Schopenhauer und das Erkennen der Welt

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Schopenhauer und das Erkennen der Welt
In der Philosophie Schopenhauers sind folgende Begriffe von Bedeutung:
Wille und Vorstellung, Objekt und Subjekt, Anschauung, Vernunft, Verstand
und Wissen. Im Grunde ist seine gesamte Philosophie eine differenzierte und
komplexe
Definition
dieser
Begriffe
mit
deren
Hilfe
er
alle
Erscheinungsformen von Mensch und Welt bis in die Bereiche des
Paranormalen hinein kritisch untersucht und Sinn bildend beschreibt.
Schopenhauer zufolge existiert die Welt in der wir leben als Wille und
Vorstellung. Das klingt zunächst nicht weiter aufregend. Folgt man aber
seiner Aussage weiter, dann sagt er uns damit: die Welt ist Wille und sie ist
Vorstellung. Sollte es so sein, wäre das eine aufregende Einsicht mit weit
reichenden Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen wäre zum Beispiel die
Erkenntnis: Ich bin Wille und Vorstellung.
In der philosophischen Tradition des Westens vor Schopenhauer stand der so
genannte "Geist" im Mittelpunkt des Denkens. Schopenhauer bricht mit
dieser Tradition. Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens ist nicht der
Geist, sondern das Leben; die Lebenskraft. Er fragt: welche Kraft lässt einen
Organismus leben? Diese Frage nach der Lebenskraft führt ihn zur Sexualität.
Spricht man vom Leben, so meint er, muss man auch von dessen Erhaltung
sprechen. Deshalb können Mensch und Leben nicht ohne die Sexualität
gedacht werden. Schopenhauer erkennt, dass Mensch und Leben unmittelbar
mit der Erhaltung der Gattung zusammen hängen; der Selbsterhaltung des
Lebens. Aus diesem Grund setzt die Philosophie Schopenhauers nicht am
menschlichen Geist, sondern am Trieb zur Zeugung an. Er sagt: im Zentrum
des Willens zum Lebens steht die Sexualität.
Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007
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Die Natur, deren innerstes Wesen der Wille zum Leben ist, treibt mit aller
Kraft den Menschen, wie das Tier, zur Fortpflanzung. Diesem Willen zum
Leben ist es nur an der Erhaltung der Gattung gelegen, das Individuum
bedeutet ihm nichts. Im Geschlechtstrieb stellt sich deshalb der Wille zum
Leben am deutlichsten dar. Aus diesem Grund ist die Sexualität in der
Betrachtungsweise Schopenhauers viel mehr als jede andere Regung des
Leibes einem archaischen Willen und nicht etwa der Erkenntnis unterworfen.
In der Sexualität zeigt sich der Brennpunkt des Willens. Die Genitalien sind
dem zu Folge der dem Gehirn als Repräsentant der Erkenntnis entgegen
gesetzte Pol. Der Mensch wird im Allgemeinen, sagt Schopenhauer, von
seinem Geschlecht regiert und nicht von Geist. Der Triebwille bestimmt das
menschliche Wesen und Handeln; und dieser blind treibende Wille ist
gewissermaßen
in
der
Sexualität
konzentriert.
Deshalb
ist
die
Geschlechtsliebe der stärkste aller Triebe. Sie ist der unbewusst drängende
Willen zum Leben und Überleben. Schopenhauers Betrachtungsweise ist
radikal. Jede Verliebtheit, wie romantisch sie sich auch geben mag, sagt er, ist
ausschließlich
ein
Ausdruck
des
Lebenswillens,
den
er
einen
"individualisierten Geschlechtstrieb" nennt.
Der indische Philosoph JIDDHU KRISHNAMURTI sagt: In Indien gibt es eine
besondere Philosophie, die Tantra genannt wird. Ein Teil dieses Tantra
fördert Sex. Es wird behauptet, dass man durch Sex erleuchtet werden könnte.
Sex wird also unterstützt, damit man über das Alltägliche hinaus gelangt –
aber man gelangt niemals darüber hinaus. Niemals haben die Autoren des
Tantra die Frage gestellt, warum die Menschen die Sexualität zu etwas so
Wichtigem in ihrem Leben machen.
Werfen wir einen Blick auf die Realität. Die gesamte Lebenswelt, die Natur
hält sich durch Fortpflanzung am Leben. Es wundert deshalb nicht, wenn
Schopenhauer den Triebwillen, wenn er den in jeder Lebenserscheinung
erkennbaren Willen zum Leben als allumspannende Gemeinsamkeit allen
Lebens ins Zentrum seiner Philosophie rückt.
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Von diesem grundlegenden Verständnis der elementaren Lebenswirklichkeit
ausgehend, sieht er den Menschen primär nicht mehr als Geistwesen, wie
viele Philosophen vor ihm, sondern als Naturwesen. Schopenhauer
philosophiert deshalb auch nicht über den "Geist" des Menschen, sondern
über dessen Triebnatur. Er definiert den Menschen über Körper und Natur.
Dadurch macht er die Philosophie nicht mehr zu einer Philosophie des
Geistes,
sondern
zu
einer
Philosophie
der
körperlichen
Welt.
In
Schopenhauers Denken wird der so genannte "Geist" als eine Funktion des
Leibes verstanden. Das war zu seiner Zeit eine ungeheuere Provokation.
Schopenhauer leitet das Wesen des Menschen von den Begierden seines
Körpers ab, die er "Wille" nennt. Für ihn ist das Wesen des Menschen der
Wille zum Leben. Und dieser Wille, dieses Wollen sind die dem Menschen
nicht bewussten Begierden seines Körpers. Schopenhauer hat damit die von
SIEGMUND FREUD postulierte Triebtheorie, das Unbewusste und das Es der
Psychoanalyse vorweg genommen. Es wäre nicht zu weit her geholt an zu
nehmen, dass Freud durch die Schriften Schopenhauers zu diesen
Denkmodellen angeregt worden ist.
Auf Grund des triebhaften Wollens wird das Wesen der Welt nicht in einem
geistigen, sondern in einem viel unmittelbareren Zugang erfahren – und zwar
als Affekte und Willensregungen des Körpers. Das Wesen der Dinge, folgert
Schopenhauer, offenbart sich nicht über das Geistige, nicht über das Denken,
sondern: über die Begierden. Wir erfahren das Wesen der Welt nicht über den
Geist, der uns nur eine Vorstellung der Welt liefert, sondern über den Körper.
Der Geist, so meint er, führt den Menschen nicht zur Erkenntnis der Welt
und zur Wahrheit. Schopenhauer hat damit eine Wandlung im Konzept der
traditionellen Philosophie vollzogen. Für ihn ist der Körper des Menschen das
primäre Medium der Selbst- und Welterkenntnis, und nicht sein Geist.
