Gioacchino Rossini Der Barbier von Sevilla

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Gioacchino Rossini
Der Barbier von Sevilla
Heute Abend steht Ihnen ein reines Vergnügen bevor: Rossinis Barbier ist die bedeutendste und wohl auch die beste Opera buffa, die es überhaupt gibt! Dass wir
sie heute in Langenthal hören können, ist eine grosse Freude und keineswegs
selbstverständlich! Eigentlich stammt sie aus einer ganz anderen Welt, die mit
unseren Tagen wenig mehr gemein hat. Viele, viele Opern dieser Zeit sind heute
völlig vergessen oder ungeniessbar, wenn doch jemand wieder einmal eine Aufführung riskiert. Nicht so Rossinis Barbier! Er hat in den nun fast zweihundert Jahren seit seiner Uraufführung in Rom 1816 nichts an Frische eingebüsst, aktuell ist
er ohnehin immer; das heisst, die Frage nach der Aktualität stellt sich gar nicht,
der Barbier ist jenseits solcher Überlegungen. Denken Sie nur etwa an die satirische Radiosendung in den Sechzigerjahren: Walter Roderer als „Der Barbier von
Seldwyla“, dann erkennen Sie die Zeitlosigkeit dieser Figur.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass Oper etwas ganz anderes war als heute.
Das Opernhaus des frühen 19. Jahrhunderts war ein Treffpunkt, kein Musentempel, man könnte sie sogar eine Art „Freizeitzentrum“ nennen. Die Oper war in
erster Linie ein gesellschaftlicher Ort, erst dann ein Ort der Kunst. Das Theater als
„moralische Anstalt“, als Ort der Bildung, ist eine deutschbürgerliche Vorstellung
seit der Aufklärung. Die Oper zur Zeit Rossinis war das nicht. Man traf sich, machte
Geschäfte, spielte an den Spieltischen, erfrischte sich und suchte einander in den
Logen auf. Man spielte zwischen den Akten einer Oper meist noch ein bis zwei
Ballette – etwas heute Unvorstellbares. Opernabende dauerten dann fünf bis sechs
Stunden. Aber man war ja nicht an seinen Platz gefesselt. Es war ein Kommen und
Gehen.
Die Oper war auch nicht ein hochsubventioniertes Haus, sondern eine privatwirtschaftliche Unternehmung. Man spricht von der Unternehmeroper des frühen 19.
Jahrhunderts. Der Impresario, der Besitzer der Oper, war der Chef, dem sich alles
unterzuordnen hatte, er führte das Theater gewinnorientiert, wie das Unternehmer
so zu tun pflegen. Und es konnten ungeheure Gewinne gemacht werden.
Der Komponist hatte einen Vertrag mit dem Impresario über das Herstellen, das
Einstudieren und die Aufführungen einer Oper. Eine Gewinnbeteiligung gab es
nicht, das finanzielle Risiko trug der Impresario. Das hatte alles – es liegt nahe –
eine grosse Auswirkung auf die Musik und die Komponisten.
Es war ganz selbstverständlich, dass ein Komponist seine Einfälle und Melodien
mehrfach verwendete. Es war gang und gäbe, Melodien, Arien, die gefallen hatten,
in anderem Zusammenhang wieder zu verwenden. Der Komponist hatte eine Anzahl Versatzstücke, die er wieder einsetzen konnte. Der musikalische Zusammenhang mit der Handlung der Oper war sekundär. Das ändert erst mit Verdi und
Richard Wagner. Rossini hat zum Beispiel die Ouvertüre zum Barbier bereits vorher
zwei anderen Opern vorangestellt, was wir also als Ouvertüre zum Barbier von
Sevilla kennen, ist auch die Ouvertüre der Elisabetta und einer weiteren Oper.
Niemand störte sich daran, das war üblich, und bei der schlechten Bezahlung der
Komponisten auch nicht verwunderlich. Oft wurde einer Melodie einfach ein anderer Text unterlegt, man nennt dieses Verfahren Parodie. Dann musste die Musik
auch immer wieder den Wünschen der Sängerinnen und Sänger angepasst werden.
Die machten ohnehin, was sie wollten. Sie verzierten die Arien ad libitum in einer
fast unzumutbaren Weise, um ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen. Rossini soll
einmal seine eigene Musik nicht wieder erkannt haben. Oft gaben die Komponisten
auch nur ein Schema vor, dass die Sänger dann improvisierend ausfüllten. Rossini
Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
hat sich gegen diese eitle Verzierungswut gewehrt und begonnen, die Verzierungen festzulegen und auszuschreiben, was ihm hundert Jahre später den Vorwurf
eingetragen hat, er sei der Schöpfer all der Verzierungen, weil sie bei ihm eben in
der Partitur stehen.
