Schopenhauer und das Erkennen der Welt In der Philosophie Schopenhauers sind folgende Begriffe von Bedeutung: Wille und Vorstellung, Objekt und Subjekt, Anschauung, Vernunft, Verstand und Wissen. Im Grunde ist seine gesamte Philosophie eine differenzierte und komplexe Definition dieser Begriffe mit deren Hilfe er alle Erscheinungsformen von Mensch und Welt bis in die Bereiche des Paranormalen hinein kritisch untersucht und Sinn bildend beschreibt. Schopenhauer zufolge existiert die Welt in der wir leben als Wille und Vorstellung. Das klingt zunächst nicht weiter aufregend. Folgt man aber seiner Aussage weiter, dann sagt er uns damit: die Welt ist Wille und sie ist Vorstellung. Sollte es so sein, wäre das eine aufregende Einsicht mit weit reichenden Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen wäre zum Beispiel die Erkenntnis: Ich bin Wille und Vorstellung. In der philosophischen Tradition des Westens vor Schopenhauer stand der so genannte "Geist" im Mittelpunkt des Denkens. Schopenhauer bricht mit dieser Tradition. Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens ist nicht der Geist, sondern das Leben; die Lebenskraft. Er fragt: welche Kraft lässt einen Organismus leben? Diese Frage nach der Lebenskraft führt ihn zur Sexualität. Spricht man vom Leben, so meint er, muss man auch von dessen Erhaltung sprechen. Deshalb können Mensch und Leben nicht ohne die Sexualität gedacht werden. Schopenhauer erkennt, dass Mensch und Leben unmittelbar mit der Erhaltung der Gattung zusammen hängen; der Selbsterhaltung des Lebens. Aus diesem Grund setzt die Philosophie Schopenhauers nicht am menschlichen Geist, sondern am Trieb zur Zeugung an. Er sagt: im Zentrum des Willens zum Lebens steht die Sexualität. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 1 Die Natur, deren innerstes Wesen der Wille zum Leben ist, treibt mit aller Kraft den Menschen, wie das Tier, zur Fortpflanzung. Diesem Willen zum Leben ist es nur an der Erhaltung der Gattung gelegen, das Individuum bedeutet ihm nichts. Im Geschlechtstrieb stellt sich deshalb der Wille zum Leben am deutlichsten dar. Aus diesem Grund ist die Sexualität in der Betrachtungsweise Schopenhauers viel mehr als jede andere Regung des Leibes einem archaischen Willen und nicht etwa der Erkenntnis unterworfen. In der Sexualität zeigt sich der Brennpunkt des Willens. Die Genitalien sind dem zu Folge der dem Gehirn als Repräsentant der Erkenntnis entgegen gesetzte Pol. Der Mensch wird im Allgemeinen, sagt Schopenhauer, von seinem Geschlecht regiert und nicht von Geist. Der Triebwille bestimmt das menschliche Wesen und Handeln; und dieser blind treibende Wille ist gewissermaßen in der Sexualität konzentriert. Deshalb ist die Geschlechtsliebe der stärkste aller Triebe. Sie ist der unbewusst drängende Willen zum Leben und Überleben. Schopenhauers Betrachtungsweise ist radikal. Jede Verliebtheit, wie romantisch sie sich auch geben mag, sagt er, ist ausschließlich ein Ausdruck des Lebenswillens, den er einen "individualisierten Geschlechtstrieb" nennt. Der indische Philosoph JIDDHU KRISHNAMURTI sagt: In Indien gibt es eine besondere Philosophie, die Tantra genannt wird. Ein Teil dieses Tantra fördert Sex. Es wird behauptet, dass man durch Sex erleuchtet werden könnte. Sex wird also unterstützt, damit man über das Alltägliche hinaus gelangt – aber man gelangt niemals darüber hinaus. Niemals haben die Autoren des Tantra die Frage gestellt, warum die Menschen die Sexualität zu etwas so Wichtigem in ihrem Leben machen. Werfen wir einen Blick auf die Realität. Die gesamte Lebenswelt, die Natur hält sich durch Fortpflanzung am Leben. Es wundert deshalb nicht, wenn Schopenhauer den Triebwillen, wenn er den in jeder Lebenserscheinung erkennbaren Willen zum Leben als allumspannende Gemeinsamkeit allen Lebens ins Zentrum seiner Philosophie rückt. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 2 Von diesem grundlegenden Verständnis der elementaren Lebenswirklichkeit ausgehend, sieht er den Menschen primär nicht mehr als Geistwesen, wie viele Philosophen vor ihm, sondern als Naturwesen. Schopenhauer philosophiert deshalb auch nicht über den "Geist" des Menschen, sondern über dessen Triebnatur. Er definiert den Menschen über Körper und Natur. Dadurch macht er die Philosophie nicht mehr zu einer Philosophie des Geistes, sondern zu einer Philosophie der körperlichen Welt. In Schopenhauers Denken wird der so genannte "Geist" als eine Funktion des Leibes verstanden. Das war zu seiner Zeit eine ungeheuere Provokation. Schopenhauer leitet das Wesen des Menschen von den Begierden seines Körpers ab, die er "Wille" nennt. Für ihn ist das Wesen des Menschen der Wille zum Leben. Und dieser Wille, dieses Wollen sind die dem Menschen nicht bewussten Begierden seines Körpers. Schopenhauer hat damit die von SIEGMUND FREUD postulierte Triebtheorie, das Unbewusste und das Es der Psychoanalyse vorweg genommen. Es wäre nicht zu weit her geholt an zu nehmen, dass Freud durch die Schriften Schopenhauers zu diesen Denkmodellen angeregt worden ist. Auf Grund des triebhaften Wollens wird das Wesen der Welt nicht in einem geistigen, sondern in einem viel unmittelbareren Zugang erfahren – und zwar als Affekte und Willensregungen des Körpers. Das Wesen der Dinge, folgert Schopenhauer, offenbart sich nicht über das Geistige, nicht über das Denken, sondern: über die Begierden. Wir erfahren das Wesen der Welt nicht über den Geist, der uns nur eine Vorstellung der Welt liefert, sondern über den Körper. Der Geist, so meint er, führt den Menschen nicht zur Erkenntnis der Welt und zur Wahrheit. Schopenhauer hat damit eine Wandlung im Konzept der traditionellen Philosophie vollzogen. Für ihn ist der Körper des Menschen das primäre Medium der Selbst- und Welterkenntnis, und nicht sein Geist. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 3 Für Schopenhauer ist das Verständnis des Willens der Weg zum Verstehen des Wesens der Welt. Der unvoreingenommene Blick auf den Triebwillen der uns beständig hierhin und dorthin drängt lässt uns seiner Meinung nach erkennen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Wenn Schopenhauer den Menschen betrachtet sieht er nicht seinen Geist oder einen ihm übergeordneten Schöpfergott; er sieht eine geistlose blinde Triebnatur, die sich am Willen zum Leben orientiert. Wille, sagt er, ist das Gegenteil ruhenden Genügens. Er ist Unruhe, streben nach etwas, lechzen, Gier, Verlangen, Leidenschaft und damit auch Leiden. Der Wille ist nicht nur die ewig unbefriedigte Lebenskraft, er ist zudem die Quelle des Leidens. Der Triebwille hat den Menschen in der Hand. Der Wille ist mit Aktionen des Körpers identisch; man kann nicht wirklich etwas wollen, ohne wahr zu nehmen, dass dieses Wollen als Reaktion im Körper erscheint. Der Akt des Wollens und die Aktionen, bzw. Reaktionen des Körpers sind keine zwei von einander getrennte Zustände, die etwa durch Kausalität miteinander verbunden wären; das Wollen und die Reaktionen des Körpers haben keine Beziehung von Ursache und Wirkung zueinander, derart, dass der Wille die Ursache für die Wirkung im Körper wäre. Nein, Wille und Körper sind Eines und das Selbe, folgert Schopenhauer konsequent. "Die Aktion des Leibes", sagt er "ist nichts Anderes, als der objektivierte, ... Akt des Willens." Wenn Schopenhauer vom "Willen" spricht, dann meint er aber zunächst nicht das was wir im Lebensalltag als Wille verstehen. Sein Verständnis des Willens als Grundvoraussetzung alles Seienden reicht tiefer. Denn dieser Eine allumfassende Wille den er erkennt, liegt außerhalb von Zeit und Raum. Dieser Wille, sagt er, ist Einer ohne ein Zweites. Und dieser Eine Wille spaltet sich in die Vielheit der Erscheinungen auf und erscheint dadurch in Zeit und Raum. Dieses sich Aufspalten des Einen Willens in die Vielheit nennt Schopenhauer prinzipium individuationis. Der Eine und ungeteilte nicht sichtbare Wille objektiert sich indem er sich in Form materieller Gestalten in Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 4 Raum und Zeit zeigt und dadurch Objekt wird. Durch dieses "zum Objekt Werden" entfaltet sich der Eine Wille und wird zu einer Willens-Vielfalt; er wird zu Ursachen und Wirkungen und deshalb wahrnehmbar. Der Eine – der formlose Wille – fließt gewissermaßen in die Erscheinungsvielfalt der Welt auseinander. Diese Spaltung des Einen Willens in die Vielheit der Erscheinungen meint Schopenhauer, wenn er vom prinzipium individuationis spricht. In diesem Gedankenbild Schopenhauers ist jede Person, jedes Individuum eine objektivierte Erscheinung des Einen Willens; und im unvoreingenommenen Erfahren unserer selbst können wir deshalb erkennen, meint Schopenhauer, dass wir nicht frei, sondern dem Willen unterworfen sind. Denn der in uns und durch uns wirkende Wille wirkt mit oder ohne unsere Erkenntnis. Zwar kann dieses Wollen von unserer Erkenntnis begleitet sein; aber von ihr geleitet, ist dieses archaische Wollen nicht. In diesem Zusammenhang zitiert Schopenhauer in einer seiner Schriften eine Metapher des holländischen Philosophen BARUCH DE SPINOZA aus dem 17. Jhdt., der gesagt hat: dass der durch einen Wurf hoch fliegende Stein, wenn er ein Bewusstsein seiner selbst hätte, meinen würde, aus eigenem Willen hoch zu fliegen. Und Schopenhauer kommentiert, dass der Stein damit Recht haben würde. Hätte er tatsächlich Recht, oder würde er sich lediglich einbilden, Recht zu haben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man vom Einen ungeteilten, oder von den individualisierten und somit geteilten Willenserscheinungen ausgeht. Was ist der Unterschied? Das archaische Eine Wollen kennt kein Nein; das subjektive individualisierte Wollen dagegen schon. Das einzige entscheidende Kriterium dafür, dass wir uns als Menschen als willensfähig erfahren und unseren individuellen Willen erkennen können, zeigt sich darin, dass wir imstande sind nein sagen zu können zum archaischen Wollen, das uns blind zu zwingen scheint. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 5 Um sich aus diesem Kreislauf zu befreien, das der archaische Eine Wille durch sein triebhaftes Begehren verursacht, lehrt uns Schopenhauer diesen Willen zu verneinen, die Begierden, Affekte und Leidenschaften zu zügeln. Das individuelle Wollen soll sich über die Leidenschaften des Körpers und dessen archaischem Wollen ermächtigen. Schopenhauer schreibt: "So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen." Jede Objektivierung des Willens macht einer anderen Objektivierung die Existenz streitig. Nach Schopenhauer zeigt sich darin die Offenbarung einer im Willen selbst angelegten Entzweiung mit sich selbst. Er illustriert diesen Gedanken mit einer Beschreibung der australischen Bulldogs-Ameise: wenn man sie durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- und dem Schwanzteil; der Kopf greift den Schwanzteil mit seinem Gebiss an, und dieser wehrt sich tapfer, indem er immer wieder auf den Kopf einsticht. Ein solcher Kampf pflegt eine halbe Stunde lang zu dauern. Ein anderes Beispiel aus der Biologie der Fortpflanzung, das uns ADRIAN FORSYTH in dem Buch "Die Sexualität in der Natur" schildert, vermittelt uns ebenso die Aufspaltung des Einen Willens in die "Entzweiung mit sich selbst". Es ist ein Beispiel aus dem Bereich der Fortpflanzung und zeigt den Willen des Einen gegen den Willen des Anderen besonders anschaulich. Dieses Beispiel entfaltet seine Botschaft um so deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich dabei um einen Ausdruck des archaischen Willens handelt. Es ist die sexuelle Strategie der männlichen Skorpionflige: die Vergewaltigung. Die Männchen machen sich auf die Suche nach einem Weibchen. Sobald ein Männchen ein Weibchen entdeckt, stürzt es sich darauf und packt es mit seinen großen Genitalzangen. Hat das Männchen das Weibchen fest in seinen Griff bekommen, versucht es das sich wehrende Weibchen in eine kopulationsgerechte Lage zu bringen. Das gelingt ihm mit Hilfe eines speziellen Haftorgans, das es ihm ermöglicht trotz des sich heftig wehrenden Weibchens sein Genitalorgan mit dem des Weibchens in Kontakt zu bringen und es zu besamen. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 6 An die Eier eines Weibchen heran zu kommen, lässt sich natürlich auch mit anderen, weniger drastischen Methoden erreichen, in denen sich das archaische Wollen in anderer Form zeigt. Das ist die sexuelle Strategie, ein sesshafter Zwerg zu werden. Dazu entwickeln sich die Männchen zu winzig kleinen Wesen, die entweder innerhalb oder außerhalb eines Weibchens als tragbare Samenbank leben. Die Männchen haben sich zu einer parasitären Form entwickelt, die es ihnen ermöglicht, sich auf Dauer bei einem Weibchen einzunisten indem sie sich auf ein reines Fortpflanzungsorgan reduziert haben. Der Biologe ADRIAN FORSYTH schreibt: "Nichts spricht dafür, dass das, was natürlich ist, auch gut ist. Der Mensch hat Verstand und Willenskraft, und er kann diesem Szenario entgegen wirken." Wenn die Welt, wie Schopenhauer meint, eine Manifestation des Willens ist: Wessen Wollen ist es? Wer will etwas? Für ihn ist das universale Wollen das, was weder Anfang noch Ende hat. Weil es ist und von nichts Konkretem bedingt wird, demnach also ohne Ursache ist, deshalb ist es außerhalb von Raum und Zeit. Erst dadurch, dass sich das Wollen objektiviert, das heißt: indem es sich in Raum und Zeit aufspaltet und sich dadurch als Erscheinungen in Raum und Zeit objektiviert, erzeugt es Ursachen und Wirkungen. Man könnte deshalb sagen: Die Welt ist, weil die Welt vom Willen gewollt wird; weil sich der Wille sich in der Vielfalt der Erscheinungen äußern und gestalten will. Die Welt der Objekte wird gewollt. Die Objekte sind ein Ausdruck des Wollens selbst. Deshalb ist jede Erscheinungsform ein Ausdruck des Einen Willens der sich in die Vielheit aufspaltet. Wenn ich das in einem einfachen Beispiel darzustellen versuche, zeigt sich folgendes Bild: Der Eine Wille objektiviert sich in der Lebenswelt zu Lebewesen, die in ihrem Existieren voneinander getrennt sind; in der menschlichen Lebenswelt entfaltet sich dieser Eine Wille zu Ich und Du. Er spaltet sich auf zu Ich und Du; das führt dazu, dass das Ich etwas anderes wollen kann als das Du. Auf diese Weise entsteht und entfaltet sich die Komplexität der Lebenswelt mit all Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 7 ihrer Brutalität, die dadurch gegeben ist, dass sich die Einheit des Wollens im gegensätzlichen Wollen der Vielheit bricht. Die Philosophie Schopenhauers lebt aus der Spannung zwischen Willen und Vernunft, zwischen Körper und Geist. Der Eine Wille, der Triebwille als Wille zum Leben wird von ihm als eine ungeheuere Macht angesehen mit der die Vernunft schwer zu kämpfen hat. Nur unter günstigsten Bedingungen und beständigen Bemühungen, meint er, kann der individualisierte Wille den archaischen Willen zügeln, und einen vom Triebwillen befreiten Zustand erleben. "Wo Es ist soll Ich werden", hat SIGMUND FREUD nach Schopenhauer gesagt und damit vermutlich dasselbe gemeint wie er. Wenn Schopenhauer fragt: "Was lässt uns leben? Welche Macht formt den Leib und lässt ihn leben?", dann geht er dieser Frage tiefer nach als die Wissenschaften, wenn er sich überlegt, worin das Prinzip besteht, das uns leben lässt. Die Wissenschaften, kritisiert er, beobachten das Leben nur von außen. Sein Ansatz dagegen besteht darin, die Phänomene nicht von außen, sondern von innen her zu betrachten. Und das, was er nach innen fühlend und nach innen schauend findet ist die Energie des Wollens. Man könnte meinen, dass der Wille, den Schopenhauer erkennt, dasjenige ist, das in der Theologie als Gott verstanden wurde. Für ihn ist aber der Wille weit entfernt von einem persönlich gedachten und agierenden Schöpfergott. Im Gegenteil: Der Wille, den Schopenhauer meinst, ist blind. Und weil er blind ist, deshalb ist er weder gut noch böse. Sobald sich der Wille in Form von Objekten zeigt, und diese Objekte Vernunft entwickeln, dann ist diese Vernunft aus der Sicht Schopenhauers ein zufälliges Nebenprodukt. Denn der Körper und dessen Wollen, sagt er, hat die menschliche Vernunft gar nicht nötig. Die Evolutionsbiologie würde Schopenhauer vermutlich Recht geben. In Patagonien hat man im Jahr 2007 das Skelett eines bisher unbekannten Riesen aus der Familie der Titanosaurier Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 8 mit einer Gesamtlänge von 32 Metern gefunden. Diese Tiere haben zu einer Zeit gelebt als es noch keine Hominiden gab. Zudem hat es eine viele tausende von Jahren dauernde hominide Existenz gegeben in der es das, was Schopenhauer als Vernunft versteht noch nicht gab. Tatsachen dieser Art scheinen zu bestätigen, dass es ein blindes Wollen, einen Lebenstrieb ohne Vernunft gibt. Wird dadurch die Aussage Schopenhauers bestätigt? Keineswegs. Denn das was für Schopenhauer offenbar ein "blindes Wollen" ist, offenbart bei näherer Betrachtung ein auf Vorstellung beruhendes Geschehen, das er als "Verstand" bezeichnet. Dieser Verstand ist allerdings zur Gänze dem bedingungslosen Trieb zum Leben und Überleben unter geordnet. Der archaische Wille nutzt Vorstellung und Verstand, um seinen Willen durch zu setzen. Wie kommt es zum Phänomen der Vorstellung? Wir erfahren die Welt durch unsere Sinne; und wir erkennen das, was uns die Sinne vermitteln durch die Funktionen des Gehirns. Das Gehirn organisiert die Sinnesimpulse und konfiguriert daraus eine Vorstellung von einer Welt außerhalb des Gehirns. Diesen Zusammenhang meint Schopenhauer, wenn er sagt, dass die Erkenntnis der Welt durch eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zustande kommt, und dass wir uns eine "objektive" Welt nicht vorstellen können, weil jede Vorstellung ein Akt dieser Beziehung ist. Jedes Objekt unserer Betrachtung ist somit ein Produkt der Vorstellung. Sie wird durch eine Wechselwirkung von Außenwelt, Sinnesfunktion und Gehirn erzeugt. Die Sinne empfangen Reize der Außenwelt in Form von Nervenimpulsen, die an verschiedene Bereiche des Gehirns weiter geleitet werden. Dort werden die Impulse vom Gehirn organisiert und zu Vorstellungen umgewandelt. Diese Umwandlung ist ein Akt des Gehirns. Weil aber dieses Gehirn ein Gehirn gewordener Willen ist, deshalb ist die vom Gehirn erzeugte Vorstellung ein Akt des Willens. Schopenhauer meint, dass dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, der Wille ist. Er ist der Träger der Welt, die durchgängige und stets vorausgesetzte Bedingung jeder Erscheinung und damit eines jeden Objekts. Der Wille im Subjekt ist das, was erkennt. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 9 Die Welt, die wir erkennen, ist nach Schopenhauer eine Welt der Vorstellung. Sie ist eine Welt der Phänomene. Was ist ein Phänomen? Es ist etwas, das erscheint. Damit etwas erscheinen kann, bedarf es eines Objekts und eines erkennenden Subjekts. Ohne Subjekt kann es keine Erscheinung geben; denn jede Erscheinung erscheint einem Subjekt. Ein Objekt kann keinem anderen Objekt erscheinen. Deshalb ist die Welt der Phänomene eine Welt der Vorstellungen. Eine Vorstellung, ein Phänomen ist eine untrennbare Einheit von Objekt und Subjekt. Verschwänden die Subjekte, würde auch die Welt der Phänomene, würde auch die Welt der Erscheinungen verschwinden. Die Einsicht Schopenhauers, dass die Realität, als eine Welt der Erscheinungen nur als Vorstellung existieren würde, führt zu einer skeptischen Gedankenreaktion. Man wird sich nämlich sagen, dass die Welt schon existiert hat bevor es den Menschen gab. Und jeder würde es vermutlich als selbstverständlich ansehen, dass es die Realität auch ohne den Menschen gibt. Deshalb muss man sich vor Augen halten, dass in diesem Zusammenhang, wenn es um die Welt der Phänomene geht, von einer Welt der Erscheinungen die Rede ist, die tatsächlich nur so lange und in so fern existiert, als es ein wahrnehmendes und erkennendes Subjekt und somit die Vorstellung gibt. Ohne diese Vorstellung, ohne wahrnehmendes Erkennen löst sich die Welt der Phänomene auf. "Aber die Welt würde trotzdem weiter existieren", mag man dagegen argumentieren. Selbstverständlich existiert sie weiter; aber auf eine Weise, die nicht erfahren werden kann, wenn es kein Subjekt gibt, dem die Welt als Vorstellung erscheint. Schopenhauer unterscheidet zwischen intuitiven und abstrakten Vorstellungen. Abstrakte Vorstellungen beruhen auf Begriffen, die sich von der unmittelbar anschauenden, der intuitiven Vorstellung unterscheiden. Dieser Unterschied zwischen abstrakter und intuitiver Anschauung, zwischen dem abstrakten und intuitiven Erkennen der Welt der Objekte hängt mit dem Erkennen des Raumes und der Zeit zusammen. Denn: Was ist eigentlich ein Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 10 Objekt?, fragt Schopenhauer und sucht damit eine Antwort die Frage: was ist Materie? Und er erkennt, dass jedes materielle Objekt nur und ausschließlich im Kontext von Einwirkungen in Bezug auf ein anderes Objekt existiert und somit eine Erscheinung im Netz von Ursache und Wirkung ist. Das, so folgert er weiter, ist das Wesen der Materie: sie ist Wirkung. Materie ist Wirkung. Und wir bezeichnen die Vorstellungen, die wir uns von den Wirkungen machen als "Materie". Die Realität der materiellen Wirklichkeit ist also Wirkung. Wir erfahren diese Wirkungen in Raum und Zeit. Beide, Raum und Zeit beruhen auf abstrakten Anschauungen. Denn das, was wir zeitlich als Vorher und Nachher, und was wir räumlich als ein Hier und ein Dort erkennen sind Abstraktionen des Subjekts; es sind Vorstellungen, mit deren Hilfe der Mensch die Erscheinungen betrachtet und ordnet. Für die intuitive und unmittelbare Anschauung existiert nur ein komplexes Netz von Hier und Jetzt. Erst die Vorstellung von Raum und Zeit führt zur Vorstellung von Materie. Das aber bedeutet, dass die Vorstellung von Materie ein sensorisches Erleben voraussetzt, das mit der abstrakten Vorstellung von Raum und Zeit verknüpft wird. Dieser Zusammenhang sagt uns im Umkehrschluss, dass die Materie ausschließlich im Kontext eines sensorisch erlebenden Subjekts erscheint, das dieses Erleben in Verbindung seiner Anschauung von Raum und Zeit strukturiert. Für den philosophischen Realismus ist das Objekt die Ursache für das Subjekt. Für den philosophischen Idealismus ist das Subjekt die Ursache für das Objekt. Schopenhauer sieht es so, dass Objekt und Subjekt zwei verschiedene und koexistente Seiten des Einen Willens sind. Im Licht dieser Betrachtung lässt sich ein Objekt ohne Subjekt nicht vorstellen; und das bedeutet: die Objekte, die als materielle Formen erscheinen, bedürfen des Subjekts; und das Subjekt bedarf der Objekte, um sich erfahren zu können. Das Eine kann nicht ohne das Andere sein. Es gibt keine Erscheinung eines Objekts ohne Subjekt; und es gibt kein Subjekt, ohne die Welt der Objekte. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 11 Schopenhauer sagt: "Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung, und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt." Die anschauliche Welt – die Welt als Anschauung und Vorstellung: wie unterscheidet sie sich von der Welt der Träume, die ja auch Anschauung und Vorstellung sind? Anders gefragt: Wenn die Welt des Realen Anschauung und Vorstellung ist, und die Welt der Träume auch – wie lassen sich dann Traum und Wirklichkeit, wie lassen sich Phantasie und Realität voneinander unterscheiden? Für Schopenhauer besteht der einzige Unterschied darin, dass wir nach dem Träumen erwachen, wodurch die geträumten Begebenheiten von den Begebenheiten im Wachsein getrennt erscheinen und dadurch unterscheidbar werden. Das aber sagt nichts anderes, als dass es lediglich einen Unterschied zwischen einem Schlaftraum und einem Wachtraum zu geben scheint. Mit anderen Worten: im Wachsein träumen wir die Vorstellung einer Realität, und im Schlaf träumen wir die Wirklichkeit der Vorstellung. Im tibetischen Yoga des Träumens, den TENZIN WANGYAL RINPOCHE beschreibt, heißt es: Betrachte die Realität, als würdest du sie träumen. Betrachte deinen Traum, als wäre er Realität. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass auch der Körper, den man hat, nur als Vorstellung existiert. Insofern der Körper ein Objekt, und die Welt der Objekte eine mentale Konstruktion, also Vorstellung ist, insofern ist demnach auch der Körper eine Vorstellung. Hier zeigt sich uns eine Parallele zum buddhistische oder hiduistischen Denken; zum Beispiel wenn gesagt wird, dass die Welt der Erscheinungen und somit auch wir selbst keine inhärente Existenz besitzen. Das heißt: Es gibt eine Erscheinung nur als Komposition von Bedingungen, die den, die Erscheinung beobachtenden Menschen, stets und unausweichlich mit ein beziehen. Und weil das für jede Form einer Erscheinung der Objektwelt gilt, betrifft dies auch unseren Körper mit dem wir uns unbewusst identifizieren. Nur durch ein Daten organisierendes Gehirn, das Vorstellungen ermöglicht, erfahren wir unseren Körper als ein in Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 12 Raum und Zeit ausgedehntes, gegliedertes, geordnetes und stabil scheinendes Phänomen. Den Überlegungen Schopenhauers zufolge können wir den archaischen Einen Willen nur im Kontext von Raum und Zeit erfahren. Das heißt: Nur deshalb, weil es uns als körperliches Objekt gibt, das eine Objektivierung des Willens ist, können wir eine Vorstellung von Willen haben. Der Körper ist die Voraussetzung dafür, um den Willen zu erfahren und erkennen zu können. Dies meint Schopenhauer, wenn er sagt: "Aber wenn wir nun die Realität dieses Leibes und seiner Aktionen analysieren, so treffen wir nichts darin an, als den Willen." Weil er das so sieht, deshalb will er auch jede Kraft in der Natur als Wille gedacht verstanden wissen. Der Wille ist für ihn etwas, das seinen Ursprung nicht in den Erscheinungen, nicht in den in Raum und Zeit erscheinenden Objekten und auch nicht in der Vorstellung hat, sondern ausschließlich in sich selbst. "Wille" ist für Schopenhauer nicht nur das uns bekannte bewusste Wollen, sondern ein viel archaischeres Wollen von dem unser bewusstes Wollen nur ein Aspekt ist. So wie wir uns etwas vorstellen können, wenn wir das wollen, und wollen können, was wir uns vorstellen indem wir es verwirklichen, so ist zum Beispiel unser Körper der Ausdruck einer objektivierten Vorstellung des archaischen Willens. Der archaische Willen objektiviert sich und erscheint in Gestalt des menschlichen Körpers. Nimmt dieser an sich gestaltlose Wille die Form einer Erscheinung an, dann hat sich der Wille objektiviert. Aber der Wille selbst ist zeit- und formlos. Er existiert nicht in Raum und Zeit; das tun nur die Objekte, die eine Objektierung des formlosen archaischen Willens sind. Der archaische Wille ist das Wesen der Welt. Die sichtbare Welt, die Welt der Erscheinungen ist Ausdruck des Willens. Weil Wille ist, ist Welt. Weil Wille ist, ist Leben. Der Wille selbst ist ein unaufhaltsamer Drang. Er will Welt – er will das Leben. Geburt und Tod gehören beide zur Erscheinung des Willens – also zum Leben. Alles was ist, die gesamte Natur ist demnach Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 13 objektivierter Wille. Die Erscheinungsformen, die Art und Weise wie sich der archaische Wille objektiviert, wechseln - doch der Wille selbst hört nie auf zu sein. Er schafft sich aus der Materie seine Formen, die entstehen und vergehen; doch der im Wechsel und Wandel der Formen sich äußernde Wille bleibt von all dem Wandel unberührt. Jede individuelle Lebenserscheinung ist ein Ausdruck des Willens. Er ist der große Gestaltgeber. Schopenhauer unterscheidet die äußere Form einer Erscheinung vom inneren Wesen einer Erscheinung. Über das innere Wesen einer Erscheinung kann uns die Wissenschaft keinen Aufschluss geben, sagt er; dies liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Das innere Wesen der Erscheinungen muss den Wissenschaften verborgen bleiben. Aber eben diese Erkenntnis des Wesens der Dinge ist Schopenhauers Anliegen. Von außen lässt es sich nicht erkennen. Die Betrachtung unseres Körpers von außen führt uns nicht zum Wesen unserer Existenz. Erst durch die Konzentration auf unser Innerstes erfahren wir dieses Wesen, das unseren Körper zu dem macht, was er ist. Der Wille zeigt sich uns in den Regungen des Körpers. Denn Wille uns Körper sind eins. Wille und Körper wollen am Leben bleiben. Beide wollen Unlust vermeiden und Lust steigern. Jeder unmittelbare Akt des Willens ist zugleich ein unmittelbarer Akt des Leibes. So ist auch jede Einwirkung auf den Körper eine unmittelbare Einwirkung auf den Willen. Diese Einwirkung nennen wir Schmerz, wenn sie dem Willen zuwider ist und wir erfahren sie als Wohlbehagen oder Wohllust, wenn sie seinem Willen gemäß ist. Das Wesen des Willens ist Wollen im Sinne des Begehrens, das sich im Körper zeigt. Es ist Begehren nach Nahrung und Fortpflanzung. In allen Aspekten und Funktionen des Leibes zeigt sich dieses archaische Wollen. Leib, Leben und Wille sind Eines. Obwohl sich das archaische Wollen des Lebens in der Vielfalt der Einzelwesen zeigt, sind alle diese Einzelwesen, die in Raum und Zeit getrennt erscheinen im Willen geeint. Jedes Subjekt ist mit jedem Lebewesen aufgrund seines Wollens im Wesen identisch. Tat tvam asi – dieses Lebende bist du, Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 14 heißt es in den indischen Veden. Der Wille ist die Macht, die alles Leben verbindet. Dieser überindividuelle Wille gibt uns die Fähigkeit zum Mitleiden am Leiden anderer Lebewesen. Ebenso gibt er uns aber auch die Fähigkeit zum Vernichten und Quälen des Nächsten. Weil wir alle im Willen geeint sind, deshalb können wir im Leiden des Anderen unser eigenes Leiden erkennen. Wer zwischen sich und dem Anderen trennt, wird nicht zu diesem Mitleiden fähig sein. Einerseits verbindet der Wille des Lebens jeden mit jedem. Andererseits ist dieses Verbundensein im Willen der Anlass dafür, dass jeder gegen jeden ist. Hat man dies