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Für Schopenhauer ist das Verständnis des Willens der Weg zum Verstehen
des Wesens der Welt. Der unvoreingenommene Blick auf den Triebwillen der
uns beständig hierhin und dorthin drängt lässt uns seiner Meinung nach
erkennen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Wenn Schopenhauer
den Menschen betrachtet sieht er nicht seinen Geist oder einen ihm
übergeordneten Schöpfergott; er sieht eine geistlose blinde Triebnatur, die sich
am Willen zum Leben orientiert. Wille, sagt er, ist das Gegenteil ruhenden
Genügens. Er ist Unruhe, streben nach etwas, lechzen, Gier, Verlangen,
Leidenschaft und damit auch Leiden. Der Wille ist nicht nur die ewig
unbefriedigte Lebenskraft, er ist zudem die Quelle des Leidens. Der Triebwille
hat den Menschen in der Hand.
Der Wille ist mit Aktionen des Körpers identisch; man kann nicht wirklich
etwas wollen, ohne wahr zu nehmen, dass dieses Wollen als Reaktion im
Körper erscheint. Der Akt des Wollens und die Aktionen, bzw. Reaktionen
des Körpers sind keine zwei von einander getrennte Zustände, die etwa durch
Kausalität miteinander verbunden wären; das Wollen und die Reaktionen des
Körpers haben keine Beziehung von Ursache und Wirkung zueinander,
derart, dass der Wille die Ursache für die Wirkung im Körper wäre. Nein,
Wille und Körper sind Eines und das Selbe, folgert Schopenhauer
konsequent. "Die Aktion des Leibes", sagt er "ist nichts Anderes, als der
objektivierte, ... Akt des Willens."
Wenn Schopenhauer vom "Willen" spricht, dann meint er aber zunächst nicht
das was wir im Lebensalltag als Wille verstehen. Sein Verständnis des Willens
als Grundvoraussetzung alles Seienden reicht tiefer. Denn dieser Eine
allumfassende Wille den er erkennt, liegt außerhalb von Zeit und Raum.
Dieser Wille, sagt er, ist Einer ohne ein Zweites. Und dieser Eine Wille spaltet
sich in die Vielheit der Erscheinungen auf und erscheint dadurch in Zeit und
Raum. Dieses sich Aufspalten des Einen Willens in die Vielheit nennt
Schopenhauer prinzipium individuationis. Der Eine und ungeteilte nicht
sichtbare Wille objektiert sich indem er sich in Form materieller Gestalten in
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Raum und Zeit zeigt und dadurch Objekt wird. Durch dieses "zum Objekt
Werden" entfaltet sich der Eine Wille und wird zu einer Willens-Vielfalt; er
wird zu Ursachen und Wirkungen und deshalb wahrnehmbar. Der Eine – der
formlose Wille – fließt gewissermaßen in die Erscheinungsvielfalt der Welt
auseinander. Diese Spaltung des Einen Willens in die Vielheit der
Erscheinungen meint Schopenhauer, wenn er vom prinzipium individuationis
spricht.
In diesem Gedankenbild Schopenhauers ist jede Person, jedes Individuum
eine
objektivierte
Erscheinung
des
Einen
Willens;
und
im
unvoreingenommenen Erfahren unserer selbst können wir deshalb erkennen,
meint Schopenhauer, dass wir nicht frei, sondern dem Willen unterworfen
sind. Denn der in uns und durch uns wirkende Wille wirkt mit oder ohne
unsere Erkenntnis. Zwar kann dieses Wollen von unserer Erkenntnis begleitet
sein; aber von ihr geleitet, ist dieses archaische Wollen nicht.
In diesem Zusammenhang zitiert Schopenhauer in einer seiner Schriften eine
Metapher des holländischen Philosophen BARUCH
DE
SPINOZA aus dem 17.
Jhdt., der gesagt hat: dass der durch einen Wurf hoch fliegende Stein, wenn er
ein Bewusstsein seiner selbst hätte, meinen würde, aus eigenem Willen hoch
zu fliegen. Und Schopenhauer kommentiert, dass der Stein damit Recht
haben würde. Hätte er tatsächlich Recht, oder würde er sich lediglich
einbilden, Recht zu haben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob
man vom Einen ungeteilten, oder von den individualisierten und somit
geteilten Willenserscheinungen ausgeht. Was ist der Unterschied? Das
archaische Eine Wollen kennt kein Nein; das subjektive individualisierte
Wollen dagegen schon. Das einzige entscheidende Kriterium dafür, dass wir
uns als Menschen als willensfähig erfahren und unseren individuellen Willen
erkennen können, zeigt sich darin, dass wir imstande sind nein sagen zu
können zum archaischen Wollen, das uns blind zu zwingen scheint.
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Um sich aus diesem Kreislauf zu befreien, das der archaische Eine Wille
durch sein triebhaftes Begehren verursacht, lehrt uns Schopenhauer diesen
Willen zu verneinen, die Begierden, Affekte und Leidenschaften zu zügeln.
Das individuelle Wollen soll sich über die Leidenschaften des Körpers und
dessen archaischem Wollen ermächtigen.
Schopenhauer schreibt: "So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und
Wechsel des Sieges, und werden darin weiterhin die dem Willen wesentliche
Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen." Jede Objektivierung des
Willens macht einer anderen Objektivierung die Existenz streitig. Nach
Schopenhauer zeigt sich darin die Offenbarung einer im Willen selbst
angelegten Entzweiung mit sich selbst. Er illustriert diesen Gedanken mit
einer Beschreibung der australischen Bulldogs-Ameise: wenn man sie
durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- und dem
Schwanzteil; der Kopf greift den Schwanzteil mit seinem Gebiss an, und
dieser wehrt sich tapfer, indem er immer wieder auf den Kopf einsticht. Ein
solcher Kampf pflegt eine halbe Stunde lang zu dauern. Ein anderes Beispiel
aus der Biologie der Fortpflanzung, das uns ADRIAN FORSYTH in dem Buch
"Die Sexualität in der Natur" schildert, vermittelt uns ebenso die Aufspaltung
des Einen Willens in die "Entzweiung mit sich selbst". Es ist ein Beispiel aus
dem Bereich der Fortpflanzung und zeigt den Willen des Einen gegen den
Willen des Anderen besonders anschaulich. Dieses Beispiel entfaltet seine
Botschaft um so deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei
um einen Ausdruck des archaischen Willens handelt. Es ist die sexuelle
Strategie der männlichen Skorpionflige: die Vergewaltigung. Die Männchen
machen sich auf die Suche nach einem Weibchen. Sobald ein Männchen ein
Weibchen entdeckt, stürzt es sich darauf und packt es mit seinen großen
Genitalzangen. Hat das Männchen das Weibchen fest in seinen Griff
bekommen,
versucht
es
das
sich
wehrende
Weibchen
in
eine
kopulationsgerechte Lage zu bringen. Das gelingt ihm mit Hilfe eines
speziellen Haftorgans, das es ihm ermöglicht trotz des sich heftig wehrenden
Weibchens sein Genitalorgan mit dem des Weibchens in Kontakt zu bringen
und es zu besamen.
