Vernunftstrukturen und die Idee einer Hermeneutik der Begründungen

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Vernunftstrukturen und die Idee einer Hermeneutik der Begründungen von Hamid Reza Yousefi Mit meinem Theorem verfolge ich das Ziel, die kommunikativen Konse‐
quenzen von konkurrierenden Positionen zu diskutieren und die Bedeu‐
tung einer begründungsorientierten Auseinandersetzung herauszuarbei‐
ten. Meine Überlegungen sind konzeptionell darauf ausgerichtet, erstens verschiedene Vernunftauffassungen zu erläutern, zweitens ihr Verhältnis zu unterschiedlichen philosophischen Diskursen und Denksystemen zu pro‐
blematisieren, drittens die kommunikativen Konsequenzen dieser Denk‐
formen offenzulegen und viertens die Grundzüge einer ›Hermeneutik der Begründungen‹ zu erarbeiten. Der Philosophiebegriff und die Vernunft Welche Denkform bietet in einem solchen Kontext eine praktikable Grund‐
lage für die Umsetzung einer kommunikativen Hermeneutik der Begrün‐
dungen? Wenn wir einen Bauingenieur fragen, wie er eine Brücke konstruieren würde, wird er uns sagen, nach welchen Methoden die Technik funktio‐
niert. Die Berechnung einer Brücke hat weder mit seinen persönlichen Weltbetrachtungen noch seinen Gewohnheiten zu tun, sondern mit Zahlen, die auf exakten Messungen beruhen und in den entsprechenden Handbü‐
chern nachzuschlagen sind. Werden sie ignoriert, läuft der Konstrukteur Gefahr, daß seine Brücke zusammenbricht. Mit der Philosophie verhält es sich völlig anders. Unter den Philosophen herrscht nämlich kein Einvernehmen darüber, was Philosophie eigentlich ist. So mannigfaltig sind die Richtungen. Naturgemäß gibt es diverse Schu‐
len, die von unterschiedlichen Definitionen und Verständnisformen der 20
Philosophie ausgehen. Ihre Antworten verraten deshalb hauptsächlich etwas über sie selbst und die Schule, der sie angehören. Philosophische Denkformen sind nicht wie das Bauingenieurwesen bere‐
chenbar. Sie haben je nach Schule und Denkrichtung mit Grundwirklich‐
keiten menschlichen Lebens und der empirischen Grundlage der Wirklich‐
keit sowie mit Transzendenz und Immanenz zu tun, die jeder anders zu erfahren vermag. Diese Variabilität der Denkformen macht die Frage nach dem philoso‐
phischen Selbstverständnis zu einer Streitfrage, die in aller Härte ausgetra‐
gen wird. Es geht nämlich darum, wer die rechte Vernunft als Grundlage der Philosophie besitzt. Dieser immerwährende Streit wird um einige Bei‐
spiele zu nennen, im Namen der philosophischen Systeme von Ghazali, Molla Sadra, Kant, Hegel, Marx, Locke oder Hume geführt. Nach Abu Hamed Ghazali ist Vernunft nicht das einzige Instrument der Wahrheitsfindung. Insbesondere in seiner mystischen Phase gibt Ghazali die ›Allmacht der positivistischen Vernunft‹ auf und geht allein von einer intuitiven Vernunft aus. Rationalistische Schulen wie sie bspw. von Molla Sadra vertreten wer‐
den, verteidigen die Vernunft. Für Molla Sadra sind menschliche Hand‐
lungen aus einer Mischung von Rationalität und Irrationalität zusammen‐
gesetzt. Molla Sadra will intuitives und rationales Denken miteinander versöhnen. In Europa ist es nicht anders. Welche Denkform ist am Werke, wenn Au‐
gustinus von einer civitas dei, also einem christlichen Gottesstaat und einer civitas diaboli, einem Teufelsstaat ausgeht? Was geschieht mit anderen Ver‐
nunftkonzeptionen, wenn Kant von einer reinen Vernunft spricht und den kategorischen Imperativ für eine Forderung dieser Vernunft hält? Wie kommt es, daß Hegel das Konzept der Aufklärung Kants als ›Hurerei der Vernunft‹ zurückweist und von einer christlichen Vernunft als Weltprinzip ausgeht? Welchen Stellenwert bekommen andere Vernunftformen für He‐
gel? Selbst innerhalb der Hegelforschung gibt es zwischen den Rechts‐ und Linkshegelianern eine Kontroverse über den Vernunftbegriff. Erstere gehen von einem spekulativen Geist aus, der a priori für absolut und universal gehalten wird. Die Linkshegelianer klagen »gegen die Identifikation der 21
Vernunft und Wirklichkeit die Relevanz der [...] gesellschaftlichen und materiellen Existenz ein.«1 Schopenhauer verwirft wiederum Hegels Philosophieauffassung kom‐
plett und bezeichnet dessen vermeintlich zu Ende gedachten Weg der Phi‐
losophie und Geschichte sowie sein Vernunftprinzip als lächerliche Mysti‐
fikation und sein Werk als ein Irrenhaus. Steffen Dietzsch hat in seiner Sammlung ›Philosophen beschimpfen Philosophen‹ mehr als 150 abschät‐
zige Bemerkungen unterschiedlicher Philosophen über die jeweils anderen zusammengetragen.2 Spätestens hier wird ersichtlich, zu welchen Konse‐
