Psychologie des Lernens III_Skriptum

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Sechste Vorlesung
Zur Psychologie des Lernens III:
Konditionierung vegetativer Funktionen; Beschränkungen der behavioristischen Lerntheorien;
kognitiver Behaviorismus
In den beiden letzten Vorlesungen habe ich versucht, Sie mit den Grundlagen
behavioristischer Lerntheorien vertraut zu machen. Ich habe Ihnen die Grundprinzipien der
Klassischen Konditionierung dargestellt – hier sei noch ein historisches Foto nachgereicht,
das Pawlow im Kreise seiner MitarbeiterInnen mit einem Versuchshund posierend zeigt –,
dann das Lernparadigma Thorndikes – hier ist nochmals ein Foto von einem
Problemkäfig (oder „Puzzle-Box“) –, schließlich die Grundlagen der operanten
Konditionierung nach Skinner (hier ist noch ein hübsches Foto von einer Skinner-Box).
Bevor ich mich heute der Kritik der klassischen Lerntheorien zuwenden will, möchte ich
Ihnen noch an ein paar ausgewählten Beispielen die Relevanz der bislang besprochenen
Modelle für klinische Zusammenhänge, vor allem aber für den Bereich der so genannten
Psychosomatik demonstrieren. Dass bestimmte vegetative Funktionen durch die klassische
Konditionierung beeinflusst, ja gesteuert werden können, wird Sie nach dem, was ich Ihnen
das vorletzte Mal über die Pawlowschen Experimente gesagt habe, nicht weiter verwundern.
Praktisch jede Veränderung einer vegetativen , die durch einen bestimmten unbedingten Reiz
erzwungen wird, kann nach mehrmaliger Koppelung mit einem zunächst neutralen Reiz
letztlich auch durch diesen alleine ausgelöst werden. Ein besonders eindruckvolles Beispiel
dazu finden Sie in dem Skriptum zur Allgemeinen Psychologie II: die Konditionierung des
Blutzuckerspiegels. Als UCS fungiert dabei Insulin (nach eine Injektion von Insulin sinkt der
Blutzuckerspiegel), als neutraler Reiz z. B. ein starker Mentholgeruch (aber wie das
Experiment zeigt, ist die Prozedur des Setzens einer Injektion schon allein ein wirksamer CS:
Also: wird eine Versuchsgruppe in mehreren Durchgängen eine Insulin-Injektion verabreicht
und im Anschluss daran die Injektion einer neutralen, d. h. an sich keine Absenkung des
Blutzuckerspiegels bewirkende Substanz, so kommt es auch bei dieser an sich unwirksamen
Injektion zu einem Abfall des Blutzuckerspiegels. Besonders interessant sind in diesem
Kontext Untersuchungen, in denen gezeigt wurde, dass über einen an sich neutralen Reiz über
die klassische Konditionierung auch die Produktion von Hormonen anzuregen ist, die für die
Bildung von Lymphozyten im körpereigenen Immunsystem wichtig sind.
Erstaunlich ist, dass vegetative Funktionen auch durch operante Konditionierung zu
beeinflussen sind. In Tierexperimenten wurde das Ende der sechziger Jahre erstmals von Neal
E. Miller und seinem Forschungsteam gezeigt. Miller und Di Cara (1967) haben z. B.
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zufällig auftretende Beschleunigungen bzw. Verlangsamungen des Herzschlags bei Ratten
systematisch verstärkt – mit dem Ergebnis, dass schließlich die Pulsfrequenz bei den beiden
Versuchsgruppen um 200 Pulsschläge pro Minute differierte. Legendär ist in diesem
Zusammenhang jenes Experiment, in dem Miller (1969) bei Ratten bei Zufallsschwankungen
der Durchblutung der Ohren immer dann einen Verstärker setzte, wenn gerade das rechte
etwas stärker durchblutet war als das linke. Das Ergebnis dieses Verfahrens war, dass das
Versuchstier schließlich mit einem knall roten rechten und einem sehr blassen linken Ohr in
seinem Käfig saß.
