (DSM-IV-TR, ICD-10; siehe Box „Sokrates“), welche nicht zuletzt für eine Rückvergütung der 2 utb-mehr-wissen.de anfallenden Kosten durch die Krankenkassen notwendig ist. Diagnosesysteme Das DSM-IV-TR (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, Textrevision; Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003) sowie der ICD-10 (International Classification of Diseases; Dilling, Mombour & Schmidt,2008) sind die am weitesten verbreiteten und international anerkannten Diagnosesysteme für psychische Störungen, wobei der ICD-10 ein Klassifikationssystem für sämtliche Erkrankungen, psychische sowie somatische, darstellt. Von den 22 verschiedenen Kapiteln beschränken sich die psychischen und Verhaltensstörungen im ICD-10 auf ein Kapitel und zwar Kapitel 5. Da all diese Störungen im Weiteren der Gruppe F angehören, wird ihnen ein Code mit dem Buchstaben F am Anfang zugeordnet (Bsp.: F-Code für Soziale Phobie: F40.1). In der Vergangenheit bestand das Bestreben, die Symptomkriterien der einzelnen Störungsbilder des DSM-IV und des ICD-10 anzugleichen, weshalb heute in den meisten Fällen nur geringe Abweichungen bestehen. Nach Heidenreich, Noyon und Erfert (2008) bestehen heute die deutlichsten Unterschiede zwischen den beiden Diagnosesystemen darin, dass das DSM-IV-TR eher auf forschungsbezogene Aspekte und der ICD-10 stärker auf interkulturelle Gesichtspunkte fokussiert, weshalb in letzterem keine psychosozialen Faktoren (z.B. klinisch bedeutsames Leiden durch die Störung in verschiedenen Lebenssituationen) in den Symptom-kriterien enthalten sind. Beide Diagnosesysteme sind schließlich aus mehreren Achsen aufgebaut, wobei die Anzahl und der Inhalt dieser variiert. Das DSM-IV ist aus fünf Achsen aufgebaut, wobei auf Achse I die psychischen Störungen und auf Achse II die Persönlichkeitsstörungen stehen. Im Weiteren sind auf Achse III medizinische Krankheitsfaktoren, auf Achse IV psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme und auf Achse V die globale Beurteilung des Funktionsniveaus (GAF) zu finden. Letztere spiegelt eine Einschätzung der Beeinträchtigung in sozialen, Auinger Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR beruflichen oder schulischen Bereichen auf einer Skala von 0 bis 100 (gute Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten) wider. Die drei Achsen im ICD-10 sind folgendermaßen gestaltet: auf Achse Ia und Achse Ib sind die psychischen Störungen sowie die somatischen Störungen zu finden. Achse II und III repräsentieren das Ausmaß der psychosozialen Funktionseinschränkung und Faktoren der sozialen Umgebung sowie der Lebensbewältigung, während Achse IV und V im ICD-10 nicht existieren (Heidenreich et al., 2008). Jedoch darf der diagnostische Prozess in der Klinischen Psychologie nicht beim Schritt der Klassifikation enden. In Hinblick auf die Planung einer optimalen Therapie für den Patienten sind spezifische Informationen über Auftreten und Intensität der Störung sowie hinreichendes Wissen über das Bedingungsgefüge der Entstehung der Krankheit, bisherige Behandlungsschritte, die Ressourcen des Klienten und die Festlegung von Zielen der Intervention zentraler Bestandteil. Der erste Schritt der Diagnosestellung kann hierbei als klassifikatorische Diagnostik bezeichnet werden, während alle weiteren Schritte zur Erfassung des Bedingungsgefüges die bedingungsanalytische oder therapiebezogene Diagnostik darstellen (Wittchen & Hoyer, 2006). Maßnahmenvorschlag Hinsichtlich der Klassifikation der Klienten entsprechend ihrer Symptomatik muss berücksichtigt werden, dass die reine „Einordnung“ von Patienten in eine bestimmte diagnostische Kategorie nicht den Anforderungen des psychologischen Diagnostizierens entspricht, da dieses darüber hinaus stets einen Maßnahmenvorschlag im Sinne einer Handlungsanweisung für den Klienten beinhält. Neben einer klinisch-psychologischen Diagnostik, die eine optimale Intervention vorbereitet, kann diese auch die Behandlung des Klienten begleitend fortgeführt werden. Erstgenanntes Vorgehen wird hierbei als Statusdiagnostik bezeichnet, hingegen stellt das zweitgenannte eine Prozess- oder UTB facultas.wuv 2011 utb-mehr-wissen.de Verlaufsdiagnostik dar (Wittchen & Hoyer, 2006). 