„Gesellschaft Schweiz“ Beitrag zum Themenschwerpunkt "Nachhaltige Entwicklung" an der Pädagogischen Hochschule Aarau, 3. & 10.10.2008 Hanspeter Stamm • [email protected] 1. Was ist Gesellschaft? Was macht Gesellschaft aus und was hält sie zusammen? 1.1. Grundbegriffe der Gesellschaftsanalyse • Gesellschaft als "menschliches Zusammenleben" • „Gesellschaft“ wird in der Soziologie i.d.R. umfassender verstanden als in der Nachhaltigkeitsdiskussion: Nachhaltigkeitsdiskussion Gesellschaft Soziologie Gesellschaft Wirtschaft Wirtschaft Umwelt • Umwelt Gesellschaften sind durch (funktionale) Differenzierung zwischen verschiedenen Teilbereichen (Teilsystemen) charakterisiert, die mit spezifischen Strukturen und Kulturen einhergeht. • Funktionale Differenzierung: „Aufgliederung eines sozialen Systems in verschiedenartige Elemente, um die einzelnen Funktionen des Systems durch Aufgabenspezialisierung besser realisieren zu können.“ Funktionale Differenzierung ≈ Arbeitsteilung zwischen Teilsystemen • Struktur: „Aufbau“ oder „Gliederung“ einer Gesellschaft; „relativ dauerhafte Gebilde und Handlungszusammenhänge eines Beziehungsgeflechts“; Strukturen findet man bezüglich: a) Gliederung der Gesamtgesellschaft in Teilsysteme und deren Beziehungen untereinander; b) Gliederung und Beziehungen innerhalb der Teilsysteme; c) Gliederung und Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft ( Sozialstruktur, Ungleichheit). • Kultur: „[...] das gesamte soziale Erbe, bestehend aus dem Wissen, den Glaubensvorstellungen, den Sitten und Gebräuchen und den Fertigkeiten [der Gesellschaftsmitglieder]“. (Quelle der Definitionen: Reinhold, G. (Hg.)(1991): Soziologie-Lexikon. München: Oldenbourg. 1.2. Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme Die zwölf Teilsysteme in der neueren Systemtheorie (Luhmann u.a.) Intimbeziehungen Peripherie Bildung Recht Gesundheitswesen Sport Wirtschaft Politik Zentrum Wissenschaft Religion Militär Massenmedien Kunst Quelle: Schimank, Uwe (2002): "Gesellschaftliche Teilsystem und Strukturdynamiken". S. 15-49 in: Ute Volkmann und Uwe Schimank (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen II. Opladen: Leske+Budrich. /1 Codes und Funktionen der Teilsysteme Teilsystem Code Medium Funktion Politik Macht/Ohnmacht Macht (öffentliche Ämter) Kollektive Entscheidungsfindung Recht recht/unrecht Recht, Rechtmässigkeit Konflikte schlichten Wirtschaft Gewinn/Verlust Geld, Eigentum Profit, Herstellung und Verteilung von Gütern Wissenschaft wahr/unwahr Wahrheit Wissen schaffen Gesundheitswesen gesund/krank Diagnose/Behandlung Gesundheit erhalten Religion Diesseits/Jenseits Glaube Weltdeutung, Sinn stiften Kunst schön/hässlich Kunst Erbauung, Reflexion Bildung gute/schlechte Zensuren Bildung Qualifikation, Sozialisation Sport Sieg/Niederlage Leistung, Rekord Aufstellen von Rekorden, Unterhaltung Medien Nachricht/Nichtnachricht Information Information, Unterhaltung Militär Krieg/Frieden Waffen Macht durchsetzen, Sicherheit Intimbeziehungen (Familie) Zuneigung/Abneigung Vertrauen/Liebe Beziehungen, Vertrauen schaffen Quelle: Zusammenstellung M. Lamprecht auf der Grundlage der Angaben bei Schimank (2002). 