„Es reicht nicht zu sagen, wir haben eine gute Demokratie

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„Es reicht nicht zu sagen, wir haben eine gute Demokratie. Wir müssen sie immer
weiterentwickeln und verbessern“ (Petra Kelly)
Auf der Suche nach den Orten der Demokratie
Für eine neue Kultur demokratischer Teilhabe
Für uns GRÜNE ist es wichtig, nicht nur unsere Rolle und unsere Machtperspektive im
deutschen „Fünf-Parteien“-System auszuloten, sondern auch die Frage nach der Demokratie
lebendig zu halten. Unsere Welt hat sich dramatisch verändert und wird sich auch weiterhin
dramatisch verändern. Die globalen Herausforderungen erfordern, so der Soziologe Leggewie,
eine „neue Kultur demokratischer Teilhabe“. Auf der Suche nach den Orten der Demokratie
wollen wir die in diesem Papier Parteien im Allgemeinen und unsere Partei, die GRÜNEN, in den
Mittelpunkt unseres Interesses stellen.
Bei Ihrer Gründung vor knapp 30 Jahren waren für die GRÜNEN die Fragen nach „Macht“ und
nach Demokratie essentiell. Basisdemokratisch sollte es sein, eng vernetzt mit der
„Zivilgesellschaft“, eine Gegenmacht, die Macht völlig anders definierte als die Herrschenden nicht patriarchalisch von oben, sondern eine Macht von unten. Petra Kelly hatte die GRÜNEN
damals als „Anti-Parteien-Partei“ beschrieben. Das Parlament stellte für die GRÜNEN der ersten
Stunde lediglich das “Spielbein” dar. Das kam vor allem bei denjenigen gut an, die sich als Teil
einer Bewegung verstanden, welche hochemotionalisiert und mit viel Pathos gegen die
„Zerstörung der Welt“ aufbegehrte, einer Welt, die ihrer Ansicht nach von der atomaren
Vernichtung bedroht in eine heute noch virulente, sich zuspitzende ökologische Katastrophe
gleitet.
Zwar ist der eiserne Vorhang veschwunden, doch die Bombe hat nichts von ihrem Schrecken
verloren. Die Bewältigung des Klimawandels ist zu einer der drängendsten Aufgaben unserer
und der nachfolgenden Generationen geworden. Und auch die Frage nach der
Weiterentwicklung und Verbesserung der Demokratie bleibt angesichts der globalen
Herausforderungen lebendig.
Verschwunden ist jedoch das Pathos einer Petra Kelly. Und auch die GRÜNEN haben sich als
Ort der Demokratie verändert, genauso, wie sich die sie damals umgebenden Bewegungen
heute in Verbänden und Nichtregierungsorganisationen institutionalisiert haben.
Ohne Orte – von der Komplexität des politischen Systems
Wir leben in einer Zeit, in denen wir vor Herausforderungen von enormer Komplexität stehen.
Dazu gehören die Gefährdungen für Umwelt, Klima und biologische Vielfalt oder die gerechte
Verteilung der Lebenschancen angesichts von Armut, Hunger und Umweltzerstörung. Diese
Herausforderungen können nicht alleine auf einer politischen Ebene gelöst werden.
Um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist die Gesamtheit der Politik so zu gestalten,
dass die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten bleiben und ein gerechter Ausgleich zwischen
den Generationen und zwischen Arm und Reich stattfindet. Dabei muss auch die Politik vor Ort
immer wieder in einen globalen Kontext gestellt werden, wenn wir diese Herausforderungen
ernsthaft angehen wollen.
Hier stellt sich die Frage, an welchem Ort diese Probleme und Herausforderungen angegangen
werden können? Früher war der Nationalstaat Dreh- und Angelpunkt westlicher Demokratien.
Heute spielen trans- und supranationale Organisationen eine immer größere werdenden Rolle.
Mittlerweile gibt es, vom Bezirksbeirat bis zur UNO fünf, sechs oder mehr politische Ebenen, die
untereinander mehr oder weniger gut vernetzt sind und deren Kompetenzen nicht mehr so klar
abgegrenzt werden können, wie beispielsweise in den Zeiten des kalten Krieges. Der
Nationalstaat ist schon lange nicht mehr der politische Rahmen für alle Entscheidungen in einer
global vernetzten Welt.
Für uns muss der Grundsatz gelten, dass die Lösung der globalen Probleme vor allem
demokratisch erfolgen muss. Doch die demokratische Bewältigung der Komplexität ist gerade
für die politischen Parteien eine Herausforderung. Manche Parteien haben aufgegeben, in den
Wahlkämpfen die politische Entscheidungsreichweite der entsprechenden Ebene genau in den
Fokus zu nehmen. Doch die einzelnen PolitikerInnen von heute können nur in einem recht eng
gestecktem Rahmen und auf einer der politischen Ebenen agieren. Zudem ist eine Politik, die
diese Herausforderungen in ihrem Bereich ernst nimmt, mit Zumutungen für die Bürgerinnen
und Bürger verbunden.
Wo können Parteien heute ansetzen, wenn sie solche Probleme angehen wollen? Wieviel
Pragmatismus, wie viel Pathos und wie viel Idealismus verträgt die Politik einer Kreispartei? Wie
kann es gelingen, komplizierte politische Sachverhalte und Problemlagen zu erklären ohne sie
auf inhaltsleere Schlagworte zu verkürzen? Wie kann es gelingen, auch auf kommunaler Ebene
Lösungsansätze zu entwickeln, die die globalen Herausforderungen im Blick behalten?
