de r ba r bi e r von se v i l l a Gioachino Rossini „Nur wenige Männer sind blind. Aber viele Männer sind dumm ...“ Die italienische Schauspielerin Sophia Loren auf die Frage, warum hübsche Frauen so viel mehr Erfolg bei Männern haben, als kluge Frauen. Der Barbier von Sevilla Gioachino Rossini (1792–1868) Opera buffa in 2 Akten Libretto von Cesare Sterbini nach der Komödie „Le Barbier de Séville ou la Précaution inutile“ (1775) von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (Der Barbier von Sevilla oder die nutzlose Vorsicht) In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Premiere am 19. September 2015, 19.30 Uhr Staatstheater Darmstadt, Großes Haus Uraufführung: 20. Februar 1816, Teatro Argentina Rom Die Handlung für Eilige Ein verliebter Alter will am anderen Morgen sein Mündel heiraten; ein junger und aufgeweckter Liebhaber kommt ihm zuvor und macht sie am gleichen Tag vor der Nase und im Haus des Vormunds zu seiner Frau. Das ist die ganze Geschichte, aus der man nun mit gleichem Erfolg eine Tragödie oder eine Komödie, Rührstück oder eine Oper machen könnte. Aus rechtlichen Gründen sind Ton- und Bildaufnahmen nicht gestattet. Pierre-Augustin Caron de Beaumarchai Bitte schalten Sie Ihre Mobiltelefone aus. Der Barbier von Sevilla WAS BISHER GESCHAH Doktor Bartolo, ein alter geldgieriger Junggeselle, spekuliert auf die Mitgift der jungen Rosina, für die er die Vormundschaft übernommen hat. Damit ihr kein Nebenbuhler zu nahe kommen kann, hält er sie in seinem Haus mehr oder weniger gefangen. Doch der junge Graf Almaviva hatte sie einmal gesehen und nicht vergessen können. Wird er das Herz des Mädchens erobern? STAFFEL 1 FOLGE 1 Früh am Morgen bringt Graf Almaviva mit der Unterstützung einiger Musiker Rosina ein Ständchen. Doch niemand zeigt sich am Fenster. Enttäuscht schickt Almaviva die Musiker fort. Glücklicherweise kommt sein ehemaliger Diener, der Barbier mit Namen Figaro, des Wegs. Er gehört zu den wenigen, die wegen ihres Berufes Zutritt zu Bartolos Haus haben. Mit einem großzügigen Geldgeschenk sichert sich Almaviva Figaros Unterstützung. Zu allem Glück erscheint, als Doktor Bartolo das Haus verlässt, nun auch Rosina am Fenster. Da der Graf nicht um seines Titels, sondern um seiner Person willen geliebt werden will, stellt er sich Rosina unter dem falschen Namen Lindoro vor. Hält die Liebe einer solchen Lüge stand? FOLGE 2 Figaro hat gehört, dass ein Regiment in der Stadt ist und schlägt vor, Almaviva solle sich als Soldat verkleiden, da er als solcher mit einem Quartierschein das Zutrittsrecht zum Haus Bartolos habe. Zudem müsse der Graf sich betrunken stellen; das erhöhe seine Glaubwürdigkeit. Wird Figaros Plan aufgehen? FOLGE 3 Im Gegensatz zu ihrer schlechten Meinung über den Grafen Almaviva ist Rosina von Lindoros ehrlichen Absichten überzeugt. Sie bittet Figaro, Lindoro einen Liebesbrief zu übermitteln. Die beiden werden allerdings von Doktor Bartolos Rückkehr überrascht, der erfahren hat, dass Graf Almaviva in der Stadt ist. Mit Rosinas Musiklehrer Don Basilio berät Bartolo, wie man Almaviva ausschalten könne. Basilio rät, böse Gerüchte über den Grafen zu streuen. Doch das geht Bartolo zu langsam. Er will eine Blitzhochzeit mit Rosina. Figaro, der aus einem Versteck alles mit Katja Stuber H a n dlu n g 3 5 angehört hat, muss nun schnell handeln. Zum Glück hat Rosina ihre Liebesbekundungen an Lindoro schon geschrieben. Figaro eilt mit dem Brief zu Almaviva. Kann er die geplante Hochzeit noch verhindern? FOLGE 4 Gerade noch hat Doktor Bartolo Rosina gewarnt, ihn bloß nicht zu hintergehen, da erscheint Almaviva als betrunkener Kavalleriesoldat und fordert rüde seine Einquartierung in Bartolos Haus. Bartolo besitzt jedoch als Arzt eine Sondergenehmigung und muss keine Soldaten aufnehmen. Es kommt zum lautstarken Streit, und eine herbeigerufene Militärwache will den unbekannten randalierenden Soldaten in Verwahrung nehmen. Doch bevor dies geschehen kann, gelingt es Almaviva zumindest, sich Rosina als Lindoro zu erkennen zu geben. Zudem informiert er den WachKommandeur heimlich über seine wahre Identität, woraufhin die Wache – zum Erstaunen der Zurückbleibenden – unverrichteter Dinge abzieht. Dennoch kann Almaviva als Soldat nicht in Bartolos Haus bleiben. Haben Figaro und der Graf einen neuen Plan? STAFFEL 2 FOLGE 1 Zum zweiten Mal verschafft sich Graf Almaviva unter falscher Identität Zutritt zu Doktor Bartolos Haus: Diesmal nennt er sich Don Alonso und gibt vor, als Vertretung für den angeblich erkrankten Musiklehrer Don Basilio eine Gesangsstunde mit Rosina abhalten zu wollen. Um Doktor Bartolos Misstrauen zu entkräften, behauptet er, der Graf habe ihm einen Liebesbrief von Rosina gezeigt, und nun wolle er Rosina von dessen schlechten Absichten überzeugen. Bartolo lässt Don Alonso gewähren, als er mit Rosina angeblich eine Arie aus der Oper „Die unnütze Vorsicht“ einstudiert. Almaviva und Rosina nutzen die Gelegenheit für eine gegenseitige Liebesbeteuerung. Ist diese Liebe stark genug, um alle Hindernisse zu überwinden? FOLGE 2 Mitten in der Gesangsstunde erscheint unangekündigt Figaro und will Bartolo zu dessen großem Erstaunen rasieren. Um seinen Kunden für kurze Zeit aus dem Zimmer zu locken, wirft der Barbier im Nebenzimmer Geschirr zu Boden. Während Bartolo sich den Schaden ansieht, nimmt Figaro den