Lüge, Vertrauen und Verbindlichkeit – Welche Ethik vermittelt

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Zusammenfassung
der Konferenz vom 5. September 2014 an der Universität Zürich zum Thema:
Lüge, Vertrauen und Verbindlichkeit –
Welche Ethik vermittelt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft?
Begrüssung
Die Tagung wurde mit einer Einführung des Pro-Rektors Prof. Dr. Christian Schwarzenegger eröffnet.
In seiner Ansprache weist er auf die Bedeutung des Themas hin, indem er den Hochfrequenzhandel
als Beispiel anführt. Dieser basiert auf einer technischen Infrastruktur, die es erlaubt Börsentransaktionen in Millisekunden zu tätigen und somit hohe Gewinne durch Informationsvorsprung zu
erzielen. Wer profitiert davon und wer trägt die Risiken? Kann man solchen Akteuren Vertrauen? Wie
soll der Bundesrat auf ethische Bedenken reagieren? Welche Regulierung wäre wirksam? Der Titel
der Tagung beinhaltet all diese Fragestellungen, und diese sind nicht nur relevant aus praktischer und
politischer, sondern auch aus akademischer Sicht. Daher wurde an der Universität Zürich bereits
1995 das Ethikzentrum und 2003 das assoziierte Institut für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) an der Universität Zürich gegründet, die auch gemeinsam diese Veranstaltung in
Zusammenarbeit mit dem Ethikverband der Deutschen Wirtschaft organisiert haben. Professor
Schwarzenegger dankt den Organisatoren, Referenten und Besuchern dieser interdisziplinären und
praxisrelevanten Veranstaltung und betont, das Interesse der Universitätsleitung den Themen Nachhaltigkeit und Ethik verstärkte Aufmerksamkeit in Forschung und Lehre zu schenken.
Ist mehr Regulierung ein Garant für ein höheres Maß an moralischem Bewusstsein bei den Wirtschaftsakteuren?
Irina Kummert, Präsidentin des Ethikverbands der Deutschen Wirtschaft, stellt im ersten Referat fest,
dass mehr Regulierung nicht zu einem höheren moralischen Bewusstsein bei den Wirtschaftsakteuren führt. Ablesbar ist das daran, dass sämtliche Regulierungsbestrebungen bislang nicht verhindern konnten, dass Übervorteilung stattfindet und zusätzlich die Gefahr besteht, dass es zu einer
Regulierungs-/ Regulierungsumgehungsspirale kommt. Besonderes Augenmerk gilt auch dem zwiespältigen Verhältnis von Menschen gegenüber Regeln – insbesondere dann, wenn die Regeln extern
bestimmt wurden. Regeln, unabhängig davon wie sinnvoll sie sind, werden von manchen Menschen
nur aus Gewohnheit akzeptiert und nicht aus Überzeugung. Obwohl es von der Übernahme von Verantwortung befreit, sich an Konventionen zu halten und insofern das Leben vereinfacht wird, werden
Regeln übertreten und Konventionen verletzt. Die Versuchung, Regeln zu brechen oder zu umgehen,
kann genau so gross sein, wie die gefühlte moralische Verpflichtung, diese zu befolgen wenn wir uns
selbst überschätzen oder die Lust überwiegt, sich frei von Regeln bewegen zu wollen. Unabhängig
davon kann ein ethisch richtiges Verhalten nicht ausschliesslich an der Befolgung von Regeln gemessen werden. Das ist dann der Fall, wenn Regeln dazu genutzt werden, Partikularinteressen zu ver1
schleiern oder Machtpositionen auszubauen. Dann kann die strikte Befolgung von Regeln sogar dazu
führen, dass man unfreiwillig zum Erfüllungsgehilfen wird. So werden im Namen des Verbraucherschutzes mittlerweile Gespräche zwischen Kunden und Anlageberatern in Banken aufgezeichnet und
dokumentiert. Doch kann man deshalb davon ausgehen, dass die Anlageprodukte von den Anlegern
richtig verstanden und Risiken richtig eingeschätzt werden? Und ist es nicht so, dass der Anlageberater dem Kunden nach wie vor ein Produkt verkaufen will, von dem er glaubt, dass auch er davon
profitieren wird? Die Versuchung, die persönliche Präferenz als Kundenpräferenz darzustellen, bleibt
also trotz der Transparenz, welche die neue Regulierung schaffen will, bestehen. Wenn Ethik dazu
bestimmt sein soll, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, so muss Regulierung nicht immer die
richtige Antwort sein; denn ein kontextgebundenes sowie situationsabhängiges moralisches Bewusstsein, das die erhoffte gesellschaftliche Wirkung haben soll, entsteht einzig aus eigenverantwortlichem und reflexivem Handeln. Insofern ist es eine Kernfrage der heutigen Konferenz, welche erfolgversprechenderen Wege jenseits von Regulierung es gibt, um Menschen in komplexen
Entscheidungssituationen zu unterstützen.
