Projektdokumentation

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Abschlussbericht
Musikalischer Grenzdialog
Allgemeines
Das Projekt „Musikalischer Grenzdialog“ versucht im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas
Pécs 2010 mit Hilfe der zeitgenössischen elektronischen klassischen Musik Jugendliche und
junge Erwachsene aus der europäischen Grenzregion Duna/Dráva zwischen Pécs, Vukovár
und Osijek für den gesellschaftlichen und künstlerischen Transformationsprozess der
Gegenwart zu sensibilisieren. Die Menschen in dieser Region befinden sich seit dem
Zusammenbruch des Ost-Blocks in einer tiefen Identitätskrise. Das Spannungsfeld zwischen
dem Festhalten an Traditionen und der Suche nach neuen Wegen, empfindet die Mehrheit nicht
als Chance, sondern als Last. Dieser Zustand ist in der Region an Vielem ablesbar. Am
Erstarken der Jobbik oder am Wegzug der Menschen im Alter zwischen 25 und 45 Jahren in die
Zentren Mitteleuropas. Die Weltwirtschaftskrise, welche Osteuropa ganz besonders hart
getroffen hat, ist hierfür, wie man annehmen könnte, nicht die Ursache, sondern vielmehr der
Katalysator. An dieser Stelle gilt es mit außergewöhnlichen zeitgenössischen Mitteln, wie dem
„Musikalischen Grenzdialog“, die Aufmerksamkeit der Zielgruppe zu binden.
Das Projekt besteht aus drei gleichen voneinander abhängenden Teilen.
Zunächst aus der Kompositionsreise des Laptoporchesters Endliche Automaten von Berlin über
Pécs nach Osijek. In Pécs wird ein regionaler zeitgenössischer Komponist die Missa Choralis
von Franz Liszt für das Laptoporchester überarbeiten und vertonen.
Des weiteren aus einer zehntägigen öffentlichen Orchesterprobe, welche dem Orchester
einerseits die technische Möglichkeit einräumt das bevorstehende Konzert in Osijek
einzustudieren und andererseits den künstlerischen Rahmen für die inhaltliche
Auseinandersetzung, sowohl mit dem Genre an sich, als auch die Plattform für den Workshop,
welcher der Frage nach der eigenen Identität der Teilnehmer aus der Region in einem Europa
des 21. Jahrhunderts in dieser Region nachgeht, bietet.
Den Abschluss des „Musikalischen Grenzdialogs“ bildet die Uraufführung der Überarbeitung in
den Städtischen Galerien in Osijek. Auf diese Weise erschaffen die deutschen Künstler in
Kooperation mit dem ungarischen Komponisten vor Ort ihre Tonkunst für ein kroatisches
Publikum.
Diese neuartige Kooperationsform, die Orchesterproben in ihrer Endphase mit einem Workshop
verbindet, ermöglicht das Interesse der Zielgruppe zu binden. Es gibt kaum Jugendliche und
junge Erwachsene aus der beschriebenen Region, die sich freiwillig ernsthaft und konzentriert
mit Problemen der Gegenwart auseinandersetzen wollen. Die zeitgenössische elektronische
Musik bildet hierbei den Aufhänger, sich mit den Problemen der Gegenwart über die Musik zu
beschäftigen. Liszt bildet bei diesem Projekt das integrative Moment, d.h. es wird in dieser
Region kaum Mitglieder der definierten Zielgruppe geben, welche sich selbst, als Ungar, Kroate
oder aber als ein Mitglied der Minderheiten in Ungarn oder Kroatien nicht in irgendeiner Form
mit der Person des Komponisten identifizieren.
Zeitgleich bildet das eingebundene
musikalische Moment ein gleichwertiges qualitativ hochwertiges Projekt, welches von den
Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch als ein solches erkannt wird. Demnach eine winwin Situation für alle Beteiligten.