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An die Eier eines Weibchen heran zu kommen, lässt sich natürlich auch mit
anderen, weniger drastischen Methoden erreichen, in denen sich das
archaische Wollen in anderer Form zeigt. Das ist die sexuelle Strategie, ein
sesshafter Zwerg zu werden. Dazu entwickeln sich die Männchen zu winzig
kleinen Wesen, die entweder innerhalb oder außerhalb eines Weibchens als
tragbare Samenbank leben. Die Männchen haben sich zu einer parasitären
Form entwickelt, die es ihnen ermöglicht, sich auf Dauer bei einem Weibchen
einzunisten indem sie sich auf ein reines Fortpflanzungsorgan reduziert
haben. Der Biologe ADRIAN FORSYTH schreibt: "Nichts spricht dafür, dass
das, was natürlich ist, auch gut ist. Der Mensch hat Verstand und
Willenskraft, und er kann diesem Szenario entgegen wirken."
Wenn die Welt, wie Schopenhauer meint, eine Manifestation des Willens ist:
Wessen Wollen ist es? Wer will etwas? Für ihn ist das universale Wollen das,
was weder Anfang noch Ende hat. Weil es ist und von nichts Konkretem
bedingt wird, demnach also ohne Ursache ist, deshalb ist es außerhalb von
Raum und Zeit. Erst dadurch, dass sich das Wollen objektiviert, das heißt:
indem es sich in Raum und Zeit aufspaltet und sich dadurch als
Erscheinungen in Raum und Zeit objektiviert, erzeugt es Ursachen und
Wirkungen. Man könnte deshalb sagen: Die Welt ist, weil die Welt vom
Willen gewollt wird; weil sich der Wille sich in der Vielfalt der Erscheinungen
äußern und gestalten will. Die Welt der Objekte wird gewollt. Die Objekte
sind ein Ausdruck des Wollens selbst. Deshalb ist jede Erscheinungsform ein
Ausdruck des Einen Willens der sich in die Vielheit aufspaltet. Wenn ich das
in einem einfachen Beispiel darzustellen versuche, zeigt sich folgendes Bild:
Der Eine Wille objektiviert sich in der Lebenswelt zu Lebewesen, die in ihrem
Existieren voneinander getrennt sind; in der menschlichen Lebenswelt
entfaltet sich dieser Eine Wille zu Ich und Du. Er spaltet sich auf zu Ich und
Du; das führt dazu, dass das Ich etwas anderes wollen kann als das Du. Auf
diese Weise entsteht und entfaltet sich die Komplexität der Lebenswelt mit all
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ihrer Brutalität, die dadurch gegeben ist, dass sich die Einheit des Wollens im
gegensätzlichen Wollen der Vielheit bricht.
Die Philosophie Schopenhauers lebt aus der Spannung zwischen Willen und
Vernunft, zwischen Körper und Geist. Der Eine Wille, der Triebwille als
Wille zum Leben wird von ihm als eine ungeheuere Macht angesehen mit der
die Vernunft schwer zu kämpfen hat. Nur unter günstigsten Bedingungen und
beständigen Bemühungen, meint er, kann der individualisierte Wille den
archaischen Willen zügeln, und einen vom Triebwillen befreiten Zustand
erleben. "Wo Es ist soll Ich werden", hat SIGMUND FREUD nach
Schopenhauer gesagt und damit vermutlich dasselbe gemeint wie er.
Wenn Schopenhauer fragt: "Was lässt uns leben? Welche Macht formt den
Leib und lässt ihn leben?", dann geht er dieser Frage tiefer nach als die
Wissenschaften, wenn er sich überlegt, worin das Prinzip besteht, das uns
leben lässt. Die Wissenschaften, kritisiert er, beobachten das Leben nur von
außen. Sein Ansatz dagegen besteht darin, die Phänomene nicht von außen,
sondern von innen her zu betrachten. Und das, was er nach innen fühlend
und nach innen schauend findet ist die Energie des Wollens.
Man könnte meinen, dass der Wille, den Schopenhauer erkennt, dasjenige ist,
das in der Theologie als Gott verstanden wurde. Für ihn ist aber der Wille
weit entfernt von einem persönlich gedachten und agierenden Schöpfergott.
Im Gegenteil: Der Wille, den Schopenhauer meinst, ist blind. Und weil er
blind ist, deshalb ist er weder gut noch böse.
Sobald sich der Wille in Form von Objekten zeigt, und diese Objekte Vernunft
entwickeln, dann ist diese Vernunft aus der Sicht Schopenhauers ein zufälliges
Nebenprodukt. Denn der Körper und dessen Wollen, sagt er, hat die
menschliche Vernunft gar nicht nötig. Die Evolutionsbiologie würde
Schopenhauer vermutlich Recht geben. In Patagonien hat man im Jahr 2007
das Skelett eines bisher unbekannten Riesen aus der Familie der Titanosaurier
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mit einer Gesamtlänge von 32 Metern gefunden. Diese Tiere haben zu einer
Zeit gelebt als es noch keine Hominiden gab. Zudem hat es eine viele
tausende von Jahren dauernde hominide Existenz gegeben in der es das, was
Schopenhauer als Vernunft versteht noch nicht gab. Tatsachen dieser Art
scheinen zu bestätigen, dass es ein blindes Wollen, einen Lebenstrieb ohne
Vernunft gibt. Wird dadurch die Aussage Schopenhauers bestätigt?
Keineswegs. Denn das was für Schopenhauer offenbar ein "blindes Wollen"
ist, offenbart bei näherer Betrachtung ein auf Vorstellung beruhendes
Geschehen, das er als "Verstand" bezeichnet. Dieser Verstand ist allerdings
zur Gänze dem bedingungslosen Trieb zum Leben und Überleben unter
geordnet. Der archaische Wille nutzt Vorstellung und Verstand, um seinen
Willen durch zu setzen.
Wie kommt es zum Phänomen der Vorstellung? Wir erfahren die Welt durch
unsere Sinne; und wir erkennen das, was uns die Sinne vermitteln durch die
Funktionen des Gehirns. Das Gehirn organisiert die Sinnesimpulse und
konfiguriert daraus eine Vorstellung von einer Welt außerhalb des Gehirns.
