Tierökologie Roland Gerstmeier Verhaltensökologie Grundstock sind ökologische Bedingungen abiotische Faktoren, Nahrung, Feinde, Fortpflanzungsansprüche Wie trägt Verhalten zum Fortpflanzungserfolg bei? Pionier: Nikolaas Tinbergen (1907-1988) Holländer 1973: Nobelpreis für Medizin, zus. mit Konrad Lorenz und Karl von Frisch Tierökologie Roland Gerstmeier Tinbergens 4 Fragen - die Frage nach dem "Warum" Warum singen Stare im Frühjahr? 1 Welche internen und externen Faktoren kontrollieren eine Verhaltensweise mit Hilfe welcher Mechanismen? Das ist die Frage nach den unmittelbaren oder proximaten Ursachen des Verhaltens: - Kehlkopfmuskulatur - neuronale und hormonelle Aktivierung u. Kontrolle - hoher Testosterongehalt im Frühjahr 2 Welche Konsequenzen hat eine Verhaltensweise letztendlich für den Überlebens- und Fortpflanzungserfolg eines Individuums? Das ist die Frage nach der evoluierten oder ultimaten Funktion des Verhaltens: - wozu zeigt ein Tier ein bestimmtes Verhalten - welche biologischen Funktionen hat das Verhalten - auf welche Weise trägt dies zur reproduktiven Fitness bei Männliche Stare locken paarungsbereite Weibchen an und/oder halten Rivalen aus dem Revier fern. 1 Tierökologie Roland Gerstmeier 3 Wie entsteht eine Verhaltensweise in der Ontogenese eines Individuums? Welche Faktoren beeinflussen die Entwicklung des Verhaltens? Stare singen, weil sie den Gesang von ihren Eltern und benachbarten Vögeln gelernt haben. 4 Wie ist eine Verhaltensweise im Laufe der Phylogenese einer Art entstanden? Der komplexe Gesang der Stare hat sich aus einfacheren, stammesgeschichtlich älteren Lautäußerungen entwickelt. Zusammenfassung Ultimate Faktoren zeigen, welchen Zweck bzw. welche biologische Funktion ein Verhalten erfüllt; sie beeinflussen den Überlebenswert Proximate Faktoren sind alle unmittelbar wirksamen Voraussetzungen für ein Verhalten bzw. Merkmal Tierökologie Roland Gerstmeier Natürliche Selektion Anpassung an Umwelterfordernisse 2 Tierökologie Roland Gerstmeier Schwalben ziehen im Herbst in den Süden ?? a) weil sie dort ein reicheres Nahrungsangebot vorfinden b) aufgrund der abnehmenden Photoperiode (Tageslänge) a) ultimate Ebene b) proximate Ebene Tierökologie Roland Gerstmeier Beispiel: Ökophysiologie thermophiler Wüstenameisen Silberameise – Cataglyphis bombycinus Sanddünenfelder, zentrale Sahara jagen tagsüber über 50-70°C heiße Sandflächen Wozu tun sie das (ultimate Funktion) und wie können sie das bewerkstelligen (proximate Mechanismen)? Welcher Selektionsdruck liegt hier vor und welche (physiologischen) Mechanismen erlauben eine Anpassung an diesen extremen, äußeren Selektionsdruck? 3 Tierökologie Roland Gerstmeier Biochemie/Ökophysiologie - Bestimmung der Grenztemperatur für die Expression der Hitzeschockgene - Messung Temperaturprofil Wüstenboden - Kritisches thermisches Maximum - Messung v. Metabolismusraten und H2O-Verlust Verhalten - Abkühlverhalten (Abkühlnischen) - Maß des Räuberdrucks (Eidechsen) Ergebnisse Ultimate Funktion: eine ökologische Extremnische explosionsartiger Auslaufpuls → 10 min radiales Ausschwärmen → Rückkehr nach 15-45 min (mit Beute) TAP = 46,5 ± 2,2 °C (Ameisenhöhe) → "outburst" → Rückkehr vor Erreichen von TKM = 53,6 ± 0,8 °C d.h. Beutesuchaktivität: TKM – TAP = 7 °C-Temperaturfenster Tierökologie Roland Gerstmeier Welcher Selektionsdruck hat zu diesem Verhalten geführt? a) Aasfresser (Hitzeleichen) → Beutesuche bei höchstmöglicher Temperatur b) Selektionsdruck durch Räuber (Acanthodactylus dumerili) 4 Tierökologie Roland Gerstmeier Proximate Mechanismen Set an molekularbiologischen, physiologischen und verhaltensbiologischen Adaptationen • Spezielle Hitzeschockproteine • Lange Beine ↔ vertikales Temperaturprofil • Bewegung in Maximalgeschwindigkeit → Konvektionsströmung → weitere Abkühlung • Abkühlnischen (erhöhte Objekte) • Räuber diesbezüglich gehandikapt Tierökologie Roland Gerstmeier Beispiel: Fortpflanzungsverhalten bei Löwen Eckdaten Panthero leo - Afrika, Restpop. Indien Rudel: 3-10 erwachsene ♀♀, 2-3 ♂♂ und einige Junge Territorium: 20-500 km², Überlappungen möglich ♀♀ verwandt; Repr.phase: 4.