Schlüssel von Rosinas Balkontür an sich. Später, um Mitternacht, soll damit die Flucht Rosinas gelingen. Doch plötzlich erscheint der angeblich erkrankte Musiklehrer Basilio. Ist Rosinas Flucht durch den intriganten Basilio gefährdet? FOLGE 3 Almaviva gelingt es mit Mühe, Don Basilio Fieber anzudichten, und mit einem zusätzlichen Bestechungsgeld schafft er ihn sich vom Hals. Während nun Figaro den Doktor Bartolo mit einer Rasur ablenkt, besprechen Rosina und Don Alonso alias Lindoro alias Almaviva den Fluchtplan. Doch Bartolo schnappt das Wort „Verkleidung“ auf und wirft den falschen Musiklehrer samt Figaro wutentbrannt aus dem Haus. Don Basilio soll umgehend den Notar holen, um den Ehekontrakt aufzusetzen. Gibt es noch einen Ausweg für Rosina? FOLGE 4 Mit dem Brief, den der Graf ihm in der Gestalt des Musiklehrers Don Alonso gegeben hatte, gelingt es Doktor Bartolo, Rosina davon zu überzeugen, dass der angebliche Lindoro ihr einzig deshalb nachstelle, weil er den Auftrag habe, sie dem Grafen als Geliebte zuzuführen. Verzweifelt gibt Rosina ihre Zustimmung zur ehelichen Verbindung mit ihrem Vormund. Obendrein verrät sie ihm den ausgeheckten Fluchtplan. Ist Rosina verloren? FOLGE 5 Figaro und der Graf kehren über eine Leiter zurück in Bartolos Haus, um Rosina zu entführen. Sie weigert sich jedoch und gibt erst ihre Zustimmung, nachdem der vermeintliche Lindoro ihr seine wahre Identität als Graf offenbart. Abgelenkt durch ihre Liebesschwüre, entgeht ihnen, dass Bartolo die Leiter weggezogen hat, um dann die Wache herbeizuholen. Wird Bartolos Plan aufgehen? FOLGE 6 Don Basilio, der den Notar geholt hatte, wird von Almaviva unter Androhung der Erschießung gezwungen, ihn mit Rosina zu verheiraten. Bartolo und die Wachen kommen also zu spät. Almavia enthüllt allen Anwesenden sein Inkognito und Bartolo muss sich dem Unvermeidlichen, immerhin mit dem Trost des Löwenanteils von Rosinas Mitgift, beugen. Fine Inge Zeppenfeld H a n dlu n g 4 6 7 Aus der Perspektive eines Dirigenten Als Gegenreaktion auf die in inhaltlichen Klischees und oberflächlichen Virtuosismen erstarrte Opera seria entstand im 18. Jahrhundert in Neapel aus dem musikalischen Intermezzo und der Comedia dell’Arte die Opera buffa. Ihre Grundmerkmale sind Schnelligkeit, Situationskomik und Wortwitz, Elemente, die bis heute die neapolitanische Mentalität bestimmen. In Neapel ist das ganze Leben bis in den kleinsten alltäglichen Bereich immer in höchstem Grade theatralisch. Jeder spielt seine klar umrissene und durch jahrhundertealte Tradition festgelegte Rolle – und dies immer öffentlich. Eine Privatsphäre existiert praktisch nicht, alles wird vor allen und von allen diskutiert. Die Gründe dafür liegen zum einen in einem starken, exhibitionistisch ausgerichteten Individualismus, zum anderen in dem neapolitanischen Bedürfnis nach einer Überhöhung des Lebens nicht durch die Mittel der Kunst, sondern in der alltäglichen Wirklichkeit. Eine solche gesellschaftliche Situation macht es natürlich sehr schwer, echte, „leisere“ Gefühle auszudrücken, sie fördert aber Kreativität und Schlagfertigkeit. All dies bestimmt auch den Charakter und die Handlungsweise der Personen in Rossinis „Barbiere di Siviglia“, obwohl das Werk für Rom komponiert wurde und laut Handlung in Sevilla spielt: Alle Arien dieser Oper sind mehr oder weniger sympathische öffentliche Selbstdarstellungen, denn sie richten sich entweder an reale Zuhörer (die Arien von Bartolo, Graf, Rosina im 2. Akt und Basilio) oder – durch den Gestus von Text und Musik – an ein imaginäres Publikum (Figaro, Rosina im 1. Akt, Berta), in dessen Rolle natürlich wir, das Theaterpublikum, schlüpfen. Niemals belauschen wir jedoch eine intime seelische Zustandsbeschreibung wie beispielsweise bei den beiden Arien der Gräfin in Mozarts „Nozze di Figaro“. Es ist kein Zufall, dass es in dieser Oper kein Liebesduett gibt: An der einzigen Stelle, wo der Graf und Rosina mehrere Takte allein zusammen singen (im Terzett Nr. 14), erschöpfen sich beide – beinahe autistisch – in eitlen Koloraturen, deutlich mehr darauf bedacht, „dem Publikum“ als dem Partner zu gefallen, was auch prompt von Figaro karikiert wird. Amira Elmadfa 8 Überhaupt verwechseln beide – bedingt durch die großen Schwierigkeiten, einander „zu bekommen“ – das ganze Stück hindurch erotische Attraktion mit wahrer Liebe. Die Ensembles im „Barbiere“ sind nicht – wie in anderen Opern – eine theatralische Überhöhung von extremen emotionalen Lebenssituationen, sondern die Zuspitzung und das genüssliche Auskosten von theatralischen Situationen, die das Leben bietet. Insofern sind auch Rossinis oft zusammengestrichene, teils „wörtliche“, teils verzierte Wiederholungen nicht lästiger Tribut an veraltete Opera seria-Traditionen, sondern kongeniale Übertragungen des italienischen Humors in Musik. So ganz anders als der deutsche oder englische bezieht dieser seine Komik aus dem manchmal monotonen, manchmal ausgeschmückten wiederholten Nacherzählen von meist banalen Grundsituationen. Aus diesem Geist heraus entsteht in höchster Übersteigerung in der berühmten Stretta im Finale des ersten Aktes eines der frühesten Stücke absurden Theaters. Ebenso werden Rossinis überwältigende Crescendi zur genialen Umsetzung von neapolitanischen Diskussionen in Musik. Wo das Leben sich in theatralischen Gesten abspielt, steigert