Wieviel Experten verträgt die Demokratie?
Durch die vermeintliche Komplexität politischer Entscheidungsprozesse kam es zu einer
zunehmenden Professionalisierung des politischen Personals. Für ehrenamtliche PolitikerInnen,
aber auch für BerufspolitikerInnen, wurde es immer schwieriger, Politik zu erklären sowie
Entscheidungen zu begründen und in einen größeren Kontext zu stellen. Beispielsweise in der
Kommunalpolitik: Die Vergabe von Bauaufträgen und die Gestaltung von Ausschreibungen sind
dadurch, das sowohl EU-Recht, als auch Landes- und Bundesrecht zu beachten sind,
hochkompliziert. Warum ein Bauvorhaben oder eine Ausschreibung gerade so und nicht anders
ausgeführt werden kann, ist manchmal nicht einmal der Verwaltung klar. Ein weiteres Beispiels
ist das Cross-Boarder-Leasing Ende der 90er Jahre und Anfangs des neuen Jahrhunderts. Hier
stimmten kommunale Parlamente Vertragstexten zu, die für sie nicht einsehbar waren oder aus
kurzen Zusammenfassungen bestanden. Eine öffentliches Interesse verhinderte nur vereinzelt
Verkäufe und wurde erst in den letzten Jahren wirklich geweckt als die katastrophalen
Auswirkungen sichtbar wurden.
Um die enorme Komplexität in der Politik zu bewältigen, entstand eine immer größer werdende
Kaste von ExpertenInnen und BerufspolitikerInnen. Diese, zumeist sehr gut ausgebildeten
Menschen, bewegen sich, wie der Politikwissenschaftler Collin Crouch formulierte, in einem
postdemokratischen Zirkel. Sie steigen – ohne in den regionalen Parteigliederugen sozialisiert
zu sein – schnell ein und auf. Oft beginnt der Karriereweg als Berater für einen Abgeordneten,
eine Fraktion oder einen politischen Wahlbeamten. Von dort aus kommt der Wechsel in eine
NGO, der Wechsel in die Führung, die PR- oder die Lobbyabteilung eines Unternehmens, in
einen Think Tank oder in die erste Reihe der Politik. Matthias Berninger, Sven Giegold oder
Matthias Wissmann stehen exemplarisch für die Biographien der politischen Expertenkaste.
Die lokalen Parteigliederungen stehen diesen Experten manchmal kritisch, manchmal blind
gläubig gegenüber. Kritisch, weil sie den bis in die 80er Jahre geltenden, klassischen
Karriereweg in einer politischen Partei in Frage stellt, der über überdurchschnittliches
Engagement in der jeweiligen Parteigliederung in den Gemeinderat, das Landesparlament und
letzten Endes in den Bundestag führte. Blind gläubig, weil viele aufegegeben haben, selbst
Lösungen für drängende politische Probleme zu suchen und sich von den Experten "instantLösungen" erhoffen.
Die Professionalisierung hat auch einen Entfremdungsprozess zwischen Basis und „denen in
Berlin“ ausgelöst. Die nicht in der Partei sozialisierten Experten tun sich mit der politischen
Kultur der Basis schwer – allein schon das „Du“ ist für viele eine Hürde. Umgekehrt regt sich in
den lokalen und überregionalen Führungsgremien der Parteien der Verdacht, dass die Aktivisten
nicht einmal für die Stammwählerschaft repräsentativ sind. Und da die Aktivisten sich freiwillig
engagieren, anstatt gewählt oder nach repräsentativen Kriterien zusammengestellt werden,
enstpricht dies vermutlich sogar der Wahrheit1. Zudem versuchen die Parteien neue
Wählerschichten zu erschließen, die der Basis jedoch fremd bleiben. Ein Beispiel ist der Versuch
der GRÜNEN, neben dem großstädtisch-bürgerlichen Millieu auch konservativ-gemäßigte
Wählerinnen und Wähler anzusprechen.
Der blinde Glaube an das Expertentum sorgte dafür, dass wichtige Entscheidungen, die unser
Zusammenleben betreffen, technokratisch entwickelt und durchgesetzt wurden. Ein Beispiel sind
die HartzIV-Reformen, die größte Reform der sozialen Sicherungssysteme in der
Bundesrepublik seit den 80er Jahren, die nach dem Leiter der Experten-Gruppe, dem damaligen
Personal-Vorstand der Volkswagen AG, benannt wurden.
Die Identifikation mit politischen Entscheidungen wird nicht allein durch die technokratische
Sprache der “Experten” schwierig gemacht. Die Allmachtsphantasien von Verwaltungen,
Expertengruppen und Kommissionen legitimierten sich bisher durch ihren “Ouput”. Stimmte das
Ergebnis fragte keiner mehr danach, wie eine Entscheidung zustande gekommmen ist. Diese
Fehler, die vor allem in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung gemacht wurden, dürfen sich so
nicht wiederholen. Es gilt, mehr das Augenmerk darauf zu richten, wie Entscheidungen zustande
kommen, wer dabei mitgenommen werden soll, mit wem man redet. Solche Prozesse sind
aufwendig, sie erfordern ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz.