-18. Lebensjahr ♂♂ verlassen Rudel (3 Jahre), manchmal Brüder, versuchen neues Rudel zu erobern, können sich aber meist nur 2-3 Jahre halten; d.h. die reproduktive Lebensspanne eines Männchens ist kurz! Fakten (1) Östrus- und Geburtensynchronisation gleichzeitige Laktation Gemeinschaftssäugen 5 Tierökologie Roland Gerstmeier Fakten (2) 1x pro Monat östrisch Brunftdauer: 2-4 Tage Kopulationen alle 15-20 Minuten Wurfgröße: 1-6 Junge Hohe Jungensterblichkeit (z.T. 80% im ersten Jahr) 3000 Kopulationen pro Jungtier d.h. oft keine Ovulation bzw. häufig Fehlgeburten Fakten (3) Infantizid ♂ oder ♂♂ töten Jungtiere bei Rudelübernahme Gründe: ♂ will nicht die Jungen des/r Vorgänger übernehmen ♀♀ kämen erst nach 25 Monaten in neuen Östrus → ♀♀ kommen schneller in Östrus Tierökologie Roland Gerstmeier Das Leben in Gruppen Warum brüten Flamingos oder Pinguine so dicht zusammengedrängt; wieso bilden Pferde Herden und Sardinen Schwärme? Welches sind die ökologischen Faktoren, die das Zusammenleben in Gruppen begünstigen? Was beeinflusst die Gruppengröße? Nahrung, Raubfeinde 6 Tierökologie Roland Gerstmeier 1. Raubfeindvermeidung Guppyschwarm Erhöhte Wachsamkeit ↔ Überraschungseffekt Anzahl Raubfeinde Jeder Punkt = bestimmter Fluss Tauben < 10% Tierökologie Roland Gerstmeier Straußenherde Verdünnungseffekt Verringerung des Prädationsrisikos 7 Tierökologie Roland Gerstmeier Wasserläufer Fisch Tierökologie Roland Gerstmeier 2. Gruppenleben und Nahrungssuche Blutschnabelweber Quelea quelea Gruppe A sucht Wasser Gruppe B sucht Futter bei Durst bei Hunger 8 Tierökologie Roland Gerstmeier Gruppenleben: auch Fortpflanzungsmöglichkeiten sind wichtig ! → Imponierverhalten + Kampfvermögen Rothirsch - Brunft Reproduktionserfolg hängt vom Kampfvermögen ab allerdings Verletzungen 20-30% (Beinbrüche, Erblindung) Abschätzen des Kampfpotentials durch Imponiergehabe: 1. Röhren (Geschwindigkeit, Lautstärke) 2. parallel Laufen (Abschätzen aus geringer Distanz) 3. Geweihkampf (relativ selten) Tierökologie Roland Gerstmeier Sexueller Konflikt und sexuelle Selektion • Sind Balzrituale und Paarungsverhalten immer kooperativ? • Worin besteht der Konflikt als Kernstück der sexuellen Fortpflanzung? • Welche Hypothesen gibt es, die zeigen, wie genetische Vorteile durch sexuelle Selektion erzielt werden können? • Ist das Paarungsverhalten immer "harmonisch" ? Gottesanbeterinnen oder Spinnenweibchen fressen Männchen auf ! 9 Tierökologie Roland Gerstmeier Interessenskonflikt zwischen Männchen und Weibchen • Wahl des Paarungspartners • Versorgung der Zygote mit Nährstoffen • Fürsorge für Eier und Jungtiere Welches sind die fundamentalen Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Gameten ♂ ♀ Investitionsunterschiede d.h. Weitreichende Folgen für Sexualverhalten Tierökologie Roland Gerstmeier ♂ ♀ viele ♀♀ Nährstoffe mehr Eier / mehr Nachkommen Drosophila 10 Tierökologie Roland Gerstmeier Maximale, lebenslang gezeugte Nachkommenzahl See-Elefant ♂ ♀ 100 8 Rotwild 24 14 Mensch 888 69 26 28 Dreizehenmöwe Das Geschlechterverhältnis in der Natur gewöhnlich: ≠ "Vorteil für Art" 1:1 "Vorteil für