Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Germanistische Linguistik Proseminar: Einführung in die Textlinguistik Dozent: Dr. Oliver Huber Referentinnen: Kathrin Hartje, Johanna Rehn Datum: 26.05.03 Textsyntax I- Der Übergang vom Satz zum Text 1. Wiederholung Syntax - Syntax von griech.: σύνταξις = Zusammenstellung: Lehre/ Struktur vom Satzbau, Teilgebiet der Grammatik untersucht Beziehungen zwischen Sätzen, Wörtern und Wortgruppen bezüglich Form, Funktion, Wirkungsweise und innerer Struktur unterschiedliche Theorien: Dependenz-Syntax Konstituentenstruktur-Syntax Generative Transformationsgrammatik a) Beziehungen im Satz - Valenz = Wertigkeit (Verben, Adjektive, Substantive) Rektion = Eigenschaft den Kasus eines abhängigen Wortes zu bestimmen (Verb, Adjektiv, Präposition) Kongruenz = formale Übereinstimmung zusammengehöriger Teile im Satz in Kasus, Numerus, Genus und Person b) syntaktische Kategorien Name für eine Menge von einfachen oder komplexen Ausdrücken mit gemeinsamen, syntaktisch relevanten Eigenschaften z.B. Nomen/ Substantiv, Verb, Adjektiv c) syntaktische Funktion Name für eine Relation zwischen zwei Ausdrücken z.B. Subjekt, Objekt, Prädikat 2. Satz oder Text als syntaktische Größe grundlegende Fragestellung: Wie wird „Satz“ definiert, um seiner Aufgabe als Textgrundlage gerecht zu werden? a) auf die Interpunktion bezogene Satzdefinition in der geschriebenen Sprache: Der Satz ist die Einheit zwischen Interpunktionen. Problem: freie Interpunktion z.B. in der Werbung um Aufsehen zu erregen Satzzeichen geben Auskunft über die vom Autor gewünschte Textsegmentierung 1 in der gesprochenen Sprache: der auf Interpunktion beruhende Satzbegriff ist nicht mehr anwendbar für Textanalysen wird hier nicht „Satz“ sondern „Textsegment“ oder „Segment“ verwendet b) Satzdefinition der Dependenz- bzw. Valenzgrammatik nach Tesnière: Ein Satz ist eine sprachliche Einheit aus Verb (Prädikat), als strukturelles Zentrum und mehreren Satzgliedpositionen (Subjekt, Objekt, Adverbialbestimmungen) mit jeweils bestimmten Abhängigkeiten zum Verb. Es gibt einfache Sätze und Teilsätze (z.B. Haupt- und Gliedsätze in sog. Satzgefügen). Unterschied zwischen grammatischer Satzdefinition und auf Interpunktion beruhender Satzdefinition: Beispiel: Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. (M. Claudius) Besonderheit: Elliptische Sätze: in manchen Sätzen fehlt das Prädikat (oder andere Satzteile), kann aber gedanklich durch das Prädikat (den entsprechenden Satzteil) des vorhergehenden Satzes ergänzt werden Beispiel: (aus einer Anzeige der Fa. Volvo) (1) Der letzte Urlaub war naß. (2) Stockholm sah aus wie ein schlechtes Schwarz- WeißFoto. (3) Grobkörnig und ein bißchen verwaschen. (4) Ich fuhr viel Auto. (5) Einen Wagen den ich bislang nicht kannte, einen VOLVO. …. elliptische Sätze werden oft als Nachtrag verwendet. Textsegmente, die weder explizit noch implizit in grammatischem Sinn als Satz gelten (Anrede, Grußformel, feste Wendungen) nennt man „nicht- satzwertige Ausdrücke“ c) Proposition = auf den Inhalt bezogene Satzdefinition „Ich verspreche dir, dass ich morgen komme“ Indikator Referenz Prädikation propositionaler Akt 3. Referenzidentität = Koreferenz - Referenz mehrerer sprachlicher Ausdrücke in einem Text auf den gleichen Referenten außerhalb des Textes wiederaufgenommener Ausdruck und wiederaufnehmender Ausdruck beziehen sich auf das gleiche außersprachliche Objekt (= Bezeichnungsgleichheit) 2 4. explizite Wiederaufnahme - - Definition: „Die explizite Wiederaufnahme besteht in der Referenzidentität bestimmter sprachlicher Ausdrücke in aufeinanderfolgenden Sätzen eines Textes. Ein bestimmter Ausdruck (z.B. ein Wort oder eine Wortgruppe) wird durch einen oder mehrere Ausdrücke in den nachfolgenden Sätzen des Textes in Referenzidentität wiederaufgenommen.