Wie schaffen wir bei der Professionalisierung Raum für politische Partizipation? Wie kann eine
Partei sich öffnen, ohne ihre Grundwerte aus dem Auge zu verlieren und ohne beliebig zu
werden? Wie kann eine von einer Partei aus initiierte politische Partizipation aussehen? Wer soll
daran beteiligt werden? Und wo sind die Orte für eine solche demokratische
Auseinandersetzung?
Orientierung und Kompaß
Die Demokratie des 21. Jahrhunderts darf ihren Kompaß nicht verlieren. Sie muss sich an
Grundwerten orientieren statt in Ideologien zu verharren. Damit dies keine hohle Phrase bleibt,
müssen diese Grundwerte immer wieder ins Bewußtsein geholt und diskutiert werden, ohne
jedoch dabei in Dogmatismus zu erstarren oder beliebig zu werden.
Die Realität sieht anders aus. Statt sich mit Grundwerten durch den Dschungel des komplexen
politischen Systems zu manövrieren, treten viele PolitikerInnen den Rückzug in Pragmatismus
und Beliebigkeit an. Man scheut die Mühe, politische Sachverhalte ausreichend aufzuarbeiten,
ihrer Komplexität gemäß zu kommunizieren und mit Betroffenen und Interessierten zu
diskutieren. Man verharrt bei Schlagzeilen und in Pressemitteilungen verknappten Botschaften.
1
Crouch 2008, 92
Den Parteien geht damit der Kompaß verloren. Politische Entscheidungen und politische
Kommunikation driften auseinander – die Glaubwürdigkeit von Politik wird weiter beschädigt. So
gerierte sich Merkel auf internationaler Ebene als Klimakanzlerin, konterkarierte dieses PR-Spiel
jedoch in jenem Moment, wo es darum ging, auf nationaler und europäischer Ebene einen
klaren Rahmen für eine ökologische Wende zu setzen. Die Abrackprämie war ein Ergebnis und
das EU-Klimapaket blieb nicht nur dank Merkel hinter dem Notwendigen zurück. Begründung
hierfür waren Protektoinismus und vermeintlicher Pragmatismus.
Allgemein geraten bei den Parteien nach der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und
West die Grundwerte, auf denen ihre Politik basiert, ins Hintertreffen. Den Liberalismus muß
man bei der FDP teilweise mit der Lupe suchen. Der neoliberale „Reformkurs“ der Union, den
sie anläßlich der Bundestagswahl 2002 einschlug, hat mit der Bewahrung und Erhaltung guter
Politik, also einem gesund verstandenen Konservativismus, wenig zu tun. Mit der
Transformation unseres Wirtschaftssystems ist der SPD die Arbeiterklasse abhanden
gekommen, die bis in die späten 80er Jahre ideologischer Fokus ihrer Politik war.
Eine Außnahme bilden die GRÜNEN, die bereits während des kalten Krieges weder im
Kapitalismus noch im Kommunismus ihr Heil suchten, sondern stärker als viele andere auf
einem „dritten Weg“ beharrten, der nicht ein Kompromiß zwischen beiden Systemen sein sollte,
sondern jenseites beider Ideologien lag und dessen Pfade noch gesucht werden müssen.
Obwohl dieser besondere „dritte Weg“ bei den GRÜNEN nicht mehr im aktuellen Bewußtsein ist,
fällt es den GRÜNEN nicht schwer, ihre Politik auf die Basis von Grundwerten zu stellen statt auf
die Basis einer überkommenen Ideologie. Nicht umsonst postuliert das GRÜNE
Grundsatzprogramm: „Uns eint, uns verbindet ein Kreis von Grundwerten und nicht eine
Ideologie“. Auch wenn man sich manchmal wünschen mag, das diese Grundwerte im politischen
Tagesgeschäft stärker durchscheinen mögen. Gerade dieser gewachsene Kreis an Grundwerten
verschafft den GRÜNEN einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Parteien, die sich den großen
Ideologien des 19. Jahrhunderts – Konservativismus, Sozialsismus und Liberalismus verpflichtet fühlen. Wie lebendig bei den GRÜNEN die Transformation von Ideologien in
Grundwerte und die Diskussion um eben jene Grundwerte ist, lässt sich am Beispiel des
Grundwertes „Gewaltfreiheit“ zeigen, der Pazifismus als Ideologie ablöste. Selbst bei den
Gegner des Afghanistaneinsatzes wurde auf dem berühmten Göttinger Parteitag von BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN millitärische Gewalt als letztes Mittel nicht grundsätzlich ausgeschlossen.
Vielmehr wurde über die Angemessenheit und über das WIE von ISAF und OEF diskutiert.
Auch ohne Anlehnung an eine “große” Ideologie fehlt es den Grünen nicht an langfristigen Zielen
und Idealen. Zum Beispiel war und ist die Kritik an der Fetischisierung des Wachstums als
Selbstzweck ein zentraler Baustein grünen Denkens. Der Green New Deal als Basis einer
wirtschaftlichen ökologischen Transformation war hier ein erster richtiger Schritt, aber sicher
nicht der Letzte, weshalb offene Diskussionen mit eine regelmäßigen Überprüfung der eigenen
Argumente notwendig ist, denn auch politische und gesellschaftliche Konzepte erfüllen keinen
Absolutheitsanspruch. So wichtig der Bezug auf Grundwerte ist, so notwendig ist eine
notwendige Offenheit und Diskussionsbereitschaft gegenüber der Progressivität der Realität.