sich auch die Sprache immer mehr in melodische Schnörkel und Floskeln hinein – und wird bei Rossini zu „halsbrecherischen“ Koloraturen. Der neapolitanische Dialekt wird mehr gesungen, als die meisten anderen europäischen Sprachen, wobei die Worte selbst immer mehr Bedeutung verlieren. Insofern sind auch die Rezitative des „Barbiere“ keine in die hohe Kunst der Musik transportierten Texte, sondern – im richtigen Sprachrhythmus und „timing“ ausgeführt – nur in Tonhöhen fixierte „natürliche“ Sprache. Hier steht Rossini in nächster Verwandtschaft zu den 150 Jahre später entstandenen bis ins letzte inszenatorische Detail durchkomponierten Komödien Eduardo de Filippos. Wenn eine „normale Konversation“ psychologischen Untersuchungen zufolge rund 30 Prozent non-verbal abläuft, so beträgt dieser Prozentsatz in Neapel wahrscheinlich 50 bis 70 Prozent, denn die Kommunikation verläuft hier sehr viel stärker als anderswo über Körpergesten und 9 „Geräusche“. Und auch diese gehören zu einer Aufführung des „Barbiere di Siviglia“, da sie sich zwingend aus dem Duktus der Musik ergeben. In alten Live-Mitschnitten des Werkes ist dies wunderbar zu hören. Rossini stellt ein ständig gespieltes „alltägliches“ Theater auf die „wirkliche“ Theaterbühne; so entsteht ein doppeltes Spiel. Erst dadurch ist es uns möglich, diesen Personen, die nur in ihrer festgefügten Rolle zu leben imstande sind, hinter ihre schützende Maske zu blicken. Und wir entlarven sie schließlich alle als bemitleidenswerte Opfer. Will Humburg Gunnar Frietsch, Herrenchor und Statisterie 11 telenovela Die „Telenovela“ (spanisch: Fernsehroman) als eine spezielle Form der Fernsehserie stammt aus Lateinamerika. Dort hörten, schon lange vor dem Aufkommen des Radios, Arbeiterinnen in den Zigarrenfabriken während der Arbeit vorgelesene Fortsetzungsromane. 1930 übertrug man zum ersten Mal eine Radionovela und arbeitete Romane in Hörspiele um. In den 1950er Jahren entdeckte Lateinamerika den Fortsetzungsroman für das Fernsehen. Die erste Telenovela stammt aus dem Jahr 1950: „Sua vida me pertence“ war eine brasilianisch-kubanisch-mexikanische Koproduktion und wurde zweimal wöchentlich ausgestrahlt, „Sen da prohibida“ sieben Jahre später täglich. Die Themen und Handlungen der Radionovela wurden wie ein „Theaterstück“ vor der Kamera aufgeführt und „Teleteatro“ genannt. Die venezolanische Telenovela „Kassandra“ gelangte ins „Guinness-Buch der Rekorde“– als meistexportierte spanischsprachige Produktion aller Zeiten. Sie lief in 128 Ländern. 1986 fiel in Mexiko wegen Überlastung anlässlich einer Telenovela landesweit der Strom aus. Telenovelas und Seifenopern Anders als Seifenopern haben Telenovelas einen klar definierten Anfang und ein vorher festgelegtes Ende. Normalerweise dauern sie mindestens vier Monate bis maximal ein Jahr (80–250 Folgen). Während eine Seifenoper viele, voneinander unabhängige Handlungen in einem nie endenden Plot gleichberechtigt verfolgt, sind Telenovelas auf einem großen Handlungsbogen angelegt, die Hauptakteure bleiben hierbei immer leicht im Vordergrund. Neben dem gesprochenen Dialog untermalt entsprechende Mimik und Begleitmusik die dramatischen Situationen und die angestrebte Emotionalität. Produktionsweise Im Unterschied zu deutschen Soap-Produktionen wenden die lateinamerikanischen Telenovela-Produktionsfirmen oft hohe Summen für Kulissen, Kostüme, Make-up und Styling auf. Gleichermaßen machen sie öfter Außenaufnahmen und achten auf schöne Landschaftsaufnahmen. Man setzt Jiří Sulženko telenovela 10 Amira Elmadfa telenovela 12 13 Jiří Sulženko, Thomas Mehnert zudem auf bekannte und angesehene Schauspieler statt auf anonyme Newcomer. Da Telenovelas ein rasches Tempo einhalten müssen, arbeiten sie mit anderen Produktionsmethoden als gewöhnliche Serien. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben ein kleines Hörgerät im Ohr, das ihnen den Text und die dazugehörige Mimik und Gestik zuflüstert. Das erspart den Akteuren das Lernen von Texten und häufiges Wiederholen misslungener Szenen. Im Durchschnitt muss bei einer lateinamerikanischen Telenovela 43–50 Minuten sendefähiges Material pro Drehtag produziert werden. Bei einer deutschen Seifenoper wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sind es nur 25 Minuten, die man pro Drehtag erreichen muss. Sozialrelevanz und Realitätsflucht Menschen schätzen an der Telenovela ihren Unterhaltungswert. Die TVErzählung soll stattfinden, um dem Tagesablauf eine feste Struktur zu geben und gleichzeitig den Alltag aufzulockern. Da immer etwas passiert und moralische Positionen ständig hinterfragt werden, können die Zuschauer das Gefühl von Lebendigkeit erleben. Einige Telenovelas konnten bei ihrer Ausstrahlung soziale Effekte erzielen: Als die beiden Telenovelas „Lacos de familia“ und „De cuerpo y alma“ (in welchen es jeweils um eine leukämiekranke bzw. eine herzkranke junge Frau geht) liefen, schnellten Blut-, Knochenmark- und Organspenden drastisch in die Höhe. Trotz solch positiver Effekte von Telenovelas treten auch fanatische Nebenerscheinungen auf. Viele Zuschauer können nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. In Ungarn sammelten sie 75.000 Dollar und schickten das Geld der brasilianischen Botschaft, um die „Sklavin Isaura“ freizukaufen. Gegner der Telenovela monieren vielfach die stark idealisierte und realitätsferne Scheinwelt, die von Telenovelas geschaffen werde. Nach ihrer Auffassung sind derartige Serien mit ihren glamourösen Kulissen und stets gutaussehenden Akteuren sehr weit vom Alltagsleben entfernt. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt sind die auftretenden Figuren, die oftmals als hölzern und stereotyp bemängelt werden. Statt einer vielseitigen Darbietung werden die Charaktere auf einfältige Eigenschaften reduziert, sodass am Ende nur noch klischeehafte Polaritäten übrigbleiben. Viele Psychologen gehen davon aus, dass Telenovelas ihrem TV-Publikum vor allem als Realitätsflucht dienen. Die Glanzwelt der Telenovela täuscht die Zuschauer in den Slums und Favelas über soziale Missstände, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Demonstrationen hinweg. Zur Inszenierung Im „Barbier von Sevilla“ stellt sich der Regisseur Rechi dem Thema der medialen Fiktionalisierung: Die Geschichte vom Liebesglück des Grafen Almaviva und der jungen Rosina nutzt er als einen Stoff, aus dem die südamerikanischen Telenovelas gestrickt sind – zwei Liebende finden nach unzähligen Verwicklungen und Verwirrungen zueinander. Von dieser Setzung ausgehend zieht die Inszenierung eine zweite Ebene ein, auf der die Zuschauer den Dreharbeiten zu einer dergestaltigen Telenovela – „Alma Viva“ genannt – beiwohnen. Wo zu Beginn der Oper Fiorello, der Diener Almavivas, einigen Musikern Anweisungen für ihren Auftritt vor Rosinas Fenster erteilt, wird diese Gruppenszene in der Inszenierung als Filmsetting mit Kameraleuten, Maske und Kulissenschiebern etabliert; Fiorello avanciert zum Regisseur der Telenovela und ist um den reibungslosen Ablauf des Drehs bemüht („Piano, pianissimo – leise, leise …“). Des Weiteren wird z.B. auch durch die Umdeutung der Bediensteten Berta in eine das „Stargeflüster“ am Set aufschnappende Backstage-Reporterin oder durch eingeschobene Werbespots eine extrem künstliche TV-Welt kreiert, in der die Grenze zwischen Fiktion und Realität in einem humorvollen Spiel austariert wird. So erscheint zum Beispiel der Darsteller des Don Basilio immer wieder zur falschen Zeit im falschen Kostüm und sichtlich alkoholisiert am Set; der Darsteller des gräflich-edlen und zärtlich verliebten Almaviva mutiert zwischen den Drehs zur wahren ZickenDiva; und der Darsteller des Figaro, der seine Rolle innerhalb der Telenovela als homosexuellen Styling-Coach anlegt, erweist sich in den Drehpausen 15 als offensiver Womanizer. Durch solche Charakterambivalenzen und verdrehungen bekommen die auftretenden Figuren eine Art „zweites Gesicht“, das ihre Identität brüchig werden lässt. Der Musikjournalist Ulrich Schreiber stellt in seinem Aufsatz „schmeichelnde Karessen, drohender Ingrimm“ über Rossinis Opera buffa fest, dass bereits hier eine – von Stendhal in seiner Rossini-Biographie verkannte – Ironisierung der Personenführung vorliege, die durch die musikalische Struktur untermauert werde: „Musik ist nicht mehr wie in Mozarts Komödien ein Mittel zur Individuation des Menschen, Spiegel ihres Wachsens zu einer entwickelten Humanität. Rossini zeigt uns die Menschen als fremdgesteuerte Wesen. Wir haben es zu tun mit der Darstellung einer Selbstentfremdung in Vorwegnahme der gesellschaftlichen Auswirkungen der industriellen Revolution“. Heutzutage wird der Mensch in erhöhtem Maße fremdgesteuert durch mediale Einwirkung. TV und Internet vermitteln fiktive Bilder von Realität, die maßgeblich Einfluss nehmen auf unsere alltägliche Lebensgestaltung. Vom Ausmaß dieser Entwicklung zeugen die absurden Blüten, die unsere Tele-Manie treibt: Kaum ist z.B. in der Fernsehserie „Lindenstraße“ eine Figur ausgeschieden, so erhält der frei gewordene TV-Sender Zuschriften von Menschen, die sich ernsthaft um die vermeintlich freigewordene Wohnung bewerben. Zuschauer diskutieren über Figuren oder Darsteller von Soaps, Telenovelas oder RealitySoaps, als seien die ihre besten Freunde; ein Getränk, das in einer Soap oder Telenovela getrunken wird, wird von den Zuschauern vermehrt gekauft. Eine riesige Merchandising-Maschinerie begleitet die TV-Träume vom Glück. Und besonders im Bereich der Liebe fallen wir nur allzu gerne den immer monströser verkitschten Scheinbildern medialer Konstruktionen anheim. Inge Zeppenfeld i n s z e n ieru n g 14 oper 16 Es war ein echt italienisches Musikstück, aus irgendeiner beliebten Opera buffa, jener wundersamen Gattung, die dem Humor den freiesten Spielraum gewährt, und worin er sich all seiner springenden Lust, seiner tollen Empfindelei, seiner lachenden Wehmut und seiner lebenssüchtigen Todesbegeisterung überlassen kann. Es war ganz Rossinische Weise, wie sie sich im „Barbier von Sevilla“ am lieblichsten offenbart. Die Verächter italienischer Musik, die auch dieser Gattung den Stab brechen, werden einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen, und sind vielleicht verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören, als Fugen von Sebastian Bach. Leid ist es mir um so manchen meiner Kollegen, z. B. um Rellstab, der ebenfalls dieser Verdammnis nicht entgehen wird, wenn er sich nicht vor seinem Tode zu Rossini bekehrt. Rossini, divino Maestro, Helios von Italien, der du deine klingenden Strahlen über die Welt verbreitest! Verzeih meinen armen Landsleuten, die dich lästern auf Schreibpapier und auf Löschpapier! Ich aber erfreue mich deiner goldenen Töne, deiner melodischen Lichter, deiner funkelnden Schmetterlingsträume,­die mich so lieblich umgaukeln, und mir das Herz küssen, wie mit Lippen der Grazien! Divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedankenschwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt! – Freilich, um die heutige italienische Musik zu lieben und durch die Liebe zu verstehen, muss man das Volk selbst vor Augen haben, seinen Himmel, seinen Charakter, seine Mienen, seine Leiden, seine Freuden, kurz seine ganze Geschichte, von Romulus, der das Heilige Römische Reich gestiftet, bis auf die neueste Zeit, wo es zugrunde ging, unter Romulus Augustulus II. Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für die Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, dabei sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hülfe, alles dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herabgleiten, und in jene Pantomimen, die von schmeichelnden Karessen zu drohendem Ingrimm überschnappen. Heinrich Heine 17 Juan Sancho, David Pichlmaier David Pichlmaier 18 Die Uraufführung des „Barbier von Sevilla“ Rossinis Sänger waren Madame Giorgi in der Rolle der Rosina, Garcia in der des Almaviva; Zamboni spielte den Figaro und Botticelli den Doktor Bartolo. Das Stück wurde am 26. Dezember 1816, (in Wirklichkeit am 20. Februar 1816!) im Theater Argentina uraufgeführt. (Es ist der Tag, an dem die Karnevals-Stagione in Italien beginnt.) Die Römer fanden den Anfang der Oper langweilig und sehr viel schlechter als den von Paisiello. Sie suchten vergeblich nach dessen unnachahmlich naiver Anmut und jenem Stil, der ein Wunder an Schlichtheit ist. Die Arie der Rosina „Sono docile“ schien aus dem Rahmen zu fallen; man sagte, der junge Maestro habe aus einer Naiven ein Mannweib gemacht. Besser werde das Stück dann beim Duett zwischen Rosina und Figaro, das von bewundernswerter Leichtigkeit und ein Höhepunkt von Rossinis Stil ist. Die Arie der „Calunnia“ hielt man für prachtvoll und originell; 1816 verstanden die Römer noch nichts von Mozart. Nach der großen Arie von Basilio vermisste man unentwegt und noch schmerzlicher die naive und manchmal ausdrucksstarke Anmut Paisiellos. Schließlich verlangten die Zuschauer, gelangweilt von der gewöhnlichen Musik zu Beginn des zweiten Akts und entrüstet über den völligen Mangel an Ausdruckskraft: „Vorhang zu!“ – was dann auch geschah. Von Seiten des römischen Publikums, das auf seine musikalischen Kenntnisse so stolz ist, war dies ein Akt der Arroganz, der aber, wie so oft, auch ein Akt der Dummheit war. Bei der nächsten Vorstellung am folgenden Tag wurde dass Stück in den Himmel gehoben; man wollte durchaus festgestellt haben, daß Rossini zwar nicht die Vorzüge von Paisiello hat, aber auch nicht die Mattheit seines Stils, ein schrecklicher Fehler, der den Spaß an den übrigen ziemlich ähnlichen Werken von Paisiello und Guide verdirbt. Seitdem der alte Meister geschrieben hat – die letzten zwanzig bis dreißig Jahre und seitdem das römische Publikum in der Oper weniger Konversation macht, kommt es vor, dass es sich bei den ellenlangen Rezitativen langweilt, die bei den Opern des Jahres 1780 zwischen den Musikstücken zu hören sind. Das ist so, als würde sich bei uns in dreißig Jahren das Parkett dazu 19 durchringen, die ellenlangen Entreakte unserer heutigen Tragödien für unverständlich zu befinden, weil man Mittel und Wege gefunden hat, die Pausen amüsant zu gestalten, mit Stücken für zwei oder drei Orgeln, die sich gegenseitig hochschaukeln, mit physikalischen Experimenten oder dem Lottospiel. Zu welcher Perfektion auch immer wir es in allen Künsten gebracht haben, wir müssen gewärtig sein, dass die Nachwelt die Unverschämtheit besitzt, auch so etwas zu erfinden. Stendhal Was die Liebe für die Seele ist, das ist der Appetit für den Leib. Der Magen ist der Kapellmeister, der das große Orchester unserer Leidenschaften dirigiert. Essen, Lieben, Singen, Verdauen sind die vier Akte der komischen Oper, die Leben heißt. Gioachino Rossini 20 Ensemble 23 Rossinis Antwort auf die Frage eines Briefeschreibers, welcher der beste Zeitpunkt für die Komposition einer Ouvertüre sei: Ich halte nichts vom Recht auf Arbeit; ich halte es lieber für das größte Recht des Menschen, nichts zu tun. Gioachino Rossini Am besten wartet man bis zum letzten Abend vor der Premiere. Nichts regt die Inspiration mehr an, als die Gegenwart eines Kopisten, der auf jedes der fertiggestellten Blätter lauert, und das Drängen eines angsterfüllten Impresarios, der sich die Haare büschelweise ausrauft. Zu meiner Zeit hatten alle Impresarios daher eine Glatze. Das Vorspiel zu „Otello“ komponierte ich in einem kleinen Zimmer des Palastes Barbaja, wo dieser kahlköpfigste und wildeste aller Theaterleiter mich mit einer Schüssel Makkaroni eingesperrt hatte, unter der Drohung, mich nicht vor Beendigung der Ouvertüre freizulassen. Das Vorspiel zur „Diebischen Elster“ musste ich am Tage der Uraufführung unter dem Dach des Scala-Theaters schreiben, wo der Direktor mich gefangengesetzt hatte. Ich wurde von vier Bühnenarbeitern streng bewacht, die jedes vollgeschriebenen Blatt sofort aus dem Fenster den unten wartenden Kopisten zuwerfen mussten. Falls es keine Notenblätter zum Hinabwerfen geben sollte, hatten sie die Anweisung, das gleiche mit mir