ZSR 55 (2009), Heft 3, S. 293-316 © Lucius & Lucius, Stuttgart Christine Trampusch Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen Die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in den Niederlanden ∗ F F In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung wird vermehrt auf den Einfluss religiöser Überzeugungen verwiesen. Als Vermittler religiöser Ideen gelten vor allem politische Parteien. Anhand einer prozessanalytischen Rekonstruktion der Entstehung der niederländischen Arbeitslosenversicherung zeigt dieser Artikel, dass der Faktor Religion nicht nur durch die politischen Parteien, sondern auch durch das Verbändesystem und die industriellen Beziehungen auf die Ausformung von Sozialpolitik wirkt. Einleitung In den letzten Jahren hat in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung die Frage des Einflusses religiöser Ideen und religiöser politischer Kräfte auf die Ausgestaltung und Entwicklung von Sozialpolitik zunehmend Aufmerksamkeit erfahren (Kaufmann 1988; Manow 2004; Kahl 2006, 2009; Kersbergen/Manow 2009). Die politikwissenschaftliche Forschung zentriert sich auf die Rolle politischer Parteien und parteipolitischer Koalitionen. Als Referenzfall für das Religionsargument gilt nicht selten die Formierung des niederländischen Wohlfahrtsstaates. Diese erfolgte aufgrund des Industrialisierungsrückstandes und der starken religiösen Segmentierung der Gesellschaft nicht nur verspätet, sondern auch mit einer ausgeprägten Tradition an Selbstregulierung (Becker/Kersbergen 1986; Cox 1993; Kersbergen 1995, 2009; Hoogenboom 2004). Die Segregation eines großen Teils der Bevölkerung und der gesellschaftlichen und politischen Gruppen nach protestantischen, katholischen, sozialistischen und liberalen Weltanschauungen und Überzeugungen („Versäulung“; umfassend dazu: Lijphart 1968) spitzte sich in der Frage der gesellschaftlichen und staatlichen Rollenverteilung bei sozialpolitischen Aufgaben darauf zu, dass die Konfessionellen „Souveränität im eigenen Kreis“ und „Subsidiarität“, und damit eine zurückhaltende Rolle des Staates in der Sozialpolitik forderten. In der Arbeitslosenversicherung materialisierte sich dieses Selbstregulierungsprinzip darin, dass die Katholiken und reformierten Protestanten gemeinsam darauf drängten, diese in die Hände der von Gewerkschaften und Arbeitgebern verwalteten Branchenvereinigung zu legen. Nachdem 1938, kurz vor der deutschen Besatzung, ein entsprechender ∗ Ich danke den Gutachtern dieser Zeitschrift für ihre sehr konstruktiven Kommentare. Der Artikel entstand im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projektes ‘The Privatization of Welfare States: Industrial Relations as a Source of Benefits’ (SNF Nummer: 100012 - 119898). 294 Christine Trampusch Vorentwurf formuliert worden war, wurde dieses Prinzip mit dem Arbeitslosigkeitsgesetz (werkloosheidswet, WW) im Jahre 1952 auch umgesetzt. Die Niederlande stellen für die Religionsliteratur einen typischen Fall dar. Gerring (2007: 91-93) folgend zeichnen sich typische Fälle dadurch aus, dass sie repräsentativ sind. Dies ermöglicht, solche Fälle mit Hilfe der fallinternen Methode der Prozessanalyse für explorative und induktive Fragestellungen einzusetzen, um Zusammenhänge zwischen Faktoren zu spezifizieren und kausale Mechanismen aufzudecken (Gerring 2007: 93). Dieser Artikel stellt eine heuristische, Hypothesen generierende Fallstudie (Lijphart 1971) über die Entstehung der niederländischen Arbeitslosenversicherung dar. Der typische Fall Niederlande erlaubt es, die Wirkung des Faktors Religion weiter zu spezifizieren. Anhand einer prozessanalytischen Rekonstruktion derjenigen politischen und gesellschaftlichen Sequenzen, die zwischen 1918 und 1952 zur Einführung der verpflichtenden Arbeitslosenversicherung führten, wird die Wirkungsmacht religiöser Ideen jedoch nicht nur als eine Funktion dominierender religiös orientierter politischer Parteien untersucht. Neben dem Einfluss von Akteuren und Koalitionen der territorialen Interessenrepräsentation im politisch-administrativen Raum werden vielmehr auch die Akteure und Koalitionen der funktionalen Interessenrepräsentation, also Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und die Arbeitsbeziehungen in den Blick genommen. Insofern schließt dieser Artikel an die neuere Religionsliteratur der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung nicht nur an, sondern er ergänzt diese auch durch eine Perspektive, die das Zusammenspiel zwischen Parteiensystem und industriellen Beziehungen in den Blick nimmt. Der Beitrag ist in fünf Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt fasst das Religionsargument zusammen und zeigt auf, dass die neuere Literatur sehr stark auf den Einfluss religiöser Parteien fokussiert und Klassen übergreifende, religiös begründete Koalitionen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden unzureichend berücksichtigt. Der zweite Abschnitt analysiert die territoriale Interessenpolitik, also die Dominanz der konfessionellen Kräfte im niederländischen Parteiensystem und deren ideologische Überzeugungen. Der dritte Abschnitt untersucht die funktionale Interessenpolitik. Er zeigt, dass sich in den Niederlanden die Gewerkschaften und die Tarifpolitik als Vollzugsträger der Sozialpolitik anboten und sich während der formativen Phase des niederländischen Wohlfahrtsstaates eine klassenübergreifende konfessionelle Bindung zwischen Arbeit und Kapital herausbildete. Beide Abschnitte machen deutlich, dass sowohl bei den Parteien als auch bei den Arbeitsmarktpartnern die religiösen Kräfte dominierten und die Katholiken und reformierten Protestanten gemeinsam die Idee unterstützten, die Arbeitslosenversicherung den Branchenvereinigungen zu übertragen. Darüber hinaus gilt es jedoch, zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen: zum einen die gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen, die die Gewerkschaften lange Zeit gegenüber einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung bevorzugten und die der Staat anerkannte und nach dem Ersten Weltkrieg auch zu 100 Prozent finanzierte; zum anderen die fortschreitende Institutionalisierung kollektiver Arbeitsbeziehungen und der Abbau der Spannungen zwischen den Arbeitsmarktpartnern in den 1930er Jahren. Der vierte Abschnitt skizziert, wie sich Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Ende der 1930er Jahre darauf einigten, die Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 295 Idee der Branchenvereinigungen umzusetzen. Der fünfte Abschnitt zieht Schlussfolgerungen. 1. Religion und Wohlfahrtsstaat Dass „die europäischen Gesellschaften auf dem Weg zur Modernisierung nicht an den Gegensätzen zwischen Liberalismus und Sozialismus zerbrochen“ sind, sei, so Franz-Xaver Kaufmann (1988: 65), auf die „Wirksamkeit christlichen Gedankengutes und christlich motivierter Persönlichkeiten sowie sozialer Bewegungen“ zurückzuführen. Neben sozio-ökonomischem Problemdruck (Wilensky 1975), den Herrschaftsinteressen politischer Eliten (Alber 1987: 74), den Machtressourcen der Arbeiterbewegung (Korpi 1983) sowie sozialstaatsfreundlichen Arbeitgeberverbänden (Swenson 2002) ist das Religionsargument in der Erklärung der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten mittlerweile breit akzeptiert (Manow 2004; Kersbergen/Manow 2009; Manow/Kersbergen 2009). Eine Reihe von Studien zeigen, dass die christliche Religion die Institutionalisierung staatlicher Sozialversicherungen nicht nur verzögerte, sondern auch deren spezifische Ausgestaltung beeinflusste. Das Christentum fundiert auf der Idee, dass es eine Aufgabe der Gesellschaft ist, soziale Verantwortung zu übernehmen. Es ist vor allem die Rolle des Katholizismus, und damit die Wirkung der Ideen der katholischen Soziallehre, die in einer ersten Reihe von Studien ausführlich thematisiert wurden (Schmidt 1982; Esping-Andersen 1990; Castles 1994; Kersbergen 1995). In Erwiderung der These, dass der Wohlfahrtsstaat Resultat starker sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Bewegungen ist, verwies dieser Literaturzweig auf die Rolle christdemokratischer und katholisch orientierter Parteien (vgl. Manow/Kersbergen 2009). Die Rolle der Christdemokratie wurde dabei als eine Ergänzung des Machtressourcen-Ansatzes von Walter Korpi (1983) konzeptionalisiert, denn ein wesentliches Motiv der Christdemokratie sei es gewesen, mittels der Sozialpolitik die Arbeiterbewegung an sich zu binden. Dass der Katholizismus über die Christdemokratie auf die Entwicklung der Sozialpolitik Einfluss genommen hat, wurde auch für