Diesen Zusammenhang meint Schopenhauer, wenn er sagt, dass die
Erkenntnis der Welt durch eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt
zustande kommt, und dass wir uns eine "objektive" Welt nicht vorstellen
können, weil jede Vorstellung ein Akt dieser Beziehung ist. Jedes Objekt
unserer Betrachtung ist somit ein Produkt der Vorstellung. Sie wird durch eine
Wechselwirkung von Außenwelt, Sinnesfunktion und Gehirn erzeugt. Die
Sinne empfangen Reize der Außenwelt in Form von Nervenimpulsen, die an
verschiedene Bereiche des Gehirns weiter geleitet werden. Dort werden die
Impulse vom Gehirn organisiert und zu Vorstellungen umgewandelt. Diese
Umwandlung ist ein Akt des Gehirns. Weil aber dieses Gehirn ein Gehirn
gewordener Willen ist, deshalb ist die vom Gehirn erzeugte Vorstellung ein
Akt des Willens. Schopenhauer meint, dass dasjenige, was Alles erkennt und
von Keinem erkannt wird, der Wille ist. Er ist der Träger der Welt, die
durchgängige und stets vorausgesetzte Bedingung jeder Erscheinung und
damit eines jeden Objekts. Der Wille im Subjekt ist das, was erkennt.
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Die Welt, die wir erkennen, ist nach Schopenhauer eine Welt der Vorstellung.
Sie ist eine Welt der Phänomene. Was ist ein Phänomen? Es ist etwas, das
erscheint. Damit etwas erscheinen kann, bedarf es eines Objekts und eines
erkennenden Subjekts. Ohne Subjekt kann es keine Erscheinung geben; denn
jede Erscheinung erscheint einem Subjekt. Ein Objekt kann keinem anderen
Objekt erscheinen. Deshalb ist die Welt der Phänomene eine Welt der
Vorstellungen. Eine Vorstellung, ein Phänomen ist eine untrennbare Einheit
von Objekt und Subjekt. Verschwänden die Subjekte, würde auch die Welt
der Phänomene, würde auch die Welt der Erscheinungen verschwinden.
Die Einsicht Schopenhauers, dass die Realität, als eine Welt der
Erscheinungen nur als Vorstellung existieren würde, führt zu einer
skeptischen Gedankenreaktion. Man wird sich nämlich sagen, dass die Welt
schon existiert hat bevor es den Menschen gab. Und jeder würde es
vermutlich als selbstverständlich ansehen, dass es die Realität auch ohne den
Menschen gibt. Deshalb muss man sich vor Augen halten, dass in diesem
Zusammenhang, wenn es um die Welt der Phänomene geht, von einer Welt
der Erscheinungen die Rede ist, die tatsächlich nur so lange und in so fern
existiert, als es ein wahrnehmendes und erkennendes Subjekt und somit die
Vorstellung gibt. Ohne diese Vorstellung, ohne wahrnehmendes Erkennen
löst sich die Welt der Phänomene auf. "Aber die Welt würde trotzdem weiter
existieren", mag man dagegen argumentieren. Selbstverständlich existiert sie
weiter; aber auf eine Weise, die nicht erfahren werden kann, wenn es kein
Subjekt gibt, dem die Welt als Vorstellung erscheint.
Schopenhauer
unterscheidet
zwischen
intuitiven
und
abstrakten
Vorstellungen. Abstrakte Vorstellungen beruhen auf Begriffen, die sich von
der unmittelbar anschauenden, der intuitiven Vorstellung unterscheiden.
Dieser Unterschied zwischen abstrakter und intuitiver Anschauung, zwischen
dem abstrakten und intuitiven Erkennen der Welt der Objekte hängt mit dem
Erkennen des Raumes und der Zeit zusammen. Denn: Was ist eigentlich ein
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Objekt?, fragt Schopenhauer und sucht damit eine Antwort die Frage: was ist
Materie? Und er erkennt, dass jedes materielle Objekt nur und ausschließlich
im Kontext von Einwirkungen in Bezug auf ein anderes Objekt existiert und
somit eine Erscheinung im Netz von Ursache und Wirkung ist. Das, so folgert
er weiter, ist das Wesen der Materie: sie ist Wirkung. Materie ist Wirkung.
Und wir bezeichnen die Vorstellungen, die wir uns von den Wirkungen
machen als "Materie".
Die Realität der materiellen Wirklichkeit ist also Wirkung. Wir erfahren diese
Wirkungen in Raum und Zeit. Beide, Raum und Zeit beruhen auf abstrakten
Anschauungen. Denn das, was wir zeitlich als Vorher und Nachher, und was
wir räumlich als ein Hier und ein Dort erkennen sind Abstraktionen des
Subjekts; es sind Vorstellungen, mit deren Hilfe der Mensch die
Erscheinungen betrachtet und ordnet. Für die intuitive und unmittelbare
Anschauung existiert nur ein komplexes Netz von Hier und Jetzt. Erst die
Vorstellung von Raum und Zeit führt zur Vorstellung von Materie. Das aber
bedeutet, dass die Vorstellung von Materie ein sensorisches Erleben
voraussetzt, das mit der abstrakten Vorstellung von Raum und Zeit verknüpft
wird. Dieser Zusammenhang sagt uns im Umkehrschluss, dass die Materie
ausschließlich im Kontext eines sensorisch erlebenden Subjekts erscheint, das
dieses Erleben in Verbindung seiner Anschauung von Raum und Zeit
strukturiert.
Für den philosophischen Realismus ist das Objekt die Ursache für das
Subjekt. Für den philosophischen Idealismus ist das Subjekt die Ursache für
das Objekt. Schopenhauer sieht es so, dass Objekt und Subjekt zwei
verschiedene und koexistente Seiten des Einen Willens sind. Im Licht dieser
Betrachtung lässt sich ein Objekt ohne Subjekt nicht vorstellen; und das
bedeutet: die Objekte, die als materielle Formen erscheinen, bedürfen des
Subjekts; und das Subjekt bedarf der Objekte, um sich erfahren zu können.
Das Eine kann nicht ohne das Andere sein. Es gibt keine Erscheinung eines
Objekts ohne Subjekt; und es gibt kein Subjekt, ohne die Welt der Objekte.
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Schopenhauer sagt: "Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung,
und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt."