3 Der Prozess des klinischpsychologischen Diagnostizierens Am Beginn des Prozesses des klinischpsychologischen Diagnostizierens steht in der Regel ein sogenanntes Anamnesegespräch, das entsprechend Kubinger (2006) „der Sammlung der typischerweise mit dem gegebenen Sachverhalt in Verbindung stehenden Information dient (S. 162)“. Die Anamnese bezieht sich zumeist im ersten Verlauf auf soziodemografische Daten, wie das Alter, den Beruf, die Ausbildung, den Familienstand, etc. im Weiteren kann sie auf die Familiensituation, soziale Beziehungen, Hobbies usw. eingehen und zuguterletzt sollen mit einer einleitenden Frage, wie etwa „Welches Anliegen hat Sie zu uns geführt?“ ausführliche Informationen zur aktuellen Problematik gesammelt werden. Diese soll hinsichtlich zeitlichen Beginns, Intensität, Häufigkeit, Auftreten, erlebter Einschränkung im Alltag, bisheriger Handlungsschritte, subjektiver Krankheitstheorien, etc. genau exploriert werden. Abschließend kann darüber hinaus auf Erwartungen des Patienten an die Diagnostik bzw. an eine weiterführende Intervention eingegangen werden. Für die Durchführung der Anamnese ist die Erstellung eines Gesprächsleitfadens zur Vermeidung von Fehlern, wie Suggestivfragen oder dem Vergessen wichtiger Fragen, v.a. für wenig geübte Psychologen von besonderer Relevanz. Im Rahmen eines solchen Leitfadens sollen eine mögliche Formulierung und Reihenfolge der notwendigen Fragen vorab durchdacht und notiert werden, wobei ein flexibles Eingehen auf den Patienten wie auch eine Abänderung der Reihenfolge der Fragen in Anpassung an die jeweilige diagnostische Situation dadurch keinesfalls behindert werden soll. Aus den Informationen des Anamnesegesprächs kann der Psychologe zumeist bereits eine Verdachtsdiagnose erstellen, welche er schließlich in Form klinischer Interviews überprüfen sollte. Hierzu gibt es eine Reihe strukturierter oder standardisierter Interviewverfahren, 3 Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR deren Anwendung im Verlauf des diagnostischen Prozesses dringend empfohlen wird, da diese eine hohe Reliabilität der Diagnosen gewährleisten und somit eine „ungenaue“ Diagnosestellung, wie bspw. ein Vergessen der Abklärung weiterer Kategorien, ausschließen. Neben dem Diagnostischen Interview bei psychischen Störungen (DIPS; Schneider & Margraf, 2006) ist das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID; Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997) eines der am häufigsten eingesetzten Interviewverfahren für die Diagnose psychischer bzw. Persönlichkeitsstörungen nach DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, 1998) bzw. DSMIV-TR (Saß, Wittchen Zaudig & Houben, 2003). Im Unterschied zum SKID beinhält das Handbuch des DIPS ausführliche Anweisungen zur richtigen Durchführung und Auswertung des Verfahrens und veranschaulicht dieses zusätzlich durch Übungsbeispiele. Aufgrund dessen kann der DIPS, anders als der SKID, auch von Psychologiestudenten nach ausführlichem Training vorgegeben werden. Darüber hinaus können im Rahmen des DIPS aus den erhobenen Daten bereits Informationen hinsichtlich der Therapie des Patienten abgeleitet werden, was bei Vorgabe des SKID nicht geboten wird. Ein vollstandardisiertes Interview zur Feststellung psychischer Störungen mit breiter Anerkennung ist das Composite International Diagnostic Interview (CIDI; Wittchen, 1991). Im Unterschied zu den strukturierten Verfahren SKID und DIPS ist hier die Reihenfolge und Formulierung der Fragen zwingend vorgegeben, weshalb nur die Antworten des Klienten variieren können. Die Interviewverfahren SKID und CIDI werden im Folgenden kurz näher vorgestellt. Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID; Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997) Entsprechend des multiaxialen Aufbaus des DSM-IV ist auch der SKID auf zwei Achsen aufgeteilt, welche einerseits der Diagnose 4 utb-mehr-wissen.de psychischer Störungen und andererseits der Feststellung von Persönlichkeitsstörungen dienen sollen. Diese werden kurz als SKID-I (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse-I; Wittchen, Wunderlich, Gruschwitz & Zaudig, 1997) und SKID-II (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse-II; Fydrich, Renneberg, Schmitz & Wittchen, 1997) bezeichnet und sind im Aufbau sowie in der Vorgabe sehr ähnlich gestaltet. Bei beiden kann vorab ein Screening vorgegeben werden, in welchem im Rahmen relativ neutraler Fragen Kernsymptome der einzelnen Störungen erfragt werden, welche im SKID-I in Interviewform und im SKID-II im Rahmen eines Fragebogens beantwortet werden müssen. Im SKID-I werden schließlich sukzessive die Symptomkriterien nach DSMIV der jeweiligen psychischen Störungen abgefragt und unmittelbar nach Zutreffen beurteilt. Kann die Störung aufgrund einiger nicht erfüllter Symptome nicht mehr diagnostiziert werden, kommt eine Sprungregel zum Einsatz, die den Diagnostiker zur nächsten abzuklärenden Störung weiterleitet. Im Rahmen des SKID-II existieren keine Sprungregeln, da stattdessen stets alle Fragen vorgegeben werden und erst im Anschluss daran ein Vorliegen der Störung nach der Anzahl der vorliegenden Symptome beurteilt wird. Bei der Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung etwa müssen vier der sieben Fragen mit „zutreffend“ beantwortet werden, um die Diagnose stellen zu können. Im Verlauf des diagnostischen Prozesses sollte zuerst der SKID-I und erst im Anschluss daran der SKID-II vorgegeben werden, wobei nach Angaben der Autoren bei Diagnose einer psychischen Störung die Feststellung einer Persönlichkeitsstörung kaum möglich ist, da die Unterscheidung zwischen Symptomen und tatsächlichen Persönlichkeitsmerkmalen vor allem bei langanhaltenden Psychopathologien große Schwierigkeiten bereitet (Wittchen, Zaudig & Fydrich, 1997). Auinger Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR utb-mehr-wissen.de Beispiele Screeningfrage zu Soziale Phobie aus SKID-I (Wittchen et al., 1997; S. XI): „Hatten Sie schon einmal Angst davor oder war es Ihnen unangenehm, in Gegenwart anderer Menschen zu sprechen, zu essen oder zu schreiben?“ Auszug aus Fragen im SKID-I zur Abklärung der Sozialen Phobie (Wittchen et al., 1997; S. 67): „Was befürchten Sie könnte passieren, wenn (Konfrontation mit phobischer Situation)?“ „Haben Sie bei (Konfrontation mit phobischer Situation) immer Angst?“ „Sind Sie der Meinung, daß Ihre Angst vor (phobischer Situation) stärker ist als angemessen?“ Composite International Diagnostic Interview (CIDI; Wittchen, 1991) Wie oben bereits erwähnt, ist das CIDI (Wittchen, 1991) ein vollstandardisiertes Interviewverfahren zur Diagnose psychischer Störungen nach DSM-IV. Dieser hohe Grad der Standardisierung impliziert, dass Fragen sowie Zusatzfragen unveränderbar vorgegeben sind und weder hinsichtlich der Formulierung noch hinsichtlich der Reihenfolge Adaptionen im Ermessen des Interviewleiters getroffen werden können. Selbiges gilt für die Verhaltensbeobachtung und die Auswertung, welche nach standardisierten Richtlinien bzw. im entsprechenden PC-Verfahren DIA-X-CIDI (Wittchen & Pfister, 1997) computerisiert erfolgen kann. Eine Auswertung per Hand wird von den Autoren aufgrund der hohen Fehleranfälligkeit durch die Komplexität des Verfahrens jedoch nicht