MAGAZIN »Kenneth war fasziniert von starken und manchmal eigensinnigen Frauen, die alles für ihre Liebe riskieren und nicht zum passiven Liebesobjekt verkommen. Seine choreografische Sprache drückt deshalb beides aus: Manons romantische Seite genauso wie ihre dunkle, manipulative.« Lady Deborah MacMillan MAGAZIN Gestatten Sie: Manon Lescaut Federico Bonelli und Marianela Nuñez in »Manon«, 2014, The Royal Ballet Mein Name ist Manon. Wenn man es genau nehmen möchte, Manon Lescaut, aber das wird gerne einmal verkürzt. Auch als Madeleine bin ich bekannt, als die biblische Sünderin Magdalena, deren Diminutiv »Manon« ist. Man sieht in mir die Verführerin und versteht mich doch als Opfer. Für den einen bin ich Sünderin, der andere bezeichnet mich als Femme fatale. Sogar als Nonne wurde ich schon interpretiert. Was all diese Facetten verbindet? Meine verhängnisvolle Schönheit, die auf Männer jeder Art magnetisierend wirkt. Wenn man so will, diene ich als Hülle für die unterschiedlichsten Geschichten von Sehnsucht, Liebe und Leiden. Ich bin eine Frau als Glücksvision. Ein Versprechen, das nie eingelöst wird. Meinen Ursprung habe ich – wie könnte es anders sein – in der Fantasie eines Mannes. Antoine François Prévost d’Exile heißt mein Schöpfer, dessen Feder ich 1731 entfloss. Als Kurzroman »L’Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut« veröffentlichte er meine Geschichte zunächst als letzten Teil seiner eigenen Memoiren, die er ganz unbescheiden »Mémoires et aventures d’un homme de qualité« nannte. Kurz darauf wurde das Werk auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt – ein erster Hinweis auf seine und damit meine erotische Brisanz. 1753 folgte eine zensierte Version, doch da war der Roman bereits zum Skandalerfolg avanciert. Kein Wunder, dass ich zu einer derart vielseitigen Projektionsfläche avancierte, denn schon um meinen Autor ranken sich die wildesten Gerüchte: Ein entlaufener Mönch soll er gewesen sein, ein Flüchtling des Galgens, mit zwei Frauen gleichzeitig verheiratet, später Theaterdirektor und Falschspieler. Ihm wurde nachgesagt, als Sechzehnjähriger seinen Vater die Treppen hinuntergestürzt und damit ermordet zu haben, woraufhin aus Gram auch gleich Mutter und Schwester gestorben seien. »Obwohl die Struktur des Ballettes mit Pas de deux, Divertissements, Solos und Tänzen des Corps de ballet im 19. Jahrhundert verankert ist und die Geschichte in der Sprache des klassischen Balletts erzählt, folgt Kenneths Choreografie immer dem ihm so eigenen naturalistischen Ansatz, niemals in erster Linie die Bravour des Tanzes auszustellen, sondern immer von den jeweiligen Gefühlen in der Geschichte geleitet zu sein.« Lady Deborah MacMillan Anthony Dowell und Antoinette Sibley in »Manon«, Uraufführung 1974, The Royal Ballet MAGAZIN Seinen eigenen Tod wiederum habe er verschuldet, indem er als scheintoter Falschspieler einen Dorfchirurgen unglücklich erschreckte, so dass dieser ihm das Seziermesser in den Körper rammte. Nonsens! In Wahrheit war Abbé Prévost Benediktiner und ein mehr oder weniger ernst zu nehmender Autor des 18. Jahrhunderts. Doch wie Sie wissen: In jedem Gerücht steckt auch ein Körnchen Wahrheit. Und so war Prévost ebenfalls Abenteurer mit kleineren kriminellen Ausbrüchen und einer Schwäche für das schöne Geschlecht. Das 1721 bei Rouen abgelegte Mönchsgelübde, das ihn neben Armut und Gehorsam auch zur Keuschheit verpflichtete, kann er nicht wirklich ernst genommen haben, denn zeitlebens standen ihm die weltlichen Vergnügungen näher als der Altar. Auch meine »L’Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut« beruht angeblich auf einer wahren Erfahrung, nach der sich Abbé Prévost einst auf ein junges Mädchen eingelassen habe, das durch ein Missverständnis verurteilt und nach Amerika verschifft worden war. Aus dem Mädchen schuf er mich, Manon, und die Geschichte wurde meine eigene. Prévost legte sie in den Mund eines jungen Studenten namens Des Grieux, dem ich auf meiner Fahrt ins Kloster begegne und auf den ich einen tiefen Eindruck gemacht haben muss, wenn man ihn so reden hört: »Ihre Reize übertrafen alles, was man darüber zu schreiben vermag. Ihr Antlitz war so fein und zart, so verführerisch, das Antlitz der Liebe selbst. Ihre ganze Gestalt dünkte mich ein Zauberbild.