Grundzüge einer interdisziplinären und humanistischen Ethik
Philipp Aerni, Direktor des CCRS, geht im zweiten Referat auf die Unterscheidung zwischen Händlerund Wächtermoral ein, die von der interdisziplinären Sozialwissenschaftlerin Jane Jacobs in ihrem
Buch ‚Systems of Survival‘ gemacht wird. Während wir ziemlich vertraut sind mit der Wächtermoral,
die vor allem auf die Befolgung von Werten, Normen und Regeln innerhalb einer Organisation fokussiert ist, so scheint uns oftmals nicht mehr bewusst zu sein, dass es auch Tugenden gibt, die mit einer
Händlermoral in Verbindung gebracht werden. Diese umfassen zum Beispiel „Wille zur Selbstverbesserung“, “Zuverlässigkeit“, „Sparsamkeit“‚ „Offenheit gegenüber Veränderung“, „Toleranz gegenüber Fremdem“ und „Eigenverantwortung“. Leider hört man kaum was von diesen Tugenden in der
heutigen Ethikdiskussion, denn sie werden mit Eigeninteresse und weniger mit Moral in Verbindung
gebracht. Wir müssen uns aber bewusst werden, dass es gerade die Händlermoral war, die mehr zu
Schaffung von gleichen Menschenrechten beigetragen hat, als die Wächtermoral, die geschichtlich
gesehen Rechte und Pflichten auf den jeweiligen sozialen Status beschränkte. Die egalitäre und gewaltmindernde Komponente des Handels wurde von den grossen Aufklärern des 18ten Jahrhunderts
(Condorcet, Montesquieu) sowie von den grossen Soziologen des 20ten Jahrhunderts (Marx,
Durkheim) erkannt, doch gerade die neoklassische Ökonomie hat heute wenig bis gar nichts zu diesen Tugenden zu sagen, da ja der nutzenmaximierende, rationale homo oeconomicus wenig mit
einem moralischen Wesen zu tun hat. Es erstaunt daher nicht, dass wir heute mit ‚Moral‘ hauptsächlich ‚Wächtermoral‘ meinen. Sie manifestiert sich im Versuch, die ‚destruktiven‘ Wirtschaftskräfte
durch externe und interne Regulierung zu bändigen. Dieser ausschliessliche Fokus auf Wächtermoral
kann aber leicht die Tugenden, die sich in der Händlermoral manifestieren, unterminieren. Jane
Jacobs weist aber zu Recht darauf hin, dass die moralischen Katastrophen meistens dann passieren,
wenn dort Händlermoral herrscht, wo eigentlich Wächtermoral herrschen müsste und dort Wächtermoral herrscht, wo eigentlich Händlermoral herrschen müsste.
Vertrauen und Moral aus der Perspektive der kognitiven Wissenschaften
Nach diesen Einführungsreferaten durch die Organisatoren der Veranstaltung, diskutierten die zwei
Hauptredner der Veranstaltung, Paul Slovic, Präsident von Decision Research und Psychologieprofessor an der Universität Oregon und Ralph Hertwig, Professor für kognitive Wissenschaften und Direk2
tor des Max Planck Instituts für Bildungsforschung, die psychologischen Aspekte, welche in verschiedenen Situationen zu mehr oder weniger moralischen Entscheidungen führen.