Die Entstehungsgeschichte des Barbiers ist von dieser Zeitgeschichte der Oper bestimmt. Und sie ist seltsam genug. Rossini war 23 Jahre alt und hatte schon 13
Opern komponiert und mit Erfolg aufgeführt, als er mit dem Impresario des „Teatro
della Torre Argentina“ in Rom einen Vertrag einging für eine Opera buffa. Er reiste
Anfang November 1815 nach Rom, für den 15. des Monats war bereits die Aufführung vorgesehen. Rossini hatte noch nicht einmal das Textbuch. Dies sollte ihm in
Rom „rechtzeitig“ übergeben werden. Dieser ungeheure Stress, der jedem anderen
den Schlaf geraubt hätte, hat Rossini offenbar nicht bewegt. „Il Barbiere di Siviglia“
ging dann zwar erst am 20. Februar 1816 in Szene, aber auch so hatte Rossini
kaum Zeit für die Komposition. Die Legende sagt, er habe die Oper in einer Woche
niedergeschrieben, er selbst spricht Richard Wagner gegenüber von 13 Tagen. Ein
Monat dürfte wohl der Wahrheit am nächsten kommen. Immerhin hat er dann pro
Tag etwa 20 Seiten Musik komponieren und schreiben müssen. Dann gab es aber
zuerst ja nur diese einzige Partitur, sie musste unzählige Male abgeschrieben werden, die Einzelstimmen für Sänger und Instrumente wurden natürlich von Hand
hergestellt. Und einstudieren musste man die Oper auch noch. Gewiss, man
musste sich mit sechs oder sieben Proben zufrieden geben; erst Verdi hat dann
für seinen Macbeth hundert Proben verlangen können.
Das unheimliche Tempo, in dem Rossini arbeitete, zeigt uns dreierlei. Einerseits
natürlich das Genie Rossinis, das offenbar in Lage war, geniale Musik einfach aufzuschreiben. Es zeigt uns aber auch, dass der Komponist im Operntheater nicht
die Hauptfigur war. Er hatte Musik zu liefern, zu irgendeinem Textbuch. Darauf
hatte er keinen Einfluss. Er musste vertonen, was ihm vorgelegt wurde und zu
dem er sich vertraglich verpflichtet hatte. Es wundert daher auch nicht, dass der
Komponist ohne weiteres eben Sequenzen, Versatzstücke aus anderen Opern verwendet hat. Ein enger Zusammenhang von Handlung und Musik – wie er für Verdi
unabdingbar sein wird – war zweitrangig. Die Handlung der Oper lag auch nicht in
der Musik, also in den Arien, sondern in den Rezitativen. Diese sind musikalisch
sehr einfach und nur vom Cembalo begleitet. Wenn jemand sich verpflichtet in ein
paar Wochen eine Oper zu schreiben und einzustudieren, dann kann die Musik
nicht viel anders als schematisch sein. Das gilt auch für Rossini. Nur war die Art,
wie er das Schema füllte, dann doch eine andere. Etwas Drittes zeigt dieses Tempo
wohl auch noch: Es gab damals kein Regietheater. Dass bei fünf oder sechs Proben
noch ein Regisseur seine Ideen verwirklicht hätte, ist auszuschliessen. Er musste
sich wohl damit zufrieden geben, wenn die Sänger zum richtigen Zeitpunkt auf
oder abgingen. Vielleicht sollten sich die Anhänger von so genannten „historischen“
Aufführungen mit meistens schlechten Instrumenten aus der Zeit dies auch einmal
überlegen.
Rossini bekam das Textbuch zu einer Oper nicht rechtzeitig, offenbar hatte es
Schwierigkeiten mit der Zensur gegeben. Die Opernzensur ist überhaupt ein wichtiges und bisher kaum beachtetes Kapitel der Operngeschichte. Sie war nicht nur
ein Machtinstrument gegen die Oper, sondern in vielem auch ein Mittel zur Qualitätssicherung, wie man heute sagen würde. In dieser Situation schlug der Librettist
Serbini ein Textbuch nach Beaumarchais Komödie „Le Barbier de Seville“ vor. Dieses Theaterstück war bereits unzählige Male vertont worden und ohne Probleme
durch die Zensur zu bringen. Die berühmteste Vertonung stammte von Giovanni
Paesiello, sie hatte In Italien Triumphe erlebt. Und Rossini sollte nun zur Erfüllung
seines Vertrages wieder denselben Stoff vertonen. Eine undankbare Sache, würde
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Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
man meinen. Und wir staunen, dass sich Rossini dazu hergegeben hat. Wir sehen
auch daran wieder, dass Oper etwas anderes war zu Beginn des 19. Jahrhunderts!