« Des Grieux vergisst seine adelige Herkunft sowie seine vorgeschriebene Priesterlaufbahn und lässt sich mit Haut und Haar auf mich ein. Doch ich hänge zu sehr am Reichtum und dessen Freuden, um sie Des Grieux zu opfern. Und so verlasse ich ihn und bringe damit eine Welle von Katastrophen ins Rollen, die schließlich in meinem Tod mündet. Mein Tod im Roman ist jedoch nicht mein Tod in der Kunst. Bereits unmittelbar nach meiner schriftstellerischen Geburt zeigte man sich begeistert von mir und meiner Emotionalität. Zum ersten Mal in der europäischen Weltliteratur hatte Prévost die Leidenschaft des Herzens und die Begierde des Körpers als gleichwertige Parameter neben Vernunft und sittliche Grundsätze gestellt. Sein Sieg der Leidenschaft über die Tugend kürte ihn zu einem direkten Vorläufer Jean Jacques Rousseaus und dessen gegenaufklärerischer Verteidigung des Rechts des »fühlenden Herzens«. Die Brisanz meiner Geschichte und vor allem die Möglichkeiten meiner Person wurden deshalb alsbald in den unterschiedlichsten Künsten erkannt. In meiner Varianz »infizierte [ich] die zeitgenössische Literatur«, wie Alexandre Dumas der Jüngere so schön sagte: Goethe spielte mit dem Gedanken, der Gretchen-Episode im fünften Band von »Dichtung und Wahrheit« eine Inhaltsangabe meiner Geschichte folgen zu lassen, um Gretchen in mir zu spiegeln; Dumas’ »Kamelien- dame« Marguerite Gautier liest Prévosts Roman, ein Geschenk ihres Liebhabers, immer und immer wieder; und auch Stendhal entwickelte mich in seinen Romanen bewusst weiter. Das erste Theaterstück, das sich um meine Person drehte, war 1772 die Komödie »Manon ou la Courtisane verteuse«. Schon der Titel der »tugendhaften Kurtisane« weist auf die Interpretation der damaligen Zeit hin: Ich war der Prototyp des leichtlebigen Mädchens, das seine Lebensfreude und moralische Unbeständigkeit mit dem Tod bezahlen muss. In diesem Sinn kürte man auch Verdis Violetta Valéry aus »La traviata« zu meiner Schwester, wenn sie trotz lasterhafter Lebensführung den moralischen Sitten treu bleibt und sich im traurigen Tod rehabilitiert. Später erhielt ich zur Hervorhebung meiner unmoralischen Charakterzeichnung teilweise sogar einen tugendhaften Gegenpart: Als der Librettist Eugène Scribe meine Figur zum Mittelpunkt einer Oper Daniel-François-Esprit Aubers erkor, stellte er mir eine sittsame Freundin Marguerite an die Seite. Dies war mein Eintritt in die Welt der Oper, den Jules Massenet fast 30 Jahre später zu einem ersten Höhepunkt führte. In seiner Opéra comique bin ich die naturhafte Frau, die nur unter ihrem Vornamen firmiert: »Manon«; eine Projektionsfläche für Des Grieux, der in mir alle Reize sehen will, die ihm verlockend und verboten erscheinen. So steht denn auch Des Grieux im Mittelpunkt der einaktigen Fortsetzung »Le Portrait de Manon«, die Massenet zehn Jahre später komponierte Sir Kenneth MacMillan Kenneth MacMillan war der führende Ballettchoreograf seiner Generation. Als Direktor des Balletts der Deutschen Oper Berlin, Chefchoreograf und Direktor des Royal Ballet London sowie Stellvertretender Direktor des American Ballet Theatre schrieb er Tanzgeschichte. Kaum ein Choreograf des 20. Jahrhunderts schuf solch eine Anzahl abendfüllender Werke, seine Versionen von »Romeo und Julia« (1965) und »Manon« (1974) entwickelten sich zu Klassikern und werden noch heute weltweit interpretiert. Es ist der Glaube an eine klassische Ausbildung, verknüpft mit einer starken Theatralik und einer tiefen moralischen Sensibilität, die das Ballett in seinen Händen nicht zu einer Märchen-Kunst, sondern zu einem einzigartigen Spiegel menschlicher Zerbrechlichkeit verwandelt. 65 MAGAZIN und die von Des Grieux’ Leben nach meinem Tod erzählt. 