erkannt, ergibt sich daraus eine Ethik, die sich auf die gesamte Welt erstreckt, weil man über den überindividuellen Willen mit allem verbunden ist und demzufolge für alles Sorge zu tragen hat. Wer sich in der Liebe des alle Dinge einenden Willens übt, hat sich von der Täuschung der prinzipii individuationis befreit, weil er die Spaltung zwischen sich und der Welt überwunden hat. Er kann seinen Willen in jedem Wesen erkennen; und den Willen in den Erscheinungen der Welt, hat er als seinen Willen erkannt. Im Willen ist die wesensgemäße Identität aller lebenden Wesen, ja, der Welt zu finden. Was man an einem anderen Wesen verübt, verübt man demnach an seinem eigenen Wesen. "Wer dies erkennt und danach lebt", sagt Schopenhauer "ist aller Tugend und Seligkeit gewiss. Das Übel und das Böse, das Leiden und der Hass, der Gequälte und der Quäler – so verschieden sie sich auch zeigen – sind im Wesen des Willens Eines." Das zu erkennen, ist nicht jedem eigen. Denn der archaische Wille blind wie der Wille im Tier. Das Tier erkennt im anderen Tier nicht sich selbst, so wie der Mensch im anderen Menschen sich selbst erkennen könnte. Das Tier erkennt im anderen Tier nur den Konkurrenten, oder für eine begrenzte Zeit, das Paarungstier. Auch der Mensch erkennt im anderen Menschen nur den Konkurrenten oder den Paarungspartner. Im großen Teil der Menschheit kommt deshalb der Wille nicht zum Bewusstsein seiner selbst. Darum ist der schlimmste Feind des Menschen der Mensch. Das ist deshalb so, weil sich die Macht des Wollens beim Einen gegen die Macht des Wollens beim Anderen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seien es geistige oder körperliche durchzusetzen versucht. Weil auch soziale Gemeinschaften Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 15 diesem archaischen Wollen in der Selbstdurchsetzung des Lebens unterliegen, entstehen (sowohl unter den Individuen, wie in den Gemeinschaften) eskalierende Situationen, die von der archaischen Macht des Willens zum Überleben dominiert werden. Schopenhauer fragt sich deshalb, wie man diesen blinden Zwang des Willens durchbrechen könnte. Der Tod ist keine Befreiung vom Willen, sagt er. Denn auch nach dem Tod ist man ein unsterblicher begehrender Wille. Man kann nur mittels der Erkenntnis der Drangsal des Willens entsagen. Nur über die Askese kann man sich dem Kreislauf des Wollens und damit des Leidens entziehen. Wer das prinzipium individuationis durchschaut, wer das Wesen der Dinge erkennt, kann aus dem Bannkreis des Willens heraus treten. Der Wille wandelt sich indem man ihn verneint. Das ist Askese. Im verneinenden Erkennen entsteht eine Abwendung vom archaischen Willen zum Leben und der als Bindung erkannten Welt. Der Erkennende verleugnet deshalb die Welt. Dies ist für Schopenhauer der Sieg des Geistes über das blinde Wollen. Das Herauswachsen des verneinenden Willens aus dem Wollen des Körpers ist der Kerngedanke Schopenhauers. Die Befreiung liegt in der Selbsterkenntnis des Willens. In der vorstellenden und abstrahierenden Vernunft des Menschen kommt der Wille zur Erkenntnis seiner selbst und der Mensch erkennt, was er ist. Im verneinenden Wollen liegt die Möglichkeit zur Aufhebung des Gefangenseins im begehrenden Wollen verborgen; es ermöglicht die Erlösung in die Freiheit indem es den Willen zur Welt überwindet. Der Erlöser ist der Repräsentant der Verneinung des Willens zum Leben. Daher ist für Schopenhauer die freiwillige und durch kein Motiv begründbare Entsagung der Befriedigung des Triebes zum Leben, die Verneinung des archaisch zwingenden Willens der Weg zur Befreiung aus den Fesseln der Welt. Das Instrument für diese Befreiung ist die abstrahierende Vernunft, die sich aus der Vorstellung heraus entwickelt. Diese Vorstellung wird - das wurde bereits angedeutet - vom Sinnesdaten organisierenden Gehirn erzeugt. Denn Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 16 der Mensch lebt, wie andere Lebewesen auch mit und durch seine Sinne. Vermittels der Sinne nimmt er die Welt wahr. Die Sinne vermitteln ihm Daten der Welt. Diese Daten bestehen aus Impulsen, die das Gehirn stimulieren. Vom stimulierten Gehirn werden aus diesen Daten Bilder konstruiert, die uns zeigen, wie die Welt außerhalb von uns aussieht. Die vom Gehirn konstruierten Daten erzeugen also eine Vorstellung der Welt. Deshalb, sagt Schopenhauer, ist die Welt eine Vorstellung. Seiner Philosophie nach haben wir also nicht die Außenwelt in unserem Kopf, sondern eine geistige Konstruktion davon – eben eine Vorstellung, oder: eine Anschauung der Welt. Aus den Sinnesdaten erschafft der Wille die Anschauung. Wenn wir eine Blume sehen, werden wir in unseren Gehirn keine Blume finden – nur Nervenströme. Was wir in uns haben ist also eine Vorstellung der Blume – eine Anschauung. Die Welt in der wir leben ist demnach eine Art Cyberspace, der vom Willen erzeugt wird; sie ist eine Welt der neuronalen Konstruktion. Worin ein Mensch unmittelbare Kunde haben kann, liegt also nicht außerhalb, sondern innerhalb seiner selbst. Über das hinaus kann es nach Schopenhauer keine unmittelbare Gewissheit geben. Die ganze Welt ist Objekt in Bezug auf ein Subjekt. Die Welt ist eine Anschauung des Anschauenden: sie ist Vorstellung. Wie kommt es von der anschauenden Vorstellung zu Verstand, Vernunft und Wissen? Der japanische Philosoph NISHIDA KITARO beschreibt das Phänomen der Anschauung so: Die anschauende Erfahrung ist Wahrnehmung des Gegenwärtigen und Tatsächlichen ohne Interpretation von Bedeutung. Etwas erfahren, so meint er, heißt das Tatsächliche erkennen ohne die Mitwirkung der interpretierenden und abstrahierenden Vernunft. Anschauendes Erfahren ist ein unmittelbares Wahrnehmen des Tatsächlichen wie es ist; und dieses "wie-es-ist" ist frei von Bedeutung. Nach Schopenhauer existiert die Welt als Anschauung nur durch einen Verstand, der sie wahrnimmt. Hier kommt ein Begriff ins Spiel, den Schopenhauer sehr eigenwillig anwendet: "Verstand". Die ganze Welt der Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 17 Materie, meint er, erscheint uns nur aufgrund von Verstand. Erst der Verstand verwandelt die blinden Empfindung der Sinnesdaten in Anschauung. Wenn aber die Welt der Erscheinungen das Resultat eines die Sinnesdaten organisierenden Verstandes ist, dann führt der nächste Gedankenschritt in die Richtung der Erkenntnis, dass auch Tiere verstandesbegabt sind. "Sie alle erkennen Objekte“, sagt Schopenhauer "und dieses Erkennen bestimmt als Motive ihre Bewegungen. Dieses verstehende Erkennen ist in allen Tieren und allen Menschen der nämliche, hat überall dieselbe einfache Form: Erkenntnis der Kausalität, Übergang von Wirkung auf Ursachen und von Ursache auf Wirkung, und nichts außer dem.