Rossini fand noch Zeit, Paesiello einen Brief zu schreiben, um ihn zu fragen, ob er
mit der Neuvertonung einverstanden sei. Paesiello gab höflich seine Zustimmung.
Erst dann begann Rossini mit der Komposition.
Die Uraufführung am 20. Februar 1816 soll eine Katastrophe gewesen sein. Es
hatten sich wohl alle Paesiello-Verehrer im Theater eingefunden, entschlossen, die
Neuvertonung ihres Meisterwerks mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dann soll es
auch zu mehreren Pannen gekommen sein, sodass es am Schluss um den Barbier
geschehen war. Er fiel durch. Ein Fiasko bei der Uraufführung ist in der Operngeschichte nicht ungewöhnlich. Verdis Traviata ist in Venedig ebenso durchgefallen,
dort angeblich, weil die Sopranistin, eine Frau ausserordentlicher Körperfülle, nicht
in der Lage war, glaubhaft an Tuberkulose zu sterben, Wagners Tannhäuser und
Puccinis Butterfly sind bei der Premiere durchgefallen. Vielleicht ist es aber auch
gerade die Genialität dieser Opern, welche die Zuschauer beim ersten Mal schlicht
überfordert hat. Die nächste Aufführung schon – Rossini war vorsichtshalber nicht
mehr im Theater erscheinen und überliess die Aufführung dem zweiten Kapellmeister – geriet zu einem Triumph, der nun seit zwei Jahrhunderten anhält.
Caron de Beaumarchais hat vor allem zwei Theaterstücke geschrieben, mit denen
er durch Rossini und Mozart unsterblich geworden ist. „Der Barbier von Sevilla“
und die Fortsetzung „Die Hochzeit des Figaro“. Auch Goethes Clavigo geht auf die
Tagebücher von Beaumarchais zurück.
Es ist eigentlich erstaunlich, dass die Zensur die Stücke Beaumarchais zur Vertonung freigegeben hat. Es sind ja revolutionäre Stücke oder sogar Revolutionsstücke! Beaumarchais macht sich lustig über den Adel, über dessen Libertinage und
amouröse Abenteuer. Eigentlich sind die beiden Opern sosehr Revolutionsopern
wie Beethovens Fidelio oder Cherubinis „Wasserträger“. Nur sind es eben Komödien. Aber eine Komödie kann mindestens ebenso politisch sein, wie eine ernste
Oper. Ich möchte am Schluss darauf noch einmal zurückkommen.
Nun wenden wir uns dem Barbier in engerem Sinne zu. Zuerst geht es um den
Inhalt der Oper, deren Handlung ziemlich kompliziert ist.
Graf Almaviva sieht auf der Strasse in Madrid ein hübsches Mädchen, ist sofort
verliebt und folgt ihr, in der Hoffnung auf eine Zusammenkunft. Diese ergibt sich
aber nicht, er vernimmt nur, dass das Mädchen Rosina heisst und aus Sevilla
stamme; Rosina erfährt, der lästige Mann, der sich an ihre Fersen geheftet hat,
sei Graf Almaviva. Das geschieht aber alles vor der eigentlichen Handlung. Man
muss es einfach wissen, beziehungsweise aus der Handlung ableiten.
Der Vorhang geht auf und wir sehen den Grafen, der nun nach Sevilla gereist ist,
vor dem Balkon seiner Liebsten. Sie pflegt in den Morgenstunden dort zu erscheinen. Der Graf reist inkognito, Rosina soll den Menschen, nicht den Grafen lieben.
Rosina hat den jungen Mann natürlich längst bemerkt, sie spielt ihm geschickt ein
Notenblatt zu, natürlich hat auch sie längst eine innige Zuneigung zu ihm gefasst.