empfohlen. Nach Wittchen und Hoyer (2006) können mittels CIDI insgesamt beinahe 100 verschiedene psychische Störungen diagnostiziert werden, die auf 16 Sektionen aufgeteilt sind. Der Ablauf erfolgt mit Ausnahme der hohen Standardisierungsregeln ähnlich dem des SKID: mittels einfacher Screeningfragen für jedes Störungsbild wird entschieden, ob dieses näher exploriert oder zum nächsten übergegangen werden kann. Wie auch im SKID-I entspricht jede weiterführende Frage einem bestimmten vorgegebenen Symptom der jeweiligen psychischen Störung nach DSM-IV. Ein Unterschied zwischen den beiden Interviewverfahren besteht allerdings hinsichtlich der Beurteilung der Symptome durch den Interviewleiter, welche im CIDI nur ein „Ja“ oder „Nein“, nicht aber ein „Teilweise“, wie es im SKID der Fall ist, zulässt. Das CIDI ist ein breit UTB facultas.wuv 2011 eingesetztes und anerkanntes Verfahren, das auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in leicht abgewandelter Form (WHO-CIDI; WHO, 2004) für epidemiologische und interkulturelle Studien eingesetzt wird und im Internet in einer englischen Version unter http://www.hcp.med.harvard.edu/wmhcidi / instruments_papi.php abrufbar ist. Nach Vorgabe eines solchen klinischen Interviews kann in der Regel bereits eine reliable Diagnose gestellt werden. Zur spezifischeren Beschreibung der Symptomatik sowie zur Erhebung der Intensität und des Auftretens der psychischen Erkrankung wird allerdings im Weiteren die Vorgabe bestimmter störungsspezifischer Verfahren empfohlen. Hierzu gibt es für verschiedenste Störungen eine breite Palette an Fragebögen, die zur Erfassung eines detaillierten Bildes der Störung ausgefüllt werden können. Zum bereits dargestellten Beispiel der Sozialen Phobie existieren Fragebögen, wie das Social Phobia Scale (SPS; Stangier, Heidenreich, Berardi, Golbs & Hoyer, 1999), die Social Interaction Anxiety Scale (SIAS; Stangier et al., 1999), das Social Phobia Inventory (SPIN; Connor et al., 2000), die Liebowitz-Soziale-Angst-Skala (LSAS; Stangier & Heidenreich, 2003) und der Unsicherheitsfragebogen (UFB; Ullrich de Muynck & Ullrich, 1977). Alle diese Erfassen die Ausprägungen verschiedener Facetten von Angst in unterschiedlichen Situationen. In der Praxis herrscht schließlich keine klare Differenzierung zwischen den Begriffen der Exploration und der Anamnese, weshalb diese zumeist synonym verwendet werden. Da Kubinger (2006) jedoch die Exploration als ein entscheid5 Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR ungsorientiertes Gespräch mit dem Ziel der Planung der Intervention definiert, sollte diese im diagnostischen Prozess nach der Diagnostik erfolgen. Im Anschluss kann die durch eine ausführliche Diagnostik optimal geplante Intervention durchgeführt und im Zuge einer begleitenden Verlaufsdiagnostik kontinuierlich evaluiert werden. Der diagnostische Prozess in der Klinischen Psychologie Anamnese/Exploration Klinisches Interview (SKID, DIPS, CIDI) Weiterführende störungsspezifische Fragebögen Fortlaufende Verhaltensbeobachtung (Exploration als entscheidungsorientiertes Gespräch zur Planung der Intervention) Intervention mit begleitender Verlaufsdiagnostik 4 Klinisch-psychologische Differentialdiagnostik Im Verlauf des diagnostischen Prozesses ist die Abgrenzung einer bestimmten Verdachtsdiagnose von anderen Störungsbildern ein zentraler Bestandteil. Während hierbei bspw. der Ausschluss einer psychotischen Störung bei Verdacht auf eine Angststörung eher einfach erscheint, gibt es andere diagnostische Kategorien, welche hinsichtlich ihrer Symptomatik größere Ähnlichkeiten aufweisen und daher in ihrer Abgrenzung voneinander sehr detaillierte Betrachtung erfordern. Wittchen und Hoyer Beispiel Eine psychische Störung, für welche die Abgrenzung von anderen Störungsbildern häufig nicht sehr deutlich ist, ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Diese muss zum einen von anderen psychischen Störungen, welche in Reaktion auf ein belastendes Ereignis (Anpassungsstörung, Akute Belastungsreaktion) auftreten können und zum anderen von Diagnosekategorien mit teilweise ähnlicher Symptomatik, wie Angst- und Depressiven Störungen, unterschieden werden (Schützwohl & Haase, 2009) 6 utb-mehr-wissen.de (2006) definieren den Begriff der Differentialdiagnostik wie folgt: „Sie [die Differentialdiagnose] beschreibt schließlich den klinischen Prozess, durch den unter Würdigung der Symptome, Syndrome, ätiologischen und pathogenetischen Besonderheiten ein Krankheitsbild von einem anderen abgegrenzt wird. Hierfür wird bei psychischen Störungen auch der Begriff „diagnostische Ausschlusskriterien“ benutzt. (S. 32)“ Nach Saß, Wittchen und Zaudig (1999) sollen für eine ausführliche Differentialdiagnostik im ersten Schritt Störungen ausgeschlossen werden, die vorgetäuscht oder simuliert werden, was durch genaues Nachfragen in der Regel erreicht werden kann, da es dadurch häufig zu Ungereimtheiten im Erzählten kommt oder eine Detailarmut im Geschilderten auffällig wird. Vor allem in Situationen, in welchen die Simulation einer Erkrankung tendenziell häufiger vorkommt (z.B. Forensische Psychologie) sollte diesem Gesichtspunkt größere Beachtung geschenkt werden. Hierbei muss allerdings zwischen dem bewussten Simulieren und dem unbewussten Vortäuschen (z.B. Konversionsstörung) unterschieden werden. Im zweiten Schritt muss anschließend abgeklärt werden, ob die Symptomatik, mit welcher sich der Patient präsentiert, möglicherweise durch einen Missbrauch psychotroper Substanzen bedingt ist, weshalb eine ergänzende Befragung von Familienangehörigen sowie eine Laboruntersuchung für eine reliable Diagnosestellung empfohlen werden. Zeigt sich im Zuge dessen ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Konsum der Substanz und der Symptomatik, so muss statt der ursprünglichen Verdachtsdiagnose eine Substanzinduzierte Störung festgestellt werden. Im Anschluss daran soll der dritte Schritt im Prozess der Differentialdiagnose abklären, ob der Symptomatik ein medizinischer Krankheitsfaktor zugrunde liegt, was vorrangig durch ärztliche Untersuchungen erreicht werden kann. Wird ein medizinischer Krankheitsfaktor entdeckt, sollte im Weiteren jedoch auch beachtet werden, ob psychische Faktoren in der Auinger Kapitel 19, Beitrag 01 WISSEN & MEHR Aufrechterhaltung dieser somatischen Erkrankung eine Rolle spielen und einer Behandlung bedürfen. Nach dem Ausschluss zugrundeliegender körperlicher Erkrankungen kann nach Saß, Wittchen und Zaudig (1999) schließlich die primäre Diagnose gestellt werden können. Im Rahmen dessen müssen die Symptome als Ganzes eingehend betrachtet werden, um andere ähnliche Störungsbilder ausschließen zu können. So kann, wie im Falle der Unterscheidung von PTBS und akuter Belastungsreaktion, bereits das Andauern der Symptomatik oder aber auch die Kombination mehrerer Kriterien (z.B. Interessensverlust ohne oder mit traumatischem Ereignis für die Abgrenzung von Major Depression und PTBS) ausschlaggebend sein. Die Autoren bieten für die Erleichterung des Ausschlussvorgangs Tabellen zur Differentialdiagnose, in welchen die Unterschiede zu Störungsbildern mit überlappender Symptomatik hervorgehoben werden, wie auch Entscheidungsbäume, um ein strukturiertes Vorgehen im diagnostischen Prozess zu ermöglichen. Darüber hinaus ist im Rahmen der Vorgabe eines klinischen Interviews eine ausführliche Differentialdiagnostik größtenteils gewährleistet. So müssen im Rahmen der Vorgabe des SKID-I bspw. Substanzinduzierte Störungen und allgemeine medizinische Krankheitsfaktoren ausgeschlossen werden und es muss ebenso gewährleistet werden, dass die erfasste Symptomatik nicht besser durch ein