Solche Experimente sind deshalb nicht bloß Tierquälerei, weil mit ihnen eine ganz bestimmte
Hoffnung verbunden war: nämlich dass man über einfache operante
Konditionierungsvorgänge psychosomatische Störungen in den Griff bekommen könnte.
Allerdings hat sich der Einsatz von Biofeedback-Therapien im Humanbereich zur Kontrolle
von vegetativen Körperfunktionen nicht sehr bewährt. Als sehr erfolgversprechend habe sich
diese Techniken allerdings bei der Kontrolle des Muskelsystems durch Rückmeldung der
elektrischen Muskelaktivität erwiesen: z. B. in der Behandlung von stressbedingten
Muskelverspannungen, oder aber auch in der Rehabilitation von Lähmungen bei InsultPatientInnen.
Ich möchte jetzt – nach diesem Erfolgsbericht – nochmals auf die Fotos zurückkommen, die
ich Ihnen zu Beginn der heutigen Vorlesung gezeigt habe. Hier ist also nochmals das Foto
von der Katze in der Skinner-Box. Es ist mir wichtig, dass Sie sich anhand dieses Fotos noch
einmal vergegenwärtigen, wie die behavioristischen Lerntheorien begründet wurden. Alles
das, was ich Ihnen das letzte Mal erzählt habe über die Prinzipien der operanten
Konditionierung – über positive und negative Verstärkung, positive und negative Bestrafung,
über Generalisierung und Reizdiskrimination, über die Wirkungen kontinuierlicher und
intermittierender Verstärkerpläne – alles das kann mit dieser einfachen Versuchsanordnung
demonstriert werden. Aber was soll das bedeuten, das mit dieser experimentellen Anordnung
alles gezeigt werden kann? Für wen oder was sollen die damit demonstrierten Lernprinzipien
relevant sein? Wenn wir uns in einer Vorlesung über Allgemeine Psychologie solange darüber
aufhalten, so macht das nur dann einen Sinn, wenn wir stillschweigen voraussetzen, dass die
an einer bestimmten Tierart – ganz gleich ob Ratte, Taube oder eben Katze – gezeigten
Regelhaftigkeiten Allgemeingültigkeit beanspruchen können: Also, um bei unserem Beispiel
hier zu bleiben: Die mit Hilfe der Katze in der Skinner-Box gezeigten Gesetzmäßigkeiten
sollen nicht nur für Katzen, sondern auch für andere Tierarten, schließlich auch für Menschen
gelten; und sie sollen nicht nur für die Herstellung eines Zusammenhangs von Leuchten einer
gelben Glühbirne („diskriminativer Reiz“), dem Operanten „Hebeldruck von einer
Katzenpfote“ und dem positiven Verstärker „Futterpille, die die Katze als Futter akzeptiert“,
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also nicht nur für diese – im übrigen für ein normales Katzenleben höchst unnatürlichen, also
biologisch unbedeutenden – experimentelle Situation gelten, sondern auf andere, jetzt
natürliche Situationen, mit natürlichen diskriminativen Reizen, natürlichen Operanten und
natürlichen Verstärkern generalisierbar sein.
Wir haben es bei der Skinner-Box – und gleiches gilt natürlich auch für Klassische
Konditionierung nach Pawlow und die Puzzle-Box nach Thorndike also im
wissenschaftstheoretischen Sinn mit einer paradigmatischen experimentellen Inszenierung zu
tun: gerade über die Beschäftigung mit nicht natürlichen Situationen und mit völlig
willkürlichen Reiz-Reaktionsverbindungen soll die Ausschaltung individueller
Vorerfahrungen gewährleistet und damit die Allgemeingültigkeit der erzielten Ergebnisse
gewährleistet werden. Ist das – so müssen wir uns jetzt fragen – eine gute Strategie? Ist dieser
Vorgehen haltbar? Können also die in den bislang geschilderten experimentellen
Versuchsanordnungen erzielten Ergebnisse tatsächlich jene Allgemeingültigkeit
beanspruchen, die sie – und auch wir bisher - stillschweigend voraussetzen?