Er stellt sich ihr nun singend vor, nennt sich Lindoro, ein Mann geringen Standes,
der aber rein und ewig zu lieben wisse. Rosina nimmt den Refrain seines Liedes
auf und versichert den Grafen nun ihrerseits ihrer unwandelbaren Liebe. Damit
könnte die Oper zu Ende sein, aber jetzt kommen die elenden Verwicklungen. Da
ist zuerst der alte Dr. Bartolo, der Vormund von Rosina. Er will sie heiraten, denn
sie ist nicht nur schön, sondern auch reich. Da er aber natürlich nicht Rosinas Mann
der Wahl ist, muss er sein Mündel einsperren und vor jeder Begegnung mit anderen Männern schützen. Als er nun noch erfährt, dass der Frauenheld Almaviva aus
Madrid eingetroffen sei, wittert er Gefahr für seine Absichten und beschliesst, zu
handeln und sofort zu heiraten. Sein Gehilfe ist der Musiklehrer im geistlichen
Stande Don Basilio. Dieser ist ebenso bestechlich, wie intrigant. Durch einen Beutel
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Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
mit Geld motiviert, bereitet er alles zur Hochzeit vor. Er soll dazu noch eine Verleumdungskampagne – italienisch eine Callunnia - in die Welt zu setzen, um den
Grafen zu verunglimpfen und auszuschalten.
Gegen diese Raffinesse in Liebesdingen ist die reine Liebe der jungen Leute machtlos. Da braucht es nun einen noch raffinierteren Kopf, nämlich Figaro, den Barbier
von Sevilla. Er ist ein Tausendsassa, ein Faktotum – von lateinisch fac totum, der
Allesmacher – Er stellt sich vor in der weltberühmten Arie „largo al factotum della
città“ als einer, der alles kann, von allen gebraucht und gerufen wird, dann aber
doch mit seiner Stellung als Barbier zufrieden ist, da er in diesem Beruf in alle
Häuser und Familien kommen kann, um seine Fäden zu spannen und seine Netze
auszulegen. So weiss er um die Verhältnisse im Hause Bartolo bestens Bescheid.
Auch kennt er den Grafen von früher. Die Gelegenheit, dem Geizkragen Bartolo
eins auszuwischen, Rosina zu ihrem Glück zu verhelfen und dazu noch vom Grafen
belohnt zu werden, lässt er sich nicht entgehen.
Mit einem Schlaf- und einem Niespulver setzt er zuerst einmal die beiden Diener
Bartolos ausser Gefecht. Er belauscht das Gespräch zwischen Bartolo und Basilio
und ist dadurch über die geplante Calunnia im Bilde. Es gelingt ihm, Rosina zu
sprechen und ihr zu sagen, dass Lindoro, der Graf, sie liebe und um ein Zeichen
ihrer Zuneigung bitte. Rosina ziert sich zuerst, wie es sich gehört, holt dann aber
den bereits längst geschriebenen Brief hervor. Auch sie ist raffiniert, muss es aber
auch sein, denn sofort entdeckt Bartolo Tinte an ihren Fingern; auch fehlt ein Blatt
Briefpapier, damals noch ein wertvoller Gegenstand!
Figaro will, dass der Graf und Rosina fliehen können, bevor Bartolo sie heiratet.
Erster Versuch: Er überredet Almaviva, sich als Offizier zu verkleiden, betrunken
zu stellen und im Hause Bartolo Quartier zu verlangen. Dummerweise hat aber
Bartolo ein Dokument, das ihn berechtigt, militärische Einquartierungen abzuweisen. Trotzdem gelingt es dem Grafen, Rosina ein Zettelchen zuspielen.
Zweiter Versuch: Der Graf erscheint als Musiklehrer, gibt sich als Don Alonso aus
und sagt, er sei der Stellvertreter des erkrankten Don Basilio. Er übergibt – Höhepunkt der Raffinesse – Bartolo den Brief Rosinas an Lindoro, den er vom Grafen
Almaviva erhalten habe. Im übrigen sei Almaviva ein Schurke und Frauenheld, der
nur mit Rosina spielen wolle. Bartolo fasst Vertrauen zu Don Alonso, er glaubt, die
von Don Basilio versprochene Calunnia zu spüren. In der Musikstunde gelingt es
Don Alonso, als Bartolo für einen Moment eingeschlafen ist, sich als Lindoro zu
erkennen zu geben und alles scheint zu klappen. Da erscheint aber, wie könnte es
anders sein, zum Entsetzen aller der kerngesunde Don Basilio. Figaro gelingt es,
ihm eine wohlgefüllte Geldbörse zuzustecken, so dass er sich nun bereitwillig sehr
krank fühlt und wieder abgeht. Rasch versucht der Graf, Rosina von der nötigen
Flucht zu überzeugen. Bartolo erhascht das Wort „travestimento“ Verkleidung und
wirft den falschen Musiklehrer hinaus.