Individuum" oder "Vorteil der Gene" Die Überproduktion von Söhnen oder Töchtern ist evolutionär nicht stabil ! ETHOLOGIE Roland Gerstmeier Genetische Vorteile ♀♀ wählen Paarungspartner, die offensichtlich Träger guter Erbeigenschaften sind optisches Erkennen = epigame Merkmale (geschlechtsgebunden) Andersson (1982) vorher nachher 11 ETHOLOGIE Roland Gerstmeier 2 Hypothesen: „Runaway Selektion“ und „Good-Genes-Modell“ (Fishers Hypothese) (Handicap-Prinzip) Männchen werden durch kunstvolle Geschlechtsmerkmale für Weibchen attraktiver (sexuelle Selektion) Weibchen bevorzugen ein bestimmtes männliches Merkmal = Qualität des Partners Die genetischen Grundlagen des attraktiven Ornaments des Vaters werden an dessen Söhne weitergegeben = sexy sons produzieren mehr Enkel als die Söhne anderer ♀♀ Die Präferenz des Weibchens für dieses Merkmal wird verstärkt, dies führt wiederum zu einer Vergrößerung des Ornaments = runaway process Tierökologie Roland Gerstmeier a) Merkmal und korrespondierende Präferenz liegen jeweils normalverteilt vor b) Merkmal und Präferenz werden genetisch gekoppelt c) Veränderung der durchschnittlichen Präferenz (roter Pfeil) führt zu Vergrößerung des Merkmals (blauer Pfeil) → freilaufender Prozess (schwarz) gestoppt durch natürliche Selektion (grüner dicker Pfeil) 12 ETHOLOGIE Roland Gerstmeier "Gute-Gene" - Modelle Epigame Merkmale ehrliche Signale Lebenstüchtigkeit ♂ Überdurchschnittliche Vitalität Gute Gene für ein überdurchschnittliches Leben "Good Genes" → Nützlichkeit für Überleben und Fortpflanzung Tierökologie Roland Gerstmeier Kooperation - die Ökologie des Sozialverhaltens - Konkurrenz Erhöhung der Fitness auf Kosten der Artgenossen Kooperation Erhöhung der eigenen Fitness und der des Kooperationspartners Warum sind nicht alle Tiere sozial? Ökologische Bedingungen: Fitnesskosten des Zusammenlebens sind höher als der daraus gezogene Nutzen 13 Tierökologie Roland Gerstmeier Wodurch können die Fitnesskosten erhöht werden ? zusätzlicher Wettbewerb um Nahrung und andere Ressourcen Störung der Fortpflanzung durch Konkurrenten erhöhte Anfälligkeit gegenüber Brutparasitismus („Kuckuckseier“) Stress, Krankheiten, Parasiten Infantizid, Ovizid Im Prinzip läßt sich unter den meisten ökologischen Rahmenbedingungen feststellen, dass die Evolution einer solitären Lebensweise begünstigt ist. Tierökologie Roland Gerstmeier Blaukiemen-Sonnenbarsch Lepomis macrochirus sozial + 50-100 %% bauen ihre Nester Seite an Seite - Nachbarn oder nicht nistende Gemeiner Sonnenbarsch Lepomis gibbosus solitär + Besitzen kräftige Kiefer; damit können sie eierliebende Schnecken einfach auffressen und sogar eierfressende Katzenwelse vertreiben Artgenossen fressen befruchtete Eier - Störungen bei der Partnerwerbung und beim Ablaichen durch Satelliten- %% - Eier-zerstörende Pilze können sich leicht von Nest zu Nest ausbreiten 14 Tierökologie Roland Gerstmeier Kooperation im Sozialverband • Vogeleltern • Insektenstaat • Rangkämpfe bei Primatenmännchen • Signalsprünge bei Thomsongazellen („stotting“) Warum kooperiert ein Tier, wenn es doch eigentlich seine eigene Fitness maximieren und diejenige der Konkurrenten minimieren sollte? Tiere kooperieren 1. mit Verwandten indirekte Weitergabe ihrer eigenen Gene (Verwandtenselektion, kin selection) 2. weil ihre Interessen übereinstimmen (Prinzip des beiderseitigen Vorteils) 3. weil sie vom Kooperationspartner getäuscht werden (Manipulation) Tierökologie Roland Gerstmeier Eltern diploider Tierarten tragen jeweils 50% zum Erbgut eines Nachkommen bei. Verwandtschaftskoeffizient r r ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gen eines Individuums durch Abstammung als identische Kopie in einem anderen Individuum vorliegt. Eltern und Nachkommen: Brüder und Schwestern: Großeltern, Enkel, Halbgeschwister: Vettern und Cousinen: r = 0.5 r = 0.5 r = 0.25 r = 0.125 Gesamtfitness („inclusive fitness“) hängt vom eigenen Fortpflanzungserfolg (direkte F.) und dem der näheren Verwandtschaft ab (indirekte F.). 