quenzen eine Kommunikation führen kann, wenn sie nicht auf Begrün‐
dung beruht, sondern moralisch oder emotional verfährt. An dieser Kontroverse hat sich bis heute nichts geändert. Dazu gehören Sartres ›dialektische Vernunft‹ im Rückgriff auf Marx sowie Horkheimers ›instrumentelle Vernunft‹, die einseitig auf die Vergegenständlichung und Beherrschung der Wirklichkeit abzielt, die ›kommunikative Vernunft‹ von Habermas, die dagegen von einem ›herrschaftsfreien Diskurs‹ ausgeht und Wolfgang Welschs ›transversale Vernunft‹, die als ein Ausdruck der Post‐
moderne keinen eigenen Prinzipienansatz mehr besitzen will sowie Karl Jaspers, der Vernunft mit ›grenzenlosem Kommunikationswillen‹ gleich‐
setzt. Es scheint eine anthropologische Konstante zu sein, daß philosophische Kontroversen antagonistische Züge aufweisen und zumeist durch wechsel‐
seitiges Mißverstehen und das Bemühen um Austilgung der gegnerischen Auffassungen gekennzeichnet sind. Kurt Flasch zeigt gerade diesen Cha‐
rakter am Beispiel der mittelalterlichen Kontroversen zwischen Erasmus, Luther, Leibniz, Locke, Bayle, Voltaires und Pascal um die Wahrheit, die er als ›Kampfplätze der Philosophie‹ bezeichnet.3 Von diesen Spielarten und Formen der Auseinandersetzungen bleiben Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nicht unberührt. Dies zeigt sich be‐
1 Lavagno, Christian: Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault, Münster 2003 S. 50. 2 Vgl. Dietzsch, Steffen (Hrsg.): Philosophen beschimpfen Philosophen. Die kategori‐
sche Impertinenz seit Kant, Leipzig 1995. 3 Vgl. Flasch, Kurt: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt/Main 2008. 22
sonders dort, wo diese Denk‐ und Wahrnehmungsstrukturen kontradikto‐
rische Ansprüche erheben. Was geschieht in Wissenschaft, Politik und Ge‐
sellschaft, wenn 1. unterschiedliche Vernunftkonzeptionen in Konkurrenz stehen, die kämpferische
Formen annehmen wie das Streben nach Dominanz oder wechselseitiger Zerstörung,
2. sie sich gegenseitig verabsolutieren oder für universal halten,
3. sie sich gleichgültig, also indifferent zueinander verhalten?
Diese drei Vernunftwahrnehmungen begleiten uns als Bürger oder als Wis‐
senschaftler in vielen Diskursformen in verschiedenen Gewändern und verhindern eine begründungsorientierte Auseinandersetzung. In der Poli‐
tik sind sie für Krieg und Frieden, in der Wissenschaft für Innovation und Sanktion und in der Gesellschaft für Sympathie und Antipathie verant‐
wortlich. Vernunft und ihre unterschiedlichen Begründungsformen Vernunft kennt im Vergleich der philosophischen Systeme unterschiedliche Begründungsformen. Das Streben nach Glück und Freiheit, die Frage nach dem Guten und Bösen, Schönen und Wahren und das Nachdenken über die Struktur der Welt gehören zu den anthropologischen Grundkonstan‐
ten. Die daraus resultierenden Fragen sind in einzelnen Traditionen zu verschiedenen Antworten geführt worden. Nach einer endgültigen Ant‐
wort sucht man vergeblich, aber es ist festzustellen, daß hier die Vernunft als ein wichtiges Werkzeug der Urteilsbildung wirksam ist. Bereits Zarathustra bezeichnete vor etwa 3000 Jahren Vernunft als ein In‐
strumentarium der Entscheidungsfindung, um die bloße mythologische Wahrnehmung der Welt und des Seins durch ein klar strukturiertes Reflek‐
tieren zu ersetzen. Nach Zarathustra ist das Verantwortungsbewußtsein für Gut und Böse die praktische Vernunft, welche die Menschen zu ›gutem Denken‹, ›gutem Reden‹ und ›gutem Handeln‹ befähigt.4 Durch alle Zeiten und auf der Welt im Ganzen sucht Zarathustra mit seiner Triade das Ein‐
heitsmoment einer Vernunft in der Vielfalt der Schicksale der Völker. Ver‐
nünftig sein heißt für ihn, durch kritische Vernunft nicht nur am Göttlichen teilzunehmen, sondern zu wahrer Humanität zu gelangen. 4 Vgl. Gatha. Die himmlischen Gesänge Zarathustras, aus dem Altpersischen übersetzt, eingeleitet und hrsg. v. Abdolreza Madjderey, Köln 2000. 23
Weil Vernunft eine anthropologische Konstante ist, gehe ich bei der Be‐
antwortung meiner Fragen von einer grundsätzlichen ›Universalität der Vernunft‹ aus. Als ein kognitives Vermögen ist die Vernunft vergleichend, abstrahie‐
rend, ordnend, reflektierend und synthetisierend. Sie formt Kultur und Tradition, schafft die nötige Voraussetzung für alle Erkenntnisformen, berechnet Möglichkeiten, sieht Gefahren und bringt Instrumente hervor, um diese Gefahren zu umgehen. Dies ist der Fall, wenn wir ein Ereignis rekonstruieren oder nach Auswegen aus einer Streitigkeit suchen. Ob im Kontext der Wissenschaft als Forscher oder im Alltag als Bürger. Vernunft geht in keiner dieser Traditionen restlos auf. Denkpostulate, die sich verabsolutieren oder für universal gehalten werden, verwechseln das Verstehen als Unterwegssein zur Verständigung und Kommunikation mit Einverstandensein und Überzeugtsein.5 Sie erhalten ihre Legitimations‐