Workshopleiter, Orchester und Komponist gestalten mit den freiwilligen Projektleitern die
Inhalte, welche sich mit Fragen der eigenen Identität beschäftigen werden. So z.B. mit der
eigenen Identität als junger Mensch in Vukovár, in welcher Anfang der neunziger Jahre
innerhalb weniger Monate die Stadt völlig zerstört wurde und sich das bisherige friedliche
Miteinander in wenigen Wochen in ein hasserfülltes Gegeneinander wandelte. Das Projekt
allein wirft derartige Fragen auf, sie stechen förmlich ins Auge. Die TN werden über Schulen
und Universitäten der Region erreicht. Der Kontakt zu Schulen in Vukovár wird der
Projektleitung beispielsweise über das Generalkonsulat der Republik Kroatien in Pécs
vermittelt.
Als Grundlage für dieses Projekt dient ein klassisches Musikstück, die Missa Choralis von Franz
Liszt, einer der schillersten europäischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Liszt, ein
Deutscher ungarischer Herkunft, ein Weltbürger, schrieb dieses Werk vor genau 145 Jahren.
Die Aufführung der Überarbeitung dieses Werkes durch ein Laptoporchester ist aus vielen
Gesichtspunkten ein wegbereitendes Ereignis. Hier treffen nur scheinbar divergierende Welten
aufeinander.
An Grenzen irren wir ständig unter wohl bekannten Begrifflichkeiten und Weltanschauungen
umher. Altes und Neues, Entfremdung und Modernität, Klerikales und Laienhaftes, Kirchliches
und Weltliches, Sakrales und Profanes. So spinnt sich um den binär sinnenden Menschen ein
Netz zahlreicher Paare und Gegensätze. Dieses Sinnen aber scheint vernichtend zu sein, denn
das einzelne Element dieser Paare lebt nur durch die Eliminierung des gegenüberstehenden
Elements. Was denkt das Alte vom Neuen, was wohl das Klerikale vom Laienhaften, das
Gläubige vom Weltlichen oder das Profane vom Sakralen, und umgekehrt? Warum sollte es
denn nicht möglich sein an der Grenze, über die Grenze ja sogar auf dem Grenzstreifen,
Gemeinsamkeiten zu finden.
Die Grenze verläuft zwischen zwei Feldern und gehört somit zu beiden und doch zu keinem der
beiden. Genau deswegen existiert die Grenze in Wirklichkeit gar nicht. Sie befindet sich
vielmehr in einem permanenten Entstehungsprozess. Sie gehört allen, und doch niemandem,
bleibt unbegehrt und verwirklicht hiermit ihre trennende, einschließende und ausschließende
Funktion.
Die Grenze kann Ort der Freiheit und des Dialoges sein. Sie ist ein derart vielschichtiger Ort an
dem die Identität Übereinstimmung ist und nicht Ausgrenzung oder Diskriminierung. Ein Raum,
in dem nur eine Vielzahl von Unterschieden, die ein einheitliches Ganzes bilden, existiert und in
dem jedes einzelne Element gleiche Bedeutung und Wichtigkeit besitzt. Wären sie ohne gleiche
Bedeutung, würde das Ganze aufhören ein einheitliches Ganzes zu bilden. Es verginge der
Andere, durch den alles entstand.
Mit der Transkription der Missa Choralis in eine Fassung für ein Laptoporchester durchläuft das
Werk eine Transformation, eine Metamorphose: eine 150 Jahre alte Messe wird zu einem
zeitgenössischen Musikstück und legitimiert so ihre Rolle in der Identität der Übereinstimmung,
wodurch unser Nächster und dessen Anderssein sichtbar wird.