15 Tierökologie Roland Gerstmeier Graufischer (Ceryle rudis) primäre Helfer: %% helfen Eltern sekundäre Helfer: %% unterstützen fremde Paare Aufschieber: %% setzen eine Brutsaison aus Tierökologie Roland Gerstmeier 16 Tierökologie Roland Gerstmeier Tierökologie Roland Gerstmeier Rückkehrrate im 2. Jahr: primärer Helfer sekundärer Helfer Aufschieber 54% 74% 70% w = 0.54 w = 0.74 w = 0.70 w = Überlebenswahrscheinlichkeit vom 1. zum 2. Jahr Partnerfindungs-Wahrscheinlichkeit im 2. Jahr (p): primärer Helfer 60% p = 0.60 sekundärer Helfer 91% p = 0.91 Aufschieber 33% p = 0.33 Berechnung der Fitness (f) im 2. Jahr: n x r x w x p = f2 primärer Helfer 2.5 x 0.5 x 0.54 x 0.60 = 0.41 sekundärer Helfer 2.5 x 0.5 x 0.74 x 0.91 = 0.84 Aufschieber 2.5 x 0.5 x 0.70 x 0.33 = 0.29 n = Nachwuchs brütender Vögel 17 Tierökologie Roland Gerstmeier Berechnung der Fitness (f) im 1. Jahr: j x r primärer Helfer = f1 + f2 = Gesamt-f f1 1.8 x 0.32 = 0.58 0.58 + 0.41 = 0.99 sekundärer Helfer 1.3 x 0.00 = 0 0.00 + 0.84 = 0.84 Aufschieber 0.0 x 0.00 = 0 0.00 + 0.29 = 0.29 j = zusätzlich erzeugter Nachwuchs durch Helfer 3 Schlussfolgerungen: 1. Altruistisches Verhalten primärer Helfer erhöht Fortpflanzungserfolg der Eltern + zusätzliche Geschwister genetischer Gewinn bzw. höhere Gesamtfitness 2. Gesamtfitness sekundärer Helfer liegt gar nicht so schlecht; ihre Chancen für eine eigene Fortpflanzung steigen im 2. Jahr 3. Untätigkeit („Aufschieber“) im 1. Jahr bringt den geringsten Ertrag aller möglichen Optionen Tierökologie Roland Gerstmeier Prinzip des beiderseitigen Vorteils (Kooperation) Kooperatives Jagen: Löwen Afrikanische Wildhunde, Hyänen Wölfe Mensch Kaffernbüffel Gnu, Zebra Elch Mammut 18 Tierökologie Roland Gerstmeier Süd-Zwergichneumon (Helogale parvula) Ordnung Carnivora Fam. Viverridae (Schleichkatzen) U.fam. Herpestinae = Ost-Zwergichneumon (Helogale hirtula) (Mungos) 9-30 Indiv. α-Paar + untergeordnete Helfer (nicht fortpflanzungsaktiv) Nachkommen des Zuchtpaares Einwanderer Tierökologie Roland Gerstmeier 3 Strategien spiegeln die durch direkte und indirekte Fitnesskomponenten beeinflusste Kosten-Nutzen-Gleichgewichte wider. 1. Warum helfen nicht verwandte Tiere? "-Tiere werden nach 5 Jahren von den ältesten subdominanten Tieren ersetzt a) Hilfeleistung hält Gruppe u. Territorium intakt b) vom Helfer aufgezogene Jungtiere werden Unterstützung leisten, wenn dieser sich selbst fortpflanzt c) Außenseiter könnte vertrieben werden, da das "-Paar keinen Vorteil von ihm hat Helferverhalten ist langfristige Investition für den eigenen Fortpflanzungserfolg 2. Subdominante Zuchttiere Älteren && wird manchmal die Fortpflanzung gewährt, damit diese nicht aus der Gruppe abwandern 3. Pseudoträchtigkeit Junge Helfer-& werden manchmal scheinträchtig (keine Junge) laktieren und säugen die Jungen des "-Paares. Sie sind mit "-Paar nahe verwandt indirekte Fitness 19 Tierökologie Roland Gerstmeier 3. Manipulationen Manipulationshypothese: Verhalten, das von der Seite eines Donors wie Altruismus aussieht, ist in Wirklichkeit durch eine Manipulation des Empfängers zustandegekommen = „Kuckuckseier“ (bei Vögeln) (zwischen 2 Arten oder innerhalb einer Art) z.B. Schmarotzerhummel (Psithyrus) Hummeln (Bombus) 20