ideologie durch Verdrängung und Zurückweisung aller anderen Denksy‐
steme. Die Unmöglichkeit einer begründungsorientierten Auseinanderset‐
zung ist hier vorprogrammiert. Bernhard Waldenfels setzt sich kritisch damit auseinander und geht von einer Verschränkungstheorie aus, die jede »Form von Reinheit, sei es die Reinheit einer Rasse, einer Kultur, einer Idee oder einer Vernunft«6 zurückweist. Die Fehltaten des Kommunismus und des Nationalsozialismus belegen die möglichen negativen Folgen ideologi‐
scher Monokulturen. Im Kontext des Kommunismus wurden alle Differen‐
zen im Namen einer ›Klassenlosen Gesellschaft‹ ausradiert. Im Nationalso‐
zialismus führte die pathologische Vorstellung von der Reinheit einer Ras‐
se zur systematischen Ermordung von Mitmenschen. 5 Wolfgang Stegmüller verweist zu Recht auf den unklaren Gebrauch des Wortes ›Verstehen‹. Vgl. Stegmüller, Wolfgang: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1979 S. 27 ff. Der Terminus ›Verstehen‹ ist vielseitig. Damit ist das konkrete Erfassen eines Sachverhaltes oder mehrerer Gegen‐
standsbereiche gemeint, die stets einzeln und kontextuell unterschiedlich zu be‐
trachten sind. 6 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/Main 1997 S. 67. Waldenfels ist sich dessen bewußt, daß ei‐
ne solche Verschränkungsthese neben vielen Knotenstellen, Übergängen und Übersetzungsmöglichkeiten auch Konfliktzonen sowie uneinheitliche Mittel‐ und Fluchtpunkte hervorbringt. 24
Waldenfels skizziert Vernunft als »ein Netz aus heterogenen, jedoch viel‐
fältig verflochtenen, sich nicht nur ausschließenden, sondern auch über‐
schneidenden Rationalitätsfeldern, Diskursen, Lebensformen und Lebens‐
welten.«7 Keine Kulturregion kann widerspruchsfrei den Anspruch erhe‐
ben, die eine ›konkrete Gestalt‹ der Vernunft zu verkörpern.8 Waldenfels merkt kritisch an, daß es »zum Erbe Europas« gehört, »sich als Inkarnation und Vorhut [...] der rechten Vernunft«9 zu betrachten. Auch Emmanuel Lévinas stellt fest, daß die Vernunft im europäischen Kontext, Nordamerika eingeschlossen, die Unvernunft des Anderen jedoch als eine ›unüberwindbare Allergie‹ auslöst.10 Die Folgen waren die Ausbildung eines Superioritätsgefühls, das in letzter Konsequenz zu Kolonialismus oder zur gegenwärtigen neokolonialen Globalisierung führte. Hegel schildert die Absicht der Kolonialherren mit folgenden Worten: »Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu werden.«11 Hegel war wie Kant der Meinung, Talent, Vernunft und Vollkommenheit seien ausschließlich abendländische Attribute. Für beide Philosophen sind Afrikaner geschichts‐ und vernunft‐
los, Chinesen phantasielos und Orientale ohne jede Ästhetik und Moral. Es ist eher unwahrscheinlich, daß es einen archimedischen Vernunftbe‐
griff und Erkenntnisgang im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten gibt. Nicht nur, weil es von einem logischen Standpunkt aus viele unter‐
schiedliche Sinn‐ und Orientierungssysteme gibt, sondern weil alle empi‐
risch vorliegenden Systeme Einflüsse diverser sozialer und kultureller Umwelten in sich tragen. 7 Waldenfels, Bernhard: In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/Main 1985 S. 117. Paul Ricœur hält zu Recht eine solche »Unifizierung des Wahren« zwar für einen »Wunsch der Vernunft«, der immer aber »auch eine erste Gewaltsamkeit, eine erste Fehltat ist.« Ricœur, Paul: Geschichte und Wahrheit, München 1974 S. 152. 9 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997 S. 136. 10 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänome‐
nologie und Sozialphilosophie, München 1983 S. 211. 11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich‐
te, Hamburg 1955 S. 763. 8 25
In diesem Geiste fordert Helmuth Plessner einen Verzicht auf jede Form von Vormachtstellung, vornehmlich der europäischen, hinsichtlich des »eigenen Wert‐ und Kategoriensystems«12, das oft verabsolutiert wird. Mu‐
tatis mutandis gilt dieser Grundsatz auch für alle anderen Denktraditionen. Wir haben weiter oben vier Vernunftauffassungen ausgemacht. Diese führen zu folgenden Einheitsformen, 1. wenn sie zueinander in mehr oder weniger starker Konkurrenz stehen und sich
verabsolutierend für universal halten,
2. wenn sie sich indifferent verhalten und jede Berührung mit einem anderen Denkansatz vermeiden.