Obwohl in der Wissenschaft sich sehr oft und sehr viel sich etwas auf bloßem Glauben und
nicht auf Wissen stützt – in diesem Fall handelt es sich eben nicht um eine Glaubenfrage,
sondern um eine Frage, die es empirisch zu prüfen gilt. Wichtig ist, dass wir uns klar machen,
dass die Demonstration von einzelnen Anwendungsbeispielen, wie ich sie Ihnen zu Beginn
der heutigen Vorlesung einige aufgezählt habe, nicht ausreichen, um die Allgemeingültigkeit
der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien zu erweisen. Ich kann die Ergebnisse der
einschlägigen empirischen Untersuchungen und der sich daran anschließenden theoretischen
Diskussionen gleich vorwegnehmen: die Annahme einer generellen Gültigkeit der
elementaren Gesetze der klassischen und operanten Konditionierung kann heute – trotzdem es
eine Fülle positiver Anwendungsbeispiele gibt – als widerlegt gelten.
Interessanterweise wurden einige der mehr oder weniger verborgenen Grundannahmen der
behavioristischen Lerntheorie zunächst ausgerechnet durch Ergebnisse von Tierexperimenten
in Frage gestellt. Machen wir uns zunächst eine jene Voraussetzungen klar, die Watson,
Skinner und Konsorten in ihren experimentellen Inszenierungen und in der weitreichen
Interpretation der Resultate dieser Inszenierungen stillschweigend voraussetzen: dass nämlich
bei jeder Tierart prinzipiell jede beliebige Reaktion mit jedem beliebigen Reiz verknüpft
werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung kann beispielweise das Verhalten einer Katze in
der Skinner-Box während eines Konditionierungsvorgangs als paradigmatisch für
Lernvorgänge überhaupt angesehen werden. In einem programmatischen Artikel aus dem Jahr
1970 hat Milton P. E. Seligman gegen die Annahme der Allgemeingültigkeit der
elementaren Lerngesetze der Behavioristen ins Treffen geführt, dass bestimmte
biologische Dispositionen den Aufbau von Verknüpfungen zwischen Verhalten und
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bestimmten Reizsituationen wesentlich mitbestimmen. Der Einwand ist an sich trivial – so
trivial, dass man sich fragt, warum man darauf nicht schon früher gekommen ist. Für
verschiedene Tierarten haben verschieden Verhaltensweisen und verschiedene
Reizkonstellationen – gleichsam als Resultat ihrer evolutionären Anpassung an verschiedene
„Umweltnischen“ – biologisch gesehen eine unterschiedliche Bedeutung. Kurz und gut: durch
ihre genetische Ausstattung sind jeder Art bei der Herstellung von Reiz-Reiz- oder ReizReaktionsverknüpfungen – buchstäblich! – natürliche Grenzen gesetzt. Anders ausgedrückt:
Aus den biologischen Unterschieden verschiedener Tierarten – und natürlich auch aus den
biologischen Unterschieden zwischen Tieren und Menschen – ergeben sich auch Differenzen
bezüglich dessen, was wie lernbar ist.
Was genau damit gemeint ist, kann man sich am besten durch ein Beispiel verdeutlichen. Ein
gut untersuchtes Phänomen ist etwa die sogenannte Geschmacksaversion, mit dem sich die
Rolle biologischer Dispositionen im Kontext der klassischen Konditionierung zeigen lässt.
Ich habe Ihnen ganz bewusst wieder ein eher grausiges Rattenexperiment ausgesucht – auch
das ein Experiment, das in der Psychologie als klassisch gilt (es stammt von Garcia und
Koelling (1966)). Durstigen Ratten wurde ein saccharinhaltiges Wasser vorgesetzt. Während
des Trinkens wurden Lichtblitze gesetzt und Lärm ausgelöst. Zudem wurden die Tiere dabei
einer starken Röntgenstrahlung ausgesetzt. Diese Prozedur führte bei den Versuchstieren nach
etwa einer Stunde – beachten Sie das lange Zeitintervall, das zwischen den Ereignissen liegt!