den niederländischen Wohlfahrtsstaat aufgezeigt. So führt Kersbergen (1995, 2009) an, dass aufgrund der konfessionellen Parteien die Entwicklung des niederländischen Wohlfahrtsstaates zunächst verzögert wurde und dann nach dem Zweiten Weltkrieg ein Aufholprozess stattfand, der von einer sozialpolitikfreundlichen Koalition aus katholischen und sozialdemokratischen Parteien vorangetrieben wurde. Wesentlich für die politische Macht der konfessionellen Parteien sei die Einführung des Verhältniswahlrechtes 1919 gewesen. Dabei betrachtet Kersbergen (2009) jedoch vor allem die Ausgabenseite des Wohlfahrtsstaates und weniger die spezifische Ausformung der Sozialpolitik. Die Zwischenkriegszeit wie auch die Arbeitsbeziehungen werden in seiner Analyse ausgeblendet. Mit Cox (1993) und Hoogenboom (2004) wurden zwei weitere Monographien publiziert, die sich anhand des niederländischen Falles ausführlich mit dem Religionsargument auseinandersetzten. Während Cox (1993) in seiner Studie, auf die später noch zurückzukommen sein wird, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einnimmt, verdeutlicht Hoogenboom (2004), dass neben religiösen Ideen besonders in der Zwischenkriegszeit Eliten der alten niederländischen Landaristokratie sowie der reichen 296 Christine Trampusch städtischen Patrizierschicht entscheidend für die Ausgestaltung der Sozialpolitik waren. Neuere Studien der vergleichenden Wohlfahrtsforschung verfolgen das Religionsargument mit einer etwas differenzierten Perspektive, indem sie einerseits die enge Bindung zum Machtressourcen-Ansatz aufgeben, und andererseits die Rolle des Protestantismus und seiner Strömungen in den Blick nehmen. Dem Cleavage-Ansatz von Stein Rokkan folgend argumentiert Philip Manow (2004: 21-22), dass der Einfluss konfessioneller Faktoren sich auch unabhängig vom Klassenkonflikt vollzieht, denn religiöse Konflikte seien kein Nebenwiderspruch des Arbeit-Kapital-Konflikts. Manow (2004) hebt eine eigenständige Wirkung des Staat-Kirchen-Cleavages gegenüber dem Arbeit-Kapital-Cleavage hervor. In seiner Analyse zeigt Manow (2004) darüber hinaus, dass im Einfluss der Konfession zwischen Wirkungen des Katholizismus auf der einen und des Protestantismus auf der anderen Seite unterschieden werden muss. Die Protestanten vertraten nach Manow nämlich zwei unterschiedliche sozialpolitische Konzeptionen. Während die lutherische Tradition (Schweden, Deutschland) sozialstaatsfreundlich gewesen sei, hätten die reformierten Protestanten (Schweiz, Niederlande, Großbritannien, USA) einen Sozialstaatsskeptizismus vertreten. Diese Differenzierung, so Manow (2004: 4), ermögliche auch ein besseres Verständnis der Herausbildung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen, namentlich der Unterschiede zwischen den südlichen und kontinentalen Wohlfahrtsstaaten sowie zwischen den Konservativen und Liberalen. Der Band von Kersbergen/Manow (2009) schließt an diese differenziertere Sichtweise an und legt anhand einer Reihe von Fallstudien überzeugend dar, dass der Effekt des Faktors Religion sehr viel facettenreicher ist und nicht allein auf das Argument der Mobilisierung der Arbeiterklassen zurückzuführen ist (Manow/Kersbergen 2009). Manow/Kersbergen (2009) spitzen ihr Argument auf die These zu, dass die religiösen Konfliktlinien bezüglich des Verhältnisses von Staat und Kirche politische Parteienkoalitionen unterschiedlich strukturierten und diese unterschiedlichen Koalitionen auch zu Unterschieden in den wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungspfaden führten. Auch wenn also das Religionsargument durch die neue Literatur eine sehr gewinnbringende Ausdifferenzierung erfahren hat, so gilt auch hier, dass die Wirkung religiöser Ideen auf den Wohlfahrtsstaat vor allem auf politische Parteien zurückgeführt wird. Die Wirkung des Faktors Religion wird durch die Differenzierung innerhalb des Protestantismus zwar spezifiziert, es wird jedoch nur unzureichend berücksichtigt, dass neben dem Parteiensystem auch das Verbändesystem, namentlich Gewerkschaften und Arbeitgeber, als Transmissionsriemen fungieren können. Robert Cox (1993) hat diese eher gesellschaftszentrierte Perspektive auf den niederländischen Wohlfahrtsstaat angewandt. 1 Er zeigt in seiner Studie, dass die F 1 F Dass in den Niederlanden nicht nur der Staat, sondern auch gesellschaftliche Interessenträger – dabei insbesondere die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates entscheidend waren, ist ein in der Forschung zum niederländischen Wohlfahrtsstaat breit akzeptiertes Argument (vgl. z. B. Cox 1993; Roebroek 1993; Roebroek/Hertogh 1998). Insofern schließt dieser Artikel an diese Literatur an und verbindet sie mit den Parteien zentrierten Religionsstudien. Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 297 Entwicklung der niederländischen Sozialpolitik nicht nur durch eine Koalition zwischen Katholiken und Sozialdemokraten bestimmt wurde, sondern vielmehr die Versäulung der gesamten Gesellschaft in die Erklärung mit einzubeziehen ist (Cox 1993: 22). In den Niederlanden habe sich, so Cox (1993: 22-23), die Arbeitsteilung in der Bewältigung von gemeinsamen Aufgaben mit einer deutlichen Präferenz der politischen und gesellschaftlichen Kräfte für die Gesellschaft anstatt für den Staat herausgebildet. Besonders bedeutsam sei dafür gewesen, dass die Katholiken und die reformierten Protestanten die gemeinsame Überzeugung teilten, dass „öffentliche Aufgaben teilweise oder zur Gänze durch private Körperschaften“ (Cox 1993: 95) auszuführen seien. Der niederländische Wohlfahrtsstaat weise insofern eine spezifische korporatistische Prägung auf, namentlich eine religiös fundierte sowie gesellschafts- statt staatszentrierte, was sich gerade in der Entwicklung der Sozialpolitik widerspiegle. Cox (1993: 208) schlussfolgert: Also, while corporatism is often understood as a partnership between the state and societal interests to facilitate coordination of policy, the determination of religious forces to keep the state out of society led to the creation of corporatist institutions that are dominated by societal rather than state interests. An Cox (1993) anschließend argumentiert dieser Artikel anhand einer Rekonstruktion der Entstehung der Arbeitslosenversicherung, dass konfessionelle Kräfte, die im politischen Raum agieren, ihre spezifische Wirkung vor allem dann entfalten können, wenn sich in der Gesellschaft, mithin in den Arbeitsbeziehungen, eine Entsprechung findet und der Faktor Religion dort eine klassenübergreifende Koalition schafft. Eine kurze Gegenüberstellung des niederländischen mit dem deutschen Wohlfahrtsstaat möge die Bedeutung dieses Argumentes kurz illustrieren. Wie in den Niederlanden so finden sich auch im deutschen Parteiensystem Sozialpolitiker, die den Ausbau der Sozialpolitik – motiviert von der katholischen Soziallehre – unterstützten (Schmidt 1982; Manow 2001). Im Gegensatz zu den Niederlanden fehlte den deutschen konfessionell geprägten Sozialpolitikern jedoch eine entsprechend starke konfessionell begründete Kraft auf Seiten der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Dieser kleine Unterschied mag eine nicht unwichtige Differenz in der Entwicklung der beiden Wohlfahrtsstaaten plausibel machen. Während in Deutschland die Selbstverwaltung der Sozialversicherung als öffentlich-rechtliche Körperschaft institutionalisiert wurde – was auch den Überzeugungen der lutherischen Staatskirche näher kam –, wurde Selbstregulierung in den Niederlanden als Teil der Gesellschaft definiert und die Sozialversicherung den bipartistischen Branchenvereinigungen übertragen. Sozialpolitik wurde damit nicht als eine sozialstaatliche Aufgabe definiert, sondern vielmehr an der Schnittstelle von Tarifvertragssystem und staatlicher Gesamtverantwortung verortet. Der wesentliche Unterschied zwischen Deutschland und den Niederlanden besteht damit darin, dass in den Niederlanden – im Gegensatz zu Deutschland – die Tarifpolitik sozialpolitische Aufgaben übernahm. Die folgenden beiden Abschnitte zeigen, dass in den Niederlanden die Strukturierung der Gesamtgesellschaft durch den Faktor Religion eine wichtige Voraussetzung für diese Indienstnahme der industriellen Beziehungen war. Sowohl die territoriale als auch die funktionale Interessenrepräsentation waren in der Sozialpolitik stark von konfessionellen Überzeugungen geprägt. 