Technische Universität Dortmund, Sommersemester 2008 Institut für Philosophie, C. Beisbart Kant, Kritik der reinen Vernunft Antworten auf die Vorbereitungsfragen zum 8.7.2008 1. Zu Textausschnitt 1: Was versteht Kant unter transzendentalem Idealismus? Was fällt Ihnen in diesem Zusammenhang bei Kants Kennzeichnung der Erscheinung auf? Im genannten Textausschnitt kennzeichnet Kant den transzendentalen Idealismus etwa wie folgt: Alle Gegenstände möglicher Erfahrungen sind Erscheinungen und nicht Dinge an sich (A490-1/B518-9/587-8). Erstaunlicherweise bezeichnet Kant dabei die Erscheingungen als Vorstellungen (A490-1/B518-9/587). An anderen Stellen fasst Kant Erscheinungen hingegen als Gegenstände von Vorstellungen auf (etwa A20/B34/94 oder A42/B59/116). 2. Zu Textausschnitt 2: Die Antinomien beruhen nach Kant auf dem Prinzip P: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen ” desselben gegeben“ (A497/B525/593). Im folgenden diskutiert Kant drei Prinzipien, nennen wir Sie P1-3. Das erste Prinzip P1 ersetzt in P gegeben“ durch ” aufgegeben“. Das zweite und dritte Prinzip beziehen P jeweils auf bestimmte ” Bereiche. Erklären Sie kurz die drei Prinzipien P1-P3. Welche dieser Prinzipien unterstützt Kant? Das Prinzip – Kant spricht in diesem Zusammenhang vom Principium der reinen Ver” nunft“ (A307/B364/416) – lautet in der ersten Lesart in etwa: P1 Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist uns auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben aufgegeben (vgl. A497-8/B525-6/593). aufgegeben“ heißt dabei soviel wie: als Aufgabe aufgegeben“. Die Vernunft habe al” ” so die Aufgabe, zum Bedingten die Reihe aller Bedingungen anzugeben. Dass Kant aufgegeben“ so versteht, wird deutlich, wenn er P1 logisches Postulat der Vernunft“ ” ” (A498/B526/593) nennt, demzufolge die Vernunft etwas tun muss (eine Aufgabe erfüllen muss), nämlich diejenige Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedingungen durch den ” Verstand zu verfolgen und soweit als möglich fortzusetzen, die schon dem Begriffe selbst anhängt.“ (A498/B526/593-4). P2 kann man so formulieren: P2 Wenn das Bedingte als Ding an sich gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben als Ding(e) an sich gegeben (vgl. A497-8/B525-6/593). Kant zufolge ist dieses Prinzip korrekt. Die dritte Lesart des Prinzips lautet P3 Wenn das Bedingte als Erscheinung gegeben ist, so ist uns auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben als Erscheinungen gegeben (vgl. A497-8/B525-6/593). Kant lehnt dieses Prinzip ab (B527/A98-9/593). Er begründet dies damit, dass Erscheinungen Vorstellungen sind (ib.). Warum P3 nicht für Vorstellungen gilt, kann man wie folgt sehen: Wenn die Vorstellung von etwas Bedingtem gegeben ist (zum Beispiel in der Wahrnehmung), dann folgt nicht, dass die Vorstellungen von allen Bedingungen gegeben ist. Bezogen auf die zweite Antinomie heißt das zum Beispiel: Wenn wir die Vorstellungen von einem bestimmten Ganzen haben, so haben wir nicht notwendig die Vorstellung von allen seinen Teilen. In seiner eigenen Begründung, warum P3 nicht gilt, (B527/A98-9/593) betont Kant, dass die Vorstellung Ergebnis einer Synthesis ist, die das Erkenntnissubjekt aktiv vollziehen muss. 3. Zu Textausschnitt 2: Worin liegt Kant zufolge letztlich der Fehler in den Argumenten, die auf die Thesis und die Antithesis in den Antinomien führen? Alle Antinomien beruhen nach Kant auf folgendem Schluss (A497/B525/593): Px Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist uns auch die ganze Reihe aller Bedingungen ” desselben“ (A497/B525/593). Qx Dieses Bedingte ist gegeben. K Also ist uns die Reihe aller Bedingungen gegeben. Kant zufolge machen wir dabei folgenden Fehler (A499-501/B527-9/595-6): Wir lesen die erste Prämisse Px im Sinne von P2. P2 ist in der Tat nach Kant wahr, daher sind wir berechtigt, von P2 auszugehen. Bedingtes (zweite Prämisse Qx) ist uns jedoch nur als Erscheinung gegeben. Daher ist Qx nur bezogen auf Erscheinungen wahr. Damit entsteht folgender Schluss: P2 Wenn das Bedingte als Ding an sich gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben als Dinge an sich gegeben. Q3 Dieses Bedingte ist als Erscheinung gegeben. K Also ist uns die Reihe aller Bedingungen gegeben. Dieser Schluss ist jedoch ein Fehlschluss – den beiden Prämissen fehlt das gemeinsame Mittelglied: In P2 ist vom Bedingten als Ding an sich die Rede; in Q3 ist das Bedingte als Erscheinung zu interpretieren. Damit ist der Schluss ungültig. Es besteht auch nicht die Möglichkeit, den Schluss gültig zu machen, indem man ein Mittelglied findet, das beiden Prämissen gemeinsam ist. Denn dazu muss man das Bedingte entweder konsistent als Ding an sich oder Erscheinung ansehen. Im ersten Fall ist jedoch Qx falsch, im zweiten Fall Px. In Kants Analyse des Fehlschlusses spielt der Begriff der Synthesis eine wichtige Rolle. Die Synthesis des Bedingten im Obersatz (P2) sei nicht an die Anschauungsform der Zeit gebunden. Dagegen sei die Synthesis des Bedingten in der zweiten Prämisse (Q3) an die Anschauungsform der Zeit gebunden – Kant spricht von einer empirischen Synthesis. Kant scheint daraus schließen zu wollen, dass die Synthesis des Bedingten qua Erscheinung wirklich in der Zeit vollzogen werden muss (alles A500-1/B528–9/595-6). 