Die anschauliche Welt – die Welt als Anschauung und Vorstellung: wie
unterscheidet sie sich von der Welt der Träume, die ja auch Anschauung und
Vorstellung sind? Anders gefragt: Wenn die Welt des Realen Anschauung
und Vorstellung ist, und die Welt der Träume auch – wie lassen sich dann
Traum und Wirklichkeit, wie lassen sich Phantasie und Realität voneinander
unterscheiden? Für Schopenhauer besteht der einzige Unterschied darin, dass
wir nach dem Träumen erwachen, wodurch die geträumten Begebenheiten
von den Begebenheiten im Wachsein getrennt erscheinen und dadurch
unterscheidbar werden. Das aber sagt nichts anderes, als dass es lediglich
einen Unterschied zwischen einem Schlaftraum und einem Wachtraum zu
geben scheint. Mit anderen Worten: im Wachsein träumen wir die
Vorstellung einer Realität, und im Schlaf träumen wir die Wirklichkeit der
Vorstellung. Im tibetischen Yoga des Träumens, den TENZIN WANGYAL
RINPOCHE beschreibt, heißt es: Betrachte die Realität, als würdest du sie
träumen. Betrachte deinen Traum, als wäre er Realität.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass auch der Körper, den man hat, nur
als Vorstellung existiert. Insofern der Körper ein Objekt, und die Welt der
Objekte eine mentale Konstruktion, also Vorstellung ist, insofern ist demnach
auch der Körper eine Vorstellung. Hier zeigt sich uns eine Parallele zum
buddhistische oder hiduistischen Denken; zum Beispiel wenn gesagt wird,
dass die Welt der Erscheinungen und somit auch wir selbst keine inhärente
Existenz besitzen. Das heißt: Es gibt eine Erscheinung nur als Komposition
von Bedingungen, die den, die Erscheinung beobachtenden Menschen, stets
und unausweichlich mit ein beziehen. Und weil das für jede Form einer
Erscheinung der Objektwelt gilt, betrifft dies auch unseren Körper mit dem
wir uns unbewusst identifizieren. Nur durch ein Daten organisierendes
Gehirn, das Vorstellungen ermöglicht, erfahren wir unseren Körper als ein in
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Raum und Zeit ausgedehntes, gegliedertes, geordnetes und stabil scheinendes
Phänomen.
Den Überlegungen Schopenhauers zufolge können wir den archaischen Einen
Willen nur im Kontext von Raum und Zeit erfahren. Das heißt: Nur deshalb,
weil es uns als körperliches Objekt gibt, das eine Objektivierung des Willens
ist, können wir eine Vorstellung von Willen haben. Der Körper ist die
Voraussetzung dafür, um den Willen zu erfahren und erkennen zu können.
Dies meint Schopenhauer, wenn er sagt: "Aber wenn wir nun die Realität
dieses Leibes und seiner Aktionen analysieren, so treffen wir nichts darin an,
als den Willen." Weil er das so sieht, deshalb will er auch jede Kraft in der
Natur als Wille gedacht verstanden wissen. Der Wille ist für ihn etwas, das
seinen Ursprung nicht in den Erscheinungen, nicht in den in Raum und Zeit
erscheinenden Objekten und auch nicht in der Vorstellung hat, sondern
ausschließlich in sich selbst.
"Wille" ist für Schopenhauer nicht nur das uns bekannte bewusste Wollen,
sondern ein viel archaischeres Wollen von dem unser bewusstes Wollen nur
ein Aspekt ist. So wie wir uns etwas vorstellen können, wenn wir das wollen,
und wollen können, was wir uns vorstellen indem wir es verwirklichen, so ist
zum Beispiel unser Körper der Ausdruck einer objektivierten Vorstellung des
archaischen Willens. Der archaische Willen objektiviert sich und erscheint in
Gestalt des menschlichen Körpers. Nimmt dieser an sich gestaltlose Wille die
Form einer Erscheinung an, dann hat sich der Wille objektiviert. Aber der
Wille selbst ist zeit- und formlos. Er existiert nicht in Raum und Zeit; das tun
nur die Objekte, die eine Objektierung des formlosen archaischen Willens sind.
Der archaische Wille ist das Wesen der Welt. Die sichtbare Welt, die Welt
der Erscheinungen ist Ausdruck des Willens. Weil Wille ist, ist Welt. Weil
Wille ist, ist Leben. Der Wille selbst ist ein unaufhaltsamer Drang. Er will
Welt – er will das Leben. Geburt und Tod gehören beide zur Erscheinung des
Willens – also zum Leben. Alles was ist, die gesamte Natur ist demnach
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objektivierter Wille. Die Erscheinungsformen, die Art und Weise wie sich der
archaische Wille objektiviert, wechseln - doch der Wille selbst hört nie auf zu
sein. Er schafft sich aus der Materie seine Formen, die entstehen und
vergehen; doch der im Wechsel und Wandel der Formen sich äußernde Wille
bleibt von all dem Wandel unberührt. Jede individuelle Lebenserscheinung ist
ein Ausdruck des Willens. Er ist der große Gestaltgeber.
Schopenhauer unterscheidet die äußere Form einer Erscheinung vom inneren
Wesen einer Erscheinung. Über das innere Wesen einer Erscheinung kann
uns die Wissenschaft keinen Aufschluss geben, sagt er; dies liegt außerhalb
ihrer Möglichkeiten. Das innere Wesen der Erscheinungen muss den
Wissenschaften verborgen bleiben. Aber eben diese Erkenntnis des Wesens
der Dinge ist Schopenhauers Anliegen. Von außen lässt es sich nicht
erkennen. Die Betrachtung unseres Körpers von außen führt uns nicht zum
Wesen unserer Existenz. Erst durch die Konzentration auf unser Innerstes
erfahren wir dieses Wesen, das unseren Körper zu dem macht, was er ist. Der
Wille zeigt sich uns in den Regungen des Körpers. Denn Wille uns Körper
sind eins. Wille und Körper wollen am Leben bleiben. Beide wollen Unlust
vermeiden und Lust steigern. Jeder unmittelbare Akt des Willens ist zugleich
ein unmittelbarer Akt des Leibes. So ist auch jede Einwirkung auf den Körper
eine unmittelbare Einwirkung auf den Willen. Diese Einwirkung nennen wir
Schmerz, wenn
sie dem Willen zuwider ist und wir erfahren sie als
Wohlbehagen oder Wohllust, wenn sie seinem Willen gemäß ist. Das Wesen
des Willens ist Wollen im Sinne des Begehrens, das sich im Körper zeigt. Es
ist Begehren nach Nahrung und Fortpflanzung. In allen Aspekten und
Funktionen des Leibes zeigt sich dieses archaische Wollen. Leib, Leben und
Wille sind Eines.
Obwohl sich das archaische Wollen des Lebens in der Vielfalt der
Einzelwesen zeigt, sind alle diese Einzelwesen, die in Raum und Zeit getrennt
erscheinen im Willen geeint. Jedes Subjekt ist mit jedem Lebewesen aufgrund
seines Wollens im Wesen identisch. Tat tvam asi – dieses Lebende bist du,
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heißt es in den indischen Veden. Der Wille ist die Macht, die alles Leben
verbindet. Dieser überindividuelle Wille gibt uns die Fähigkeit zum Mitleiden
am Leiden anderer Lebewesen. Ebenso gibt er uns aber auch die Fähigkeit
zum Vernichten und Quälen des Nächsten. Weil wir alle im Willen geeint
sind, deshalb können wir im Leiden des Anderen unser eigenes Leiden
erkennen. Wer zwischen sich und dem Anderen trennt, wird nicht zu diesem
Mitleiden fähig sein. Einerseits verbindet der Wille des Lebens jeden mit
jedem. Andererseits ist dieses Verbundensein im Willen der Anlass dafür, dass
jeder gegen jeden ist. Hat man dies erkannt, ergibt sich daraus eine Ethik, die
sich auf die gesamte Welt erstreckt, weil man über den überindividuellen
Willen mit allem verbunden ist und demzufolge für alles Sorge zu tragen hat.