Wie kann es gelingen, bei politischen Entscheidungen immer wieder einen von Grundwerten
geleiteten Faden durchscheinen zu lassen? In welcher Form müssen langfristige Konzepte
aufgebaut und erarbeitet werden? Wie schaffen wir es, unsere langfristigen Konzepte auch
mehrheitsfähig und machbar zu gestalten?
Kapitel II: Parteien als Orte der Demokratie
Konstituierendes Element und Herzkammern unserer parlamentarischen Demokratie sind
Parteien. Sie bestimmen, wer in die Parlamente gewählt werden kann. In Wahlen spielen
Parteien die Hauptrolle – egal ob durch politische Programme, Themen oder Köpfe. Sie
verhandeln Koalitionen und bilden damit letztlich Regierungen.
Die Parteien haben sich seit der Gründung der Bundesrepublik verändert. Früher galt, in der
Mitgliedschaft einer Partei repräsentiere sich mehr oder weniger ein Querschnitt der
Bevölkerung. Vor der Erfindung der Meinungsumfragen konnten die Parteimitglieder dies auch
ohne weiteres in Anspruch nehmen. Doch mittlerweile bilden Parteimitglieder schon lange
keinen repräsentativen Querschnitt. Ältere Menschen, Angestellte des öffentlichen Dienstes,
sowie Männer dominieren in der Mitgliedschaft aller Parteien – auch bei den GRÜNEN.
Glaubt man den immer wiederkehrenden Debatten um Parteien-, Politik oder
Politikerverdrossenheit, befinden sich Parteien ohnehin in einer akuten Krise. Den Parteien
laufen WählerInnen und Mitglieder davon. Schlimmstenfalls werden Parteien nicht mehr als
Kräfte wahrgenommen, die sich um das Gemeinwohl sorgen, sondern als Institutionen, in denen
sich eine Funktionärselite abschottet, um möglichst ungestört ihre Pfründe zu verteilen, wie der
SPIEGEL-Korrespondent Gabor Steingart in seinem Buch „Die Machtfrage – Ansichten eines
Nichtwählers“ nahelegt. Ist an dieser Kritik etwas darn oder handelt es sich lediglich um Polemik
vom pubilizistischen Stammtisch?
Ein Indikator für die angebliche Parteienverdorssenheit ist die Wahlbeteiligung, die in
Deutschland stetig sinkt. Doch Vergleicht man die Wahlbeteiligung zum Deutschen Bundestag,
so liegt diese seit 1990 im Schnitt nur 8% niedriger als in den ersten vier Jahrzehnten der
Republik. Das ist nicht dramatisch, vergleicht man diese Zahlen mit Ländern, wie der Schweiz
oder der USA, bei denen die Wahlbeteiligung mehr als 20% niedriger ist als bei uns. Doch kann
die sinkende Wahlbeteiligung auch als Ausdruck von Normalisierung begriffen werden. Viele
Nichtwähler geben an, sie würden sich schlicht und einfach nicht für Politik interessieren und
zumindest 2005 sahen sich nach einer Nachwahlstudie des WZB über 70% der Bevölkerung
durch eine Partei oder durch Politiker repräsentiert.
Die SPD hat seit 1980 die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und auch bei der CDU sinken die
Mitgliederzahlen seit 1990 kontinuierlich. Bei uns GRÜNEN stagnieren die Zahlen oder weisen
einen - wenn auch leichten - Trend nach oben auf. Doch auch hier fällt auf: die Volatilität ist
hoch, viele Austritte werden durch Eintritte wieder wettgemacht. Doch sagt die
Mitgliederentwicklung wenig über eine Krise der Parteien aus. Vielmehr spiegelt sich in ihr die
Tendenz, sich nicht über einen längeren Zeitraum binden zu wollen. Vor allem in der jungen
Generation wird dies sichtbar. Häufige Ortswechsel, individuellen Freizeitgestaltung und
brüchige Erwerbsbiographien legen nahe, dass eine Bindung an eine regionale Parteigliederung
über einen längeren Zeitraum schwierig ist. Davon sind nicht nur Parteien betroffen: Kirchen,
Sport-, Jugend- und Musikvereine klagen gleichermaßen über Nachwuchsmangel. Vor allem
aktive Mitglieder finden sich nur wenige.
Die derzeit sinkende Wahlbeteiligung und der Mitgliederschwund der Parteien belegen noch
keinesfalls, dass sich die Parteien in der Krise befinden. Sie bleiben trotzdem eine
Herausforderung für die Parteien, die sie nicht ignorieren sollten. Wie gut Parteien letztlich ihre
Aufgabe als Herzkammern der Demokratie erfüllen, ob sie tatsächlich, wie das Grundgesetz
formuliert, maßgeblich an der Willensbildung mitwirken und vor allem, wie Parteien einer „neuen
Kultur der demokratischen Teilhabe“ (Leggewie) gerecht werden können – diese Fragen lassen
sich nicht allein mit Zahlen und Umfragen beantworten. Sie erfordern eine ins grundsätzlich
gehende Diskussion, ein intensives Nachdenken über eine Kultur demokratischer Teilhabe –
auch über die Parteien hinaus.