Solche Denkformen sind in der Regel theoretisch und praktisch gewalttä‐
tig. Im ersten Fall wird eine Einheitlichkeit s ta t t einer Vielheit verfolgt: Eine restlose Ersetzung der Vielheit der Denkformen durch eine starre Einheitlichkeit, die reduktiv und ideologisch ist. Ansätze, die eine solche Einheitlichkeit suchen und ausschließlich von einem einzigen Vernunftbegriff ausgehen, usurpieren und annektieren die Universalität der Vernunft. Eine Folge dieser privaten Anthropologie ist die Unterteilung der Welt: in Gut und Böse; wir und ihr, philosophisch und unphilosophisch, wissenschaftlich und unwissenschaftlich, vernünftig und unvernünftig. Hier wird nicht nach einer Begründung der Warum‐ und Washeit des Anderen gefragt, sondern die eigene Haltung wird archime‐
disch vertreten, die zu dieser Dualität führen muß. Philosophische Systeme, die ihren Vernunftbegriff für universal halten, praktizieren unausgesprochen eine monologische Kommunikationsform, die sich unter Umständen als dialogisch mißversteht. Die Folge derartiger Denkformen ist eine destruktive Kommunikation. Wer im Rahmen seiner Auffassung von unterschiedlichen Vernunftfor‐
men ausgeht, wie im zweiten Fall, ohne diese voneinander zu unterschei‐
den, verhält sich indifferent und ebnet einem radikalen Relativismus den Weg. Der Indifferente schwankt zwischen Meinungen hin und her und ist nicht dazu imstande, sich mit anderen Denk‐ und Lebensformen auseinan‐
derzusetzen. Hierzu tendiert die postmoderne Lebensweise, die von einem Ich ausgeht, das nur sich selbst erlebt. 12 Plessner, Helmuth: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979 S. 318. 26
Franz Kröner sieht den »eigentlichen Skandal der Philosophie [...] in der unreduzierbaren Vielheit und dem krassen Widerstreit der philosophi‐
schen Anschauungen untereinander.«13 Zwischenbilanz Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß philosophische Systeme, die sich für eine Offenbarung halten, Annerkennung und Gehorsam verlangen. Die Spaltung der sozialen Umwelt in ›Gut‹ und ›Böse‹, in ›zu mir Gehö‐
rende‹ und ›nicht zu mir Gehörende‹ ist, wie erwähnt, sowohl theoretisch als auch praktisch gewalttätig und hat Verhaltensweisen wie Marginalisie‐
rung, Ausgrenzung und Abschließung zur Folge. Die kommunikativen Konsequenzen absolutistischer und alleinseligma‐
chender Denkformen sind, wie wir sahen, für die Forscher in der Wissen‐
schaft und die Bürger in der Gesellschaft sowie für die Politiker in der Poli‐
tik erheblich. Dies zeigen Gespräche zwischen Rechts‐ und Linkshegelia‐
nern, zwischen Schopenhauer und Hegel oder zwischen Hans Albert und Habermas: Einer bezichtigt den anderen auf seine Art und gemäß seines eigenen philosophischen Begründungsinstrumentariums des Nicht‐
Verstehens. Vernunftkonzeption einer kommunikativen Hermeneutik Nach dieser Zwischenbilanz stellt sich die Frage, welche Denkformen eine praktikable Grundlage für die Umsetzung einer kommunikativen Herme‐
neutik der Begründungen bilden. Die Antwort lautet: eine pluralistische Vernunfttheorie, die alle Denk‐
formen als unterschiedliche Wege zur Wahrheitsfindung akzeptiert, ohne ihre Konvergenzen und Divergenzen gegeneinander auszuspielen oder reduktiv zu betrachten. Angestrebt wird eine Kommunikation, ein Aus‐
tausch zwischen ihren Begründungen. Diese Antwort geht von einer geistigen Einheit a ngesi c h ts der Vielheit der Vernunftformen aus, die stets kompromißorientiert ist und jeden er‐
zwungenen oder konstruierten Konsens als eine Form von Herrschafts‐
ideologie zurückweist. Damit wird angestrebt, 1. die Grenzen zwischen allen Denkformen zu öffnen, die für radikal-lokal und radikal-global gehalten werden,
13 Kröner, Franz: Die Anarchie der philosophischen Systeme, 1970 S. 1. 27
2. ihre Feindbilder und Vorurteile zu demontieren und
3. kommunikative Konsequenzen solcher Vernunftpraktiken offenzulegen, um den
Weg für einen möglichen polyphonen Dialog zu ebnen.