“ So lange wir uns lediglich rein anschauend verhalten, ist alles klar und gewiss. Die Anschauung ist sich selbst genug. Sie benötigt keine Meinung, sondern nur die Sache selbst. Erst mit dem Beginn der abstrahierenden Anschauung, mit der Vernunft beginnen Zweifel und Irrtum. Die Abwesenheit der Vernunft bei Tieren beschränkt sie auf die unmittelbare gegenwärtige Anschauung der realen Objekte. Der Mensch dagegen vermag durch seine abstrahierende Vernunft über die aktuelle Gegenwart hinaus in Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft zu denken und Möglichkeiten vorher zu sehen. Was also für die Erkenntnis des Verstandes die Sinne sind, das ist für die Erkenntnis der Vernunft die Abstraktion. Und doch: der Wert dieser Vernunft liegt in ihrer Beziehung zum Verstand. Die Erkenntnis in abstracto bewährt sich erst in Bezug zur Erkenntnis in concreto. "Daher ist es beachtenswert", sagt Schopenhauer, "ja wunderbar, wie der Mensch, neben seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluss der Gegenwart preis gegeben, muss streben, leiden, sterben, wie das Tier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille Abspiegelung des ersten und der Welt, worin er lebt." Die abstrahierende Vernunft entsteht aus den Mitteln der Sprache, die das intuitive Anschauen und unmittelbare Erfahren der Welt mit Hilfe eines Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 18 Rasters aus Begrifflichkeit und Grammatik ordnet und dadurch intersubjektiv kommunizierbar macht. "Vernunft" kommt von "Vernehmen", meint Schopenhauer, wobei er aber nicht ein auditives "Hören" meint, sondern das Innewerden der durch Worte mitgeteilten Gedanken. Für ihn hängt die Welt der Erscheinungen, die auf den Menschen wirkt mit der Vernunft zusammen. Diese subjektive Vernunft, dieses Vernehmen-Können der Erscheinungen und die damit verbundenen Vorstellungen unseres Welt-Bildes bedingen einander. Seit die Welt der Objekte den Menschen hervor gebracht hat, hat sie auch die auf Begriffen beruhende Vernunft hervor gebracht, womit die Erfahrungen der Erscheinungen benannt, und dadurch eine von den Erscheinungen abstrahierte Dissoziation möglich wird. Diese Vernunft ist ebenso eine Konstruktion des Gehirns, wie die Vorstellung. Und so wie der Mensch als Ganzes ein Produkt der Welt der Objekte und somit ein Produkt des archaischen Wollens ist, ist auch die abstrahierende Vernunft eine Erscheinung des Willens. In dem inzwischen vergriffenen Buch aus dem Jahr 1965 von ALFONSO VERDU "Abstraktion und Intuition als Wege zur Wahrheit in Yoga uns Zen" beschreibt der Verfasser zwei verschiedene Zugangsweisen zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Den yogischen Weg, der in die Richtung einer zunehmenden Abstraktion verläuft und einen anderen, den Weg des Zen, der in Richtung Intuition führt. In der Philosophie Schopenhauers entspräche der yogische Weg der Abstraktion einem Weg auf dem man die Vernunft benutzt, um sich vom Zwang des archaischen Willens zu befreien. Der intuitive Zenweg hingegen entspräche einem Weg der reinen Anschauung, die, das ist begrifflich etwas irritierend, auf dem Verstand beruht. Schopenhauer versteht diesen Unterschied so: Wie der Verstand nur eine Funktion hat, nämlich das unmittelbare Erkennen der Verhältnisse von Ursache und Wirkung, also die Anschauung der Welt, so hat auch die Vernunft nur eine Funktion, nämlich die Bildung passender Begriffe. Diese Definition Schopenhauers kann man Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 19 sehr gut am Unterschied von Phänomen und Phänomenologie darstellen. Das Phänomen entspräche dem unmittelbaren Erkennen der Welt; sie begnügt sich mit der Anschauung und ist demnach ein Ausdruck von Verstand. Die Phänomenologie dagegen entspräche den mitgeteilten Gedanken, die eine auf Begriffen beruhende Beschreibung in der gesprochenen oder geschriebenen Vermittlung des anschaulich erkannten Phänomens sind. Bei Schopenhauer sind Anschauung, Verstand und Vernunft des Subjekts der Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Der einzige Ausgangspunkt. Die Wissenschaften, so meint er, machen den Fehler anzunehmen, dass ein Objekt unabhängig vom betrachtenden Menschen erkannt werden kann. Er jedoch sagt: Objekt und Vorstellung sind Korrelata; das heißt, eines ist für das andere da und keines für sich allein. Beide - Objekt und Vorstellung entstehen und vergehen zusammen. Eigentlich sind sie ein und das Selbe, von zwei entgegen gesetzten Seiten aus betrachtet. Die Naturwissenschaften vermeinen nur, die Objekte der Welt objektiv erkennen zu können. Aber, Schopenhauer ist hier ganz eindeutig: es gibt kein Objekt ohne ein Subjekt, das dieses wahrnimmt. Das Subjekt ist das Zentrum jeglichen Erkennens. "Dasjenige, das alles erkennt und von keinem erkannt wird ist das Subjekt. Es ist die durchgängige vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden", sagt er. Was bleibt übrig von den Dingen und Objekten, wenn wir hinter ihre Erscheinung blicken könnten? Gibt es eine Beschaffenheit eines Objekts unabhängig davon, wie es uns erscheint? Da der Mensch nur durch seine Sinne Zugang zur Welt hat, kann er die Welt nur so wahrnehmen, wie sie ihm durch seine Sinnesorgane vermittelt wird. Das ist die Welt als Vorstellung, die ein Produkt des Verstandes und damit des Gehirns ist. Aber: wenn die Welt ein Gehirnphänomen ist, wenn sie lediglich Anschauung, wenn sie Vorstellung ist: worin unterscheidet sie sich dann vom Traum? Denn die Vorstellungen im Traum, und die Welt als Vorstellung im Wachleben, sind, wenn auch verschieden, im Phänomen der Anschauung das Selbe. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 20 Ist nicht etwa das ganze Leben ein Traum?, philosophiert Schopenhauer. Gibt es ein sicheres Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Phantasie und realen Objekten? Schopenhauer macht keinen Unterschied zwischen Traum und Wachleben. Die Bildes des Tages und die des Traumes sind beides Erscheinungen unserer Anschauung. Keine der beiden Anschauungsformen kann mehr Recht auf Wirklichkeit beanspruchen als die andere. Jede der beiden Welten ist eine eigene Welt für sich. Nur durch die Art ihrer Darstellungen und ihrer Verknüpfungen unterscheiden sie sich. Die Zusammenhänge der Anschauungen im Wachbewusstsein erscheinen lediglich geordneter und stabiler. Aber auch die Anschauungen im Traum zeigen uns einen Zusammenhang. Schopenhauer findet zwischen den Anschauungen im Wacherleben und den Anschauungen im Traumerleben ihrem Wesen nach keinen markanten Unterschied. Die Wirklichkeit ist für ihn deshalb ein Traum neben anderen Träumen; aber ein materialisierter Traum. Doch auch wenn sich Traum und Wirklichkeit als Phänomene der Anschauung nicht zu unterscheiden scheinen, geht Schopenhauer dennoch nicht so weit, damit die Welt der greifbaren Materie zu leugnen. Denn die Anschauungen, die Erscheinungen kommen nicht aus sich selbst heraus zustande. Deshalb ist die Realität der Materie für ihn die eine unabdingbare Hälfte eines Ganzen. Die zweite Hälfte ist das dazu gehörige erkennende Subjekt. Wie können wir das alles wissen? Es zeigt sich, dass es, aus der Sicht Schopenhauers völlig unerheblich ist, ob etwas gewusst wird. Er sagt: "Wissen ist das fixiert Haben in abstrakten Begriffen der Vernunft, des auf andere Weise in unmittelbarer Anschauung Erkannten.“ Damit meint er: Zuerst verstehen wir im unmittelbaren Erkennen durch die Sinne, die Welt der Objekte. Dann benennen wir die Objekte mit sprachlichen Begriffen und schaffen so abstrakte Vorstellungen, die uns vom unmittelbaren Erkennen Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 21 dissoziieren. Das ist die Voraussetzung für die Vernunft. Bis hierhin haben wir es mit einem Prozess zu tun. Aber dann halten wir an der Vernunft fest; wir fixieren sie. Das ist das Wissen. Der Gegensatz des Wissens wäre nach Schopenhauer das Gefühl, oder vielmehr, die Intuition; man könnte auch von einem intuitiven Gefühl sprechen, das ein Ausdruck der unmittelbaren Anschauung im Akt des Verstehens ist und demnach kein Ergebnis des Wissens sein kann. Wie jeder bestimmt schon erfahren hat, löst sich diese gefühlte Intuition sofort auf und verflüchtigt sich, sobald das Wissen dazwischen tritt. Wissen beruht auf Denken, und Denken ist ein mechanischer Vorgang in der Zeit, sagt JIDDHU KRISHNAMURTI in einem Gespräch mit dem englischen Physiker DAVID BOHM. Ein Computer kann deshalb wesentlich schneller denken, als ein Mensch; und deshalb kann auf der Festplatte eines Rechners wesentlich mehr an Informationen gespeichert sein als in einem menschlichen Gehirn. Trotzdem hat auch unser biologisches Gehirn viel mehr Informationen gespeichert, als jedem Einzelnen von uns bewusst ist. Ebenso, wie eine Festplatte kein Bewusstsein von den auf ihr gespeicherten Informationen hat, ist sich auch der Mensch über den Großteil seiner biologisch gespeicherten Informationen nicht bewusst; er weiß also nicht, was sein System weiß. Wissen ist gespeicherte Information. Schauen wir auf die Ganzheit des Lebens und der Welt, wie Schopenhauer es tut, dann sehen wir einen wissenden Willen; einen Willen, der sich Objektiviert und sich dadurch in der Vielfalt materieller Objekte aufspaltet, die sich zu Subjekten ausgestalten in denen sich der Eine archaische Wille selbst erkennt. Im Willen sind Anschauung, Verstand, Vernunft und Wissen, sind Objekt und Subjekt ein und das Selbe. Der Wille verbindet alles und trennt es zugleich. Der Eine archaische Wille kann alles wollen. Sein Wollen reicht von barbarischer Brutalität bis zu transzendenter Liebe, vom Haften an elementarer Gier bis zum Verzicht, vom leidenschaftlichen Treib zu Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 22 kultivierter Sublimation. Seine höchste Form des Ausdrucks findet er im Nein zu sich selbst. Die Philosophie Schopenhauers wird gerne als Menschen verachtend und pessimistisch dargestellt. Von ihm selbst sagt man, er wäre ein Misanthrop gewesen. Wer das meint, der hat ihn nicht verstanden. Wenn Schopenhauer den Großteil der Menschheit als Trieb gesteuerte Population domestizierter Raubaffen versteht, dann macht ihn das nicht zum Verächter der Menschen; er beschreibt damit nur ungeschminkt, schnörkellos und nicht beschönigend den Zustand, den er vor findet, wenn sein Blick bis in die Tiefen der menschlichen Existenz vor dringt. Und wenn Schopenhauer, die Negation als einzige und unbedingt erforderliche Reaktion auf den archaischen Triebwillen erkannt hat, dann steht er damit in einer viertausend Jahre alten Tradition großer Geister der Menschheit, die bis in die Zeit der Veden zurück reicht. Die Asketen, Einsiedler, Eremiten und Verneiner des Lebens - sie alle haben sich gegen den archaischen Willen zum Leben gestellt, und einen Willen kultiviert, der in die einsamen Höhen der geistigen Möglichkeiten des Menschen führt. Von dort wieder herab zu steigen und einzutauchen in das Getriebe des Wollens der Welt, scheint eine jener Herausforderungen zu sein, für die es keine vorgebahnten Wege gibt. Die lapidare Forderung SIGMUND FREUDS "wo Es ist, soll Ich werden", bekommt aus dieser Sicht der Erkenntnisse Schopenhauers eine philosophisch aktualisierte Bedeutung. Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 23