298 2. Christine Trampusch Parteien, Religion und Sozialpolitik Die Niederlande entwickelten sich als eine versäulte Gesellschaft. Der Begriff der „Versäulung“ spricht die „Mobilisierung, Organisierung und Disziplinierung“ eines großen Teils der Bevölkerung nach „parallelen, gegeneinander und polarisierten organisatorischen Komplexen [an], welche ... auf einer eigenen weltanschaulichen Grundlage aufgebaut waren“ (Peet et al. 1991: 15). Es gab in den Niederlanden innerhalb der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien protestantische, katholische, sozialistische und liberale Gruppen. Die konfessionellen „Säulen“ zeichneten sich darüber hinaus durch einen ausgeprägten Antiliberalismus und Antisozialismus aus. Die „Versäulung“ war in ihrem religiösen und liberalen Teil nun nicht nur älter, sondern auch fundierter als die Industrialisierung: „Die Gesellschaft war bereits segmentiert“, so Rooy (1978: 214), „als sich nach 1890 die industrielle Entwicklung durchsetzte, und war nicht mehr durch moderne klassengebundene Parteien zu erobern.“ Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, also die kritische Phase der Formierung der Arbeitslosenversicherung, ist von einer Dominanz der Protestanten und Katholiken geprägt. Die Situation grenzt sich damit sehr stark von der ab, die bis dahin die Politik bestimmte. War bis zu den Wahlen 1918 das politische Kräfteverhältnis der einzelnen „Säulen“ relativ ausgewogen, so gewannen in der Zwischenkriegszeit sowohl unter den Parteien als auch unter den Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen die Protestanten und Katholiken zunehmend an Gewicht. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1917 zeigte damit auch, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung hinter die Konfessionellen stellte. Dies hatten weder die Liberalen noch die Sozialdemokraten erwartet (vgl. hierzu Roebroek 1993: 51). Vor allem die Frauen stellten dabei ein bedeutendes Wählerpotential für die konservativen und konfessionellen Kräfte dar. 2 Die drei konfessionellen Parteien, die Roomsch-Katholieke Staatspartij (RKSP) sowie die beiden protestantisch-christlichen Parteien, die Anti-Revolutionaire Partij (ARP) und die Christelijk-Historische Unie (CHU), behielten in der Zwischenkriegszeit vor der liberalen Partei (Vrijzinning-Democratische Bond, VDB) und der Sociaal Democratische Arbeiderspartij (SDAP) klar die Oberhand. Die Zusammensetzung des Kabinetts wurde während dieser Zeit von der RKSP bestimmt, die gegenüber den protestantischchristlichen Parteien einen größeren Stimmenanteil besaß (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 175). Die Liberalen wurden politisch unbedeutend, die Sozialdemokratie wurde zur stärksten Oppositionskraft. Während die Sozialisten zwischen 1918 und 1939 jedoch nie mehr als 20 bis 22 Prozent der Stimmen erreichten, hatten die RSKP immer 30 bis 32 Prozent und die ARP und die CHU zusammen gut 18 bis 20 Prozent (vgl. Wolinetz 1989: 84-85). Erst im Jahr 1939, als die Koalition der Konfessionellen zerbrach, änderte sich die Situation: Fortan konnten die Sozialdemokraten durch die sogenannte ‚RoomsRode-Coalitie‘, die nach dem Ende der Besatzungszeit wieder aufgenommen wurde und bis 1958 hielt, die Regierungspolitik mitbestimmen, zumal sie das Sozialministerium innehatten (vgl. dazu Roebroek/Hertogh 1998: 508-510). F 2 F Ich danke einem der Gutachter für diesen Hinweis. Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 299 Für die konfessionellen Kräfte stellte die „Antithese“ 3 des Theologen Kuyper den ideologischen Grundpfeiler für die Abgrenzung zwischen den einzelnen „Säulen“ dar. Kuyper stellte eine „Kluft zwischen Glaube und Unglaube“ fest, die nicht „überbrückbar“ sei und er forderte, dass die Gläubigen ihre „eigenen konfessionellen Organisationen und Strukturen“ (Kruijt/Goddijn 1965: 122) gründen sollen. Durch die Dominanz der „Gläubigen“ bekamen die Konfessionellen in der Zwischenkriegszeit nun auch die Möglichkeit, die „Antithese“ politisch umzusetzen. Die sozialpolitische Diskussion wurde in der Zwischenkriegszeit von den Grundpositionen der katholischen und protestantischen „Säulen“ stark beeinflusst. Trotz der Abgrenzung hatten die Katholiken und Protestanten nun aber wichtige Gemeinsamkeiten, was das Verständnis der Beziehung von Staat und Gesellschaft anbelangt. Die Katholiken forderten die Einrichtung von Branchenvereinigungen, ein Konzept, das von J.A. Veraart 4 entwickelt wurde. Die Gewerkschaften und Arbeitgeber sollten in diesen Organisationen gemeinsam die Arbeitsbeziehungen regeln und die Sozialgesetzgebung ausführen. Die Rolle des Staates sahen die Katholiken minimalistisch, denn die Wahrung der „Souveränität“ hatte für sie die oberste Priorität. Der römisch-katholische Sozialminister Aalberse (1918-1925, RKSP) übertrug die Forderungen der katholischen „Säule“ schließlich in die Unterscheidung zwischen sozialer Gesetzgebung („sociale wetgeving“) und sozialer Reform („sociale hervorming“). Während die soziale Gesetzgebung, und damit die Intervention des Staates, nur soweit gehen sollte, soziale Missstände aufs erste zu beseitigen, sei es die Sache der Branchenvereinigungen und der Gesellschaft, die sozialen Aufgaben in die Hand zu nehmen (vgl. Ven 1948: 36-37). Unter „sozialer Reform“ verstand Aalberse: F F F F [D]ass Dinge, die durch den Staat ausgeführt werden müssen, allmählich durch die öffentlich-rechtlich anerkannte Wirtschaft übernommen werden können. Diese kann dann unter der Kontrolle des Staates, der das Allgemeinwohl zu berücksichtigen hat, ihre eigenen Verordnungen und Gesetze feststellen (Aalberse auf der Sitzung des Hohen Rates der Arbeit am 20. Januar 1940; zit. nach Ven 1948: 36; meine Übersetzung, CT). Gegenüber den Katholiken, die durch die beiden päpstlichen Enzykliken „Rerum Novarum“ (1891) und „Quadragesimo Anno“ (1931) stark beeinflusst wurden (Windmuller 1969: 22), gingen die Protestanten noch einen Schritt weiter. Immer wieder wandten sie sich explizit gegen die liberale Vorstellung einer autonomisierten und individualisierten Gesellschaft. Abraham Kuyper (1837-1920), Pastor der Nederlandse Hervormde Kerk, Gründer der protestantischen Partei ARP und von 1901 bis 1905 Ministerpräsident, formulierte die protestantische Anschauung über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Jahre 1891 betont anti-sozialistisch und anti-liberal (Peet et al. 1991: 77-78). Deutlicher als die Katholiken betrachteten die Protestanten die Gesellschaft als souveränen Bereich neben dem Staat. Für sie galt das Prinzip der „Souveränität im eige3 4 Die Antithese entstand in den Jahren zwischen 1868 und 1878 im Rahmen des Schulstreits (vgl. Stuurman 1983: 125-132). Der Katholik J.A. Veraart gilt als „Vater“ der Idee der Einrichtung von paritätisch besetzten Branchenorganisationen; vgl. Veraart (1918). Christine Trampusch 300 nen Kreis“ (souvereiniteit in eigen kring). 5 Der anti-revolutionäre Protestant Rudolph Slotemaker de Bruïne (1869-1941), der Aalberse von 1926 bis 1929 als Sozialminister folgte, beschrieb die „eigenen Kreise“ der Gesellschaft und ihre Beziehung zum Staat in einer äußerst prägnanten Form: F F Es ist unser Glauben, dass es nicht die Berufung des Staates ist, das soziale Leben von oben zu dominieren und es in vorgefertigte Linien zu pressen ... Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur ein paar zu nennen. Diese haben alle ihre eigene Natur, ihre eigene Autorität und Verantwortung ... Wenn der Staat die Bereiche der sozialen Versicherung und des sozialen Schutzes betritt, tut er dies subsidiär. Es sind die gesellschaftlichen Organe, die hier die Aktivposten bilden (zit. nach Roebroek 1993: 55; meine Übersetzung, CT). Somit vertraten die Protestanten einen Korporatismus, dessen ideelle wie organisatorische Grundlage der „eigene Kreis“ und die „Souveränität“ der Familie, des Betriebes oder der Branche darstellten. Die Rolle des Staates wurde dagegen darauf beschränkt, die Spontanität der Gesellschaft zu fördern und den gesellschaftlichen Gruppen Raum für korporative Zusammenarbeit bereitzustellen (vgl. Cox 1993: 64). Damit besaßen die Protestanten und die Katholiken in ihren Anschauungen einen wichtigen gemeinsamen Punkt, der sie deutlich von den Sozialisten unterschied. Während die Konfessionellen immer wieder als Verfechter der Branchenvereinigungen, für eine Verwaltung der sozialen Frage durch die Gewerkschaften und Arbeitgeber und in relativer Autonomie zu staatlicher Kontrolle eintraten, betrachteten die Sozialisten sozialpolitische Steuerung grundsätzlich als staatliche Aufgabe. Die Sozialisten hatten wenig Vertrauen in den konfessionellen Korporatismus, in die gesellschaftliche Kraft der Selbstregulierung. Vielmehr sollte der Staat die Behandlung und die Verwaltung der sozialen Frage in die Hand nehmen (vgl. Rigter et al. 1995: 89). In der Perspektive der Konfessionellen sollte Sozialpolitik dagegen explizit von unten nach oben wachsen. Die Konfessionellen betrachteten korporatistische Einrichtungen dementsprechend als private Organe (vgl. Cox 1993: 67). Diesem Konzept der Branchenvereinigungen folgend bemühte sich die katholisch-protestantische Koalitionsregierung in den 1920er Jahren, die Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung voranzutreiben (vgl. Roebroek 1993: 84-85; Bekkum 1996: 317; Roebroek/Hertogh 1998: 176). Bereits 1919 versprach der katholische Sozialminister Aalberse die Einführung einer Versicherung, 1921 und 1923 fragte er den Niederländischen Arbeitslosigkeitsrat (Nederlandse Werkloosheidsraad, NWR) 6 um eine Empfehlung. In der Haushaltsdebatte am 1. Dezember 1927 beauftragte schließlich die Zweite Kammer die Regierung mit dem Entwurf eines Gesetzes, F 5 6 F Für die Protestanten waren in der Frage der Branchenorganisationen vor allem die Ideen von P.S. Gerbrandy und Abraham Kuyper richtungsweisend (vgl. Rigter et al. 1995: 8889). Der Niederländische Arbeitslosigkeitsrat wurde bereits 1914 als Beratungsorgan für die Einführung einer Arbeitslosenversicherung gegründet. Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 301 woraufhin der damalige Sozialminister Bruïne (CHU) den Hohen Rat der Arbeit (Hooge Raad voor Arbeid) 7 um eine Empfehlung bat. Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die konfessionelle Präferenz für Selbstregulierung im niederländischen Parteiensystem stark verankert war. In der Arbeitslosenversicherung wurde das Konzept der Branchenvereinigungen verfolgt, das die Sozialpartner zu Vollzugsträgern deklarierte. Trotz der umfangreichen ideologischen Vorarbeit blieb das Konzept der Branchenvereinigungen, das die konfessionellen Kräfte einigte, in den 1920er Jahren dennoch nur eine Programmatik. Die Gründe dafür sind vor allem in der funktionalen Interessenpolitik, mithin bei den Gewerkschaften und Arbeitgebern zu suchen: Während die Arbeitgeber nicht bereit waren, für eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung Beiträge zu zahlen, zumal sie diese in der Auseinandersetzung um die Festsetzung der Löhne als Machtmittel der Gewerkschaften (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 91-92) betrachteten, hielten die Gewerkschaften an ihren Gewerkschaftskassen fest, mit der Folge, dass sie einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung skeptisch gegenüberstanden. Es kam hinzu, dass die Arbeitsmarktkrise Anfang der 1920er Jahre 8 sowohl unter den Arbeitsmarktpartnern als auch in den Regierungskoalitionen zu Spannungen führte. So traten auch noch Ende der 1920er Jahre in den Verhandlungen des Hohen Rates, in dem Vertreter der Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeber über den oben erwähnten Gesetzentwurf von Bruïne diskutierten, deutliche Meinungsverschiedenheiten auf. Die Mehrheit der Ratsmitglieder hatte gegen eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung Bedenken und lehnte Beiträge der Arbeitgeber ab (vgl. Hoogland 1940a: 547-550). Der folgende Abschnitt, der das Verhältnis zwischen industriellen Beziehungen, Religion und Sozialpolitik untersucht, zeigt aber nun, dass diese Spannungen zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass auch unter den Arbeitsmarktpartnern das Konzept der Branchenvereinigungen Fuß fassen konnte, weil auch hier die konfessionellen Kräfte überwogen. Es waren somit in den Arbeitsbeziehungen nicht etwa solche Gruppen, die den ökonomisch-politischen Konsequenzen der Industrialisierung eine dementsprechende Programmatik entgegengesetzt hätten, die die wesentlichen Akzente in der Auffassung über die „soziale Frage“ setzten, sondern Verfechter religiöser und weltanschaulicher Positionen. F F 7 8 F F Der Hohe Rat der Arbeit wurde auf Initiative des damaligen Arbeitsministers Aalberse im Oktober 1919 gegründet und kann als Vorgänger der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Verhandlungsinstitutionen betrachtet werden. Die Bedeutung des Hohen Rates lag vor allem darin, dass in diesem die „Säulen“ der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien auf „neutralem Boden“ (Windmuller 1969: 64) zusammentrafen. Die Depression ließ die Arbeitslosenquote zwischen 1920 und 1922 von 5,8 Prozent auf 11,2 Prozent ansteigen (vgl. Windmuller 1969: 55). 302 3. Christine Trampusch Industrielle Beziehungen, Religion und Sozialpolitik Wie verhielten sich nun die Arbeitgeber und Gewerkschaften zur Frage der Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung? Eine historischen Rekonstruktion der funktionalen Interessenpolitik lässt neben den konfessionellen Überzeugungen einen weitere Besonderheit der Arbeitsbeziehungen erkennen, die für die Arbeitslosenversicherung entscheidend war: die Tradition der gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen. Die Gewerkschaften hielten an diesen zunächst fest und opponierten demzufolge gegen eine verpflichtende Versicherung. Nach dem Ersten Weltkrieg anerkannte der Staat das System der freiwilligen gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen, finanzierte es und erklärte die Gewerkschaften damit zu Trägern der Arbeitslosenversicherung. Die Gewerkschaftskassen Wie in anderen Ländern auch ist die Entstehung der niederländischen Gewerkschaftsbewegung eng mit den von ihnen betriebenen Unterstützungskassen verbunden. Tabelle 1 zeigt, dass das niederländische Gewerkschaftskassenwesen nicht nur sehr ausdifferenziert war, sondern in den Jahren zwischen 1921 und 1940 auch ein stetiges Wachstum erlebte. Tabelle 1: Mitglieder in Gewerkschaftskassen, 1921 bis 1960 (in 1000) Gesamt Streik Arbeitslosigkeit Krankengeld Sterbegeld Geburt Reisekasse Armut Invalidität Tuberkulose Unfall Alter Umzug 1921 1926 1930 1936 1940 1947 1950 1956 1960 582 431 372 235 314 13 67 97 16 9 18 0 0 465 338 279 164 210 7 28 96 14 40 57 0 9 596 462 372 214 319 10 48 106 32 60 54 5 3 763 563 545 218 306 14 61 189 93 174 65 22 6 773 618 606 200 359 36 66 136 174 115 84 2 17 937 480 4 44 368 0 0 37 55 10 21 77 0 1141 676 0 62 271 0 9 313 202 17 62 36 0 1237 708 0 84 474 0 0 643 322 100 427 56 0 1317 621 0 108 470 0 0 580 291 40 405 174 0 Quelle: Leeuwen (1997b: 768, Tabelle 1) Die Arbeitslosenkassen gehörten dabei zu den wichtigsten Kassen. Leeuwen (1997b: 769) hebt hervor, dass in der gesamten Zwischenkriegszeit mehr als die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder in einer Arbeitslosenkasse versichert waren. Die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung wurde in den Niederlanden sehr früh von staatlicher Seite unterstützt. So wurde bereits 1906 in Amsterdam, Utrecht und Arnheim das Gent-System eingeführt, indem die Kassen kommunale Zuschüsse für ihre Ausgaben erhielten (Kuijpers/Schrage 1997: 85). Es folgten ande- Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 303 re Städte, so dass die Anzahl der Versicherten von 15.000 im Jahr 1905 auf 78.500 im Jahr 1913 anstieg (Kuijpers/Schrage 1997: 86). Mit dem Ersten Weltkrieg verschärften sich in den Niederlanden in einem besonderen Maße die Probleme auf dem Arbeitsmarkt und schienen die traditionellen Schutzsysteme (wie die Gewerkschaftskassen und die kommunale Armenfürsorge) diesem Problemdruck immer weniger gewachsen zu sein. 9 Nachdem im ersten Kriegsjahr die Arbeitslosigkeit um 176 Prozent anstieg (Kort 1940: 251), wurden die gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen und damit auch die Gewerkschaften an den Rand des Bankrotts gedrängt. Einen Einblick in die Bedrohung der Gewerkschaften durch die Arbeitslosigkeit geben Statistiken des Niederländischen Verbandes der Gewerkschaften (Nederlandsch Verbond van Vakvereenigingen, NVV). Beim Algemene Nederlandse Diamantbewerkersbond (ANDB) und im textilverarbeitenden Gewerbe, somit also in denjenigen Wirtschaftsbereichen, die zu jener Zeit als wichtige Zugpferde der Industrialisierung galten, waren zum 1. September 1914 ca. 96 Prozent bzw. ca. 78 Prozent der Mitglieder arbeitslos (vgl. Jong 1956: 126). Gerade für den NVV und die ihm angeschlossenen Einzelgewerkschaften bedeuteten „starke Kassen“ eine „starke Verhandlungsposition“ (Jong 1956: 56). So forderte der NVV auf einer Konferenz im Jahre 1914 das Reich auf, die Kassen anzuerkennen und sie finanziell zu unterstützen: F F [N]achdrücklich sollte festgestellt werden, ... dass wir die Arbeitslosenversicherung als ein eigenes Instrument der Organisationen betrachten und eine essentielle Pflicht der Gemeinschaft erkennen, dass diese die