Zeitraum: 11. bis 22. Juni 2010
Ort: Pécs und Osijek
Projektteam: Bettina Lehmann und Lászlo Galantai
Partner: City Galleries Osijek, Laptoporchester Endliche Automaten, Lenau Haus, Universität
Pécs, Pécs2010
Ziele und Erwartungen
Das Projekt „Musikalischer Grenzdialog“ vom 11. bis zum 22. Juni 2010 versuchte im Rahmen
der Kulturhauptstadt Europas Pécs 2010 mit Hilfe der zeitgenössischen elektronischen
klassischen Musik Jugendliche und junge Erwachsene aus der europäischen Grenzregion
Duna/Dráva zwischen Pécs, Vukovár und Osijek für den gesellschaftlichen und künstlerischen
Transformationsprozess der Gegenwart zu sensibilisieren.
Das Hauptziel des Projekts war die Vermittlung von Trendspitzen innerhalb der audiovisuellen
Kunst in Mittelosteuropa. Gleichzeitig galt es jedoch die tonkünstlerischen Tendenzen aus den
jeweiligen Regionen über die Grenzen hinweg zu vermitteln. Produzenten, Vermittler und
Empfänger sollten in die Lage versetzt werden, sich mit dem jeweiligen Nachbarn
auseinanderzusetzen. Sie sollten sensibilisiert werden europäische Gemeinsamkeiten, aber
auch Unterschiede zu erkennen. Auf diesem entscheidenden Moment beruhte die Philosophie
dieses Projekts. Dieses Modellprojekt verfolgte einen der Leitgedanken der Identitätsdiskussion
in Europa:
„living cultural unity and living cultural diversity”
Das Projekt bestand aus drei gleichen voneinander abhängenden Teilen:
Zunächst aus der Kompositionsreise des Laptoporchesters Endliche Automaten von Berlin über
Pécs nach Osijek. Demnach einer zehntägigen öffentlichen Orchesterprobe in der Stadt Pécs,
in welcher das Werk des zeitgenössischen Komponisten Kristóf Weber, genauer gesagt eine
Überarbeitung der Missa Choralis von Franz Liszt, einstudiert wurde und anschließend in Osijek
uraufgeführt wurde.
Neben der technische Möglichkeit sich auf das Konzert vorzubereiten, bot die Orchesterprobe
des Weiteren den künstlerischen Rahmen für die inhaltliche Auseinandersetzung sowohl mit
dem Genre an sich, als auch die Plattform für den Workshop.
Den Abschluss des „Musikalischen Grenzdialogs“ bildete die Uraufführung der Überarbeitung in
den Städtischen Galerien in Osijek. Auf diese Weise erschaffen die deutschen Künstler in
Kooperation mit dem ungarischen Komponisten vor Ort ihre Tonkunst für ein kroatisches
Publikum.
Zielerreichung
Der Workshop versuchte der Frage nach der eigenen Identität der ortsansässigen Teilnehmer in
einem Europa des 21. Jahrhunderts nachzugehen. Trotz großem Interesse für die
Persönlichkeit des europäischen Komponisten Franz Liszt, zahlreichen anerkennenden Worten
der Teilnehmer für die gelungene thematische Einbettung der „Identitätsfrage“ in den
zeitgenössischen musikalischen Rahmen (s. z.B. Projektbericht Orsolya Thorday) galt das
eigentliche Interesse der Teilnehmer vielmehr der zeitgenössischen elektronischen Musik als
der Frage ihrer eigenen Identität. Ebenso muss klar festgestellt werden, dass das Interesse der
Teilnehmer auch an dem Gesamtthema „Europa“ nicht sonderlich groß ist.
Projektbericht „Musikalischer Grenzdialog“ – In Memoriam Francisco Liszt vom 11. – 22. Juni
2010 in Pécs und Osijek von Orsolya Thorday
„Die Teilnahme am Projekt „Musikalischer Grenzdialog“ war in vielerlei Hinsicht bereichernd.