Nun muss alles schnell gehen! Bartolo bestellt den Notar noch für den nämlichen
Abend, um den Ehekontrakt zu unterzeichnen. Er zeigt Rosina den Brief, den er
von Don Alonso erhalten hat, und sagt, er habe ihn vom Grafen. Damit ist der
Höhepunkt der Konfusion erreicht. Rosina denkt, Lindoro sei nur ein Mittelsmann
des Grafen, der ihr seine Liebe nur vorgespielt habe. Sie ist tief gekränkt und
entdeckt Bartolo die geplante Flucht mit Lindoro. Bartolo geht, um die Polizei zu
holen. In diesem Moment steigen Figaro und Lindoro ein. Rosina reagiert kühl, da
gibt sich Lindoro als Graf zu erkennen und sofort ist die Liebe wieder da. In diesem
Moment kommen der Notar und Don Basilio, ein voller Geldbeutel überzeugt Basilio
schnell, neben Figaro Trauzeuge für die Vermählung von Rosina mit dem Grafen
zu spielen. Der Notar weiss natürlich nicht, wen er hier eigentlich mit wem vermählen sollte, er muss also zum Mitmachen gar nicht erst überzeugt werden. Der
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Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
Ehekontrakt ist schnell unterzeichnet. Als Don Bartolo mit der Polizei kommt, ist
er der Geprellte. Rosina und der Graf sind verheiratet! Aber auch ihm lacht das
ihm eigentliche Glück: der Graf verzichtet auf die Mitgift und überlässt sie Bartolo,
was diesen weitgehend versöhnt.
Eine unmögliche Komödie der Verwicklungen und Verwirrungen – sie schreit förmlich nach Musik, und es ist nicht verwunderlich, dass sie oft vertont worden ist.
Aber Rossinis Oper ist die beste von allen, keine Frage! Sie ist die beste, weil
Rossini diese ganze wirre Handlung mit einer geradezu göttlichen Ironie überstrahlt. Man könnte diese Komödie vertonen und den Don Bartolo als Trottel, Don
Basilio als Lüstling, den Figaro als aufgeblasenen Kerl und Rosina als raffinierte
Zicke darstellen. Das macht Rossini nicht. Die Musik ist voller Liebe zu all den
Figuren. Die Trottelhaftigkeit Don Bartolos ist bei Rossini menschlich und liebenswert. Rossini schafft es in seiner Musik, durch Ironie diese Figuren liebenswert zu
machen. Echte Ironie ist immer von Liebe getragen. Er schafft es, durch seine
Musik, sich gleichsam mit uns Zuhörern über die menschlichen Schwächen dieser
Figuren zu verständigen. Und wir lächeln mit Rossini zusammen über menschliche
Unzulänglichkeit und werden gewahr, dass eigentlich wir gemeint sind, dass wir
über uns selber lächeln – und noch wichtiger: dass uns ein Mensch, der die Menschen liebt, einen Spiegel vorhält. So etwas schaffen nur Rossini und – mit anderen
Mitteln – vorher Mozart.
Rossini erreicht diese Ironie mit der absoluten technischen Beherrschung der Mittel
der Opera buffa, er führt diese Mittel zum Höhepunkt, oder besser gesagt: er
treibt sie auf die Spitze. Der Barbier wird damit zur Apotheose der Opera buffa.
Nach dem Barbier stirbt sie aus. Rossini hat nach 1817 von keinem italienischen
Theater mehr einen Auftrag für eine Opera buffa bekommen.
Was sind aber die musikalischen Mittel der Buffa, die Rossini auf die Spitze treibt?
Wir müssen dazu noch einmal zur Opera seria zurückkehren, da die Buffa sich aus
der Seria entwickelt. Die Opera seria ist die Oper des 18. Jahrhunderts. Sie ist eine
Adelsoper, gespielt in den Hoftheatern, nicht in der Unternehmeroper, sie zeigt
Sinnbilder des menschlichen Seins, grosse Tragik der Götter und Könige. Die Mythologie ist ihre Welt, in der sich Adel bespiegelt. Sie ist für unsere Begriffe steif
und unnatürlich, vor allem, wenn wir bedenken, dass die Hauptrollen darin von
Kastraten, männlichen Sopranen, gesungen wurden. Zwar soll der Klang einer
Kastratenstimme berückend und einzigartig gewesen sein, doch dass in der Opera
seria bei Händel zum Beispiel Julius Cäsar von einem Sopran verkörpert und gesungen wird, ist uns heute fremd.