1893 nahm sich dann endlich ein Italiener meiner an: »Massenet fühlt die Geschichte wie ein Franzose – mit Puder und Menuetten. Ich werde sie wie ein Italiener fühlen: mit einer verzweifelten Leidenschaft«, verkündete Giacomo Puccini. Seine dritte Oper »Manon Lescaut« stellt sicherlich die bedeutendste musiktheatrale Vertonung meiner Geschichte dar. Nach ihr folgte als bisher letzter Adaptionsversuch auf der Opernbühne Hans Werner Henze mit »Boulevard Solitude«, uraufgeführt 1952. Ach, wie viele Männer in der Literatur, dem Theater und ja, auch der Bildenden Kunst, habe ich listenreich verführt, wie viel ihres Geldes schamlos verprasst. All diese Werke hier aufzuzählen, wäre kontraproduktiv, erinnerte es Sie doch nur an mein fortgeschrittenes Alter. Lieber schlüpfe ich stattdessen in die Rolle der süßen Versuchung, die in Form einer Buttersahnepraline der belgischen Firma Neuhaus auf der Zunge zergeht. In der uralten Rezeptur scheint sich auch ein Hauch meines Erfolges auf den Genießer zu übertragen, denn die Urenkelin des Firmengründers feierte Triumphe in der französischen Titelrolle der MassenetOper. Probieren Sie es also selbst! Erotischer Opernstar durch Schokoladenkonsum – einfacher geht es nicht. Meine anschmiegsame Seite wiederum offenbare ich in der Kollektion »Manon-Design« aus edlen Naturfasern, deren Slogan dem Konsumenten ebenfalls Manon-Attribute verspricht: »Individuelle Looks für anspruchsvolle Frauen, die bewusst ihre Persönlichkeit über Kleidung definieren«. Doch zu viel Fell darf es nicht sein: Ganz vehement möchte ich mich an dieser Stelle von dem Nattou Plüschtier »Manon der Igel« distanzieren, den es auch als Spieluhr, Rasselschuh, Schnullerkette und Bettwäsche zu erwerben gibt, in dem ich mich jedoch beim besten Willen nicht wiederfinde. Da sind mir schon die zahlreichen Auslegungsversuche im weiten Feld der Damenunterwäsche lieber. Vom Negligé, Büstenhalter und Strumpf ziert mein Name hier alles, das verführerisch wirken soll, ohne die Trägerin gleich in das Abbild einer Prostituierten zu verwandeln. Einige dieser Dessous könnten auch meine Leinwandschönheiten getragen haben – sei es Marlene Dietrich, neben der ich 1926 vor der Kamera stand, oder Catherine Deneuve, die mich 1968 »hemmungslos« darstellte. Sie sehen, ich bin eine »unsterbliche, listenreiche, naive Versucherin«, wie schon Maupassant schrieb – das weiß nicht nur die Kunst für sich auszunutzen, sondern auch der Kommerz. Mein liebster Aufenthaltshort neben all den Opern und Merchandisingartikeln allerdings war immer der Tanz. Nie habe ich mich jugendlicher, leichter und begehrenswerter gefühlt als in dem Körper einer Primaballerina. Gott sei Dank wurden mir hierfür über die Zeit hinweg die unterschiedlichsten Möglichkeiten geboten: Erst 2007 hat sich Xin Peng Wang, Ballettdirektor in Dortmund, meiner 66 MAGAZIN erinnert und zur Musik der Oper Puccinis eine aktuelle »Manon Lescaut« choreografiert, in der weniger die unwiderstehliche Macht der Leidenschaft verhandelt wird als vielmehr die heutige Frage, wann die Liebe zum Kompromiss verkommt. Seine Vorläufer waren als Initiator der Manon-Balletttradition 1830 Jean-Pierre Aumer mit einer Ballettpantomime zur Musik Halévys und John Neumeier, der mich und Des Grieux 1978 als neue Personen zu der Dumas-Handlung seines Ballettes »Die Kameliendame« hinzufügte. Der Paukenschlag allerdings gelang 1974 dem britischen Tanzdramatiker Sir Kenneth MacMillan: Für das Royal Ballet in London kreierte er sein Handlungsballett »Manon«, das bis heute die emotionalste und opulenteste Darstellung meiner Geschichte darstellt. Obwohl MacMillan die Opern Massenets und Puccinis sehr gut kannte, orientierte er sich für die Erzählung meiner Geschichte an dem Original Prévosts und wählte eine Zusammenstellung von Musiken Massenets fernab dessen Opernkomposition. Bei ihm bin ich ebenso stark und intrigierend wie verletzlich und liebend. Ich gebe deshalb gerne und sogar mit Stolz zu, in dieser Choreografie schon über 40 Jahre durch die ganze Weltgeschichte zu touren: Wien habe ich dank MacMillan kennengelernt, Paris erobert, Moskau erlebt. An der Haupttreppe im Foyer der Opéra comique in Paris stehen zwei Frauenfiguren: Carmen und ich, Manon. Carmen mag vielleicht der beliebtere Mädchenname geworden sein, ich aber gehe eindeutig als Siegerin der Kategorie Wunscherfüllungsfantasien hervor. In mir sieht der Betrachter, was er sich wünscht und vermutlich selbst braucht: Femme fatale oder Femme fragile, Hure oder Heilige, Gemäldegegenstand oder Operndiva, Romanfigur oder Ballerina. Ich bin Manon Lescaut. »Die ›Manon‹ ist MacMillans Meisterwerk. Für unsere Company, die bisher noch keinen der großen dramatischen Ballettstoffe wie ›Onegin‹, ›Kameliendame‹ oder ››Mayerling‹ getanzt hat, bietet dieses Juwel den perfekten Einstieg in das Genre.« Aaron S. Watkin Viviana Durante in »Manon«, 1995, The Royal Ballet Von Valeska Stern 67