Die Ethik im Umgang mit Präferenzen: Eine Bedeutung des Prominenz-Effekts
Paul Slovic geht in seinem Referat auf den sogenannten ‚Prominence‘-Effekt ein. Dieser Effekt zeigt
sich dadurch, dass bei moralischen Entscheidungen ein bestimmter Wert instinktiv stärker gewichtet
wird, also ‚prominenter‘ ist, als ein anderer Wert, der oft die geäusserte Präferenz in der unverbindlichen Wertediskussion darstellt. Es gibt somit ein Konflikt zwischen offenbarter (revealed) und
geäusserter (stated) Präferenz. Wenn es zum Beispiel darum geht, eine No-Fly Zone in Syrien einzurichten, um wehrlose zivile Flüchtlinge vor den gewalttätigen Übergriffen der kriegsführenden Parteien zu schützen, so würden sich US Stimmbürger mehrheitlich positiv dazu äussern, nachdem sie
sich bewusst gemacht haben, wie viele Menschenleben dadurch gerettet werden könnten (stated
preference). Wenn sie aber unmittelbar entscheiden müssten amerikanische Truppen nach Syrien zu
senden um diese No-Fly-Zone konkret umzusetzen (revealed preference), so besteht die Tendenz
sich gegen die geäusserte Präferenz zu entscheiden, weil das Bedürfnis nach Sicherheit (die offenbarte Wertpräferenz) Priorität hat – auch wenn dadurch unschuldige Menschenleben nicht gerettet
werden können. Es kommt somit zu Wertekonfliktsituationen (trade-offs) bei denen man dazu tendiert, unbewusst den prominenteren Wert zu bevorzugen, und diesen dann im Nachhinein versucht
moralisch zu rechtfertigen. Man unterstützt somit Entscheidungen, die oftmals der zuvor geäusserten Wertepräferenz widersprechen. Diesen Prominenzeffekt kann man auch erkennen bei Unternehmen, die sich für Aktienrückkäufe entscheiden (offenbarte Präferenz für kurzfristige Aktionärsund Geschäftsleitungsinteressen), obwohl sie öffentlich verkünden, dass sie sich zur Wertschöpfung
durch Investition in Innovation verpflichten. Einen ähnlichen Prominenzeffekt gibt es bei der Diskussion um dringende Interventionen gegen den Klimawandel geht. Die Sorge um eine eventuelle Einbusse des Komforts bei einer allfälligen schmerzhaften aber effektiven Intervention hat Vorrang gegenüber der moralischen Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen zu der man sich öffentlich
bekennt.
Moralische Inkonsistenzen: Warum der Gebrauch derselben heuristischen Regeln zu fairen und
unfairen Ergebnissen führen kann
Ralph Hertwig ging in seiner Präsentation auf die Frage ein, ob unerwünschte gesellschaftliche Effekte auf moralisch verwerfliches Handeln auf individueller Entscheidungsebene zurückzuführen sei.
Seine Untersuchung zeigt , dass es häufig heuristische Regeln sind, die wir uns im Laufe unseres
Lebens aneignen und verinnerlichen, die uns zum Einen zu einem tugendhaften Leben verhelfen (als
Beispiel wird George Washington genannt und seine Verinnerlichung einfacher Regeln des sittlichen
Verhaltens), zum anderen können diese Regeln auch zu unbeabsichtigten unerwünschten Nebeneffekten führen. Als Beispiel auf privater Ebene wird die statistische Evidenz erwähnt, dass die Zweitgeborenen von drei Kindern deutlich weniger Aufmerksamkeit von den Eltern erhalten, als die anderen zwei. Der Grund liegt vor allem in der verfügbaren Zeit der Eltern in den drei Phasen der Kindererziehung. Auf politischer Ebene weist Ralph Hertwig auf steigende ethnische Segregation in amerikanischen Städten hin. Sie basiere auf individuellen Entscheidungen in Wohnquartieren zu leben, wo
man sich ethnisch nicht als starke Minderheit fühlt. Es wäre jedoch falsch, heuristische Regeln generell zu verurteilen, oder umgekehrt, sie als Quelle für moralisches Verhalten zu loben, wenn sich der
gesellschaftliche Effekt als wünschenswert erweisen sollte. Es wäre nämlich ein ‚fundamental attribution error‘, wenn man heuristischen Regeln gute oder schlechte Motive zuschreiben würde. Statt3
dessen müsste man sich mit der Frage beschäftigen welche, Rahmenbedingungen notwendig sind,
damit sich die auf heuristischen Regeln basierenden täglichen Entscheidungen positiv und nicht
negativ auf die Allgemeinheit auswirken.