zu tun. Beim „Barbier von Sevilla“ machte ich es mir einfacher: Ich schrieb überhaupt keine Ouvertüre, sondern nahm die der Oper „Elisabetta“, womit das Publikum sich höchst zufrieden zeigte. Das Vorspiel zum „Graf Ory“ schrieb ich beim Angeln, mit den Füßen im Wasser, während ein Herr Aguado mir einen Vortrag über die Finanzlage Spaniens hielt. Ganz ähnlich entstand die Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“. Zum „Moses“ gibt es überhaupt keine … 24 25 Juan Sancho, Amira Elmadfa, David Pichlmaier Die Verleumdung, Monsieur! Sie wissen nicht, was Sie da von sich weisen; ich habe die ehrenhaftesten Leute darunter leiden sehen. Glauben Sie mir, es gibt keine noch so platten Bosheiten, keine Scheußlichkeiten, keine Schauermärchen, die, wenn man es nur richtig anstellt, von den Müßiggängern einer großen Stadt nicht aufgenommen werden; und hier gibt es Leute, die haben darin ein Geschick … Zunächst ein kleines Gerücht, über dem Boden segelnd wie die Schwalbe vor dem Gewitter, es murmelt, pianissimo, und spinnt den vergifteten Faden weiter. Ein Mund nimmt es auf, und piano, piano, flüstert er es dem Nachbarn ins Ohr. Schon ist es geschehen. Das Übel keimt, schleicht, gewinnt an Boden, und rinforzando, von Mund zu Mund, vollführt es sein teuflisches Werk, bis plötzlich, man weiß nicht wie, die Verleumdung sich aufrichtet, sich bläht und entfaltet. Sie dringt vor, breitet sich aus, wirbelt umher, hüllt ein, reisst fort, zieht mit sich, bricht aus, dröhnt und wird, dem Himmel sei Dank, zum allgemeinen Schrei, ein öffentliches crescendo, ein universaler Chor des Hasses und der Verdammung. Wer, zum Teufel, sollte dem widerstehen? Caron de Beaumarchais: Der Barbier von Sevilla (Basilio) 27 Makkaroni à la Rossini 2 l Rinderbouillon, 60 g süße Sahne, 1 Messerspitze Bitterorangenschale, 400 g Makkaroni Für die Sauce 100 g Butter, 100 g bester geriebener Parmesan, 100 g geriebener Greyerzer Käse, 1 l Rinderbrühe, 20 g getrocknete Steinpilze, 4 gehackte schwarze Trüffeln, 200 g magerer Speck, 1 TL quatre épices, 1 Bouquet garni, 2 Tomaten, 200 g Sahne, 4 Gläser (400 ml) Champagner Zum Gratinieren Butterschmalz zum Einfetten der Form, 100 g geriebener Parmesan Käse, 100 g Butterflocken 2 EL weiße Semmelbrösel zum Bestreuen Zubereitung Die Rinderbouillon mehrmals passieren und mit der Sahne sowie der Orangenschale zum Kochen bringen. Die Makkaroni einlegen und kochen lassen, bis sie durchsichtig werden und gar sind. Dann die Makkaroni gut abtropfen und beiseite stellen. In einem irdenen Topf alle Zutaten für die Sauce vermengen und 1 Stunde lang köcheln lassen. Dann die Sauce durch ein Spritzsieb passieren und in der Bain-Marie (Wasserbad) warm halten. Eine zweite irdene Form mit flüssigem Butterschmalz ausstreichen, das man gleich wieder erkalten lässt. Dann eine Lage Sauce auftragen, darauf eine Lage Makkaroni setzen und diese mit Parmesan, Greyerzer Käse sowie einigen Butterflocken bedecken. Diesen Vorgang wiederholen, bis die Form voll ist. Auf die oberste Schicht ausreichend Semmelbrösel streuen und noch einige Butterflöckchen setzen. Die Makkaroni auf höchster Stufe im Backrohr gratinieren, bis die Oberfläche schön knusprig und braun ist. Zur Entstehung von Rossinis „Barbier von Sevilla“ Als das Jahr 1815 anbrach, gehörte der dreiundzwanzigjährige Gioachino Rossini zu den hochbegabten jungen Komponisten Italiens, denen Kenner zutrauten, den verwaisten Thron der Buffo-Oper, des musikalischen Lustspiels, einzunehmen. Domenico Cimarosa, Abgott der Opernliebhaber ganz Europas, war 1801 in Venedig gestorben, auf der Durchreise und so plötzlich, dass man munkelte, es sei dabei nicht ganz natürlich zugegangen. Rossini hatte Cimarosas Namen immer wieder mit Bewunderung nennen gehört, als er ein Kind war. Auch der zweite der namhaftesten Opernkomponisten Italiens kam als unmittelbarer Rivale Rossinis nicht mehr in Betracht: Giovanni Paesiello hatte sich seit längerem zur Ruhe gesetzt. Zwei weitere Italiener spielten im Opernleben Europas beachtliche Rollen, aber beide hatten ihre Tätigkeit ins Ausland verlegt: nach Paris. Luigi Cherubini feierte dort Triumphe und stieg zum Lieblingskomponisten Napoléons auf. Gasparo Spontini machte den Weg für ein Genre frei, das als „grand opéra“ französische Weltmachtträume spiegelte und durch den (ebenfalls zugewanderten) Giacomo Meyerbeer vollendet werden sollte. Rossini war die Hoffnung der italienischen Opernkreise. Seit seinem frühesten Werk „La cambiale di matrimonio“, das er als Achtzehnjähriger in Venedig erfolgreich aufführte, hatte er bis 1815 nicht weniger als dreizehn Stücke uraufgeführt. Darunter gab es Meisterwerke wie „Tancredi“ und „L’Italiana in Algeri“. Er war auf dem Gebiet der ernsten Oper so gut beschlagen wie auf dem der heiteren. Selbst aus den Werken, die bald wieder aus den Spielplänen verschwanden, waren nicht wenige Nummern im Gehör geblieben und sind bis heute beliebt. Das Jahr 1815 beginnt für Rossini schlecht. Im altberühmten Teatro Fenice in Venedig fällt seine Oper „Sigismondo“ durch. Er besitzt aber ein äußerst glückliches Naturell, Fehlschläge entmutigen ihn nicht, gegen Neid und Intrige ist er gefeit, da er sich nicht um sie kümmert, Triumphe machen ihn nicht übermütig. Wenn ein Werk scheitert, reagierte er nicht wie andere Komponisten: weder zerriss er die Partitur in einem