“ (Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse) verschiedene Arten: Repetition: Wiederholung desselben Wortes Wiederaufnahme durch andere Substantive Wiederaufnahme durch Pronomen a) Wiederaufnahme durch Substantive Artikel: Bei Neueinführung eines Referenzträgers (z.B. eine Person) steht der unbestimmte Artikel, da der Referenzträger das Merkmal „nicht bekannt“ trägt. Bei der Wiederaufnahme des Referenzträgers steht der bestimmte Artikel (oder Demonstrativ-, Possessiv-, Interrogativpronomen), da er nun das Merkmal „bekannt“ trägt. Ausdrücke mit Merkmal „bekannt“ (definit): Eigennamen, Gattungsnamen regelhafte Abfolge von bestimmten und unbestimmten Artikeln Substantive: In der Wiederaufnahme folgt der Oberbegriff auf den Unterbegriff und nicht umgekehrt. (gilt nur für Substantive, die zueinander in der Beziehung von Hyperonymie und Hyponymie stehen) Wörter, die im Sprachsystem nicht in vorgegebenen Bedeutungsbeziehungen stehen, stehen dennoch in Relation der Wiederaufnahme. Die Referenzidentität gilt dann jedoch nur für den einen Text. b) Wiederaufnahme durch Pronomen - - Pronomen = Wörter mit minimalem Bedeutungsinhalt, die stellvertretend für Substantive stehen in textlinguistischer Forschung = Proformen Richtung der Wiederaufnahme: von rechts nach links (Proform folgt dem Bezugsausdruck) = Rückwärtsverweisung anaphorische (zurückweisende) Proformen Vorwärtsverweisung durch kataphorische Proformen ! anaphorische Proformen können auch kataphorisch gebraucht werden (in literarischen Texten und Zeitungen) 5. implizite Wiederaufnahme zwischen dem wiederaufnehmenden Ausdruck und dem wiederaufgenommenen Ausdruck besteht keine Referenzidentität beide Ausdrücke beziehen sich auf verschiedene Referenzträger Beispiel: Am 8. November 1940 kam ich in Stockholm an. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension in der Drottiggata, wo Max Bernsdorf ein Zimmer für mich bestellt hatte… (aus: Peter Weiss, Fluchtpunkt. Roman 1962- Textanfang) 3 Fügt man Zwischensätze ein, so kommt man von der impliziten zur expliziten Wiederaufnahme: Beispiel: Am 8. November 1940 kam ich in Stockholm an. (Dort gab es einen Bahnhof). Vom Bahnhof fuhr ich…. Die implizite Wiederaufnahme beruht oft auf semantischer Kontiguität, d.h. das Wort „Stadt“ impliziert „Bahnhof“, das Wort „Krankenhaus“ impliziert „ Arzt“, „Krankenschwester“. Kontiguitätsverhältnisse zwischen Wörtern können nach R. Harweg ontologisch (naturgesetzlich), logisch (begrifflich) oder kulturell begründet sein. 6. Textanalyse Mutiges Urteil von Reiner Possekel (1) Eine Richterin beim Amtsgericht in Mettmann hat ein mutiges Urteil gesprochen, (2) [denn s]ie lehnte die Klage eines 18jährigen Gymnasiasten ab, der von zu Hause weggezogen war und von seinen Eltern monatlich 200 Mark Unterhalt forderte. (3) Der junge Mann hatte sich darüber beklagt, dass seine Eltern ihn nicht aufgeklärt, mit ihm nicht über den Kommunismus diskutiert und seiner Freundin Hausverbot erteilt hätten. (4) Trotzdem, so meinte die Richterin, könne dem jungen Mann zugemutet werden, weiterhin im Elternhaus wohnen zu bleiben und Toleranz aufzubringen. (5) Das Urteil wird in vielen Familien heiße Diskussionen auslösen. (6) Das ist gut so. (7) Manche Töchter und manche Söhne sehen offenbar in dem seid Anfang vergangenen Jahres gültigen Volljährigkeitsgesetz nur ihre Rechte. (8) Dieses Gesetz billigt ihnen zu, schon im Alter von 18 Jahren gegen den Willen der Eltern zu heiraten, die Schule zu verlassen oder Verträge abzuschließen. (9) Doch mehr Rechte bedeuten auch mehr Pflichten und mehr Verantwortung. (10) Die Richterin in Mettmann hat dem jungen Volljährigen hinter die Ohren geschrieben, dass die neue Regelung kein Freifahrtschein für ein vogelfreies Leben ist. (11) Nach wie vor gilt es, Rücksicht auf Eltern und Geschwister zu nehmen. (12) Die Volljährigkeitsregelung ist eine Herausforderung an beide Generationen. (13) Sicher werden auch einige Eltern lernen müssen, ihre nun erwachsenen Söhne und Töchter nicht mehr wie Kinder zu behandeln. (14) Aber von jungen Leuten, die körperlich und geistig früher reif sind, muß man auch erwarten können, daß sie entsprechend früher verantwortungsbewusst und rücksichtsvoll sind. (aus: Hamburger Abendblatt vom 27.2.1976) Quellen: - Microsoft Encarta Enzyklopädie 1999 - Brinker Klaus, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, 5. Aufl., Berlin, 2001 4