4. Zu Textausschnitt 2: Warum gibt sich Kant nicht mit seiner Fehlerdiagnose zufrieden? Was verspricht er noch zu tun? Nach Kant beruhen sowohl der Beweis der These als auch der Beweis der Antithese auf dem oben beschriebenen Fehler. These und Antithese sind also bisher nicht hinreichend begründet (A501/B529/596). Daraus folgt aber nicht, dass These und Antithese falsch sind. Es stellt sich daher die Frage, ob These oder Antithese richtig ist (ib.). Dabei muss man natürlich präzisieren, ob man die Reihe der Bedingungen als Ding an sich oder Erscheinung verstehen will. Wie im folgenden (besonders A504-5/B533/599; Absatz nicht vorbereitet) deutlich wird, geht es Kant um die Erscheinungen. Kant verspricht, den Streit [um Thesis und Antithesis] gründlich und zur Zufrie” denheit beider Teile zu endigen“ (A501/B529/596). Dabei will er nicht einer Partei, sagen wir der Thesis, rechtgeben, sondern zeigen, dass der Streit um Thesis und Antithesis nichtig oder gegenstandslos ist (A501-2/B529-30/596). Was das bedeutet, werden wir gleich sehen. 5. Zu Textausschnitt 3: Kant zufolge streiten die Vertreter der These und der Antithese eigentlich um nichts (A501/B529/596). Inwiefern ist das so? Zwei Kontrahenten streiten um nichts, wenn der Streit auf einer falschen Voraussetzung beruht. Das kann man sich etwa an folgendem Beipiel klarmachen: X und Y streiten darüber, ob Peter aufgehört hat, Klavier zu spielen. X behauptet, Peter habe damit aufgehört; Y behauptet, er habe das nicht. Der Streit ist gegenstandslos, wenn Peter niemals Klavier gespielt hat (für ein Beispiel durch Kant siehe A503/B531/597-8). Dann haben weder X noch Y recht, weil es eine dritte Alternative gibt, die wahr ist (Peter hat niemals Klavier gespielt). Nach Kant erschöpfen These und Antithese in den Antinomien in ähnlicher Weise nicht den Raum des Möglichen, wenn man These und Antithese auf Erscheinungen bezieht. Kant erläutert das am Beispiel der ersten Antinomie (A503-4/B531-2/598). Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob die Welt räumlich betrachtet unendlich ist. Kant zufolge beruht diese Frage, wenn man sie auf die Welt als Inbegriff aller Erscheinungen bezieht, auf einer falschen Voraussetzung, nämlich der Voraussetzung, die Welt habe eine bestimmte Größe (A504/B532/598). Diese Voraussetzung, so sagt Kant hier (ib.), kann jedoch falsch sein. In der Tat hält Kant diese Voraussetzung für falsch (vgl. A505/B533/599). In diesem Zusammenhang ist es interessant zu notieren, dass die Beweise in den Antinomien meist indirekt sind. In unserem Kontext zeigen die Beweise meist, dass der Gegner unrecht hat. Daraus wird dann geschlossen, man selber habe recht. Diese letzte Folgerung ist jedoch nicht berechtigt, wenn die eigene und die gegnerische Position nicht alle möglichen Positionen zu einer Sache ausschöpfen – dann könnten nämlich beide unrecht haben. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass Kant die dritte und vierte Antinomie anders behandelt (siehe dazu insbesondere A531-2/B559-60/619-20), obwohl der Text hier so klingt, als gehe es um alle vier Antinomien. 6. Zu Textausschnitt 3: Wie kann man nach Kant aus den Antinomien Argumente für den transzendentalen Idealismus machen? Aus den Antinomien ergibt sich folgender indirekte Beweis für den transzendentalen Idealismus (nach A505-6/B534-5/600): 1. Wir nehmen an, der transzendentale Idealismus sei falsch. 2. Dann gibt es keinen Unterschied zwischen Ding an sich und Erscheinung. 3. Wenn man nicht zwischen Ding an sich und Erscheinung unterscheidet, dann gibt es schlüssige Argumente für Thesen, die einander widersprechen (Antinomien). Man kann also etwa folgern, dass es Einfaches gibt und dass es nichts Einfaches gibt (zweite Antinomie). 4. Folgerung: Es gibt Einfaches und es gibt nichts Einfaches. 5. Das ist ein Widerspruch. Aus der Annahme, dass der transzendentale Idealismus falsch ist, ergibt sich daher ein Widerspruch. Also muss der transzendentale Idealismus wahr sein. Kant präsentiert den Beweis in etwas anderer Form. Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass der Beweis sich nicht auf den gesamten transzendentalen Idealismus bezieht, sondern nur auf die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Die These, dass alle Gegenstände der Erfahrung Erscheinungen sind, wird hier nicht überprüft (A490-1/B518-9/587-8). 7. Zu Textausschnitt 4: Kant nennt P in der Lesart P1 regulativ und nicht konstitutiv. Was meint Kant damit? Kant meint damit, dass P1 eine Regel ist, die vorschreibt, was ein Erkenntnissubjekt tun soll, nicht aber ein Gesetz ist, das sagt, wie die Welt beschaffen ist (A509/B537/602).