Wer sich in der Liebe des alle Dinge einenden Willens übt, hat sich von der
Täuschung der prinzipii individuationis befreit, weil er die Spaltung zwischen
sich und der Welt überwunden hat. Er kann seinen Willen in jedem Wesen
erkennen; und den Willen in den Erscheinungen der Welt, hat er als seinen
Willen erkannt. Im Willen ist die wesensgemäße Identität aller lebenden
Wesen, ja, der Welt zu finden. Was man an einem anderen Wesen verübt,
verübt man demnach an seinem eigenen Wesen. "Wer dies erkennt und
danach lebt", sagt Schopenhauer "ist aller Tugend und Seligkeit gewiss. Das
Übel und das Böse, das Leiden und der Hass, der Gequälte und der Quäler –
so verschieden sie sich auch zeigen – sind im Wesen des Willens Eines." Das
zu erkennen, ist nicht jedem eigen. Denn der archaische Wille blind wie der
Wille im Tier. Das Tier erkennt im anderen Tier nicht sich selbst, so wie der
Mensch im anderen Menschen sich selbst erkennen könnte. Das Tier erkennt
im anderen Tier nur den Konkurrenten, oder für eine begrenzte Zeit, das
Paarungstier. Auch der Mensch erkennt im anderen Menschen nur den
Konkurrenten oder den Paarungspartner. Im großen Teil der Menschheit
kommt deshalb der Wille nicht zum Bewusstsein seiner selbst. Darum ist der
schlimmste Feind des Menschen der Mensch. Das ist deshalb so, weil sich die
Macht des Wollens beim Einen gegen die Macht des Wollens beim Anderen
mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seien es geistige oder
körperliche durchzusetzen versucht. Weil auch soziale Gemeinschaften
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diesem archaischen Wollen in der Selbstdurchsetzung des Lebens unterliegen,
entstehen (sowohl unter den Individuen, wie in den Gemeinschaften)
eskalierende Situationen, die von der archaischen Macht des Willens zum
Überleben dominiert werden.
Schopenhauer fragt sich deshalb, wie man diesen blinden Zwang des Willens
durchbrechen könnte. Der Tod ist keine Befreiung vom Willen, sagt er. Denn
auch nach dem Tod ist man ein unsterblicher begehrender Wille. Man kann
nur mittels der Erkenntnis der Drangsal des Willens entsagen. Nur über die
Askese kann man sich dem Kreislauf des Wollens und damit des Leidens
entziehen. Wer das prinzipium individuationis durchschaut, wer das Wesen der
Dinge erkennt, kann aus dem Bannkreis des Willens heraus treten. Der Wille
wandelt sich indem man ihn verneint. Das ist Askese. Im verneinenden
Erkennen entsteht eine Abwendung vom archaischen Willen zum Leben und
der als Bindung erkannten Welt. Der Erkennende verleugnet deshalb die
Welt. Dies ist für Schopenhauer der Sieg des Geistes über das blinde Wollen.
Das Herauswachsen des verneinenden Willens aus dem Wollen des Körpers
ist
der
Kerngedanke
Schopenhauers.
Die
Befreiung
liegt
in
der
Selbsterkenntnis des Willens. In der vorstellenden und abstrahierenden
Vernunft des Menschen kommt der Wille zur Erkenntnis seiner selbst und der
Mensch erkennt, was er ist. Im verneinenden Wollen liegt die Möglichkeit zur
Aufhebung des Gefangenseins im begehrenden Wollen verborgen; es
ermöglicht die Erlösung in die Freiheit indem es den Willen zur Welt
überwindet. Der Erlöser ist der Repräsentant der Verneinung des Willens zum
Leben. Daher ist für Schopenhauer die freiwillige und durch kein Motiv
begründbare Entsagung der Befriedigung des Triebes zum Leben, die
Verneinung des archaisch zwingenden Willens der Weg zur Befreiung aus den
Fesseln der Welt.
Das Instrument für diese Befreiung ist die abstrahierende Vernunft, die sich
aus der Vorstellung heraus entwickelt. Diese Vorstellung wird - das wurde
bereits angedeutet - vom Sinnesdaten organisierenden Gehirn erzeugt. Denn
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der Mensch lebt, wie andere Lebewesen auch mit und durch seine Sinne.
Vermittels der Sinne nimmt er die Welt wahr. Die Sinne vermitteln ihm
Daten der Welt. Diese Daten bestehen aus Impulsen, die das Gehirn
stimulieren. Vom stimulierten Gehirn werden aus diesen Daten Bilder
konstruiert, die uns zeigen, wie die Welt außerhalb von uns aussieht. Die vom
Gehirn konstruierten Daten erzeugen also eine Vorstellung der Welt.
Deshalb, sagt Schopenhauer, ist die Welt eine Vorstellung. Seiner Philosophie
nach haben wir also nicht die Außenwelt in unserem Kopf, sondern eine
geistige Konstruktion davon – eben eine Vorstellung, oder: eine Anschauung
der Welt. Aus den Sinnesdaten erschafft der Wille die Anschauung.
Wenn wir eine Blume sehen, werden wir in unseren Gehirn keine Blume
finden – nur Nervenströme. Was wir in uns haben ist also eine Vorstellung
der Blume – eine Anschauung. Die Welt in der wir leben ist demnach eine Art
Cyberspace, der vom Willen erzeugt wird; sie ist eine Welt der neuronalen
Konstruktion. Worin ein Mensch unmittelbare Kunde haben kann, liegt also
nicht außerhalb, sondern innerhalb seiner selbst. Über das hinaus kann es
nach Schopenhauer keine unmittelbare Gewissheit geben. Die ganze Welt ist
Objekt in Bezug auf ein Subjekt. Die Welt ist eine Anschauung des
Anschauenden: sie ist Vorstellung.
Wie kommt es von der anschauenden Vorstellung zu Verstand, Vernunft und
Wissen? Der japanische Philosoph NISHIDA KITARO beschreibt das
Phänomen
der
Anschauung
so:
Die
anschauende
Erfahrung
ist
Wahrnehmung des Gegenwärtigen und Tatsächlichen ohne Interpretation
von Bedeutung. Etwas erfahren, so meint er, heißt das Tatsächliche erkennen
ohne die Mitwirkung der interpretierenden und abstrahierenden Vernunft.
Anschauendes Erfahren ist ein unmittelbares Wahrnehmen des Tatsächlichen
wie es ist; und dieses "wie-es-ist" ist frei von Bedeutung.