2. Der Mensch in der Gesellschaft (Ungleichheit und Sozialstruktur) 2.1. Von der gesellschaftlichen Differenzierung zur Sozialstrukturanalyse • Menschen spielen Rollen und nehmen Positionen ein in den verschiedenen Teilsystemen Frage nach unterschiedlichen Rollen in unterschiedlichen Teilsystemen Frage nach Inklusion und Exklusion in den Teilsystemen Frage nach Positionen in den Teilsystemen • Weil eine vollständige Analyse aller Rollen und Positionen in allen Teilsystemen unübersichtlich ist, bedient sich die Forschung eines Kunstgriffs: Sie reduziert die Analyse auf besonders wichtige Teilbereiche und Merkmale der Gesellschaftsmitglieder: Arbeitsteilung (im Erwerbsleben) als Basis der Bestimmung zentraler Bereiche Zentrale Merkmale: Geld und Einkommen aus Erwerbsarbeit als "Generalnenner der Schichtung" (Volker Bornschier) in modernen, kapitalistischen Gesellschaften Grundmodell der Ungleichheitstheorie relevante Merkmale • Lebenschancen • Einstellungen • Lebensbedingungen • Wahrnehmungen • Handlungsmöglichkeiten • Handlungen /2 2.2. Ausgewählte Ansätze zur Sozialstrukturanalyse (Ungleichheitstheorien) a) Vergleich von Schicht- und Klassenansätzen Klassentheorie (Konflikttheorie) Schichttheorie (Funktionalismus) Funktion und Legitimation der Ungleichheit Erhaltung von (angestammten) Privilegien Optimale Besetzung von Positionen und Funktionen im Hinblick auf das Überleben und Wachstum der Gesellschaft Bewertungskriterien/ Verteilungsmechanismen konfliktiv; Machtprozesse konsensual; Marktprozesse Art und Ziel von politischen Interventionen interventionistisches Modell: Gleichheit im Ergebnis liberales Modell; Chancengleichheit Zentrale Ungleichheitsdimsionen Eigentum, Machtressourcen Bildung, Beruf und Einkommen Graphische Veranschaulichung „Kapitalisten“ Bildung (Investitionen, Prestige) „Proletariat“ Beruf (Prestige, Macht) Einkommen als „Generalnenner „ der Schichtung (Macht, Privilegien) Quelle: Eigene Zusammenstellung auf der Basis von: Stamm, Hanspeter, Markus Lamprecht und Rolf Nef (2003): Soziale Ungleichheit in der Schweiz. Zürich: Seismo. b) Kritik an den konventionellen Schicht und Klassenansätzen sowie Lösungsvorschläge Kritik... ...Lösungsvorschläge Das Bild vertikal übereinanderliegender Schichten/ Klassen stimmt nicht • Statusinkonsistenz • soziale Lagen Die tatsächliche Struktur ist komplizierter • zusätzliche Merkmale und „neue“ Ungleichheiten* • soziale Lagen, Lebenslagen Die Struktur hat sich verändert • „Neue“ Ungleichheiten* Die Modelle sind zu arbeitszentriert; NichtErwerbstätige werden vergessen • Zentrum-Peripherie-Ansatz Verhalten lässt sich nicht korrekt oder nur unvollständig voraussagen • komplexere Modelle • „struktureller und kultureller Relativismus“ • Milieu- und Lebensstilansätze * Die „neuen“ und zusätzlichen Ungleichheitsmerkmalen umfassen u.a.: Geschlecht; Alter; Stellung im Lebenslauf; soziale, regionale und nationale Herkunft; Einbindung in soziale Netzwerke; Einbindung in Netzwerke der sozialen Sicherung (z.B. Altersvorsorge); Risikobetroffenheit (z.B. Arbeitslosigkeit, Umweltrisiken) c) Erweiterung I: Erweitertes Schichtmodell Soziale