Lüge und Verbindlichkeit aus der Perspektive der Philosophie
Nach diesem ersten akademischen Teil, der sich hauptsächlich mit moralpsychologischen Aspekten
auseinandersetzte, erfolgte der zweite, mehr philosophische ausgerichtete Teil. Professor Markus
Huppenbauer vom Ethikzentrum der Universität führte die zwei Hauptredner ein, Dieter Thomä von
der Universität St. Gallen und Hans Bernhard Schmid von der Universität Wien.
Synergie und Sympathie: Zur Ethik der Kooperation in Gesellschaft und Wirtschaft
Professor Dieter Thomä fokussierte sich in seinem Referat primär auf die Bedeutung der Lüge und
der Doppelmoral im privaten und politischen Diskurs. Er wies dabei auf verhaltensökonomische und
moralpsychologische Experimente hin, die klar aufzeigen, dass wir uns normkonform und sozial verhalten, wenn wir glauben, dass es andere auch tun - ansonsten tendieren wir zum Schummeln. In
diesem Zusammenhang kann Regulierung zu mehr und nicht unbedingt weniger Schummeln führen.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man bei Berufskollegen beobachtet, dass sie sich auch
nicht an die Regeln halten (siehe Finanzindustrie). Dennoch sind wir nicht bloss opportunistische
Wesen, sondern werden auch geprägt von Gefühlen der Sympathie gegenüber unseren Mitmenschen, die dann zu Synergie führt (zusammen handeln). Diese Synergie steht nicht zwangsläufig im
Konflikt mit unseren Eigeninteressen. Adam Smith, der sich mit der Spannung zwischen Eigeninteresse und Moral stark beschäftigte, hat dies bereits erkannt und in seinem Buch ‚Theory of Moral
Sentiments‘ dargestellt. Dabei spielt das Phänomen der Sympathie eine zentrale Rolle bei Adam
Smith. Sympathie ist bei ihm weitgehend gleichbedeutend mit „Mitgefühl“ („fellow-feeling“) und
„Menschlichkeit“ („humanity“). Entsprechend erstreckt sich die Sympathie nicht nur auf geteiltes
Leid, sondern auch auf geteilte Freude. Sie schafft Zugehörigkeit und Identität durch gemeinsames
Handeln. Sowohl Individuen wie auch Unternehmen müssen daher nicht zwangsläufig nur auf materiellen Eigennutz ausgerichtet sein, sondern können durchaus auch intrinsisch motiviert sein bei der
Bemühung, Mitmenschen zu unterstützen, die in Not geraten sein. Diesbezüglich muss man aber
erkennen, dass Privates und Politisches in der Moderne weder ihr Eigenleben führen noch bloss eine
kompensatorische oder komplementäre Funktion haben. Vielmehr muss man verstehen, dass das
Öffentliche oder Politische direkt Anleihen beim Privaten oder der Familie machen und umgekehrt.
Sie korrespondieren aufs Engste, und in diesem Wechselspiel werden Probleme angegangen.
Haben Unternehmen kollektive Gefühle und welche Konsequenzen hätte dies für das Ethikverständnis der Wirtschaft
Professor Hans Bernhard Schmid diskutiert in seinem Referat, ob Unternehmen auch Gefühle haben
können und welche Konsequenzen dies hätte in Bezug auf unser Verständnis für solche Organisationseinheiten. Obwohl wissenschaftlich gesehen nur natürliche Organismen Gefühle haben können,
überrascht es dennoch immer wieder, wie Unternehmen ihren Gefühlen auf Websites Ausdruck
geben und wie die Gefühle der Unternehmen in den Medien beschrieben werden (das Unternehmen
zeigt sich betroffen, enttäuscht, hoffnungsvoll, überrascht, begeistert, etc.). In der Diskussion stellte
sich dann die Frage, inwieweit diese Gefühlswelt bloss von PR und Corporate Identity Experts
gemacht wird und inwieweit sich die Gefühle der Angestellten, die ja das Unternehmen ausmachen,
mit den Gefühlen der Unternehmen überschneiden. Bernhard Schmid hält es aber einen Fakt, dass
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viele Unternehmen gefühlshaft wahrgenommen und beschrieben werden und dass man solche
Gefühle nicht einfach als Lüge (aus dem naturwissenschaftlichen Standpunkt) abtun kann, und mit
solchen Gefühlen gehen auch Verbindlichkeiten einher, die sich im moralischen Verhalten solcher
Entitäten und ihren Repräsentanten widerspiegeln.