Um auf diesem Wege voranzukommen, benötigen wir ein methodisches Instrumentarium, um unterschiedliche Begründungsformen miteinander kritisch ins Gespräch zu bringen. Dies gehört zum Aufgabenbereich einer Hermeneutik der Begründungen, die Verständigung zu ermöglichen ver‐
mag. Gründzüge einer Hermeneutik der Begründungen Bevor ich auf die Hermeneutik der Begründungen eingehe, seien einige terminologische Bemerkungen eingeführt.14 Die Beschäftigung mit der Hermeneutik bedeutet stets eine Beschäftigung mit der Geschichte des Denkens und der unterschiedlichen Denkformen. Dem Inhalt nach ist die Hermeneutik genauso alt wie die Menschheit selbst. Hermeneutik fordert nach Plessner »eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren, eine Theorie seiner Natur, deren Konstanten allerdings keinen Ewigkeitsanspruch gegenüber der geschichtlichen Variabilität erheben, sondern sich selber zu ihr offen halten, indem sie ihre Offenheit selber ge‐
währleisten.«15 Verstehen ist stets ein Weg zur Veränderung unserer Auffassungen in unterschiedlichen Kontexten. Weil es hierbei um Sinn und Bedeutung im Allgemeinen geht, beschränkt sich die Hermeneutik nicht nur auf die wis‐
senschaftlichen Disziplinen, sondern umfaßt auch politische Umgangsfor‐
men und Alltagshandlungen. Der sogenannte hermeneutische Zirkel, der oft als Argument gegen die Möglichkeit des wechselseitigen Verstehens zitiert wird, besteht in der Behauptung, daß wir 1. ein Ganzes nicht verstehen können, ohne die Teile zu verstehen.
2. auch die Teile nicht verstehen, ohne das Ganze zu erfassen.
14 Zu diesem Thema vgl. Gadamer, Hans‐Georg: Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Basel 1974 (Sp. 1062‐1073). 15 Plessner, Helmuth: Die Frage nach der Conditio Humana. Aufsätze zur philosophi‐
schen Anthropologie. Frankfurt/Main 1976 S. 27. 28
In diesem Strukturverhältnis der Teile mit dem Ganzen sehen Gadamer und Heidegger die unverzichtbare Vorurteilsstruktur jedes Verstehens.16 Doch der hermeneutische Zirkel ist kein vitiöser Zirkel; er ist offen und spiralförmig. Verstehen besitzt eine universelle und eine partikulare Seite. Während der universelle Aspekt darin besteht, daß Verstehen zwar mög‐
lich ist, aber immer ein graduelles Phänomen bleibt, besteht der partikulare Aspekt in der Kontextgebundenheit des Verstehensprozesses. Ein Vergleich: die Kunst des Kochens ist universal, während jede Küche der Welt jeweils eine andere Gerichtskunst kennt. Gemeinsamkeiten sind von erhellenden Unterschieden begleitet. Weil Verstehen aber immer sub‐
jektiv und individuell verschieden ist, wird die Hermeneutik häufig mit der Frage nach der Validität subjektiver Aussagen konfrontiert. Dies geht mit dem Vorwurf der Normativität, Beliebigkeit und des Subjektivismus, usw. einher. Wenn wir heute von Hermeneutik reden, stehen wir in einer langen Wis‐
senschaftstradition. Die Lehre vom interpretativen Vorgehen läßt sich als eine Wissenschaft der Auslegung bis in die griechische Antike hinein zu‐
rückverfolgen. Sie umfaßte ursprünglich hauptsächlich die Exegese der Heiligen Schriften, deren Wahrheitsgehalt als konkret gegeben galt. In den Theologien geht es bspw. um die Frage, inwieweit Heilige Schriften wört‐
lich zu verstehen sind. Im Europa des 18. Jahrhunderts, also im ›Zeitalter der Aufklärung‹, be‐
kam die Hermeneutik zunehmend säkulare Züge. War die Gabe der Schöp‐
fung ausschließlich auf Gott bezogen, so wird sie nun auch im Wirken des Anthropos betrachtet. Beinahe auf allen Gebieten tritt der Mensch in den Vordergrund. So wird das Verstehen, wie Heidegger bemerkt, konstitutiv für die Grundstruktur des menschlichen Daseins selbst. 16 Der Ausdruck ›Vorurteil‹ ist mit unterschiedlichen Konnotationen verbunden. Häufig wird er negativ gebraucht, obwohl auch positive Verwendungen, wie bspw. Vor‐Urteil als ein vorläufiges Urteil möglich sind. Ghazali verbindet ne‐
gative und positive Wendungen des Vorurteils und Vor‐Urteils mit der Erzie‐
hung, die er für entscheidend hält: »Jedes Kind wird in seiner natürlichen Be‐
schaffenheit [fitra] geboren. Es sind seine Eltern, die ihn zum Juden, zum Chri‐