Über Aktualität und Realität der Parteien
“Gerade in Zeiten des Lobbyismus und des Verbandswesens sind Parteien noch am ehesten
Orte, an denen sich so etwas wie Interpretationen vom Gemeinwohl und der Streit zwischen
ihnen organisieren können – oder zumindest sollten. In der dieser Funktion als
Transformationsriemen zwischen Gesellschaft und Institutionen [...] liegt die Bedeutung und die
Aktualität des Parteigedankens”, formulierte die Gruppe “Realismus und Substanz”, eine
parteiinterne Gruppe junger Menschen, die sich grundsätzlichen Diskussionen verpflichtet fühlt –
und trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Diesem Anspruch steht jedoch die Realität in den Parteien gegenüber. Auf den
Mitgliederversammlungen der Parteien dominieren Amts- und Mandatsträger. Echte
Diskussionen finden kaum statt, die Funktionäre sind mit der Politik der jeweiligen Gliederung
vertraut, politische Beschlüsse werden im Rahmen der lokalen Parteigliederungen kaum
gefasst, Positionspapiere oder Anträge selten verabschiedet. Dies führt zu einer Verengung des
Parteilebens auf eine kleine Gruppe von Funktionären. Auch bei den GRÜNEN, die einen
solchen Mechanismus früher mit der Trennung von Amt und Mandat begegnen wollten, finden
sich solche Gegebenheiten. Oft diskutieren selbst die lokalen Parteivorstände kaum politisch,
sondern stellen die Parteiorganisation in den Vordergrund ihrer Arbeit – Infostände wollen
besetzt, Podien organisiert sein. Ein weiteres Ergebnis der Trennung von Amt und Mandat ist,
dass vor allem bei den GRÜNEN die informellen nicht den formalen Machtstrukturen
entsprechen. Joschka Fischer, der nie ein Parteiamt bekleidete, aber die Politik der GRÜNEN
fast zwei Jahrzehnte prägte, steht exemplarisch dafür. Zudem ist die Zusammenarbeit zwischen
den professionalisierten Fraktionen auf der einen und den Parteigliederungen auf der anderen
recht mühevoll, bedeutet doch die Kommunikation und Diskussion einzelner Konzepte und
Beschlüsse in der Partei und in der Öffentlichkeit viel Arbeit.
Wenn die Parteien wieder ein Stück des Vertrauens zurückgewinnen wollen, müssen sie zu
lebendigen Orten der Demokratie werden, die für politisch interessierte Menschen leicht
zugänglich sind. WIE sie das erreichen können, ist die Aufgabe, der wir uns als junge
Parteimitglieder stellen müssen.
Wo stehen die GRÜNEN?
Die GRÜNEN haben sich etabliert – für manche ist das ein Vorwurf, andere sind wiederum stolz
darauf, Mitglied einer „normalen“ Partei zu sein. Waren die GRÜNEN aufgrund ihrer
vielschichtigen Herkunft aus den Bewegungen früher stark mit Bürgerinitiativen und NGOs
verknüpft und einer nie näher ausformulierten, alternativen Politikvorstellungen verpflichtet,
bedeutete spätestens die Regierungsbeteiligung 1998 einen Bruch. In der Gründungsphase der
GRÜNEN war das "starre, sterile Parlament voller inkompetenter, elitärer Männer im
Pensionsalter" (Petra Kelly) noch ein Feindbild. Otto Schily, damals einer der Fraktionssprecher,
sagte anlässlich des Einzuges in der Bundestag 1983: "Außerparlamentarische Aktionen sind für
uns wichtiger als das Parlament." Folgerichtig wurde das Parlament als Spielbein, die
„Bewegungen“ als Standbein betrachtet. In der langen Auseinandersetzung zwischen „Fundis“
und „Realos“ schälte sich jedoch ein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie heraus: „Es
war damals ganz klar: Wir wollen in den bayerischen Landtag, wir wollen Alternativen zur
herrschenden Politik aufzeigen und Kritik an der Staatsregierung, an der CSU üben und wir
wollen das auch parlamentarisch machen. Es gab bestimmt noch eine verschwindende
Minderheit bei den Grünen, die gefragt hat, ob man diesen parlamentarischen Weg überhaupt
beschreiten soll.“, kommentierte die bayrische Landesvorsitzende Theresa Schopper
rückblickend den Einzug der GRÜNEN in den bayrischen Landtag. Spätestens mit der
Regierungsbeteiligung in Hessen wollte eine immer größer werdende Mehrheit bei den
GRÜNEN Politik auch in Regierungen gestalten.
Spätestens an diesem Punkt machten sich die GRÜNEN auf den Weg, eine “Konzeptpartei” zu
werden – bloßes opponieren war nicht mehr gefragt, die “alternative Politik” sollte konkreter
werden.
“Heute steht unsere Partei also vor einem neuen Schritt den sie tun muss: von der Protestpartei
hat sie nach einem Jahrzehnt schwerster innerparteilicher Kämpfe sich zur Konzeptpartei
entwickelt, und nun muß sie den Schritt zur Gestaltungspartei machen”, sagte der damalige
Fraktionssprecher der GRÜNEN im Bundestag Joschka Fischer 1995. Gestaltungspartei sein,
das hieß für Fischer, dass beim Ausformulieren der Konzepte neben Ideen und Visionen auch
die “Mühsal der Machbarkeit und der Mehrheitsfähigkeit” mitgedacht werden müssten.