Nach Schopenhauer existiert die Welt als Anschauung nur durch einen
Verstand, der sie wahrnimmt. Hier kommt ein Begriff ins Spiel, den
Schopenhauer sehr eigenwillig anwendet: "Verstand". Die ganze Welt der
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Materie, meint er, erscheint uns nur aufgrund von Verstand. Erst der Verstand
verwandelt die blinden Empfindung der Sinnesdaten in Anschauung. Wenn
aber die Welt der Erscheinungen das Resultat eines die Sinnesdaten
organisierenden Verstandes ist, dann führt der nächste Gedankenschritt in die
Richtung der Erkenntnis, dass auch Tiere verstandesbegabt sind. "Sie alle
erkennen Objekte“, sagt Schopenhauer "und dieses Erkennen bestimmt als
Motive ihre Bewegungen. Dieses verstehende Erkennen ist in allen Tieren
und allen Menschen der nämliche, hat überall dieselbe einfache Form:
Erkenntnis der Kausalität, Übergang von Wirkung auf Ursachen und von
Ursache auf Wirkung, und nichts außer dem.“ So lange wir uns lediglich rein
anschauend verhalten, ist alles klar und gewiss. Die Anschauung ist sich selbst
genug. Sie benötigt keine Meinung, sondern nur die Sache selbst. Erst mit
dem Beginn der abstrahierenden Anschauung, mit der Vernunft beginnen
Zweifel und Irrtum.
Die Abwesenheit der Vernunft bei Tieren beschränkt sie auf die unmittelbare
gegenwärtige Anschauung der realen Objekte. Der Mensch dagegen vermag
durch seine abstrahierende Vernunft über die aktuelle Gegenwart hinaus in
Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft zu denken und Möglichkeiten
vorher zu sehen. Was also für die Erkenntnis des Verstandes die Sinne sind,
das ist für die Erkenntnis der Vernunft die Abstraktion. Und doch: der Wert
dieser Vernunft liegt in ihrer Beziehung zum Verstand. Die Erkenntnis in
abstracto bewährt sich erst in Bezug zur Erkenntnis in concreto. "Daher ist es
beachtenswert", sagt Schopenhauer, "ja wunderbar, wie der Mensch, neben
seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten
ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluss der Gegenwart preis
gegeben, muss streben, leiden, sterben, wie das Tier. Sein Leben in abstracto
aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille
Abspiegelung des ersten und der Welt, worin er lebt."
Die abstrahierende Vernunft entsteht aus den Mitteln der Sprache, die das
intuitive Anschauen und unmittelbare Erfahren der Welt mit Hilfe eines
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Rasters aus Begrifflichkeit und Grammatik ordnet und dadurch intersubjektiv
kommunizierbar macht.
"Vernunft" kommt von "Vernehmen", meint Schopenhauer, wobei er aber
nicht ein auditives "Hören" meint, sondern das Innewerden der durch Worte
mitgeteilten Gedanken. Für ihn hängt die Welt der Erscheinungen, die auf
den Menschen wirkt mit der Vernunft zusammen. Diese subjektive Vernunft,
dieses Vernehmen-Können der Erscheinungen und die damit verbundenen
Vorstellungen unseres Welt-Bildes bedingen einander. Seit die Welt der
Objekte den Menschen hervor gebracht hat, hat sie auch die auf Begriffen
beruhende
Vernunft
hervor
gebracht,
womit
die
Erfahrungen
der
Erscheinungen benannt, und dadurch eine von den Erscheinungen
abstrahierte Dissoziation möglich wird. Diese Vernunft ist ebenso eine
Konstruktion des Gehirns, wie die Vorstellung. Und so wie der Mensch als
Ganzes ein Produkt der Welt der Objekte und somit ein Produkt des
archaischen Wollens ist, ist auch die abstrahierende Vernunft eine
Erscheinung des Willens.
In dem inzwischen vergriffenen Buch aus dem Jahr 1965 von ALFONSO
VERDU "Abstraktion und Intuition als Wege zur Wahrheit in Yoga uns Zen"
beschreibt der Verfasser zwei verschiedene Zugangsweisen zur Erkenntnis der
Wirklichkeit. Den yogischen Weg, der in die Richtung einer zunehmenden
Abstraktion verläuft und einen anderen, den Weg des Zen, der in Richtung
Intuition führt. In der Philosophie Schopenhauers entspräche der yogische
Weg der Abstraktion einem Weg auf dem man die Vernunft benutzt, um sich
vom Zwang des archaischen Willens zu befreien. Der intuitive Zenweg
hingegen entspräche einem Weg der reinen Anschauung, die, das ist
begrifflich etwas irritierend, auf dem Verstand beruht. Schopenhauer versteht
diesen Unterschied so: Wie der Verstand nur eine Funktion hat, nämlich das
unmittelbare Erkennen der Verhältnisse von Ursache und Wirkung, also die
Anschauung der Welt, so hat auch die Vernunft nur eine Funktion, nämlich
die Bildung passender Begriffe. Diese Definition Schopenhauers kann man
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sehr gut am Unterschied von Phänomen und Phänomenologie darstellen. Das
Phänomen entspräche dem unmittelbaren Erkennen der Welt; sie begnügt sich
mit der Anschauung und ist demnach ein Ausdruck von Verstand. Die
Phänomenologie dagegen entspräche den mitgeteilten Gedanken, die eine auf
Begriffen beruhende Beschreibung in der gesprochenen oder geschriebenen
Vermittlung des anschaulich erkannten Phänomens sind.
Bei Schopenhauer sind Anschauung, Verstand und Vernunft des Subjekts der
Ausgangspunkt
aller
Erkenntnis.
Der
einzige
Ausgangspunkt.
Die
Wissenschaften, so meint er, machen den Fehler anzunehmen, dass ein
Objekt unabhängig vom betrachtenden Menschen erkannt werden kann. Er
jedoch sagt: Objekt und Vorstellung sind Korrelata; das heißt, eines ist für das
andere da und keines für sich allein. Beide - Objekt und Vorstellung entstehen und vergehen zusammen. Eigentlich sind sie ein und das Selbe, von
zwei entgegen gesetzten Seiten aus betrachtet. Die Naturwissenschaften
vermeinen nur, die Objekte der Welt objektiv erkennen zu können. Aber,
Schopenhauer ist hier ganz eindeutig: es gibt kein Objekt ohne ein Subjekt,
das dieses wahrnimmt. Das Subjekt ist das Zentrum jeglichen Erkennens.
"Dasjenige, das alles erkennt und von keinem erkannt wird ist das Subjekt. Es
ist die durchgängige vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden", sagt er.
Was bleibt übrig von den Dingen und Objekten, wenn wir hinter ihre
Erscheinung blicken könnten? Gibt es eine Beschaffenheit eines Objekts
unabhängig davon, wie es uns erscheint? Da der Mensch nur durch seine
Sinne Zugang zur Welt hat, kann er die Welt nur so wahrnehmen, wie sie
ihm durch seine Sinnesorgane vermittelt wird. Das ist die Welt als
Vorstellung, die ein Produkt des Verstandes und damit des Gehirns ist.