Als Gegenstück zur Opera seria entwickelte sich die Opera buffa: Zuerst wurden
einzelne lustige Szenen in die grosse Tragik der Seria eingefügt, später wurde
daraus die abendfüllende Opera buffa.
Die Buffa greift alltägliche Situationen auf, sie dient der Unterhaltung und ist damit
ein typisches Kind der Unternehmeroper. Die Handlung der Buffa geht aus von der
„Commedia dell’arte“, der italienischen Stegreifkomödie mit ihren typisierten Figuren, mit denen man unzählige Handlungen improvisieren konnte.
Die Operngeschichte ist äusserst komplex, ich vereinfache hier gewaltig. Von den
Opere Buffe kennen wir heute die Meisterwerke von Mozart und von Rossini; doch
das sind eben Meisterwerke, die in ihrer Grösse und Bedeutung nur bedingt repräsentativ sind für die Geschichte der Oper.
Wolfgang Amadeus Mozart ist gleichsam der Vollender der Opera buffa, er deutet
die Figuren klassisch aus und macht sie zu Individuen, Gioacchino Rossini aber ist
der Höhepunkt der künstlerischen Mittel der Opera buffa.
Die Opera seria hat musikalisch ein klares Schema: Rezitativ und Arie. Das Rezitativ war musikalisch einfach, oft auch nur improvisiert, der Komponist gab die
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Harmonien an, mehr nicht. Begleitet wurde das Rezitativ von Cembalo. Diese Rezitative nennt man Secco-Rezitative, „secco“ heisst „trocken“, also ohne Orchester.
In diesen Rezitativen findet die Handlung der Oper statt. Hier wird agiert, hier
herrscht Bewegung hier „geht es weiter.“ Nach dem typischen Rezitativschluss Dominante – Tonika beginnt die Arie. Die Arie steht ausserhalb der Handlung. Der
Sänger tritt an die Rampe, verlässt also gleichsam das Spiel und singt seine Arie,
wie ein Instrumentalsolist. Die Arie handelt von hohen Leidenschaften, von tragischen Verwicklungen, von Liebe und Tod und menschlicher Grösse. Wenn sie fertig
ist, tritt der Sänger wieder zurück in die Handlung, ins Spiel. Dieses Schema ist
geeignet für mythologische Stoffe, wenn Götter und Könige agieren und musikalisch über das Leben nachdenken. Die Buffa nun aber will unterhalten, ihr Stoff
stammt aus dem Alltag, sie nährt sich von der Commedia dell’arte mit ihren Typen:
dem vertrottelten Alten, dem listigen Diener, der raffinierten Magd. Mit diesen Figuren ein einleuchtendes Stück zu machen, da ist die Form Rezitativ und Arie völlig
ungeeignet. Da muss man die Arie und die hohe Tragik, die darin zum Ausdruck
gebracht wird, ernst nehmen können. Würde der vertrottelte Alte eine Arie im Stil
der Seria singen, wäre das vielleicht zwar durchaus komisch, aber unfreiwillig.
Die Entwicklung, die nun beginnt, ist klar: die Buffa löst das starre Schema, Rezitativ und Arie = Handlung und Kontemplation, allmählich auf. D.h. die Handlung
zieht sich in die Musik hinein, sie geht über das Rezitativ hinaus. Das ist in der
Musikentwicklung ein gewaltiger Schritt. Konnte die Musik in der Seria einfach
schön und eindringlich sein, musste sie in der Buffa selber gleichsam zu handeln
beginnen! Sie muss sich der Situation auf der Bühne anpassen, sie muss das, was
da geschieht, direkt einbeziehen, kommentieren, ausdrücken. Die Arie verliert damit mehr und mehr an Bedeutung, auch die Arie wird in die Handlung einbezogen,
ist nicht einfach mehr reflektierend, obwohl sie diesen Charakter behält. (Das
ergibt ein neues Problem, das wir bei Verdis Nabucco analysiert haben: es ist
schwierig, nach einer Arie wieder in die Handlung hineinzufinden!) Die Oper wird
als ganzes dynamisch, das ist der grosse Schritt von der Seria zur Buffa. Die Seria
stellt das Gefühl dar, die Buffa ist das Gefühl.
Da haben sie nun den Rossini ganz: Seine Musik – im Barbier ist handelnd, nicht
ausdeutend! Die Musik handelt und sie handelt atemberaubend. Es ist nicht die
musikalische Entwicklung, die thematische und motivische Arbeit, die Differenzierung, die den Barbier und seinen Erfolg ausmacht, es ist die direkte musikalische
Handlung. Ein Beispiel: Es gibt im Barbier eine Gewittermusik – la tempesta! Das
Gewitter deutet hier nichts aus, es ist nicht der Mahnfinger Gottes, der den Menschen an seine Hybris gemahnt! Nein, es ist einfach ein Gewitter, es donnert und
blitzt und regnet und die Flucht von Rosina und dem Grafen wird vorerst verhindert.