Mit der Regierungsbeteiligung 1998 wurde der Anspruch begannen viele NGOs das Verhalten
der GRÜNEN zu kritisieren: der Atomausstieg gehe nicht schnell genug, die Umweltgesetze
waren nicht entschlossen genug, die Sozialreformen neoliberal, der Einsatz der NATO im
Kosovo kriegstreiberisch. Die GRÜNEN gingen vielen Kompromisse mit der SPD ein und
wurden so zur beliebten Zielscheibe.
Mit als Reaktion darauf wurde der Dreiklang aus Visionen, Machbarkeit und Mehrheitsfähigkeit
zugunsten der Machbarkeit verschoben – auf allen Ebenen. Trotz der Verabschiedung eines
Grundsatzprogrammes 2002 drohte der GRÜNEN Politik der Referenzrahmen verloren zu
gehen und der Pragmatismus dominierte das politische Geschehen.
Eine neue Kultur demokratischer Teilhabe bei den GRÜNEN einzufordern heißt jedoch, die reine
Lehre des Pragmatismusses hinter sich zu lassen und den Dreiklang von Mehrheitsfähigkeit,
Machbarkeit und Vision wieder zum tönen zu bringen. Das bedeutet jedoch nicht, wie für so
manchen in der GRÜNEN Partei, die Rückkehr zur Konzeptpartei der 80er Jahre.
Gerade dort, wo die GRÜNEN die Mehrheit stellen, ist es wichtig, das Thema Demokratie wieder
auf die Tagesordnung zu setzen. Mit dem hohen Zuspruch der Wählerinnen und Wähler
verbindet sich ein hohes Maß an Verantwortung. Es wäre falsch, die GRÜNEN in ihren
Hochburgen zu “Volksparteien” zu erklären. Doch auch, wenn wir nicht Volkspartei sind, muss
der Anspruch aufrecht erhalten werden, zwischen den Interessen möglichst aller Bürgerinnen
und Bürger einer Gemeinschaft zu moderieren und abzuwägen. Das geht nur mit und nicht
gegen die Betroffenen.
Parteimitglieder in der Demokratie des 21. Jahrhunderts?
Für eine Partei erfordert erfolgreiche politische Kommunikation die Konzentration auf wenige
Themen, welche möglichst verständlich kommunizert werden sollten, eine schnelle Reaktion in
den medialen Debatten, die Geschlossenheit der Mitgliedschaft und der Amts- und
Mandatsträger, sowie die eine klar erkennbare Führung. Um das nötige Maß an thematischer
Fokussierung, Reaktionszeit, Simplifizierung und Geschlossenheit zu erreichen wurde die
Organisationsstruktur der GRÜNEN auf Bundesebene professionalisiert. 1993 gab es zum
ersten Mal eine politische Bundesgeschäftsführerin, an die Stelle dreier gleichberechtigter
„BundessprecherInnen“ traten zwei Vorsitzende. Mit der Regierungsbeteiligung 1998 wurde ein
Parteirat gegründet. Beide Reformen hatten zum Ziel, eine erfolgreiche, geschlossene
Außendarstellung der Partei zu ermöglichen und endlich die zermürbenden Flügelkämpfe und
abseitigen Debatten der 90er Jahre hinter sich zu lassen. Denn nach der vernichtenden
Wahlniederlage 1990 und spätestens seit der Regierungsbeteiligung 1998 war eine kohärente
und erfolgreiche politische Kommunikation in den medialen Arenen der Öffentlichkeit für die
GRÜNEN eine Überlebensfrage. Die planmäßige Professionalisierung der Partei machte jedoch
bei den Landesstrukturen halt und vertraute jenseits davon auf die Autonomie der
Kreisverbände.
Doch den Erfordernissen einer erfolgreichen politischen Kommunikation auf Bundesebene
stehen an der Basis die Bedürfnissen einer anspruchsvollen Mitgliedschaft im 21. Jahrhundert
gegenüber. Parteisoldaten sind selten geworden. Die aktiven Bürgerinnen und Bürger denken
heutzutage politisch autonomer und eigenwilliger, sie wollen mit ihrer Meinung nicht im
Parteimainstream untergehen. Sie legen Wert darauf, ihr ehrenamtliches Engagement auf ihre
eigene, individuelle Art auszufüllen. Die GRÜNEN waren Verheißung und Teil der Entwicklung,
die zum autonomeren und eigenständigeren homo politicus des 21. Jahrhunderts führte.
Wer in eine Partei eintritt bringt durch seinen Beruf oder durch sein bisheriges ehrenamtliches
Engagement bestimmte, manchmal sehr spezielle Interessen mit, die abseits der aktuellen
Fokussierung auf wenige Themen stehen. Oft bilden sich diese Interessen nicht in parteiinternen
Arbeitsgruppen oder Diskussionszirkeln ab. Es benötigt eine Menge Eigeninitiative und Zeit, um
MitstreiterInnen zu finden oder mit seinen Interessen parteiintern Gehör zu erlangen. Manchmal
stehen die lokalen Führungskräfte solch speziellen politischen Interessen einzelner Mitglieder
skeptisch bis ablehnend gegenüber – sei es aus Zeitmangel, der eine intensivere Beschäftiguing
mit dem Anliegen nicht möglich macht, sei es, weil sie um die Geschlossenheit der Partei
fürchten oder Konfliktpotentiale mit dem Partei-Mainstream vermuten.