Welche philosophische Grundlage taugt für eine Unternehmensethik
Der praktische Teil am Nachmittag wird mit einem Referat von PD Dr. Klaus-Jürgen Grün eröffnet. Er
geht auf die Frage ein, inwieweit das Eigeninteresse tatsächlich im Widerspruch zur Moral steht, wie
es zum Beispiel der kategorische Imperativ weismachen will, der von einer unbedingten Geltung
normativer Prinzipien ausgeht. Da moralische Entscheidungen jedoch auf Erfahrung basieren und
keine absolute Bestimmung des Guten voraussetzen, scheint ein hypothetischer Imperativ plausibler
zu seiner. Dieser wurde auch von Emmanuel Kant erkannt, da auch er die Bedeutung der konkreten
Erfahrung nicht negiert. Der hypothetische Imperativ zeigt sich im Wörtchen ‚man‘, das wir immer
dann gebrauchen, wenn wir bestimmte Interessen so formulieren wollen, als ob es eine allgemeine
Pflicht wäre – z. B. man soll das Handy abschalten, wenn man an einer öffentlichen Veranstaltung
teilnimmt. Somit gibt es tatsächlich Interessen, die wir verallgemeinern können; denn ‚man‘ kann
davon ausgehen, dass nicht nur ich das nicht will, sondern auch andere sich daran stören. Diese
moralischen Regeln basieren daher auf Erfahrung und sind bezüglich ihrer Geltung an Bedingungen
geknüpft. Der hypothetische Imperativ könnte diesbezüglich sehr wohl auch auf einen Moralkodex
für die Wirtschaft angewendet werden. Der griechische Arzt Hippokrates hat diesbezüglich bereits
eine Art ‚Template‘ mit dem Hippokratischen Eid geschaffen. Dieser ist eine Art Negativkatalog von
Versuchungen, die man unterlassen soll zum Wohle des Patienten (e.g. Schweigepflicht, Unantastbarkeit der Würde des Patienten, Handeln nach bestem Wissen und Gewissen etc).
Am Beispiel des Berufsstandes der Ärzteschaft, wie Hippokrates sie sich vorstellte, erkennen wir, dass
Moral aus einer Ambivalenz der Gefühle entspringt. Die Berufspraxis des Hippokrates hat ihm die
Erfahrung gebracht, dass der Arzt gleichzeitig mit der Erfüllung seiner Aufgabe - nämlich (selbstlos)
Hilfe zu leisten - verschiedenen Versuchungen (Wünsche, leibliche Lust, Machtausübung, Bequemlichkeit) ausgesetzt ist. Ambivalenz der Gefühle bedeutet die Gleichzeitigkeit von liebenden und
feindseligen Gefühlen.
Wir Menschen sind nicht in der Lage gleichzeitig liebende und feindselige Gefühle zu ertragen. Wir
bevorzugen die liebenden Gefühle und müssen die Erinnerung an Feindseligkeiten oder deren Nähe
verdrängen. In dieser Arbeit ist uns Moral behilflich.
Je stärker wir jedoch feindselige Gefühle abwehren müssen, umso überschwänglicher bewegen wir
uns in moralischer Selbstüberschätzung. Moral kann dadurch zu einer reinen Zwangsvorstellung von
Menschen werden, die zwar vorgeben, helfende Taten vollbringen zu wollen, tatsächlich aber den
Haushalt ihrer eigenen Gefühle in ein Gleichgewicht bringen müssen.