– zu einer starken Übelkeit. Als sich die Ratten etwas erholt haben, wurde getestet, gegenüber
welchen Komponenten der Reizsituation (Saccharinwasser, Lichtblitz, Lärm) sie eine
Aversion aufgebaut hatten. Es zeigte sich, dass sie eine starke Geschmacksaversion
ausgebildet hatten, aber keine Aversion gegen die Lichtblitze und den Lärm. Übersetzen wir
das einmal in die uns bereits vertrauten Termini der klassischen Konditionierung:
Röntgenstrahlen – UCS, Übelkeit UCR; Aversion gegenüber das süße Wasser – CR.
Lichtblitze und Lärm hätten theoretisch genauso gut zu konditionierten Reizen werden
können. Warum war das nicht der Fall?
Ändern wir jetzt die Versuchsanordnung! Wir verabreichen jetzt als UCR einen elektrischen
Schlag während die Ratten Saccharinwasser trinken und gleichzeitig setzen wir wieder
Lichtblitze und Lärm. Unter dieser Bedingung lösen nach einigen Versuchsdurchgängen jetzt
sowohl Lichtblitze als auch Lärm ein Vermeidungshalten aus, nicht aber das Saccharinwasser.
Was ist damit gezeigt? Offenbar besteht bei den Ratten eine biologische Disposition, Übelkeit
mit dem Geschmack oder auch mit dem Geruch von Futter oder Flüssigkeiten zu verbinden.
Hingegen scheint so etwas wie eine Gegendisposition dazu vorzuliegen, einen elektrischen
Schock mit Geschmacks- oder Geruchsreizen zu verbinden. Das heißt, dass offenbar nicht
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jeder beliebige neutrale Reiz mit jedem x-beliebigen unkonditionierten Reiz im Sinne der
klassischen Konditionierung verbunden werden können. Vielleicht noch ein kleines Beispiel
zum selben Problem, also zum Problem der Geschmacksaversion, um das Artspezifische von
Lernvorgängen noch stärker zu betonen. Gibt man z. B. Ratten und Wachteln ein mit
bestimmten Geschmackstoffen versetztes (z. B. Salz) und gefärbtes (z. B. blau) Wasser vor,
das bei beiden Arten von Versuchstieren Übelkeit verursacht und lässt die Tiere später jeweils
zwischen einem salzigen und einem gefärbten, aber eben nicht mehr Übelkeit verursachenden
Wasser wählen, dann bilden die Ratten eine Aversion gegenüber dem salzigen Wasser, nicht
aber gegenüber dem gefärbten Wasser, und die Wachteln umgekehrt eine Aversion gegenüber
dem gefärbten, nicht aber gegenüber dem salzigen Wasser aus.
Geschmacksaversionen sind ein sehr interessantes Thema – und im übrigen etwas, was
jeder/jede von Ihnen eigentlich auch aus der eigenen Anschauung kennt. Jeder/jede von Ihnen
hat schon irgendwann einmal irgendetwas gegessen, das nach dem Genuss Übelkeit,
Erbrechen, Durchfall etc. verursacht hat. Üblicherweise werden solche Nahrungsmittel von
uns dann über lange Zeit gemieden, allein der Geruch oder die Vorstellung, wie das schmeckt,
kann massive Ekelempfindungen hervorrufen.
Das Besondere an diesen Geschmacksaversionen ist eben, dass sich ihre Aneignung vom
Vorgang einer normalen klassischen Konditionierung in wesentlichen Punkten unterscheidet:
es reicht zumeist eine einzige negative Erfahrung, um sie auszubilden (also: es genügt ein
einziger Lerndurchgang!), mit der Übelkeit auftretende visuelle oder akkustische Reize
werden nicht konditioniert; das Zeitintervall zwischen der Erfahrung von Geruch und
Geschmack der Speise und dem Auftreten der Übelkeit beträgt oft Stunden – und dennoch
bildet sich eine Verknüpfung aus; schließlich – als letzt Besonderheit: Geschmacksaversionen
sind äußerst löschungsresistent.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, worum es uns hier geht: Wir wollen zeigen, dass die
meist stillschweigend getroffene Annahme einer allgemeine Gültigkeit der durch die Technik
der klassischen und der operanten Konditionierung demonstrierten elementaren Lerngesetze
nicht haltbar ist. Unser Argument lautet, dass aufgrund von biologischen Dispositionen nicht
jeder beliebige neutrale Reiz mit jedem beliebigen Auslöserreiz (klassische Konditionierung)
bzw. nicht jeder beliebige positive oder negative Reiz mit jeder beliebigen Verhaltensweise
(operante Konditionierung) verknüpft werden kann. Ersteres haben wir an den
Geschmacksaversionen gezeigt; letzteres müssen wir noch erweisen.