Wutanfall noch beweinte er sie und sich. Er überlegte genau, welche Stücke aus der D ichtu n g u n d wahrheit 26 durchgefallenen Oper einer „Rettung“ würdig seien; und die verwendete er in einer späteren Oper mit vollem Erfolg. Im rasch vergessenen „Sigismondo“ steht ein Orchester-Crescendo, das aus einem Pianissimo unaufhaltsam zum Fortissimo anwächst: es wird in der Verleumdungsarie des „Barbier von Sevilla“ seine vollendete Wirkung erreichen. Im November dieses Jahres 1815 reiste Rossini nach Rom. Er hatte dort zwei Verträge zu erfüllen. Dem Teatro Bella Valle hatte er „Torvaldo e Dorliska“ zugesagt, mit dem Teatro de la Torre Argentina für den 15. dieses Monats die Aufführung einer heiteren Oper vereinbart, deren Textbuch dem Komponisten von der Leitung der Bühne „rechtzeitig“ übergeben werden sollte. Aber die Wahl verzögerte sich, da anscheinend die Zensur einige der gemachten Vorschläge nicht akzeptieren wollte. Schließlich schlug der hiermit beauftragte Librettist Cesare Sterbini einen sehr bekannten und beliebten Text vor, den er neu bearbeiten wollte: „Le barbier de Seville“, das erste Stück aus der aufsehenerregenden Trilogie des Franzosen Caron de Beaumarchais. Die Theaterfreunde waren von diesen Bühnenstücken angetan. Die mehrfache Vertonung des gleichen Stoffes kann für die Opernliebhaber von besonderem Reiz sein, sie eröffnet interessante Vergleichsmöglichkeiten. Aber für das italienische Publikum gab es gerade im Fall des „Barbier von Sevilla“ so etwas wie eine gefühlsmäßige Sperre. Der große, allseits verehrte Giovanni Paesiello hatte diesen Stoff vertont. Die Epoche mochte, nicht zuletzt in Operndingen, vergesslich sein. Doch Paesiellos Werk war, trotz des Vierteljahrhunderts, das ins Land gegangen war, ein lebendiger Begriff geblieben: Paesiello lebte noch, wenn auch längst vom Musikleben zurückgezogen, in Neapel. Rossini schrieb ihm einen Monat vor der festgesetzten Premiere des „Barbier von Sevilla“ einen höflichen Brief: ob der berühmte Meister etwas gegen eine abermalige Vertonung dieses Stoffes einzuwenden habe. Ebenso höflich antwortete Paesiello: er habe nichts dagegen. Dennoch zog Rossini es vor, seine Oper unter dem Titel „Almaviva ossia l’inutile precauzione“ („Almaviva oder die unnütze Vorsicht“) uraufführen zu lassen, um nicht von vorneherein Vergleiche mit dem überall Minseok Kim, Der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt 29 bekannten und beliebten Werk heraufzubeschwören. Als Rossini diesen Brief an Paesiello schrieb, hatte er anscheinend noch nicht mit der Komposition begonnen. Der Tenor Manuel García (der erste Graf Almaviva in dieser Oper) behauptete nämlich, Rossini, mit dem er in enger Verbindung stand, habe nur eine Woche für das Niederschreiben verwendet. Weitere zeitgenössische Zeugnisse sprechen von elf oder zwölf Tagen. Von dreizehn erzählte Rossini selbst, als er einige Jahrzehnte später mit Richard Wagner zusammentraf. Giuseppe Radiciotti, der sein Leben der Erforschung von Rossinis Werk widmete, kommt in klugen und logischen Beweisführungen auf eine Kompositionszeit von einem Monat. Da die autographierte Partitur sechshundert Seiten umfasst, ergibt dies zwanzig Seiten täglicher Leistung, eine kaum vorstellbare Geschwindigkeit, die selbst von Notenkopisten selten erreicht wird. Rossini aber schuf alles neu: Es muss in einem urgewaltigen Strom aus seiner Seele über seinen Kopf aufs Papier geflossen sein. Einen bis heute unklar gebliebenen Punkt gilt es, an dieser Stelle zu behandeln. Gab es eine eigene Ouvertüre zum „Barbier von Sevilla“? Die Musikhistoriker behaupten es. Diese soll spanische Volksmelodien enthalten haben, wohl um das Publikum auf die sich in Spanien abspielende Handlung einzustimmen. Wie fesselnd wäre es, ein solches Musikstück aus des Uritalieners Rossini Hand untersuchen zu können! Aber die „sinfonia“ zum „Barbier von Sevilla“ ist verlorengegangen. Nur eines ist sicher: Rossini selbst entfernte sie sehr bald; dem ersten Verleger des Werkes übermittelte er eine Kopie der Partitur mit einer ganz anderen Ouvertüre, und diese andere Ouvertüre erklang auch in Florenz und Bologna, wo der „Barbier von Sevilla“ noch im Jahr der Uraufführung gespielt wurde. Neu aber war diese Ouvertüre keineswegs: es ist die gleiche, die „Elisabetta“ eingeleitet hatte, also auch die gleiche, mit der 1813 „Aureliano in Palmira“ gespielt worden war. Sie weist ein Paar Pauken auf, die den heutigen Hörer des „Barbier von Sevilla“ aufhorchen lassen, denn im weiteren Verlauf der Oper werden sie nicht mehr gebraucht. Nicht nur die „sinfonia“ war in dieser Partitur sozusagen „gebrauchtes Musikgut“, das D ichtu n g u n d wahrheit 28 D ichtu n g u n d wahrheit 30 31 durch Neuverwendung erst seinen wahren Wert zeigen sollte. Aus „Elisabetta“ übernahm Rossini den zweiten Teil von Rosinas Auftrittslied. Almavivas Ständchen, als Kavatine bezeichnet, stand in zwei früheren Werken („Ciro in Babilonia“ und „Aureliano in Palmira“). Trotzdem war die Rossini zur Verfügung stehende Frist für die Komposition und Einstudierung unglaublich kurz. Zumal es bei ihm nicht wie bei Mozart gewesen zu sein scheint, dass er Werke, lange im voraus, völlig im Kopf entwerfen konnte, sodass die Niederschrift dann eben einem Kopieren aus dem Gedächtnis gleichkam. Rossini erfand viele seiner Melodien anscheinend erst im