sten oder zum Magier machen.« Al‐Ghasali, Abū Hāmed Mohammad: Der Erret‐
ter aus dem Irrtum, Hamburg 1988 S. 5. 29
Erst im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Hermeneutik in Europa, ins‐
besondere durch Schleiermacher, zu einer Teildisziplin der Philosophie.17 Mit dieser Entwicklung sind neben Molla Sadra und Friedrich Schleierma‐
cher auch Namen wie Wilhelm Dilthey, Hans‐Georg Gadamer oder Paul Ricœur verbunden.18 Während Molla Sadra durch eine vernunftgeleitete Hermeneutik der Exi‐
stenz die Verborgenheiten des Seins erklären will19, zieht Schleiermacher den Leser des Textes selbst in die Betrachtung. Damit löste er die Herme‐
neutik von allen dogmatischen und okkasionellen Momenten ab. Diese Erweiterung des hermeneutischen Wirkungshorizontes hat zur Folge, daß auch viele Autoren nach ihm nicht mehr die religiöse Wahrheit thematisie‐
ren, sondern sie unmittelbar auf ihren Gehalt hin befragen; Dilthey stellt Natur‐ und Geisteswissenschaften als erklärende und verstehende einan‐
der gegenüber und arbeitet an einer genuinen geisteswissenschaftlichen Methode; Gadamer stellt die Grundlegung der Geisteswissenschaften in der wissenschaftstheoretischen Klärung methodischer Probleme in Frage; Ricœur erweitert die Hermeneutik mit Hilfe der Symbolbegriffe und betont das Verhältnis zwischen der hermeneutischen Philosophie und dem lingui‐
stischen Strukturalismus und der Psychoanalyse. Für Ricœur gibt es »keine allgemeine Hermeneutik [...], keine allgemeine Theorie der Interpretation, keinen allgemeingültigen Kanon der Auslegung: Immer haben wir es mit getrennten und gegensätzlichen hermeneutischen Theorien zu tun.«20 Alle diese Philosophen haben in jeweils unterschiedlicher Weise für die Entwicklung der philosophischen Hermeneutik Bleibendes geleistet. Wäh‐
17 Vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik, hrsg. v. Heinz Kimm‐
erle, Heidelberg 1974. 18 Vgl. Birus, Hendrik: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heideg‐
ger – Gadamer, Göttingen 1982 und Mall, Ram Adhar: Hans‐Georg Gadamers Her‐
meneutik interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. 19 Molla Sadra zeigt auch Möglichkeiten und Grenzen der Hermeneutik auf. Vgl. Schirazi, Sadrolmoteallehin (Molla Sadra): Mafatihalghejb (Schlüssel der Geheim‐
nisse), Teheran 1997 und Al‐Hekma al‐Motealiya fil‐asfar al‐Aqlia al‐Arbaa [=Asfar], (Transzendentalphilosophie. Der vierfache Weg zur Erkenntnis), Band 1‐8, Te‐
heran 2001. 20 Ricœur, Paul: Hermeneutik und Psychoanalyse, Der Konflikt der Interpretationen II, München 1974 S. 198. 30
rend diese Philosophen diverse hermeneutische Konzeptionen entworfen haben, geht es mir darum, ein Instrumentarium zu entwickeln, um philo‐
sophische Denkformen, zu denen auch diese gehören, miteinander ins Ge‐
spräch zu bringen, indem Begründungsformen vordergründig sind. Die ›Hermeneutik der Begründungen‹ kann als methodisches Regelwerk aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet werden: aus sprach‐
licher21, religionswissenschaftlicher22, soziologischer oder philosophischer. Sie artikuliert ein zentrales Problem diverser Kommunikationsformen und Interpretationsmöglichkeiten als Folgen dieser Vernunftpraktiken. Dabei sind graduelle Unterschiede nicht unerheblich. Diese manifestieren sich in wissenschaftlichen und politischen Theorien wie in Alltagskommunikatio‐
nen. Eine disparate Haltung entsteht, wenn Denkformen entweder auf radika‐
ler ›Fremdheit‹ oder völliger ›Vertrautheit‹ beruhen. Gadamer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß zwischen diesen Extrempositionen »der wahre Ort der Hermeneutik« liegt.23 Es ist auch richtig, wenn er feststellt, daß ein Text nie vollständig erfaßt werden könne. Es bleibe immer ein Restunter‐
schied zwischen dem Gesagten, Gedachten oder Geschriebenen und dem, was der Rezipient versteht oder zu verstehen meint. Gadamer gibt aber keine Antwort auf die Frage, wie mit unterschiedli‐
chen Begründungsformen in Geschichte und Gegenwart umzugehen ist. Ist das nicht so, daß Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen Hand in Hand gehen? Mit einer Einheitlichkeitshermeneutik oder Horizontver‐