Parteimitglieder sind überdurchschnittlich politisch interessiert. Das bedeutet jedoch, dass sie
sich mit allzu simplen Erklärungen politischer Entscheidungen durch „ihre“ Amts- und
Mandatsträger nicht zufrieden geben. Sie wollen eben nicht der Komplexität des politischen
Systems ausweichen, nicht die schwarz-weiß-Zeichnung der Öffentlichkeitsabteilung
unterschreiben, sondern sich einem Thema mit allen seinen Zumutungen und Schwierigkeiten
annähern dürfen. Dieses Bedürfnis steht quer zu dem Erfordernis einer in einer halben Minute
verständlich zu kommunizierenden politischen Botschaft.
Der politische Individualismus des homo politicus des 21. Jahrhunderts sucht kontroverse und
spannende Debatten. Es ist wichtig, solche Debatten nicht allein parteiintern auszufechten,
sondern auch Menschen von außerhalb eine Möglichkeit zu bieten, an diesen Debatten
teilzunehmen. Die Realität zeigt jedoch, dass solche Debatten oft in den Fraktionen
hängenbleiben und nicht einmal die Parteiöffentlichkeit erreichen. Wie soll dann eine kritische
Öffentlichkeit mit uns Boot geholt werden können? Wie soll man erklären, warum die aktive
Mitgliedschaft in einer Partei auch außerhalb von ehrenamtlichen Mandaten möglich uns
spannend sein soll?
In der Zukunft wird von den Mandats- und AmtsträgerInnen die Eröffnung und Moderation dieser
Debatten wichtiger werden. Eine lebendige diskursive Partei darf nicht durch die Angst um das
äußere Bild von Zerstrittenheit verhindert werden, sondern muss sich diesem Widerspruch
stellen und ihn durch Transparenz und mögliche Partitizipation aufbrechen.
Kapitel III: Jenseits von Parteien und Parlamenten
Von der Lobby zur NGO
Viele Menschen, die am politischen Geschehen mitwirken wollen, wenden sich von Parteien ab
und NGOs, Bürgerinitiativen und „Pressure Groups“ zu oder engagieren sich anderweitig
ehrenamtlich. Uns sollte nachdenklich stimmen, dass die Mitgliedschaft bei BUND, Greenpeace
oder Attac von vielen, vor allem jungen Menschen als gleichwertige Form der Partizipation am
Politischen gesehen wird. „Ich will Politik machen, ich weiß aber nicht, ob ich zu Attac gehe oder
ob ich in eine Partei eintrete“, sagen sich viele Menschen. Fatal dabei ist, dass solche
Organisationen zwar im Modus des Protestes operieren, aber nicht faktisch an dem Ort, der der
angestammte Ort der Verteilung von Macht ist: der Schnittstelle zwischen Parteien und
Regierung, bzw. Verwaltung. Sie müssen nicht zwischen verschiedenen Interessen
moderieren sondern verkörpern geradezu bestimmte Themen und Interessen. Daher ist
Schritt von der NGO zur Lobbygruppe nicht weit – auch wenn hier eine Lobby „für die gerechte
Sache“ am Werk sein mag.
Vor allem AktivistInnen in Bürgerinitiativen zeigen sich frustriert von Parteien. Sie sagen: „wir
brauchen Euch Parteien nicht, wir nehmen unsere Geschicke selbst in die Hand.“ Bestenfalls ist
die Politik Adresse des jeweiligen Anliegens. Oder Bürgerinitiativen stellen, wie in Stuttgart
geschehen, eigene Kommunalwahllisten auf. Dabei können solche Listen ab und an ordentliche
Erfolge verbuchen, selbst wenn Sie vielfach unter der 5%-Hürde bleiben. Oft suchen solche
Bürgerinitiativen Lösung für ihre Anliegen in mehr direkter Demokratie, weil sie eine Mehrheit
hinter sich vermuten. In schlimmeren Fällen wird die parlamentarische Demokratie als
Staatsform komplett abgelehnt. Oder als Alternative zum komplexen politischen
Entscheidungsprozess in Parteien wird ein „tatkräftiger Unternehmer“ als Erlösungsgestalt
gegen die „korrupten Politiker“ gesetzt, wie das Beispiel Italien zeigt.
Wohin die Erosion von Parteien führt, kann gerade am Beispiel des postdemokratischen Italiens
verfolgt werden. Der Zusammenbruch der Democrazia Christiana 1994 führte zum Aufstieg des
Medienunternehmer Silvio Berlusconi und seiner Retortenpartei „Forza Italia“, die sich ebenfalls
als „Anti-Parteien-Partei“ geriert. Berlusconi sieht sich selbst als Alternative zur alten
Politikerklasse, als „Unternehmer im Dienste der Politik.“ Auch in Deutschland können solche
Phänomene beobachtet werden, beispielsweise die „Freien Wähler“. Diese Partei tritt mit höchst
unterschiedlichen Interessen vornehmlich bei Kommunalwahlen an. 2008 gewannen sie bei den
Landtagswahlen in Bayern 10,2%. Sie profitieren von der zunehmenden Erosion in das
Vertrauen der Parteien, ohne jedoch – abseits des radikalen Pragmatismus – ein
grundsätzliches Politikangebot zu formulieren. Mit dieser Art von Kirchturmpolitik lässt es sich
sehr einfach regieren, ist im Zweifelsfall doch immer die nächsthöhere politische Ebene Schuld,
die entweder die falschen Rahmenbedingungen setzt oder aber zu wenig Geld bereitstellt.