Im Lenau Haus des Ungarndeutschen Kulturvereins der Stadt Pécs fanden sich zahlreiche
Teilnehmer, Vortragende, die Musiker des Laptoporchesters, ein Komponist, und weitere
Zuhörer von der Universität zusammen. Wir Teilnehmer waren verschiedener Nationalität,
viele sind aus Kroatien angereist, unter ihnen DJs und Musiker. Die Vorträge, Diskussionen
und Werkstattarbeit wurden in Englischer Sprache gehalten. Das Kennenlernen der
emblemartigen Figur Franz Liszts und seines Schaffens war einer der großen Gewinne des
Projekts. Ausgiebige Vorträge gaben Einblick in den literarischen und historischbiographischen Kontext von Franz Liszt. Es wurden schwärmerische Gedichte und Loblieder
an und über den Meister vorgetragen, es wurden alle erdenklichen Abbildungen Franz Liszts
an unterschiedlichen Lebensstationen projiziert und abschließend erfolgte deren Diskussion.
Die Bekanntschaft mit dem Laptoporchester Berlin, den Endlichen Automaten, und ihrer
Arbeit war ebenfalls ein einzigartiges Erlebnis. Wir erfuhren mit welcher Technik und
Software die Musiker arbeiten und welche Schwierigkeiten und Herausforderungen auftreten.
Unsere Aufmerksamkeit fesselte aber auch die Diskussion ihrer Möglichkeiten als
Laptopmusiker vor einem Publikum, welche durch ihr Instrument, dem Laptop determiniert zu
sein scheinen. Das Laptoporchester Berlin gab uns Teilnehmern einen Einblick in ihre
Werkstadtarbeit an der aufgearbeiteten Fassung der Missa Choralis von Franz Liszt durch
einen Pécser Komponisten Kristóf Wéber. Als der Komponist Kristóf Wéber selber auch
anwesend war, entwickelte sich eine außerordentlich spannende Auseinandersetzung zu der
geprobten zeitgenössischen Komposition, welcher wir beiwohnen durften. Als dann die
ersten Klänge der Uraufführung des eingeprobten Stückes zwischen den klösterlichen
Mauern des ehemaligen Franziskanerklosters, heute der städtischen Galerien der Stadt
Osijek (Gradske galerije Osijek) am regnerischen Abend des 21. Juni 2010 erklangen,
schien die feierliche Stimmung zum Leben erweckt zu sein, die einst vielleicht genau Franz
Liszt fähig war zu erwecken.“
Wie viele Teilnehmer nahmen an diesem Projekt teil und entsprachen diese der Zielgruppe?
Am „Musikalischen Grenzdialog“ nahmen mit den Orchestermitgliedern insgesamt 28 Junge
Erwachsene teil. Mit der Anzahl der Teilnehmer wurde das selbst gesetzte Ziel erreicht. Im
Verlauf der Projektvorbereitungen stieß dieses Projektformat jedoch nicht nur in der oben
genannten Grenzregion, sondern auch in jener zwischen Szeged (Ungarn) und Temeswar
(Rumänien) auf großes Interesse, sodass letztlich junge Menschen aus der gesamten
Euroregion Duna/Dráva/Tissza am „Musikalischen Grenzdialog“ teilnahmen. Dennoch
konzentrierte sich das Projekt auf Osijek und Vukovar.
Perspektive
Einige Teilnehmer äußerten gegenüber der Projektleitung die Absicht 2011 ähnliche Projekte in
Osijek, Zagreb und Temeswar durchführen zu wollen. Eine weitere Überarbeitung der Kyrie von
Weber, gesungen von Nikolas Weiser, verwendete der Spielleiter und Medienkünstler Marek
Brandt zugleich in seiner Installation „Human Equilizer“ im Rahmen der internationalen
Kunstausstellung im öffentlichen Raum am Hochhaus der Stadt Pécs. (s.
www.inbetween2010.eu) vom 24. September bis 7. Oktober 2010. Es ist seitens des
Laptoporchesters Endliche Automaten zudem geplant die Komposition von Kristóf Weber 2011
im Rahmen des Franz Liszt Jahres in Deutschland aufzuführen.
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