Eine Unternehmensethik sollte daher zuerst in Erfahrung bringen, welchen Versuchungen an exponierten Stellen des Unternehmens herrschen und auf welche Weise sie dem Unternehmenserfolg,
der sozialen Gemeinschaft und der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens schaden. Ein ethischer Codex
versucht anschließend, eine Selbstverpflichtung zu formulieren, diesen Versuchungen nicht nachzugeben.
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Round Table: Markt und Moral in Wirtschaft und Gesellschaft
Der Runde Tisch wird eröffnet durch eine Einführungsrede des Moderators Thomas Forwe vom
Ethikverband der deutschen Wirtschaft. Er nimmt den Faden von Irina Kummert auf und fragt die
Podiumsteilnehmenden, ob die Forderung nach mehr Transparenz und die daraus resultierende
Regulierung und Selbstregulierung auch tatsächlich mehr Vertrauen gegenüber Wirtschaft schafft.
Stefan Fomm, Geschäftsführer von Syncon GmbH in Frankfurt am Main, findet, dass das Vertrauen
der Gesellschaft in die Wirtschaft in der Praxis nach wie vor da sein muss, denn die meisten täglichen
wirtschaftlichen Transaktionen verlaufen erfolgreich, weil sich die Vertragsparteien vertrauen, und
sich Vertrauensbruch nicht lohnt. Klar gibt es das öffentliche Misstrauen in die Finanzwirtschaft und
dieses ist nicht unbegründet, denn Gier lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Doch diese Gier konnte
man nicht nur von Seiten der Banker beobachten, sondern es waren auch die Kunden und Anleger
und ihre überhöhten Renditeerwartungen, die zur wachsenden Kluft zwischen Rhetorik und Praxis im
Geschäftsgebaren beigetragen haben. Es ist daher kaum zu erwarten, dass Regulierung automatisch
mehr Vertrauen schafft, doch kann durch Mechanismen der internen Selbstkontrolle im Bereich
Corporate Governance durchaus die Gefahr von Missbräuchen minimiert werden.
Sabine Döbeli findet als Nachhaltigkeitsbeauftragte der Bank Vontobel und CEO der Swiss
Sustainable Finance Initiative, dass mehr Transparenz im Finanzsektor nach wie vor notwendig ist,
wenn Vertrauen zurückgewonnen werden soll. Zudem herrsche noch kaum ein ausreichendes
Bewusstsein dafür, dass es sinnvoll ist, Nachhaltigkeitsaspekte in der Finanzbranche konkret in
Prozesse und Dienstleistungen zu integrieren, weil dies das Rendite-/Risikoprofil von Transaktionen
verbessern kann. Oftmals haben die Kunden und Anleger aber Renditeziele im Auge, die kaum mit
Nachhaltigkeitszielen vereinbar sind. Von daher hätte sich trotz der Krise nicht viel an den
überrissenen Gewinnerwartungen geändert.
Gian Rossi, Mitglied der Geschäftsleitung der Bank Julius Bär, ist ebenfalls erstaunt wie schnell die
Gier zurückkehren kann und dies trotz der Regulierung und den öffentlichen Bekenntnissen zu mehr
Ethik in der Finanzbranche. Am Ende hängt viel von der individueller Eigenverantwortung aller Beteiligter ab. Ein leistungsorientierter, aber auch eigenverantwortlicher Entscheidungsträger in der Bank
hat heute nach wie vor die Freiheit, die ethischen Risiken, die mit den Forderungen von Bankkunden
aber auch ihren Geschäftstätigkeiten einhergehen, gegen den möglichen Nutzen abzuwägen. Allenfalls kann er dann entscheiden, einen Kunden abzulehnen, auch wenn es rechtlich gesehen nicht
illegal wäre, ihn in die Kundenkartei aufzunehmen. Ein Banker, der in seinem täglichen Handeln seine
Prinzipien und Werte überzeugend vorlebt, kann mehr Einfluss auf das ethische Verhalten der Mitarbeiter haben als Regulierung, die von aussen vorgeschrieben und intern umgesetzt werden muss.