Eine Musik, die handelt, das hat nun klar formale Folgen! Es ist nicht der Sonatensatz, der entwickelnde, der im Vordergrund steht, nicht die Durchführung, die bei
Mozart ein Abbild ist der menschlichen Entwicklung. Der Buffo-Stil ist der folgende:
Man komponiert ein szenisches Motiv, das zur Handlung passt und kurz und eindringlich ist. Es sind oft nur ein paar wenige Takte. Dieses Motiv bestimmt nun die
ganze Arie, aber es wird nichts aus ihm entwickelt, es wird immer wieder wiederholt, variiert, sequenziert, melodisch verändert, lauter und leiser, diesem, dann
jenem Instrument zugeordnet. Die Arie der Buffa ist eine Kettenreaktion. Das ist
das Geheimnis der Wirkung: Durch die ständige Wiederholung ergibt sich eine
drängende, vorwärts stürmende Motorik, die uns Zuschauer in den Bann schlägt
und elektrisiert. Das kleine Motiv setzt sich wie eben in der Kettenreaktion – fort
und entzündet sich selbst wieder in der nächsten Wiederholung.
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Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
Ich will Ihnen das an der grossen Auftrittsarie des Figaro „Largo al factotum“ zeigen. Die Anlage ist sehr einfach, harmonisch wie formal. Es werden – in der Rondoform – immer wieder die gleichen Motivteile aneinandergereiht, entwickelt wird
nichts. Das Orchester wiederholt drei Mal die gleiche Begleitung, variiert wird der
Text Figaros: beim ersten Mal trällert er nur, beim zweiten Mal zählt er auf, wer
ihn alles ruft und wozu: „Tutti mi chiedono, tutti mi vogliono“, beim dritten Mal
ahmt er nach, wie alle ihn rufen: „Figaro… son qua“. Es ist letztlich unmöglich,
diese Musik zu erklären. Zum Glück werden wir sie heute Abend hören! Man kann
aber diese Technik Rossinis, der variierenden Wiederholung gleicher Motive, gut
hören und nachvollziehen.
Wir haben gesagt, dass die Musik die Handlung übernehme. So ist es auch hier:
Figaro ist ein Komödientyp, er ist kein Individuum. Das sind alle Figuren im Barbier, es sind Typen, nicht Individuen. Der Typus entwickelt sich nicht, er bleibt,
wer er ist. Keine der Figuren entwickelt sich. Don Bartolo bleibt ein Geizhals, Figaro
ein aufgeblasener Kerl.
Das ist jedoch nicht alles. Ich habe gesagt, dass Rossinis Barbier unsterblich geworden sei, weil seine Musik durch ihre Ironie uns die Figuren liebenswert mache.
Das will ich Ihnen an zwei Bespielen zeigen, zuerst am Terzett im zweiten Akt:
„Ah, qual colpo inaspettato“. Figaro hat es soweit gebracht, dass der Graf und
Rosina nun flüchten könnten. Die Leiter steht am Balkon, man müsste sie jetzt nur
benützen. Rosina hat sich soeben von der Nachricht erholt, dass Lindoro und Graf
Almaviva ein und dieselbe Person sind. In einer schönen, nicht überschwänglichen
Melodie drückt sie die neu aufgeflammte Liebe aus. Der Graf übernimmt im Kanon
diese Melodie. Figaro rühmt sich, dass er der Urheber sei all diesen Glücks. Ein
wunderbares Terzett entsteht, Rosina und der Graf in seliger Liebe, Figaro kontrastiert durch seine wiederholten Aufrufe, endlich vorwärts zu machen mit der
Flucht. Da kommen plötzlich Leute, Don Basilio und der Notar, und drohen die
Leiter wegzunehmen. Die Ironie: Das Terzett dreht sich auf der Stelle, in sich
selbst, kommt nicht vorwärts, weil Rossini die drei alle Regeln der Kanonform
durchspielen lässt, bis zum bitteren Ende. Und wenn der Zuhörer längst weiss,
dass es jetzt zu spät ist, setzt – ganz nach Schema – noch die Reprise ein „zitti,
zitti, piano, piano“ und wird durchexerziert bis zum Schluss. Natürlich ist dann die
Leiter fort. Das ist zwar im weiteren Verlauf günstig, weil der Notar nun gleich den
Grafen und Rosina trauen kann. Rossini macht sich über die Oper und ihre Konventionen, ihre starren Formen lustig, welche einer vernünftigen Handlungsführung entgegen stehen. Stendhal, der grosse französische Schriftsteller, der erste
Biograph Rossinis, hat diese Ironie völlig verkannt und vorgeschlagen, man müsste
dieser Musik einen anderen Text unterlegen, um den Widerspruch zwischen Form
und Inhalt zu aufzuheben.