Doch auch bei Bürgerinitiativen und NGOs sind keine goldenen Zeiten angebrochen. Auch hier
wird über Nachwuchsmangel und über die abnehmende Bereitschaft geklagt, längerfristig
Verantwortung zu übernehmen. Lange, nervtötende Diskussionen um Kleinigkeiten haben schon
so manchen Interessenten aus einer hoffnungsvollen Bewegung vertrieben. Und auch
ehrenamtliches Engagement außerhalb der Politik ist seltener und weniger verbindlich
geworden.
Oft verwechseln auch wir GRÜNE in der praktischen Politik Lobbyismus mit Mehrheitsmeinung
und das Verbandswesens mit der Bürgergesellschaft, einer Bürgergesellschaft, die für uns
immer schwerer erreichbar ist.
Die Stärkung der innergesellschaftlichen Verantwortung muss eines der Kernanliegen grüner
Politik sein. Welche Gründe hat dieses veränderte Verhalten? Ist es mangelnde Solidarität und
Egoismus wie schnell von konservativer oder linker Seite vermutet wird? Oder ist dieser
gesellschaftliche Wandel nicht ebenfalls ein Ausdruck von einem neuen komplexeren
Lebensverständnis, dass mit neuen Herausforderungen, wie internationaler
Informationsvernetzung und durch die Diversität an Lebensentwürfen auch neue Antworten
verlangt?
Jenseits von Parteien und Parlamenten II: Institution matters!
Viele Parteien und Bürgerbewegungen haben als wichtigste und oftmals einzige Lösung zur
Stärkung der Demokratie die Forderung nach mehr Beteiligung durch Plebiszite auf ihrer
Agenda. Auch bei Stuttgart 21 wird dies oft und gerne als Argument genannt. Dabei wird
vergessen, dass der Gemeinderat demokratisch gewählt wurde und keine der Stuttgart 21
befürwortenden Parteien aus ihrer Haltung je einen Hehl gemacht hat.
In vielen Fällen sei dieses Ausspielen von Unmittelbarkeit versus Repräsentation ein kapitaler
Fehlschluss, schreibt Peter Siller, der für die GRÜNEN maßgeblich das Grundsatzprogramm
entwickelte: „Wenn wir in der Globalisierung demokratische Verfahren anstreben, die eine
Vielzahl von Betroffenen gleichermaßen berücksichtigen, ist das in erster Linie ein Kampf um
gerechte Repräsentation. Die Erfahrung schon in kleineren Einheiten zeigt: Unter Bedingungen
begrenzter Zeit ist ein nicht handhabbares Maß an Unmittelbarkeit der beste Nährboden für
Verbandsdespoten und Parteiautokraten im informellen Raum. Eine Demokratievorstellung, die
auf den geschäftigen Vollzeitbürger setzt, bekommt am Ende die Diktatur des Bürgeradels oder
blanken Populismus“.
Er führt die Institutionen als Orte der Demokratie ins Feld: „Wir brauchen durchlässige,
partizipative öffentliche Institutionen, in denen sich eine gerechte Repräsentation der Beteiligten
organisiert.“ Dies setzt jedoch das Engagement von Initiativen und Bewegungen voraus, wie es
ja bereits bei Stuttgart 21 der Fall ist.
Auch wenn es falsch ist, direkte Demokratie gegen Repräsentation auszuspielen, brauchen wir
mehr direkte Beiteiligungsformen, die zu mehr gemeinsamer Debatte und mehr Beteiligung
führt. Dies ist vor allem dort machbar, wo die Anzahl der Betroffenen überschaubar bleibt, also
vor allem auf der Ebene der Stadtteile und Bezirke in Stuttgart.
Wichtig ist auch die Stärkung des Gemeinderates und der Bezirksbeiräte. Vor allem aufgrund
der baden-württembergischen Kommunalverfassung besteht im „Ländle“ ein schleichender
Übergang parlamentarischer Aufgaben in den Bereich der Verwaltung. Die Verwaltungen setzen
– beispielsweise bei Bauvorhaben - oft derart starke Akzente, dass sie für die gewählten
Vertreter kaum mehr kontrollierbar sind.
Die kommunalen Parlamente können sich nur dann gestärkt werden, wenn sie sich auf die
grundlegenden politischen Weichenstellungen konzentrieren, mittel- und langfristige Konzepte
verabschieden und nachvollziehbare Auseinandersetzungen führen, anstatt sich auf
Verwaltungsvorschriften und Routinen zurückzuziehen.
Wie können wir in Stuttgart auf Landes- und auf kommunaler Ebene dazu beitragen, öffentliche
Institutionen zu demokratisieren? Wie schaffen wir mehr Orte der Demokratie ohne uns in
endlosen Beiratsunwesen zu verheddern, dessen Entscheidungen ohnehin kaum Gewicht
haben? Wie schaffen wir mehr direkte Beteiligungsformen im Rahmen unserer Kommune?
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