Ich werde mich angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht allzu lange dabei aufhalten. Ein
einfaches Beispiel mag genügen, um daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen: In Experimenten
zum aktiven Vermeidungslernen von Ratten konnte man zeigen, dass es bei einem Teil der
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Versuchstiere trotz tausender Versuche nicht gelang, sie dazu zu bringen, einen aversiven
Reiz (Stromschlag) durch Drücken einer Taste zu beenden. Hingegen ist es in derselben
Situation äußerst einfach, den Ratten Verhaltensweisen wie Weglaufen oder Auf-einePlattform-Springen anzutrainieren. Es scheint bei den Ratten – wie überhaupt bei jeder Tierart
– biologisch festgelegte Dispositionen zu ganz bestimmten Abwehrreaktionen auf
schmerzhafte oder bedrohliche Situationen zu geben. Diese sind nach den von Skinner
angegeben Prizipien leicht zu konditionieren. Der Erwerb nicht-artspezifischer
Verhaltensweisen hingegen ist in solchen Situationen kaum oder gar nicht möglich.
Das mag einmal genügen, um zu erkennen, dass von Seiten der Biologie aus sich einige
gewichtige Einwände gegen eine allzu optimistische Sicht der Verallgemeinerbarkeit von
unter lebensfernen Laborbedingungen gewonnenen „Lerngesetzen“ vorbringen lassen. Der
Hauptangriff gegen die universellen Gültigkeitsansprüche der behavioristischen Lerntheorien
wurde aber von einer anderen Seite aus geführt: von Seiten der kognitiven Psychologie aus,
die gerade aus der Kritik des Behaviorismus Ende der fünfziger und Anfang der sechziger
Jahre heraus als neues Paradigma der Psychologie Konturen anzunehmen begann. Ich werde
auf die Geschichte der oft beschworenen „kognitiven Wende“ der Psychologie in einer der
nächsten Vorlesungen noch ausführlicher zu sprechen kommen. Einige zentrale Aspekte der
kognitiven Psychologie haben wir ohnehin schon im Zusammenhang unserer Erörterungen
über das Gedächtnis kennen gelernt. Hier soll uns bloß die Entwicklung jenes Kernarguments
interessieren, dass kognitive Psychologen gegen den Universalitätsanspruch der Gültigkeit der
Prinzipien der klassischen und operanten Konditionierung vorzubringen haben: dass nämlich
Lernprozesse von Organismen in natürlichen, d. h. also komplexen Situationen nicht allein
über direkt beobachtbares Verhalten und direkt beobachtbare Reizkonstellationen zu erklären
ist. Selbst wenn man den restriktiven Untersuchungsrahmen der klassischen und operanten
Konditionierung als paradigmatisch für das Lernen von Organismen akzeptiert – ein Rahmen,
dessen Relevanz eben mit der Fortentwicklung der so genannten kognitiven Psychologie mehr
und mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde – kommt man – wie jetzt in der Folge zu
zeigen sein wird – ohne Berücksichtigung des Informationswertes, den bestimmte
Reizkonstellationen für Organismen in den von den Behavioristen als paradigmatisch
für Lernen schlechthin behaupteten Lernsituationen haben, nicht aus. Der
Informationswert, den Reizbedingungen z. B. für Ratten haben, ist natürlich nicht in derselben
Art und Weise direkt zu beobachten, wie die Wirkung, die physikalisch zu beschreibende
Reize auf die Auftrittswahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen haben. In Watsons und
Skinners Behaviorismus war kein Platz für solche – wie man das abschätzig nannte –
mentalistische Begriffe.