Versicherung subventioniert (zit. nach Jong 1956: 100; meine Übersetzung, CT). Mit der Notstandsregelung von Minister Treub (Noodregeling-Treub, 1914) unter der liberalen Regierung Cort van der Linden (1913-1918) wurde diesem Ruf entsprochen. Mit ihr, die auf eine Initiative des NVV zurückging, begann aber nicht nur ein neues Kapitel in der Geschichte der niederländischen Arbeitslosenpolitik, sondern auch in der der Gewerkschaften. Die Noodregeling-Treub legte fest, dass die Regierung die Ausgaben der Kassen zu 25 Prozent übernahm, wenn deren Vermögen unter den Stand des Vermögens vom 1. August 1914 sank. Der Staat hat dadurch die Gewerkschaften nicht nur vor dem finanziellen Kollaps bewahrt (vgl. Rigter et al. 1995: 25), sondern sie erstmals auch als politische Organisation der Arbeiter anerkannt und sie in dieser Funktion politisch und strukturell gestärkt (vgl. Jong 1956: 127; Windmuller 1969: 42-43). Durch den Arbeitslosigkeitsbeschluss (werkloosheidsbesluit) von 1917 übernahm der Staat schließlich zu 100 Prozent die Finanzierung der gewerkschaftlichen Unterstützungskassen. Das Reich und die Kommunen trugen die Kosten, die Ausführung blieb in den Händen der Gewerkschaften (vgl. Bekkum 1996: 256). Die Niederlande wechselten ferner vom Genter zum Dänischen System, insofern die Subventionen nun nicht die Ausgabenseite, sondern die Beitragszahlungen betrafen (Kuij9 Aufgrund der britischen Seeblockade 1914 mussten die Niederlande ihren Außenhandel zum großen Teil einstellen, was die Ökonomie aufgrund ihrer Außenorientierung empfindlich traf. Zu den ökonomischen Folgen des Ersten Weltkrieges vgl. Brugmans 1969: 432449. 304 Christine Trampusch pers/Schrage 1997: 89). Eine weitere Unterstützung der Kassen erfolgte schließlich durch das Arbeitslosenversicherungsnotgesetz (werkloosheidsverzekeringsnoodwet) von 1919. Dieses Gesetz verlängerte die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes der Kassen von sechs Wochen auf drei Monate (vgl. Rigter et al. 1995: 114). In den Niederlanden war somit bis zur Einführung der verpflichtenden Arbeitslosenversicherung im Jahr 1952 nur derjenige versichert, der auch Gewerkschaftsmitglied war. Dies bescherte den Gewerkschaften in der Zwischenkriegszeit einen beachtlichen Zulauf an Mitgliedern (vgl. Windmuller 1969: 205; Nijhof/Schrage 1984). Die staatliche Subventionierung der Kassen trug zu einer Ausbreitung und Zentralisierung der Gewerkschaftskassen 10 und damit auch der Gewerkschaften selbst bei. F F Tabelle 2: Anteil der Versicherten in gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen, 1893-1920 Jahr 1893 1896 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 Versicherte in einem zentralen Fonds (in Prozent aller Arbeiter) 45.8 66.7 54.4 52.9 58.3 60.1 55.0 59.1 61.3 61.1 61.8 65.9 65.4 71.3 86.0 99.1 99.1 99.6 99.1 Versicherte in Kassen mit kommunalen oder Regierungssubventionen (in Prozent aller Arbeiter) 3.1 18.9 31.3 30.1 36.0 44.0 44.4 44.0 80.9 81.9 79.4 81.8 91.0 90.5 Quelle: Kuijpers/Schrage (1997: 87, Tabelle 1). Tabelle 2 ist zu entnehmen, dass mit der Einführung der staatlichen Subventionen im Zuge des Ersten Weltkrieges der Anteil der lohnabhängigen Erwerbsbevölkerung, welcher über die Kassen gegen Arbeitslosigkeit versichert war, erheblich anstieg. Waren es 1914 65,4 Prozent, was im internationalen Vergleich ein extrem hoher Anteil ist, so stieg der Anteil 1917 bereits auf 99,1 Prozent. Im Zuge dieser Ausbreitung der Arbeitslosenkassen wurden insbesondere von den an den NVV angeschlossenen Gewerkschaften andere Unterstützungssysteme, wie die Kranken- oder Rentenleistungen, aufgegeben (vgl. Genabeek 1990: 7). Die Gewerkschaften wandten sich folgerichtig auch gegen die Einführung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung, weil sie damit die Position ihrer eigenen Kassen und damit auch ihrer Organisa10 Hatten 1913 nur 26 Gewerkschaften einen zentralen Fond für die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, so waren es 1917 bereits 51 (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 85-86). Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 305 tionen gefährdet sahen (Sol 2000: 55). Diese ablehnende Haltung behielten sie bis Mitte der 1930er Jahre bei (Kuijpers/Schrage 1997: 94). Die Arbeitslosenkassen bildeten so spätestens seit der Einführung der staatlichen Unterstützung einen Teil der Identität der Gewerkschaften. Dies war, wie bereits angesprochen, nicht nur bei der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung der Fall, sondern gerade auch bei der konfessionellen. So hob H. Amelink, Vordenker des protestantischen Christlichen Nationalen Gewerkschaftsverbandes (Christelijk Nationaal Vakverbond, CNV) und von 1931 bis 1941 Abgeordneter für die protestantische Anti-Revolutionaire Partij (ARP) in der Zweiten Kammer, in einer Schrift über die „moderne protestantische Gewerkschaftsbewegung“ im Jahr 1914 hervor, dass im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Unterstützungsleistungen bei Krankheit oder Tod, die Verwaltung der Arbeitslosenkassen in der Hand der Gewerkschaften bleiben müsse: Dennoch glauben wir, dass, wenn die Sozialleistungen bei Krankheit, Tod usw. genauso gut auf andere Weise unterstützt werden können, es für die Gewerkschaften gut ist, diese Sozialleistungen abzugeben. Die Sozialleistungen im Falle Arbeitslosigkeit sind anders zu handhaben. Diese Sozialleistungen sollten in den Händen der Gewerkschaften bleiben. Dies ist auch für die Gewerkschaften sehr wichtig. Die Gefahr ist ja groß, dass ein Arbeitsloser seine Arbeitskraft für einen niedrigeren Lohn als den jetzt gültigen Lohn anbietet. Es wird deutlich sein, dass hierdurch die Gewerkschaftsarbeit gefährdet ist. Auch kann niemand besser als die Gewerkschaften die Arbeitslosen kontrollieren. Deshalb würden wir bei einer möglichen gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenversicherung gerne den Weg beschreiten wollen, diese Sozialleistung den Gewerkschaften aufzutragen (zit. nach Peet et al. 1991: 221-222; meine Herv. und meine Übersetzung, CT). Dass die Gewerkschaften ein so großes Interesse an ihren Arbeitslosenkassen hatten, war v.a. strategisch begründet. Die Arbeitslosenkassen halfen nämlich nicht nur, den Lohndruck zu mildern, den die Arbeitslosigkeit verursachte. Wie bei den englischen trade unions waren die Kassen auch ein Instrument der Gewerkschaften, um sich gegen die „unorganisierten“ Arbeiter abzugrenzen und Mitglieder zu rekrutieren (vgl. hierzu auch Nijhof/Schrage 1984: 268-269). Überspitzt fasste die Nederlandse Vereeniging van Fabriekarbeiders diese trade-unionistische Position im Jahr 1929 folgendermaßen zusammen: „Nicht die Patrons sind unsere größten Feinde, sondern die unorganisierten Arbeiter.“ (zit. nach Nijhof/Schrage 1984: 269; meine Übersetzung, CT) Zusammenfassend gilt es das Folgende festzuhalten: Dadurch, dass der Staat die von den Gewerkschaften verwalteten Arbeitslosenkassen bezahlte, machte er die Gewerkschaften zu privaten Vollzugträgern der öffentlichen Arbeitslosenpolitik. Die Gewerkschaftskassen waren jedoch nur eine Voraussetzung dafür, dass die verpflichtende Arbeitslosenversicherung letztendlich den Tarifpartnern übertragen wurde. Eine andere Voraussetzung war, dass die religiöse Überzeugung der Selbstregulierung nicht nur das Parteiensystem, sondern auch das Tarifvertragssystem strukturierte. Wie im Folgenden ausgeführt wird, begründeten die religiösen Überzeugungen auch, dass die Tarifpolitik sozialpolitische Aufgaben übernahm (Branchensozialpolitik). Christine Trampusch 306 Versäulung und Branchenvereinigungen In den Niederlanden entwickelte sich nicht nur das Parteiensystem, sondern auch das Verbändesystem entlang religiöser und weltanschaulicher Positionen. Es waren die Liberalen, die 1871 mit dem Algemeen Nederlandsch Werklieden Verbond (ANWV) als erste einen nationalen Gewerkschaftsbund gründeten. 11 Im Jahr 1892 wurde das sozialistische Nationaal Arbeids Secretariaat (NAS) als Sektion der Zweiten Internationalen aufgebaut. Nachdem 1893 der Bond van Roomsche-Katholieke Werkliedenvereenigingen gegründet wurde und sich 1894 mit dem Algemeene Nederlandsche Diamantbewerkers Bond (ANDB) die erste Industriegewerkschaft formierte, kam es 1903 zur Gründung des sozialistischen Niederländischen Verbandes der Gewerkschaften (Nederlandsch Verbond van Vakvereenigingen, NVV) und 1909 schließlich zu der des protestantischen Christlichen Nationalen Gewerkschaftsverbandes (Christelijk Nationaal Vakverbond, CNV). 