Jens Soth, Verantwortlicher für Public-Private Partnerships bei Helvetas, findet, dass die Finanzkrise
trotz allem selbstverschuldet ist, denn sie zeige auf, dass kein Verlass ist auf blosse Selbstregulierung
und Corporate Social Responsibility (CSR), denn all dies konnte nicht verhindern, dass Kunden und
Anleger durch eigenmächtiges und zum Teil unaufrichtiges Verhalten von Seiten der Banker in den
Ruin getrieben wurden. Von daher reicht wohl ein Hippokratischer Eid nicht, um Banker verantwortungsvoller zu machen. Unternehmen sollen ausserdem nicht nur das Schlechte vermeiden, sondern
auch das Gute aktiv mitgestalten. Dabei wäre ein verstärkter Austausch und ein gemeinsames Vorgehen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sinnvoll.
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Katharina Serafimova vom WWF Schweiz traut dem an die Finanzbranche gerichteten Appell an die
Moral nicht, denn es muss einen klaren Business Case geben, der zu einer Verhaltensänderung führt,
die sich auch günstig für Gesellschaft und Umwelt auswirkt. Es ist daher weniger die Regulierung
oder öffentliche Bekenntnisse, die öffentliches Vertrauen schaffen, sondern Regeln, die klare Anreize
für ein nachhaltigeres Geschäftsgebaren schaffen und somit die Risiken der Entscheidungen im
Finanzsektor konkret minimieren. Leider stecken die konkreten Anreize für den Finanzsektor, in eine
nachhaltige Zukunft zu investieren noch in den Kinderschuhen. Umwelt ist in der internationalen
Bankenregulierung kaum ein Thema und auch wenn sich einiges in Ländern bewegt, wo man dies am
wenigsten erwarten würde. So führte die China Banking Regulatory Commission Green Credit Guidelines für nachhaltige Bankpraktiken ein, welche auch Rücksicht auf Umweltanliegen nehmen. Sie
basieren auf der früher verabschiedeten Green Credit Policy, welche Banken dazu ermutigt vermehrt
in nachhaltige Kapitalanlagen zu investieren und Unternehmen zu meiden, welche keine Verbesserungen im Umweltbereich erzielen. Es zwingt die Banken, Nachhaltigkeitsüberlegungen in ihrer
Kreditvergabe miteinzubeziehen, sowohl im Inland wie im Ausland.
Thomas Steiff, Partner bei Brugger und Partner und Initiant der Swiss Sustainable Finance Initiative,
fasste mit einem kurzen und prägnanten Wrap-up die wichtigsten Argumente der Referate am Morgen und am Nachmittag sowie der Panel Diskussion zusammen und gab den Veranstaltung den roten
Faden. Sein Referat begann mit dem persönlichen Dilemma als Unternehmer, der oftmals gezwungen
wird bei öffentlichen Ausschreibungen zu übertreiben, aber eigentlich nur deshalb, weil es die anderen auch tun, und weil die beschriebenen Ansprüche an den Kandidaten bei Ausschreibungen kaum
jemals realistisch sind. Zugleich versucht auch er sein ethisches Gewissen zu schärfen und eine
Balance zu finden zwischen Händler-und Wächtermoral. Diese persönliche Anstrengung kann nicht
durch eine übergeordnete Regulierung ersetzt werden, doch letztendlich wird das Vertrauen nicht
durch Regulierung, sondern eigenverantwortliches Handeln geschaffen.
Gute Lügen, Böse Moral und Beliebiges Gewissen
Zum Schluss hielt Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger ein Referat zu den Erwartungen und den Realitäten, mit welcher ein Politiker konfrontiert wird, wenn er sich bemüht, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Im ersten Teil illustrierte er, dass Moral nicht zwangsläufig als etwas Gutes in
der Gesellschaft wahrgenommen wird (e.g. ‚eine Moraltante!‘ oder ‚er hat wieder mal den Moralischen). Manchmal steht Moral sogar überhaupt in keinem Kontext zu moralischem Verhalten (die
Mannschaft zeigte in der zweiten Hälfte noch mehr Moral). Dann gibt es aber auch unverantwortliches Verhalten in der Gesellschaft, das akzeptiert ist, weil es mit informellen Werten in Verbindung gebracht wird, die mit nichts Schlechtem assoziiert werden und somit als ok gelten. So war es
lange ein Kavaliersdelikt, betrunken mit dem Auto unterwegs zu sein (ein Gläschen in Ehren kann
niemand verwehren), bis schliesslich Gesetze gegen Trunkenheit am Steuer verabschiedet wurden
und hart durchgegriffen wurde. Als dann plötzlich auch Leute aus den Oberschichten für Betrunkenheit angeklagt und verurteilt wurden, hat dann schliesslich auch ein Gesinnungswandel in der Gesellschaft stattgefunden. Der Kampf für eine moralische Überzeugung kann auch schlecht oder gar
gefährlich sein, wenn man den Kontext und die Gefühle der Mitmenschen völlig ausser Acht lässt.