anderes Störungsbild erklärt werden kann. Saß, Wittchen und Zaudig (1999) beschreiben außerdem zwei weitere Schritte: zum einen geht es darin um die Abgrenzung einer Anpassungsstörung von einer Nicht Näher Bezeichneten Störung bei Symptomkomplexen, die nicht allen Anforderungen eines bestimmten Störungsbildes entsprechen und zum anderen um die Beurteilung der klinischen Relevanz der erfassten Merkmale. In diesem letzten Schritt ist es erforderlich, dass die Symptome klinisch bedeutsames Leiden hervorrufen, andernfalls kann die Diagnose einer psychischen Störung nicht erfolgen. Zusammenfassend wird erneut die Relevanz eines ausführlichen diagnostischen Prozesses betont, in welchem neben einer UTB facultas.wuv 2011 utb-mehr-wissen.de Klassifikation des Patienten nach den gängigen Diagnosesystemen (DSM-IV, ICD10) auch das Bedingungsgefüge der Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung, sowie Ressourcen und Erwartungen des Patienten erfasst werden. Für eine reliable Diagnosestellung wird die Anwendung gängiger klinischer Interviewverfahren (DIPS, SKID, CIDI) nahegelegt, um auch andere verursachende Faktoren oder Störungsbilder strukturiert ausschließen zu können. Ein solch detailliertes und strukturiertes Vorgehen ist für die Planung eines auf die Bedürfnisse des Patienten optimal zugeschnittenen Maßnahmenvorschlags unabdingbar und nur so kann eine erfolgreiche Intervention gewährleistet werden. Schritte der Differentialdiagnostik Im Rahmen des Prozesses der klinischpsychologischen Differentialdiagnostik sollten folgende Faktoren sukzessive ausgeschlossen werden (Saß, Wittchen & Zaudig, 1999): Vortäuschung oder Simulation der Symptomatik Zugrundeliegende allgemein medizinische Krankheitsfaktoren Verursachung der Symptomatik durch Substanzkonsum Andere psychische Störungen mit ähnlicher Symptomatik Folgende Punkte sollten darüber hinaus abgeklärt werden: Abgrenzung von Anpassungsstörung und Nicht Näher Bezeichneter Störung Beurteilung der klinischen Relevanz der Symptomatik Literaturreferenzen Connor, K., Davidson, J. R. T., Churchill, L. E., Sherwood, A., Foa, E. & Weisler, R. H. (2000). Psychometric properties of the Social Phobia Inventory (SPIN). New selfrating scale. British Journal of Psychiatry, 176, 379–386. Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. H. (Hrsg.). (2008). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). 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Schneider, S. & Margraf, J. (2006): DIPS: Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (3. vollständig überarbeitete Auflage). Heidelberg: Springer. Schützwohl, M. & Haase, A. (2009). Diagnostik und Differentialdiagnostik. In A. Maercker (Hrsg.), Posttraumatische Belastungsstörungen (S. 87–110). Heidelberg: Springer. Stangier, U. & Heidenreich, T. (2003). Die Liebowitz Soziale Angst-Skala (LSAS). In Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum (Hrsg.), Internationale Skalen für Psychiatrie. Göttingen: Hogrefe. Stangier, U., Heidenreich, T., Berardi, A., Golbs, U. & Hoyer, J. (1999). Die Erfassung sozialer Phobie durch die Social Interaction utb-mehr-wissen.de Anxiety Scale (SIAS) und die Social Phobia Scale (SPS). Zeitschrift für Klinische Psychologie, 28(1), 28–36. Ullrich de Muynck, R. & Muynck, R. (1977). Der Unsicherheitsfragebogen. Testmanual U. Anleitung für den Therapeuten. Teil II. München: Pfeiffer. Wittchen, H.-U. (1991). 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Paper and Pencil Instrument (PAPI V7). Zugriff am 16.3.2011 unter http://www.hcp.med.harvard.edu/wmhci di/instruments_papi.php. Online Supplement für B. U. Stetina, O. D. Kothgassner, I. Kryspin-Exner (2011). Wissenschaftliches Arbeiten in der Klinischen Psychologie. UTB facultas.wuv Zur Autorin: Mona Auinger ist Studentin der Psychologie an der Universität Wien 8 Auinger