12 Entscheidend für das Fortschreiten der „Versäulung“ unter den niederländischen Gewerkschaften war dabei der große Eisenbahnerstreik von 1903, der mit einer Niederlage der Arbeiter endete, für die sich die einzelnen „Säulen“ der Arbeiterbewegung gegenseitig die Schuld zuwiesen. Auch wenn die Gewerkschaften formal unabhängig von den Parteien waren, so bestanden zwischen Gewerkschaften und Parteien innerhalb der jeweiligen Säulen enge Verbindungen (Leeuwen 1997b: 767). Waren bei den Arbeitgebern die konfessionellen Kräfte auch schwächer entwickelt als bei den Gewerkschaften (vgl. Windmuller 1969: 42), so folgte der Gründung des ersten nationalen Arbeitgeberverbandes, der Vereeniging van Nederlandsche Werkgevers (VNW, 1899) 13 , auch hier diejenige einer protestantischen Christelijke Werkgeversvereeniging (1918) 14 und einer Algemene Rooms-Katholieke Werkgeversvereeniging (1919). 15 Wie im Parteiensystem gewannen auch unter den Gewerkschaften die konfessionellen Kräfte in der Zwischenkriegszeit an Dominanz. Auch bei den Arbeitgeberverbänden hatten die konfessionellen Kräfte in dieser Zeit ein bedeutendes Gewicht. So hebt Windmuller (1969: 48) hervor, dass in F F F F F F F F F F einem Land, in dem Katholizismus und Calvinismus weit mehr bedeutete als die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft, neutrale Arbeitgeberverbände, die rein liberale Anschauungen vertraten, nicht die Interessen derjenigen Arbeitgeber vertreten konnten, die tief an die Bedeutung religiöser Überzeugungen in ihren ökonomischen, sozialen und politischen Handlungen glaubten. 11 Im Jahr 1876 spaltete sich vom ANVW ein protestantischer Verband ab, der sich Patrimonium nannte. 12 Zur Gründung der Gewerkschaften vgl. Hoefnagels 1974: 54-70, 107-114. 13 Die VNW wurde in Reaktion auf die von der Regierung beabsichtigte Einführung einer Unfallversicherung gegründet. 14 Bereits 1891 gründeten orthodoxe protestantische Arbeitgeber einen Verband, den Boaz. 15 Zur Gründung der Arbeitgebervereinigungen vgl. Windmuller 1969: 46-50. Dabei existierte von Beginn an ein Dualismus in der Struktur der Arbeitgebervereinigungen. Man trennte Fragen der Arbeitsbeziehungen (Löhne, Arbeitsbedingungen) vom allgemeinen wirtschaftspolitischen Engagement (Preispolitik, Steuern usw.). Dieser Dualismus schlug in eine organisatorische Spaltung um. Während der VNW für die Fragen der allgemeinen Politik zuständig war, galt die 1920 gegründete Vereeniging Centraal Overleg in Arbeidszaken voor Werkgeversbonden als Verhandlungsgremium für die Arbeitsbeziehungen. Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 307 Die konfessionellen Arbeitgeber und Gewerkschaften hatten gemeinsam, dass sie den Einfluss linker Kräfte in der Arbeiterbewegung eindämmen wollten (Cox 1993: 85), wobei, wie Cox (1993: 88) deutlich macht, dieses Interesse bei den konfessionellen Arbeitgebern besonders ausgeprägt war: „By being able to negotiate with Catholic and Protestant unions, the employers‘ federations were able to lock out the more radical socialist unions.“ Was sie des Weiteren verband war, dass sie beide den Staat aus ihren eigenen Angelegenheiten und der Bewältigung der sozialen Frage heraushalten wollten (Cox 1993: 86). Cox (1993: 89) hebt hervor, dass die konfessionellen Gewerkschaften sich in der Regulierung der Arbeitsbeziehungen konsensual orientiert zeigten. In den 1920er Jahren organisierten die konfessionellen Gewerkschaften rund die Hälfte der Arbeiter (vgl. Roebroek 1993: 57). Obwohl der sozialdemokratische NVV auch während der gesamten Zwischenkriegszeit die stärkste Gewerkschaft blieb, wiesen die protestantischen und katholischen Gewerkschaften zwischen 1918 und 1960 mehr Mitglieder auf (vgl. Visser/Hemerijck 1998: 166). Diese bestimmten auch maßgeblich die Gewerkschaftspolitik. Im berühmten „Posthumus-KupersMemorandum“ von 1921 mussten die sozialdemokratischen Gewerkschaften den Forderungen der seit 1918 mächtigeren katholischen und protestantischen Gewerkschaften nachgeben, dass nicht der Staat, sondern die Gewerkschaften und Arbeitgeber in eigener Regie die Sozialversicherung verwalten sollten (vgl. Roebroek 1993: 52). Diese politische Stärkung der katholischen Gewerkschaften lässt sich auch auf ihren Zusammenschluss zum Römisch-Katholischen Gewerkschaftsverband (RoomsKatholieke Werkliedenverbond, RKWV, 1925) zurückführen. Im Jahr 1933 konnte der RKWV etwa 41,7 Prozent der organisierten Arbeiter für sich verbuchen (vgl. Brugmans 1969: 495). Zudem konnte der RKWV einen starken politischen Einfluss auf die regierende RKSP ausüben (vgl. Windmuller 1969: 59). Die einzelnen „Säulen“ grenzten sich voneinander ab. Der deutlichste Ausdruck dieser Abgrenzung ist der Beschluss der katholischen Bischöfe von 1906, dass sich katholische Arbeiter nur katholischen Gewerkschaften anschließen dürfen. Interkonfessionelle Gewerkschaften, wie sie sich in Deutschland bildeten, wurden damit in den Niederlanden von katholischer Seite untersagt. Jong hebt hervor, dass das Verhältnis der einzelnen Gewerkschaften zueinander auch in der Zwischenkriegszeit durch „eigene geistige Bereiche“ gekennzeichnet war: Die enge Kooperation, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen konnte, haben RKWV, CNV und NVV nicht zustande gebracht. Zu sehr waren die vorangegangenen Jahre, die 20er Jahre, von einer fortschreitenden ‚Versäulung‘ geprägt. Jede Zentrale lebte vor sich in ihrem eigenen geistigen Bereich, und eine Kluft – die Antithese – trennte sowohl die Parteien, mit denen sich die Zentralen am meisten verbunden fühlten, als auch die Zentralen selbst (Jong 1956: 179-180; meine Übersetzung, CT). Wie in den politischen Parteien so hatte auch bei den Arbeitsmarktverbänden die Idee der Branchenvereinigungen bei den konfessionellen Kräften ihre Unterstützer. Sie wurde hier mit dem Vorhaben verknüpft, die Institutionalisierung von Branchentarifverträgen voranzutreiben, um so gemeinsam die Arbeitsbedingungen zu regulieren (Trampusch 2004: 12-14). 308 Christine Trampusch Veraarts Konzept der Branchenvereinigungen fand vor allem bei den katholischen Arbeitgebern zu Beginn der 1920er Jahre breite Unterstützung (Ven 1948: 2930). Ihr Interesse daran begründete sich freilich auch darin, dass ihnen die Branchenvereinigungen Gelegenheit gaben, die linken Kräfte in der Arbeiterbewegung zu unterminieren, weil sie in diesen Vereinigungen nur mit den konfessionellen Gewerkschaften verhandeln würden (Cox 1993: 77). In Folge ihrer Akzeptanz der konfessionell begründeten Branchenvereinigungen erkannten die niederländischen Arbeitgeber den Branchentarifvertrag als ein Mittel zur Regulierung der Arbeitsbedingungen relativ frühzeitig an. Auch am Konzept der medezzegenschap 16 arbeiteten sie stark mit (Cox 1993: 88). Der erste überregionale Tarifvertrag wurde bereits 1914 geschlossen. Zustande kam er auf Initiative der Arbeitgeber, denen daran lag, Preiskonkurrenz, die sie aufgrund fehlender Kartelle nicht über die Produktpreise beeinflussen konnten, durch eine Regulierung der Löhne unter Kontrolle zu halten (Toren 1996: 52). Beide Arbeitsmarktpartner nutzten den Tarifvertrag des Weiteren sehr rasch, um in diesen ihre eigenen sozialpolitischen Einrichtungen (Firmen- und Gewerkschaftskassen) zu überführen. Auch wenn der Anteil der Arbeitnehmer, die vor 1940 in einem tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt waren, gering war – zwischen 1900 und 1944 stieg ihr Anteil von 5 auf nur 15 Prozent (Toren 1996: 52) –, mindert dies nicht die Bedeutung, die der Tarifpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg in der Regulierung der Beziehungen zwischen den Arbeitsmarktpartnern zukam. So befassten sich 1927 nur 5 Prozent der Tarifverträge ausschließlich mit Löhnen und Arbeitszeit, weil sie daneben ebenso Übereinkommen zur Ausbildung, zur Gründung von betrieblichen Arbeitnehmervertretungen, zu Schiedsgerichten und zu Streiks und Aussperrungen enthielten (Jong 1956: 201-202). In den 1920er Jahren wurde eine Reihe von betrieblichen und gewerkschaftlichen Fonds in den Branchentarifvertrag verlagert (Gerwen 2000: 63). Dies war vor allem bei den Pensionsfonds der Fall (Gerwen 2000: 65, 422). Tabelle 3 zeigt jedoch, dass sich vor dem Zweiten Weltkrieg parallel Tarifverträge zu Kinder- und Krankengeld ausbreiteten. Dass diese konfessionell begründete Kooperation zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in den Arbeitsbeziehungen für die Entwicklung des niederländischen Wohlfahrtsstaates bedeutsam war, macht auch Cox klar, wenn er schreibt: F F Leftist mobilization of the working class was almost undermined by the creation of confessional labor organizations. And tensions between labor and capital interests were averted through the creation of confessional employers’ associations that cooperated with confessional unions. This guildlike arrangement in in16 Medezeggenschap kann mit Mitbestimmung übersetzt werden. Man sollte das aber nicht tun. Auf der konzeptionellen Ebene bedeuten medezeggenschap und Mitbestimmung nicht dasselbe. Während sich der deutsche Begriff Mitbestimmung auf betriebliche und wirtschaftliche Mitwirkungsrechte von Arbeitnehmervertretern bezieht, meint der niederländische Begriff medezeggenschap Mitwirkungsrechte von Arbeitnehmervertretern auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Medezeggenschap spricht damit auch Tarifverträge und die Einrichtung von politischen Arbeitnehmerorganen an. Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 309 dustrial relations was entrenched in early social security legislation. (Cox 1993: 207) Trotz der ideologischen Nähe der Arbeitsmarktpartner und der sich entwickelnden Branchensozialpolitik kam es jedoch mit der verschlechterten ökonomischen Lage in den 1920er Jahren zunächst zu einer Polarisierung in den Arbeitsbeziehungen. So stellt Ven (1948: 40) für die Zeit zwischen 1922 und 1929 fest, dass sich die Arbeitgeber immer mehr von den Gewerkschaften und Arbeitnehmern distanzierten. Der Bereich des Unternehmens, den man kurze Zeit als kollektiv zu regulierende Angelegenheit (Branchenvereinigungen) betrachtete, wurde wieder dem „Laissez-faire“ unterworfen. Diese Haltung schlug bei den Arbeitgebern vor allem in der Frage der Arbeitslosenversicherung in Widerstand um. Sie verweigerten die finanzielle Beteiligung bei einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 90-95; Schrage/ Nijhof 1992: 38-40). Einen Arbeitgeberbeitrag qualifizierten sie mit der Bemerkung ab, dass sie damit „Schießpulver zum Feind tragen“ (Ven 1948: 42) würden. Die Arbeitgeber forderten sogar, die Arbeitslosenversicherung den Gewerkschaften ganz aus der Hand zu nehmen. So argumentierte L.G.J. Kortenhorst, der die katholischen Arbeitgeber repräsentierte, dass die Gewerkschaftskassen zwar „ein faires Instrument im Klassenkampf“ seien, dass „die Arbeitgeber, dieses aber nicht unterstützen wollen“ (zit. nach Kuijpers/Schrage 1997: 92). Trotz dieser politischen Spannungen wirkten sich jedoch die ideologischen Grundpositionen der Akteure auf die Institutionalisierung der niederländischen Arbeitsmarktpolitik aus. Die Arbeitslosenversicherung wurde am Ende in der Tat als Aufgabe der von den Gewerkschaften und Arbeitgebern verwalteten Branchenvereinigungen institutionalisiert. Wie es dazu kam, soll im folgenden Abschnitt näher ausgeführt werden. Tabelle 3: Zahl der Arbeitnehmer mit tarifvertraglich festgelegtem Anspruch auf Kinder- und Krankengeld zwischen 1920 und 1940 Zahl der Arbeitnehmer mit Tarifvertrag (in 1.000) Zahl der Arbeitnehmer mit Kindergeld bzw. Krankengeld (in 1.000) … in Prozent der Arbeitnehmer mit Tarifvertrag … in Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung Kindergeld 1920 1925 1930 1935 1940 274 265 384 210 352 34 59 60 46 90 1920 1925 1930 1935 1940 274 265 384 210 352 166 234 276 119 93 12 22 16 22 26 2 3 3 2 4 61 88 72 57 27 9 11 12 5 4 Krankengeld Quelle: Leeuwen (1997a, zum Kindergeld S. 74, Tab. 1; Krankengeld S. 75, Tab. 2). 310 4. Christine Trampusch Das Arbeitslosigkeitsgesetz In den 1930er Jahren erlebten die Niederlande eine Depression. Zwischen 1931 und 1936 stieg die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen von 138.000 auf 475.000. Damit wurde im Januar 1936 die höchste Zahl an Arbeitslosen seit der ersten offiziellen Zählung erreicht (vgl. Roebroek 1993: 84). Im Jahr 1935 zählt man beim NVV ein Drittel der Mitglieder als arbeitslos (vgl. Windmuller 1969: 67). Die Krise auf dem Arbeitsmarkt brachte den Gewerkschaften insbesondere zwischen 1928 und 1934 einen starken Zulauf an Mitgliedern. Es waren vor allem die Gewerkschaftskassen, die den Gewerkschaften diesen Zuwachs bescherten. 17 Mit der Krise bekamen sowohl bei den Protestanten als auch bei den Katholiken diejenigen Stimmen Oberwasser, welche ein aktiveres Eintreten des Staates in der Sozialpolitik befürworteten. In den Wahljahren 1933 und 1937 räumten die Wahlprogramme aller Parteien der Institutionalisierung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung höchste Priorität ein (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 175-185). Auch die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften begannen sich in den 1930er Jahren zu verbessern. Nachdem sich zunächst die protestantischen und katholischen Arbeitgeber und Gewerkschaften annäherten, kam es in den späten 1930er Jahren auch zu einer Verbesserung des Verhältnisses des NVV zu den Arbeitgeberorganisationen (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 93). Hoefnagels (1974: 225) spricht davon, dass der „ökonomische Notzustand“ eine „Zusammenarbeit“ zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern bewirkte. Zwischen 1933 und 1939 fiel die Anzahl der Streiks so auch auf das niedrigste Niveau seit Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Windmuller 1969: 86). Die Entspannung machte zudem eine erste Regulierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen möglich: 1933 wurde das Branchenrätegesetz (bedrijfsradenwet), 1937 das Gesetz über die Allgemeinverbindlich- und Unverbindlichkeitserklärung kollektiver Tarifverträge durch den Staat (wet op het algemeen verbinden en het onverbindend verklaren van bepalingen van collectieve arbeidsovereenkomsten) verabschiedet; beide Gesetze gelten als wichtige Vorbedingung für die Organisation der industriellen Beziehungen nach 1945 (vgl. hierzu Windmuller 1969: 68-78). Auf politischer Ebene wurde ein weiteres Vorwärtsdrängen in der Frage der Arbeitslosenversicherung zunächst durch eine ernsthafte Koalitionskrise überschattet. Nach einem Spargesetz drohten die Katholiken 1935 mit einem Koalitionsbruch (vgl. Cox 1993: 92-93). Dennoch ist davon auszugehen, dass der Abbau der Spannungen zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern der Institutionalisierung einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung endgültig den Weg bereitete (so Kuijpers/Schrage 1997: 93). Im Januar 1938 legte Sozialminister Romme (RKS) dem Hohen Rat einen Vorentwurf für eine verpflichtende Arbeitslosenversicherung vor (vgl. Hoogland 1940b: 513-545). Rommes Entwurf sah nun vor, auch die Arbeitgeber in die FinanzierungsF F 17 Das Ausmaß der Krise lässt sich auch daran ablesen, dass die Regierung während der Depression den Gewerkschaften verbot, Arbeitslose als Mitglieder aufzunehmen. Der NVV gründete daraufhin lokale Gewerkschaften für Arbeitslose. Die beigetretenen Arbeitslosen mussten erklären, bei einer Wiederbeschäftigung Mitglied der Gewerkschaft zu werden (Windmuller 1969: 205, Fn. 38). Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 311 pflicht mit einzubeziehen. Er führte an, dass die Kassen der Gewerkschaften in den letzten 20 Jahren ungemein an Bedeutung gewonnen hätten. So stieg die Zahl der Versicherten von 60.000 im Jahr 1917 auf 600.000 im Jahr 1932. Romme sprach sich in der Begründung zu seinem Entwurf sehr offen und offensiv dafür aus, die Verwaltung der Versicherung den Branchenvereinigungen zu übertragen: Was für jede Sozialversicherung gilt, gilt vielleicht noch in verschärfter Form für die Arbeitslosenversicherung: Will sie ihre Ziele in der und für die Branche erreichen können, dann muss sie einen Pflichtcharakter haben, weil ihr Erfolg die Mitarbeit aller, die zur Branche gehören, benötigt (Memorie van Teolichting; zit. nach Hoogland 1940b: 519; meine Übersetzung, CT). Es ist bemerkenswert, dass die Möglichkeit, die Versicherung an die bestehenden kommunalen Arbeitsbörsen anzubinden, von Romme ausdrücklich abgewiesen wurde. Der Hohe Rat der Arbeit (Hooge Raad voor Arbeid) stimmte in seiner Empfehlung vom 20. Mai 1939 den Vorstellungen der Regierung zu. Dabei sprachen sich die Gewerkschaften und Arbeitgeber ausdrücklich gegen das System einer staatlichen Verwaltung aus. Ende der 1930er Jahre war der Bann in der Frage der Versicherung damit endgültig gebrochen. Vor allem der Positionswechsel der Gewerkschaften im Zuge der Wirtschaftskrise ist erwähnenswert. Auf den Verhandlungen des Hohen Rates über Rommes Gesetzentwurf begründete der Vertreter des NVV, Lindeman, den Stimmungsumschwung der Gewerkschaften mit der hohen Arbeitslosigkeit, die die Kassen der Gewerkschaften zunehmend überfordere (vgl. Kuijpers/Schrage 1997: 94). Finanzpolitische Uneinigkeiten zwischen dem katholischen Lager