Augenblick, da er sich an die Kompositionsarbeit machte. Was an jenem Abend im Teatro Argentina zu Rom wirklich geschah, vermag niemand mehr zu rekonstruieren. Die Legende bemächtigte sich sofort der offenkundigen Ablehnung und machte einen ungeheuren Skandal daraus. Der Darsteller des Basilio soll bei seinem Auftritt gestürzt sein und seinen Part mit blutender Nase gesungen haben: zweifellos Anlass zu einer stürmischen Heiterkeit, die von den Autoren nicht beabsichtigt worden war. Eine Katze soll auf die Bühne gekommen, sich dort niedergelassen und neugierig das Publikum betrachtet oder gar laut miaut haben. Als einer der Sänger sie von dort mit einem Fußtritt in das Parkett beförderte und ein Zuschauer sie auf die Bühne zurückgeworfen haben soll, war es um die Aufmerksamkeit vollends geschehen. Sicher ist, dass Rossini sich nicht wesentlich gekränkt haben dürfte. Aber auch hier setzt die Legende ein. Sie erzählt, der außerordentlich beherrschte, ja phlegmatische Komponist habe es am nächsten Abend vorgezogen, das Theater gar nicht mehr zu betreten; mochte sein Werk ohne ihn in Szene gehen! Als er sich in seiner Herberge zur Ruhe legte, sei er kurz danach durch einen Tumult vor seinem Fenster geweckt und im Schlafrock auf den Balkon gerufen worden. Eine begeisterte Menge, die soeben aus dem Theater strömte, brachte ihm eine stürmische Huldigung dar. Kurt Pahlen Gioacchino Rossini Der Barbier von Sevilla Originalbesetzung der Produktion von 2015 Musikalische Leitung Will Humburg Inszenierung Joan Anton Rechi Bühne Alfons Flores Kostüme Sebastian Ellrich Choreinstudierung Ines Kaun Studienleitung Joachim Enders Musikalische Einstudierung Bartholomew Berzonsky / Irina Buch / Giacomo Marignani / Irina Skhirtladze Szenische Einstudierung Ansgar Weigner Abendspielleitung Stefanie Schmitt Inspizienz Marc Pierre Liebermann Maestro Suggeritore und Rezitative Gan Heffetz / Giacomo Marignani Mit: Graf Almaviva Minseok Kim / Michael Pegher / Juan Sancho Figaro, Diener des Grafen David Pichlmaier / Wolfgang Schwaiger Bartolo, Doktor der Medizin KS Thomas de Vries / Jiří Sulženko Rosina, dessen Mündel Amira Elmadfa Don Basilio, Musikmeister Vadim Kravets / Thomas Mehnert Fiorillo, Diener Almavivas Gunnar Frietsch / Michael Pegher Ambrosio, Diener Dr. Bartolos Wiktor Czerniawski Marzelline (Berta), Haushälterin Jana Baumeister / Katja Stuber Ein Notar Wiktor Czerniawski Ein Offizier Malte Godglück / Werner Volker Meyer | Der Herrenchor des Staatstheaters Darmstadt, Das Staatsorchester Darmstadt, Die Statisterie des Staatstheaters Darmstadt Anfertigung der Dekorationen und Kostüme in den Werkstätten des Staatstheaters Darmstadt. Technische Gesamtleitung Bernd Klein Bühneninspektor Uwe Czettl Leiter der Werkstätten Gunnar Pröhl Assistent Technischer Direktor / Technischer Leiter der Kammerspiele Jonathan Pickers Technische Assistenz Konstruktion Christin Schütze Leiterin Kostümabteilung Gabriele Vargas-Vallejo Leiter des Beleuchtungswesens Dieter Göckel Leiter der Tontechnik Alfred Benz Chefmaskenbildnerin Tilla Weiss Leiterin der Requisitenabteilung Ruth Spemann Leiter des Malsaals Armin Reich Kaschierwerkstatt Lin Hillmer Leiter der Schreinerei Matthias Holz Leiter der Schlosserei Jürgen Neumann Leiter der Polster- und Tapezierwerkstatt Roland Haselwanger 32 Gewandmeisterei Lucia Stadelmann, Roma Zöller (Damen), Brigitte Helmes (Herren) Schuhmacherei Anna Meirer Bühnenmeister Andreas Engelhardt Beleuchtungsmeister Dieter Göckel Produktionsassistentin Kathrin Krause Kostümassistentin Silke Ehrhard Ton Karl Krauss, Joachim Becker Requisite Christina Harres Maske Kerstin Enders, Denise Opheim, Thomas Mattstädt Textnachweise Die Inhaltsangabe und der Text über die Telenovela sind für die Aachener Barbier-Inszenierung von Inge Zeppenfeld geschrieben (Regie: Joan Anton Rechi, 2013) | Will Humburg: „Aus der Perspektive eines Dirigenten“. Erschienen im Booklet zur seiner CD-Einspielung (1993): Naxos Opera Classics: Rossini: Il Barbiere di Siviglia. | Heinrich Heine: Reisebilder Kapitel 56, 1826 | Stendhal: Rossini, Frankfurt/Main 1988. Nach Volker Scherliess: Gioachino Rossini, Reinbek 1991 | Thierry Beauvert/Peter Knaup: Rossini. Bonvivant und Gourmet, München 1997 | Kurt Pahlen: Gioachino Rossini: Der Barbier von Sevilla, Textbuch, Einführung und Kommentar, Mainz 2005 Dank an Inge Zeppenfeld für die Abdruck-Genehmigung ihrer Texte. Danke auch an Karin Dietrich für ihr Text-Material und die Einrichtung der Übertitel. Impressum Spielzeit 2015|16, Programmheft Nr. 4 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1 www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz | Redaktion: Gernot Wojnarowicz Fotos: Michael Hudler | Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt Ausführung: Hélène Beck | Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt Sollte es uns nicht gelungen sein, die Inhaber aller Urheberrechte ausfindig zu machen, bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden. Der Drehbuchautor hat Stress. Er hat keine Idee für einen neuen Film. Er muss zum Psychiater, der ihm rät, einen Notizblock neben sein Bett zu legen. Die Idee: einfach seine Träume aufzuschreiben, da findet er schon den Stoff für großes Kino. Nach unruhiger Nacht wacht der Autor eines morgens auf und liest, was er auf den Block gekritzelt hat … „Boy meets girl“.