Die Notwendigkeit, auf solche „mentalistischen“ – besser: kognitive – Begriffe zu
rekurrieren, um auch nur einen scheinbar so simplen Vorgang, wie das Verhalten einer Ratte,
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die von einem Ausgangspunkt eines einfach konstruierten Labyrinths einen Zielgegenstand
(Futter) zu erreichen lernt, erklären zu können – ist in aller nur wünschbaren Deutlichkeit
zuallererst ausgerechnet von einem bekennenden Behavioristen demonstriert worden: von
Edward Chase Tolman, der, wie ich glaube, zu den wenigen wirklich ganz großen
Persönlichkeiten in der Geschichte unseres Faches zu zählen ist.
Genauso wie Skinner, so war auch Tolman ein „Spätberufener“. Er hatte zunächst sein
bachelor’s degree am berühmten Massachussets Institute of Technology in Elektrochemie
gemacht, eh er in Havard Philosophie und Psychologie zu studieren begann. Seinen PHD
machte er 1915; danach war er für drei Jahre als Instructor (das war die Vorform dessen, was
seit dem Zweiten Weltkrieg an den amerikanischen Universitäten assistant professor heißt) an
der Northwestern University tätig, ehe er aufgrund seiner pazifistischen Haltung – die USA
waren in den Weltkrieg eingetreten – entlassen wurde. 1918 wurde er an die University of
California in Berkeley geholt und später dort auch zum Full Professor ernannt. Hier – wo er
bis zu seinem Lebensende wirkte – entwickelte er seine im höchsten Maße originelle
Konzeption eines kognitiven Behaviorismus.
Tolman war eine bemerkenswerte Persönlichkeit– ein durch und durch demokratischer Geist,
dem ein gut argumentierter kritischer Einwand an seiner eigenen Position stets mehr Freude
zu bereiten schien, als jede zustimmende Zitierung in irgendeinem modernen Lehrbuch; sein
Leben lang offen für Neues, kritisch gegenüber jede Form von Dogmatismus in der
Wissenschaft (insbesondere auch kritisch gegenüber allzu strikten methodischen Fesselungen
der Psychologie); aufgrund mehrer Aufenthalte in Deutschland und vor allem auch hier in
Wien (das ganze Studienjahr 1933/34 hatte Tolman hier am Wiener Institut zugebracht, wo er
vor allem mit Egon Brunswik eng kooperierte) gut vertraut mit den europäischen Traditionen
der Psychologie (insbesondere aber mit der Gestalttheorie der Berliner Schule), ein aktiver
Förderer der Psychoanalyse; etc. Was uns heute – in Zeiten der versuchten Politisierung der
Universitäten unter dem Deckmantel des Begriffs der Universitätsautonomie – besonders zu
denken geben sollte, ist Tolmans Haltung während der Phase der von Senator McCarthy in
den USA entfachten Kampagne zur Verfolgung potentieller Staatsfeinde. Als 1949 – die
berühmt-berüchtigte McCarthy-Ära neigte sich ihrem Ende zu – die University of California
ihrem Lehrkörper einen Loyalitätseid abverlangte, weigerte sich Tolman, ihn zu
unterzeichnen. Gleichzeitig aber – und gerade das war für sein Verständnis von politischem
Widerstand bezeichnend – riet er seinen Mitarbeitern, sich nicht zu widersetzen. Den Kampf
sollten die etablierten Professoren führen – sie allein könnten sich das auch materiell leisten.
Tatsächlich ist Tolman dann auch vom Universitätsdienst suspendiert worden. Das gegen ihn
eingeleitet Ausschlussverfahren wurde aber schließlich wieder eingestellt.
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Was hat Tolman nun in die Psychologie des Behaviorismus Neues eingebracht? Die
Bezeichnung kognitiver Behaviorismus, die Tolman für sein Konzept akzeptiert hat, klingt
natürlich nach einem Paradoxon. Wie hat er diese paradoxe Programmatik argumentiert?