Ibsen hat dies in seinem Stück die Wildente anhand eines Idealisten und Wahrheitsfanatikers sehr
gut illustriert. Dieser kommt als Rückkehrer in sein Elternhaus zurück und versucht dort seinem alten
Freund zu erklären wie er aus dem angeblichen Gespinst aus Lügen und Intrigen herausfindet und
somit ein Leben in Wahrheit und Freiheit führen kann. Seine Bestrebungen bewirken jedoch gerade
das Gegenteil von dem Erwünschten. Er zerstört schliesslich das Leben seines Freundes.
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Dann gibt aber auch gute oder zumindest harmlose Lügen. Eine harmlose Lüge ist zum Beispiel, dass
Wilhelm Tell im Mittelalter in der Innerschweiz gelebt hat und dort mutig und erfolgreich Widerstand
gegen die Habsburger geleistet und somit die Unabhängigkeit der Schweiz ermöglicht hat. Eine weniger harmlose Lüge ist hingegen, wenn man entgegen aller Beweislast (aufgearbeitet durch die
Bergier-Kommission) behauptet, die Schweiz hätte im 2. Weltkrieg in keiner Weise mit den Nazis
kooperiert. Lügen, die man rechtfertigen kann, sind zum Beispiel Komplimente im Alltag, welche das
Leben angenehm machen, auch wenn sie nicht unbedingt wahr sind. Aber auch auf politischer Ebene
gibt es Lügen, die Menschenleben retten können. Lösegelder zu bezahlen für Geiseln führt zu einem
erhöhten Anreiz, Regierungen zu erpressen. Eine Regierung kann daher abstreiten, dass sie für die
Freilassung einer Geisel Lösegeld bezahlt habe, auch wenn sie es tatsächlich getan hat. Denn
schliesslich will man ja auch ein Leben retten ohne weitere Leben zu gefährden.
Schlimm ist jedoch die Selbstlüge, die immer dann eintrifft, wenn man sich entgegen aller Evidenz
einredet, dass man die Wahrheit sagt und auch fest daran glaubt. Kinder, die zum Beispiel behaupten
von ihren Vätern sexuell missbraucht worden zu sein, obwohl es nachweislich nicht stimmt, insistieren oftmals bis zum Schluss, dass dies die Wahrheit sei. Sie haben es sich ein Leben lang eingeredet und glauben schliesslich daran. Auch in der Politik findet man oftmals die Selbstlüge. Sie macht
sich immer dann breit, wenn man von lauter Gleichgesinnten umgeben ist, die immerzu die eigenen
Vorurteile bestätigten bis sie zur unhinterfragten Wahrheit werden.
Was kann man dagegen tun? Man kann zum Beispiel das eigene ethische Gewissen schärfen, indem
man sich ständig mit Leuten umgibt, die nicht dieselben Ansichten haben oder nicht derselben politischen Partei angehören. Dies war lange Tradition in der Schweiz, doch leider habe die wachsende
politische Polarisierung dazu geführt, dass diese Tradition am Schwinden ist.
Zum Schluss geht Moritz Leuenberger auf das Thema Vertrauen und Regulierung ein. Vertrauen kann
seiner Ansicht nicht von der Regierung geschaffen werden, sondern muss durch zivile und religiöse
Institutionen aus der Gesellschaft selbst entstehen. Der Rechtsstaat kann höchstens durch konsistente und zielführende Gesetzgebung und den Grundsatz von Treu und Glauben einen Nährboden
schaffen, die der Vertrauensbildung innerhalb und zwischen den Zivilinstitutionen förderlich ist.
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