schmelzung kommen wir, wie Ricœur zu Recht bemerkt, vielleicht theore‐
tisch weiter, aber nicht praktisch. 21 Heinz Kimmerle hat auf diesem Gebiet eine Reihe hermeneutisch relevanten Überlegungen bezüglich der afrikanischen Philosophie ihre Selbst‐ und Fremd‐
wahrnehmung hervorgebracht. Vgl. Kimmerle, Heinz: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, Nordhausen 2005. 22 Vgl. hierzu Sundermeier, Theo: Den Fremden verstehen. Eine praktische Herme‐
neutik, Göttingen 1996. 23 Gadamer, Hans‐Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972 S. 279. 31
Das Konzept einer apozyklischen und enzyklischen Hermeneutik Die apozyklische Hermeneutik verfährt restaurativ‐reduktiv. Sie beschränkt sich auf Selbsthermeneutik und betrachtet andere Denkformen nur aus der eigenen Perspektive. Dabei geht es ausschli eßli ch darum, wie ich meine eigene und die andere Denkform verstehe. Wie die andere Denkform sich und mich betrachtet, wird vernachlässigt. Tendenziell verabsolutiert diese Wahrnehmungsstruktur wahrgenommene Differenzen; letzten Endes läuft sie darauf hinaus, eigenes Verstehen zum Paradigma allen Verstehens zu erheben.24 Die enzyklische Hermeneutik blickt hingegen möglichst nach allen Seiten und fragt nach den Konsequenzen solcher Betrachtungsweisen für die Ziel‐
setzung im Inneren. Die enzyklische Hermeneutik »zögert vor der Versu‐
chung, alle Arten von Dyaden und Polaritäten auf einen einzigen funda‐
mentalen Typ zu reduzieren.«25 Sie sieht, weil sie die Kommunikation mit dem Andern sucht, auch von jeder Hypostasierung ab und fragt danach, 1. wie die eigene und die andere Denkart verstanden wird und
2. wie der andere seine eigene und die andere Denkart betrachtet.
Mit Mircea Eliade argumentiert, ist eine solche Orientierung von der »Un‐
möglichkeit der Reduktion einer geistigen Schöpfung auf ein vorgegebenes Wertsystem«26 geleitet. Ziel ist, die unvermeidbare Kulturgebundenheit, die Partikularität der Hermeneutik mit ihrer Universalität zu verbinden und eine schöpferische Dimension zu enthüllen, die vorher nicht erfaßt wurde. Wenn bspw. ein Kantianer den Text eines Hegelianers nach dem Prinzip der apozyklischen Hermeneutik betrachtet, geht er ausschließlich von sei‐
nem eigenen Verständnis von Kant und Hegel aus oder verhält sich indif‐
ferent – wie ich mich selbst als Kantianer und den anderen als Hegelianer verstehe. Hier liegt der explosive Ort, wo das Anders‐verstehen mit Nicht‐
verstehen oder Falsch‐verstehen des Anderen verwechselt wird. Das Glei‐
24 Vgl. Mall, Ram Adhar: Interkulturelle Ästhetik. Ihre Theorie und Praxis, in: Singu‐
laritäten – Allianzen, hrsg. v. Jörg Huber, Wien 2002 (85‐107), S. 85 f. 25 Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humani‐
tät, Wien 1973 S. 208 und S. 83 f. 26 Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humani‐
tät, Wien 1973 S. 208. 32
che gilt im Umkehrschluß. Nach diesem Muster scheitert jede Kommunika‐
tion, weil eine dritte Möglichkeit weder gesehen und wahrgenommen wird, noch kommen unterschiedliche Begründungsformen in Betracht. Wenn es jedoch die ›wahre‹ Interpretation Kants oder Hegels nicht gibt, ist die Suche nach einem anderen Weg zwingend notwendig. Gerade hier erweist sich die enzyklische Hermeneutik als hilfreich, sofern überhaupt Interesse an einer Kommunikation besteht. Das ist die unverzichtbare Vor‐
aussetzung einer jeden Form begründungsorientierter Kommunikation. Wenn wir annehmen, daß ein solches Interesse tatsächlich besteht, so werden wir das obige Beispiel um zwei weitere Dimensionen erweitern müssen. Wenn ein Kantianer einen Text von einem Hegelianer nach der enzyklischen Hermeneutik betrachtet, vollzieht er im Gegensatz zur apo‐
zyklischen Hermeneutik einen vierfachen Schritt. Der Kantianer geht 1.
2.
3.
4.
von seinen eigenen Erfahrungen und Kenntnissen aus,
stellt sich die Frage, wie er den Hegelianer bewertet,
befragt den Hegelianer, wie dieser sich selbst versteht und,
wie dieser ihn als Kantianer betrachtet.