Für Tolmans ganze Lerntheorie zentral ist die Unterscheidung zwischen molekularen und
molaren Aspekten des Verhaltens. „Molekular“ bezieht sich auf die Betrachtung von
Verhalten als aktuell ablaufende Muskelbewegungen eines Organismus; „molar“ zielt darauf
ab, dass Verhalten eben auch mehr ist als bloß die Summe von elementaren Muskelzuckungen
(die Gestalttheorie lässt grüßen!). Ein ganzheitlicher Akt eines Lebewesens – der vor allem
dadurch charakterisiert ist, dass er auf die Erreichung eines bestimmten Ziels hin organisiert
ist. Purposive behavior in animals and men, so lautete der Titel, den Tolman seinem
programmatischen Hauptwerk von 1932 gab, – das eben war der Gegenstand, auf den sich
seine theoretischen Überlegungen bezogen. Dieses „purposive“ ist, darauf legte Tolman wert,
kein mentalistischer, sondern ein reiner Beobachtungsbegriff. Eine Ratte, die von einem
Ausgangspunkt in einem Labyrinth zu einem Zielgegenstand hinstrebt und nicht ruht, ehe sie
diesen Zielgegenstand (z. B. Futter) erreicht hat – dieses zielstrebigen („goal-seeking“)
Verhalten ist zu beobachten. Zielgerichtetheit ist also eine Beschreibung des Verhaltens, nicht
eine Beschreibung des Bewusstseinszustand der Ratte. Allerdings kommt – wie wir gleich
sehen werden – diese Beschreibung des Verhaltens letztlich nicht ohne Rekurs auf kognitive –
d. h. also innere, zentrale, eben nicht direkt beobachtbare Begriffe aus. Tolman postulierte,
dass bestimmte Reizkonstellationen in Abhängigkeit von den Erfahrungen, die ein
Organismus zuvor gemacht hat, Erwartungen stiften – Erwartungen über den Zusammenhang
zwischen den gerade vorliegende Reizbedingungen, entsprechenden Verhaltensweisen und
daraus resultierenden neuen Reizbedingungen. Kurz und gut: bei Tolman ist Lernen ein
fortwährendes Hypothesenbilden; konkretes Verhalten wird dann als Testen von
bestimmten Hypothesen, „Verstärkung“ eben als Bestätigung von Hypothesen
interpretierbar.
Damit haben wir die zentralen Charakteristika des Ansatzes von Tolman beisammen. Wir
können uns seinen zentralen Gedankengang nun an einem Experiment klar machen, das für
Tolmans Konzept im selben Sinne paradigmatisch ist, wie die Skinner-Box für den radikalen
Behaviorismus von Skinner.
Tolman hat sich vor allem mit so genanntem Ortslernen befasst: Ratten müssen in einem
Labyrinth unter mancherlei Schwierigkeiten, z. B. dem unvermutetem Auftreten von Sperren
in zuvor offenen Wegen vom Start in ein Ziel (Futter) finden. Die folgende Abbildung zeigt
einen typischen Aufbau von einem solchen Labyrinth: Es handelt sich dabei um etwa 4 cm
breite Laufstege, die ca. 75 cm über dem Boden angebracht waren.
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Vortraining: nur mit Sperre A: ohne Sperre A wurde von den Ratten der Weg 1 bevorzugt;
mit Sperre A wurde durch selektive Verstärkung am Zielort gewährleistet, dass von jedem
Versuchtier in 90 % seiner Durchläufe Weg 2, in 10 % seiner Durchläufe Weg 3 benutzt
wurde. Es wurde also eine Verhaltenshierarchie aufgebaut, die man als Bevorzugung des
jeweils kürzeren Weges bezeichnen kann. In der eigentlichen Testphase wurden dann
abwechselnd Sperre A und B gesetzt. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Fanden die Ratten
Weg 1 durch Sperre B blockiert, so wählten die überwiegende Mehrheit (je nach Art des
Vortrainings 73% und dann sogar 890 %), wenn sie jetzt erneut vom Start wegliefen, trotz der
im Vortraining etablierten Verhaltenshierarchie schon im aller ersten Durchgang gleich Weg
3 – d. h. den einzigen unter diesen Bedingungen zum Ziel führenden Weg. Die Versuchstiere
ersparten es sich sozusagen, in diesem Fall den Weg 2 überhaupt auszuprobieren.