der Koalitionsregierung, zu dem Romme zählte, und dem protestantisch-christlichen Lager kumulierten 1939 in den Rücktritt der Regierung. Im neuen Kabinett (De Geer II, 1939-1940) wurden schließlich die Sozialdemokraten (nach jahrzehntelanger Opposition) Koalitionspartner. Die Vorbereitung einer Versicherung stand weiter auf der Agenda. Die deutsche Besatzung im September 1940 bereitete den Bemühungen jedoch ein vorläufiges Ende (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 185). Viel von dem, was man in den Niederlanden in den 1930er Jahren bezüglich der Arbeitslosenversicherung diskutierte, wurde in die Nachkriegszeit mitgenommen. Die katholisch-sozialdemokratische Koalition (Rooms-Rode-Coalitie), die 1939 ins Amt gewählt wurde, stellte noch bis zum Jahr 1958 die Regierung. Die nach London geflohene niederländische Regierung fing sehr schnell damit an, Pläne für den sozialpolitischen Wiederaufbau nach dem Krieg zu entwerfen. Unter dem Eindruck des „Beveridge Plans“ stellte man 1943 die Van-Rhijn-Kommission (Commissie van Rhijn) auf (vgl. Rigter et al. 1995: 197-210). Mit dem Bericht der Van-Rhijn-Kommission (Commissie van Rhijn 1945: Sociale Zekerheid, Den Hague, blz. 117) nahm man nach dem Krieg die Bemühungen um die Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung wieder auf (vgl. Bogaarts 1989: 1418). Nachdem im Wahlkampf 1946 schließlich alle politische Parteien die Notwendigkeit der Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung forderten, legten Sozialminister Drees (PvdA) und Finanzminister Lieftinck (CHU) unter dem Kabinett Beel I (1946-1948, KVP-PvdA) am 22. Januar 1948 der Zweiten Kammer einen neuen Gesetzentwurf zur Arbeitslosenversicherung vor (vgl. Maas 1991: 663). Am 30. Juni 312 Christine Trampusch 1949 nahm die Zweite Kammer das Gesetz mit 63 gegen 7 Stimmen an, am 7. September 1949 verabschiedete die Erste Kammer das Gesetz (vgl. Roebroek/Hertogh 1998: 187-188). Das Arbeitslosigkeitsgesetz (werkloosheidswet), das mit drei Jahren Verspätung am 1. Juli 1952 in Kraft trat, legte fest, dass die Ausführung der Arbeitslosenversicherung den Branchenvereinigungen oblag. Die Branchenvereinigungen waren berechtigt, innerhalb der gesetzlichen Regelungen die Höhe der Leistungen und der Prämien festzulegen; ebenso oblag ihnen die Prüfung der Anspruchsberechtigung. Die Beiträge, die gemeinsam von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen wurden, und die Leistungen der Versicherung wurden branchenspezifisch festgesetzt. Die Entscheidungen der Branchenvereinigungen unterlagen der Aufsicht des Sozialministers. Die Branchenvereinigungen, denen neben der Arbeitslosenversicherung auch die Krankenversicherung und später (1967) die Erwerbsunfähigkeitsversicherung zur Durchführung übertragen wurden, waren bereits 1950 mit dem Gesetz über die Branchenorganisationen (wet op de bedrijfsorganisatie) eingerichtet worden. 5. Schlussfolgerungen Die Entwicklung der niederländischen Arbeitslosenversicherung trägt deutlich konfessionelle Spuren in sich. Sie wurde gemäß der ideologischen Präferenz der konfessionellen Kräfte als Aufgabe der Branchenorganisationen eingerichtet. Das Konzept der Branchenvereinigungen wurde sowohl bei den Katholiken als auch bei den reformierten Protestanten formuliert und entwickelt. Kern des Konzeptes war es, dass die Arbeitgeber und Gewerkschaften auf der Ebene der Wirtschaftsbranchen nicht nur die Arbeitsbeziehungen, sondern auch die soziale Frage regulieren sollten. Als die protestantischen und katholischen Parteien in der Zwischenkriegszeit (1918 bis 1939) dominierten, konnten sie die Idee der Branchenvereinigungen in der Arbeitslosenversicherung auch umsetzen. Dieser Beitrag hebt jedoch hervor, dass die Entstehung der niederländischen Arbeitslosenversicherung nicht nur durch diesen parteipolitischen Konsens auf Seiten der Konfessionellen beeinflusst wurde, sondern weitere Bedingungen dafür maßgeblich waren, die in der Entwicklung des Verbändesystems und der Arbeitsbeziehungen zu suchen sind. Fasst man die weiteren wesentlichen Momente der Entstehung der niederländischen Arbeitslosenversicherung zusammen, so sind neben dem Einfluss der konfessionellen Parteien die drei folgenden Faktoren hervorzuheben: Erstens die Tradition der freiwilligen Arbeitslosenversicherung, die auf Gewerkschaftskassen beruhte und seit 1917 zu 100 Prozent durch den Staat finanziert wurden, zweitens der klassenübergreifende Konsens zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden entlang konfessioneller Linien und drittens die voranschreitende Institutionalisierung der Arbeitsbeziehungen in den 1930er Jahren, die das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital maßgeblich entspannte und dazu führte, dass die Arbeitgeber ihren Widerstand gegen Beiträge zu einer verpflichtenden Arbeitslosenversicherung aufgaben. Diese Entspannung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital hat auch zu einer Ausweitung der Branchensozialpolitik geführt. Besonders hervorzuheben ist ferner, dass sich auch die Arbeitgeber und Gewerkschaften mit der religiösen Idee der Bran- Religion, Parteien und Industrielle Beziehungen 313 chenvereinigungen identifiziert hatten. Dies schuf in der Tarifpolitik und in den Industriellen Beziehungen die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass der parteipolitische Konsens auch umgesetzt werden konnte. Anhand der Arbeitslosenversicherung lässt sich somit schlussfolgern, dass Voraussetzungen für eine Wirkung des Faktors Religion nicht nur im Parteiensystem zu erwarten sind. Vielmehr ist die Wirkung der Parteien in einer breiteren, gesellschaftszentrierten Perspektive zu untersuchen. Insofern sollten zukünftige Analysen nicht nur die territoriale, sondern auch die funktionale Interessenpolitik in den Blick nehmen, wenn sie die Wirkung des Faktors Religion untersuchen. Die historische Rekonstruktion der Entstehung der niederländischen Arbeitslosenversicherung hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass Religion die Ausformung sozialpolitischer Arrangements beeinflussen kann. Für das Timing sind jedoch die situativen Rahmenbedingungen von Bedeutung. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre ließ in den Niederlanden Arbeitgeber und Gewerkschaften näher zusammenrücken. Nicht allein die Konfession beeinflusste so den Konsensbildungsprozess, sondern auch die Situation. Jede Fallstudie sollte sich kritisch die Frage stellen, inwiefern sie über den Fall hinausgehenden generellen Erkenntnisgewinn ermöglicht. Bezüglich der hier vorgelegten Untersuchung ist diesbezüglich festzuhalten, dass ihr Beitrag zur Theorie und zur weiteren Forschung im Bereich der Hypothesengenerierung und Heuristik liegt. Der niederländische Fall stellt aufgrund der Versäulung der Gesellschaft, wie bereits erwähnt, für die Religionsliteratur einen typischen und repräsentativen Fall dar, wobei eine Reihe von Studien den Effekt der Religion jedoch vor allem im Parteiensystem lokalisierte. Dieser Artikel hat deutlich gemacht, dass im typischen Fall Niederlande die Arbeitsbeziehungen gleichermaßen dazu beitrugen, dass der Faktor Religion die Ausgestaltung der Sozialpolitik beeinflusste. Sie dürfen als Variable nicht vergessen werden. Eine weitere kritische Frage, die gestellt werden kann, ist die nach dem Zeitwert historischer Untersuchungen. Welche Wirkung hatte die Säkularisierung und Entsäulung der niederländischen Gesellschaft Ende der 1960er Jahre? Zunächst keine, denn die Branchenvereinigungen bestanden weiter. Jedoch verloren sie ihre ideologische Grundlage, was die strukturelle Reformen, die seit den 1990er Jahren die Position der Branchenvereinigungen zugunsten des Staates und des Marktes geschwächt haben, mit ermöglicht haben mag. Literaturverzeichnis Alber, Jens (1987): Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Frankfurt: Campus Verlag. Becker, Uwe; Kersbergen, Kees van (1986): „Der christliche Wohlfahrtsstaat der Niederlande. Ein kritischer Beitrag zur vergleichenden Politikforschung“, Politische Vierteljahresschrift 27: 61-77. Bekkum, Ronald van (1996): Tussen vraag en aanbod: Op zoek naar de identiteit van de arbeidsvoorzieningsorganisatie. Den Haag: Sdu Uitgevers. Bogaarts, M.D. (1989): Parlamentaire geschiedenis van Nederland na 1945. Deel II. De periode van het cabinet-Beel 1946-1948 – Band B, Nijmegen, 1418-1424. Christine Trampusch 314 Brugmans, Izaäk Johannes (1969): Paardenkracht en mensenmacht. Sociaal-economische geschiedenis van Nederland 1795-1940. Den Haag: Nijhoff. 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