Aber: wenn die Welt ein Gehirnphänomen ist, wenn sie lediglich
Anschauung, wenn sie Vorstellung ist: worin unterscheidet sie sich dann vom
Traum? Denn die Vorstellungen im Traum, und die Welt als Vorstellung im
Wachleben, sind, wenn auch verschieden, im Phänomen der Anschauung das
Selbe.
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Ist nicht etwa das ganze Leben ein Traum?, philosophiert Schopenhauer. Gibt
es ein sicheres Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen
Phantasie und realen Objekten? Schopenhauer macht keinen Unterschied
zwischen Traum und Wachleben. Die Bildes des Tages und die des Traumes
sind beides Erscheinungen unserer Anschauung. Keine der beiden
Anschauungsformen kann mehr Recht auf Wirklichkeit beanspruchen als die
andere. Jede der beiden Welten ist eine eigene Welt für sich. Nur durch die
Art ihrer Darstellungen und ihrer Verknüpfungen unterscheiden sie sich. Die
Zusammenhänge der Anschauungen im Wachbewusstsein erscheinen
lediglich geordneter und stabiler. Aber auch die Anschauungen im Traum
zeigen uns einen Zusammenhang. Schopenhauer findet zwischen den
Anschauungen im Wacherleben und den Anschauungen im Traumerleben
ihrem Wesen nach keinen markanten Unterschied. Die Wirklichkeit ist für
ihn deshalb ein Traum neben anderen Träumen; aber ein materialisierter
Traum.
Doch auch wenn sich Traum und Wirklichkeit als Phänomene der
Anschauung nicht zu unterscheiden scheinen, geht Schopenhauer dennoch
nicht so weit, damit die Welt der greifbaren Materie zu leugnen. Denn die
Anschauungen, die Erscheinungen kommen nicht aus sich selbst heraus
zustande. Deshalb ist die Realität der Materie für ihn die eine unabdingbare
Hälfte eines Ganzen. Die zweite Hälfte ist das dazu gehörige erkennende
Subjekt.
Wie können wir das alles wissen? Es zeigt sich, dass es, aus der Sicht
Schopenhauers völlig unerheblich ist, ob etwas gewusst wird. Er sagt: "Wissen
ist das fixiert Haben in abstrakten Begriffen der Vernunft, des auf andere
Weise in unmittelbarer Anschauung Erkannten.“ Damit meint er: Zuerst
verstehen wir im unmittelbaren Erkennen durch die Sinne, die Welt der
Objekte. Dann benennen wir die Objekte mit sprachlichen Begriffen und
schaffen so abstrakte Vorstellungen, die uns vom unmittelbaren Erkennen
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dissoziieren. Das ist die Voraussetzung für die Vernunft. Bis hierhin haben
wir es mit einem Prozess zu tun. Aber dann halten wir an der Vernunft fest;
wir fixieren sie. Das ist das Wissen. Der Gegensatz des Wissens wäre nach
Schopenhauer das Gefühl, oder vielmehr, die Intuition; man könnte auch von
einem intuitiven Gefühl sprechen, das ein Ausdruck der unmittelbaren
Anschauung im Akt des Verstehens ist und demnach kein Ergebnis des
Wissens sein kann. Wie jeder bestimmt schon erfahren hat, löst sich diese
gefühlte Intuition sofort auf und verflüchtigt sich, sobald das Wissen
dazwischen tritt.
Wissen beruht auf Denken, und Denken ist ein mechanischer Vorgang in der
Zeit, sagt JIDDHU KRISHNAMURTI in einem Gespräch mit dem englischen
Physiker DAVID BOHM. Ein Computer kann deshalb wesentlich schneller
denken, als ein Mensch; und deshalb kann auf der Festplatte eines Rechners
wesentlich mehr an Informationen gespeichert sein als in einem menschlichen
Gehirn.
Trotzdem
hat
auch
unser
biologisches
Gehirn
viel
mehr
Informationen gespeichert, als jedem Einzelnen von uns bewusst ist. Ebenso,
wie eine Festplatte kein Bewusstsein von den auf ihr gespeicherten
Informationen hat, ist sich auch der Mensch über den Großteil seiner
biologisch gespeicherten Informationen nicht bewusst; er weiß also nicht, was
sein System weiß. Wissen ist gespeicherte Information.
Schauen wir auf die Ganzheit des Lebens und der Welt, wie Schopenhauer es
tut, dann sehen wir einen wissenden Willen; einen Willen, der sich
Objektiviert und sich dadurch in der Vielfalt materieller Objekte aufspaltet,
die sich zu Subjekten ausgestalten in denen sich der Eine archaische Wille
selbst erkennt. Im Willen sind Anschauung, Verstand, Vernunft und Wissen,
sind Objekt und Subjekt ein und das Selbe. Der Wille verbindet alles und
trennt es zugleich. Der Eine archaische Wille kann alles wollen. Sein Wollen
reicht von barbarischer Brutalität bis zu transzendenter Liebe, vom Haften an
elementarer Gier bis zum Verzicht, vom leidenschaftlichen Treib zu
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kultivierter Sublimation. Seine höchste Form des Ausdrucks findet er im Nein
zu sich selbst.
Die Philosophie Schopenhauers wird gerne als Menschen verachtend und
pessimistisch dargestellt. Von ihm selbst sagt man, er wäre ein Misanthrop
gewesen. Wer das meint, der hat ihn nicht verstanden. Wenn Schopenhauer
den Großteil der Menschheit als Trieb gesteuerte Population domestizierter
Raubaffen versteht, dann macht ihn das nicht zum Verächter der Menschen;
er beschreibt damit nur ungeschminkt, schnörkellos und nicht beschönigend
den Zustand, den er vor findet, wenn sein Blick bis in die Tiefen der
menschlichen Existenz vor dringt. Und wenn Schopenhauer, die Negation als
einzige und unbedingt erforderliche Reaktion auf den archaischen Triebwillen
erkannt hat, dann steht er damit in einer viertausend Jahre alten Tradition
großer Geister der Menschheit, die bis in die Zeit der Veden zurück reicht.
Die Asketen, Einsiedler, Eremiten und Verneiner des Lebens - sie alle haben
sich gegen den archaischen Willen zum Leben gestellt, und einen Willen
kultiviert, der in die einsamen Höhen der geistigen Möglichkeiten des
Menschen führt. Von dort wieder herab zu steigen und einzutauchen in das
Getriebe des Wollens der Welt, scheint eine jener Herausforderungen zu sein,
für die es keine vorgebahnten Wege gibt. Die lapidare Forderung SIGMUND
FREUDS "wo Es ist, soll Ich werden", bekommt aus dieser Sicht der
Erkenntnisse Schopenhauers eine philosophisch aktualisierte Bedeutung.
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