Ob die apozyklische oder enzyklische Hermeneutik zur Sachlichkeit der philosophischen Auseinandersetzung beiträgt, ist eine eindeutig zu beant‐
wortende Frage. Die enzyklische Hermeneutik trägt dazu bei, kommunika‐
tive Reziprozität herbeizuführen, die beinhaltet, daß es einen archimedi‐
schen Ort der Hermeneutik und Verständigung nicht gibt. Hier begegnen sich Verstehen‐Wollen und Verstanden‐Werden‐Wollen diverser Begrün‐
dungsinstrumentarien, die stets Ergebnisse und Erzeugnisse einer be‐
stimmten Denkform innerhalb oder außerhalb einer Tradition sind. Worauf ist bei der Hermeneutik der Begründungen auf der Grundlage einer enzyklischen Hermeneutik zu achten und welche Aporien begleiten sie? Theorien sind in der Regel Erzeugnisse einer bestimmten Denkform, die ihre eigenen Fakten und Argumentationsweisen hervorbringt. Eine Hermeneutik der Begründungen nimmt diese Pluralität ernst und berück‐
sichtigt im Diskurs mindestens sechs Dimensionen, die sich komplementär zueinander verhalten, eine kontextuelle, eine sprachliche, eine historische, eine kulturelle, eine religiöse und eine soziale: 1. Die kontextuelle Dimension beschreibt den sachlichen oder situativen Zusammenhang, in dem ein Sachverhalt steht, um die mannigfaltigen Bedeutungen zu
erklären, die Begriffe, Theorien und Systeme haben können.
33
2. Die sprachliche Dimension umfaßt das, was das Gesagte, Gedachte und Geschriebene artikuliert. Zu erwähnen sind hier Ausdrucksformen und Bedeutungsveränderungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft und ihre Übertragung in eine
andere Sprache, auch Metaphern, die häufig stark differieren. Die sprachliche
Dimension verweist auf den Verzicht, andere philosophische Traditionen oder
Theorien durch eigene Begriffsapparate zu verstehen und zu erklären.
3. Die historische Dimension beantwortet die Frage nach der Entstehung und Entwicklung eines Gedankengebäudes, sucht nach Zusammenhangstrukturen und
Umständen, nach der Verflechtung mit anderen Traditionen, ohne eine bestimmte Tradition zu privilegieren.
4. Die kulturelle Dimension fragt nach dem Welt- und Menschenbild, studiert die
kulturellen Bedingtheiten vieler Gepflogenheiten. Dies umfaßt neben den
ethisch-moralischen Fragestellungen auch die Dimensionen der Kunst, Literatur
und Musik.
5. Die religiöse Dimension nimmt die ethnisch-religiösen Vorstellungen der Völker,
Personen, Gruppen oder Gemeinschaften ernst. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Kategorie des Heiligen und die Diversität seiner Erscheinungsformen.
6. Die soziale Dimension analysiert das Verhältnis zwischen und innerhalb den
Gruppen und Gemeinschaften sowie ihre internen Konflikte.
Für die Praxis einer Hermeneutik der Begründungen gilt es zu fragen, wie wir verstehen und vergleichen, welche Methoden wir benutzen, welche Ziele wir verfolgen und wo wir das tertium comparationis verankern. Nicholas Rescher hat in seiner Studie ›Der Streit der Systeme‹ nachzu‐
weisen versucht, daß die Ursache für die Uneinigkeit philosophischer Sy‐
steme letztlich in einander widerstreitenden ›kognitiven Werten‹ liegt.27 Während sich einige Theorien auf Bedeutung, Zentralität und Priorität beziehen, bewerten andere Theorien fremde Systeme nach einem bestimm‐
ten Maßstab, den sie selbst bestimmen, der oft willkürlich gewählt ist. Nicht die Pluralität unterschiedlicher Haltungen und Einstellungen ist das Problem der Kommunikation. Eine solche Pluralität ist für die Entwick‐
lung und Entfaltung wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Möglichkeiten nützlich und notwendig. Das Problem liegt darin, daß sich ein bestimmtes System im Namen einer bestimmten Philosophie absolut setzt und für universal hält. Ein zentrales Hindernis der Hermeneutik der Begründungen ist neben dieser kognitiven Fehlleistung die Kategorie der Macht, die jeden Diskurs 27 Vgl. Rescher, Nicholas: Der Streit der Systeme. Eine Essay übe die Gründe und Implikationen philosophischer Vielfalt (1986) Würzbug 1997 S. 17 ff. 34
und Dialog auch im Namen einer bestimmten philosophischen Schule zu determinieren vermag. Eine solche Verzerrung des Dialogs ist auch im politischen Denken beobachtbar.28 Die Hermeneutik der Begründungen zielt nicht nur auf eine dialogische Theorie der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kommunikations‐
prozesse ab, sondern auch auf eine gemeinsame dialogische Praxis aller Denkformen – auch solcher, die sich verabsolutieren oder für universal gehalten werden wollen. Auf diesem Verständigungsweg hilft keine Ein‐
heitlichkeitshermeneutik, sondern nur eine kommunikative Hermeneutik, die zwar Gemeinsamkeiten sucht, aber auch in der Lage ist, Differenzen auszuhalten. Literaturangabe: Yousefi, Hamid Reza: Vernunftstrukturen und die Idee einer Hermeneutik der Be‐
gründungen, in: Interkulturalität: Diskursfelder eines umfassenden Begriffs, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi (mit Klaus Fischer), Nordhausen 2010 (19‐34). 28 Vgl. hierzu: Yousefi, Hamid Reza: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen. Das Islambild im christlichen Abendland (mit Ina Braun), Nordhausen 2005. 
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