Das zweite Beispiel Auftrittsarie des Don Bartolo „A un dottor del mia sorte“. Bartolo erklärt seinem Mündel Rosina, dass es dann schon ein wenig mehr brauche,
einen „Doktor seinesgleichen“ zu betrügen. Ihn, den Pedanten, der überhaupt
nichts merkt. Rossini deutet nun im Abschluss der Arie einen Sonatensatz an, also
jene Form, die sich eben durch Entwicklung charakterisiert. Das ist Rossinis Ironie:
Jener, der sich nicht entwickelt und der Pedant und Geizhals bleibt, der er ist, wird
mit einer sich aus dem Motiv heraus entwickelnden Musik begleitet.
Sie werden, meine Damen und Herren, mit gewissem Recht sagen, dass man das
alles ja doch nicht höre. Ja, gewiss, es geht viel zu schnell. Dennoch ist es so! Es
ist, wie wenn Sie den Kindern Märchen erzählen. In Ihrer Erzählung hört man auch
nichts von den tiefen mythischen und psychologischen Bezügen eines Märchens.
Und dennoch sind sie in Ihrer Erzählung präsent!
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Gioacchino Rossini: Der Barbier von Sevilla
Wir haben Ironie vorhin als ein liebendes Sich-Verständigen des Komponisten mit
uns Hörern definiert. Rossini verständigt sich nun noch über ganz etwas anderes
mit uns Hörern, als nur über die Figuren seines Stücks.
Der Barbier wird 1816 uraufgeführt, Beethovens Fidelio erscheint zum ersten Mal
1806, in der revidierten Fassung 1814. Beethovens Fidelio ist eine Revolutionsoper. Rossinis Barbier erscheint also in einer politischen äusserst aufgewühlten
Zeit. Napoleon ist im Jahr zuvor endgültig geschlagen worden, der Wiener Kongress hat Italien wieder unter die Herrschaft der Grossmächte gestellt. Italien ist
nicht frei, die sprachlich-kulturelle Einheit ist keine staatliche Einheit. Verdi wird
25 Jahre später mit dem Nabucco einen gewaltigen Erfolg erleben, weil er darin
das Gefühl der Unterdrückung in Musik zu setzen weiss. Rossini tut das letztlich
auch, doch nicht direkt, sondern mit Ironie. Er macht sich im Barbier nur vordergründig lustig über die Figuren des Stücks. Er macht sich auch lustig über die
Gesellschaft seiner Zeit. Es gibt einen politischen Rossini, nicht erst in seiner letzten Oper, dem Wilhelm Tell. Sie erinnern sich vielleicht an die Aufführung der „diebischen Elster“ in der letzten Saison, ein geradezu banales Stück. Aber wenn Sie
bedenken, wieviel Gesellschaftskritik darin steckt, wenn eine Magd, weil sie angeblich zwei Silberlöffel gestohlen hat, gleich von einem völlig vertrottelten Bürgermeister zum Tode verurteilt wird, dann wissen Sie, was ich meine.
Keiner hat diesen politischen Rossini klarer erkannt als Heinrich Heine; im dritten
Teil seiner „Reisebilder“ schreibt er: „Die Verächter italienischer Musik werden
einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen, und sind vielleicht
verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören, als Fugen von
Sebastian Bach. (…) Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kund geben. All sein
Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für die Freiheit, sein Wahnsinn
über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene
Herrlichkeit, dabei sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hülfe, alles
dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu
elegischer Weichheit herabgleiten. (…) Das ist der esoterische Sinn der Opera
buffa. Die exoterische Schildwache ahnt nimmermehr die Bedeutung dieser heiteren Liebesgeschichten, Liebesnöten, worunter der Italiener seine tödlichen Befreiungsgedanken verbirgt. Es ist gut, dass die exoterische Schildwache nichts merkt,
denn sonst würde der Impresario mitsamt der Primadonna und dem Primouomo
bald jene Bretter betreten, die die Festung bedeuten.“
19. März 2010
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