Herkunft; Status (Bildung, Beruf) der Eltern Bildung (Investitionen, Prestige) Beruf (Prestige, Macht) Einkommen (Macht, Privilegien) „Intervenierende Variablen“ (z.B. Geschlecht, Nationalität, Alter, Wohnregion) Quelle: Stamm, Hanspeter und Markus Lamprecht (2004): Entwicklung der Sozialstruktur. Neuchâtel: BFS. /3 d) Erweiterung II: Zentrum-Peripherie-Ansatz Sozialer Status 1) Zentrum (Erwerbstätige): 49.5% (1970: 45.5%); davon: 1a) vollzeit Erwerbstätige: 34.3% 1b) teilzeit Erwerbstätige: 12.9% 1c) Erwerbstätige ohne Angaben des Arbeitspensums: 2.3% 3) jüngere Semiperipherie: 23.8%, (1970: 29.1%) davon: 3a) Kinder: 17.1% 3b) junge Semiperi pherie: 6.7% Soziale Herkunft; Status (Bildung, Beruf) der Eltern Bildung (Investitionen, Prestige) Beruf (Prestige, Macht) Einkommen (Macht, Privilegien) 4) ältere Semiperpherie: 16.6% (1970: 11.4%) 2) abhängiges Zentrum: 5.4% (1970: 13.0%) 5) Peripherie: 4.8% (1970: 1.2%) Alter Quelle der Zentrum-Peripherie-Typologie für 1970 und 2000 ist die Volkszählung des BFS; vgl. Stamm, Hanspeter und Markus Lamprecht (2004): Entwicklung der Sozialstruktur. Neuchâtel: BFS. 3. Sozialstruktur, Ungleichheit und Nachhaltigkeit: Zusammenfassende Bemerkungen 1) Gesellschaft differenziert sich in verschiedene Teilsysteme mit spezifischen „Funktionslogiken“ und Ansprüchen aus; diese unterschiedlichen Ansprüche gilt es zu beachten und aufeinander abzustimmen. 2) Die konkrete Position der Gesellschaftsmitglieder in der Gesellschaftsstruktur ist die Folge systematischer Zuweisungs- und Zuschreibungsmechanismen (z.B. höhere Bildung führt zu einem anspruchsvolleren Beruf, der mit einem höheren Einkommen einhergeht). 3) Die Position in der Gesellschaftsstruktur beeinflusst die „Weltsicht“ und die Handlungspräferenzen der Gesellschaftsmitglieder (z.B. Lebensstil, politische Präferenzen1). 4) „Soziale Nachhaltigkeit“ muss diese soziostrukturellen Gegebenheiten berücksichtigen und auf sie einwirken (z.B. Chancengleichheit, Reduktion der Ungleichheit, Inklusion von benachteiligten Gruppen) 4. Stichworte zur aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung in der Schweiz Verschiedene, miteinander verknüpfte Prozesse in verschiedenen Teilsystemen führen zu einem komplizierten und unübersichtlichen Geflecht von Ursachen und Wirkungen. Ausgewählte Prozesse und Hinweise: • Globalisierung als Bedrohung und Chance: Einschränkung autonomer Handlungsspielräume der Politik vs. ökonomischer Effizienzgewinn? • Sozialstruktur: Auseinanderdriften von hohen und tiefen Einkommen (?), neue Armut und soziale Sicherung, Herausforderungen an das Gebot der Chancengleichheit (z.B. "Begabtenförderung" vs. gleiche Bildung für alle)? • Struktureller Wandel des Wirtschaftssystems: Welche Qualifikationen verlangt die globalisierte Dienstleistungsgesellschaft? • Demographischer Wandel: Überalterung vs. "endlich Platz!"? • Wertewandel vs. Auflösung der Kultur vs. multikulturelle Gesellschaft vs. "Weltkultur"? 1 Zwischen der sozialen Lage und den Einstellungen zur Umwelt finden sich nur geringe Zusammenhänge: eine hohe Umweltqualität gilt unabhängig von der sozialen Lage als wichtiger Zielwert. /4