Die Ratten verhalten sich so, als ob sie sich im Vortraining ein Bild des Labyrinths erworben
hätten – Jahre später hat die kognitive Psychologie eben dafür den zentralen Begriff der
kognitiven Repräsentationen – eingeführt; Tolman selbst sprach von einer kognitiven
Landkarte (cognitive map), die sich die Tiere von ihre Umgebung gebildet hätten, nach der
sie sich in ihrem zielbezogenen Verhalten orientieren können.
Tolman – der nicht nur ein kreativer Wissenschafter, sondern auch ein sehr humorvoller
Mensch war – hatte großen Spaß daran, ständig neue Wortschöpfungen zur Beschreibung und
Erklärung des Verhaltens seiner Ratten im Labyrinth zu kreieren. Wenn wir uns nur noch ein
klein wenig mehr darauf einlassen, werden wir sehen, wie sehr der ganze Ansatz letztlich auf
eine großartige Synthese der so voneinander differierenden Traditionen der USamerikanischen und europäischen Psychologie hinausläuft.
Der Terminus cognitive map war mit Bedacht gewählt: Eine Landkarte ist nichts anderes als
ein mehr oder minder komplexes Zeichensystem, das real bestehende Sachverhalte abbilden
soll. So kann Tolman denn auch sagen, seine Ratten hätten im eigentlichen keine ReizReaktions-Verknüpfungen gelernt – Sie erinnern sich: das Lernen solcher
Verknüpfungen stellt das Kernstück der Theorie des operanten Konditionierens dar –
sondern Beziehungen zwischen Zeichen. Die Ratten lernen also im Labyrinth bestimmte
Reizgegebenheiten als Zeichen zu verwerten, die sie zu bestimmten Zielgegenständen
hinführen oder davon abhalten. Zeichen und Bezeichnetes bilden einen
Bedeutungszusammenhang, den Tolman in Anknüpfung an die von der Gestalttheorie
entwickelte Begrifflichkeit als „Zeichen-Gestalt“ (sign-gestalt) bezeichnete.
Tolmans Einsicht, dass dieser Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichneten in
natürlichen Situationen für den Organismus prinzipiell mehrdeutig ist, liegt schließlich seiner
Rede vom Bilden von Hypothesen zugrunde. Ich kann Ihnen das hier nicht im Detail
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ausführen, aber es sei zumindest angedeutet, dass wir mit diesem Ansatz wieder bei jener
Auffassung der Funktion unseres Wahrnehmungssystems angelangt sind, für die ich im
letzten Semester unter dem Kapitel Psychologie des Sehens Werbung zu betreiben versucht
habe. Sie erinnern sich: Wir haben damals von der prinzipiellen Mehrdeutigkeit des
Netzhautbildes gesprochen und davon, dass unsere optischen Wahrnehmungen nichts anderes
sein können als ein fortwährendes Bilden von Hypothesen darüber, welche Außenweltobjekte
im Raum um uns gerade vorhanden sein könnten.
Die eigentliche Pointe des Tolmanschen kognitiven Behaviorismus habe ich Ihnen bis jetzt
aber noch vorenthalten. Sie betrifft die Frage, wie die Ratten – verwenden wir ruhig den
modernen Begriff: – diese kognitive Repräsentation der Labyrinth-Umgebung erwerben. Es
handelt sich dabei um so genanntes „latentes Lernen“, d. h. um ein Lernen, dass sich ohne
explizite Verstärkung vollziehen kann. Es handelt sich also um einen Lernprozess, der sich
zum Zeitpunkt seines Ablaufs nicht im Verhalten manifestiert. Tolman trägt dem
Rechnung, indem er begrifflich sehr präzise zwischen dem Erwerb einer Kompetenz (dem
eigentlichen Lernen) und seiner Umsetzung in beobachtbaren Verhalten (Performanz)
unterschied. Damit ist aber gleichzeitig behauptet, dass die Skinnersche Auffassung von
Lernen als Änderung der Auftrittswahrscheinlichkeit von bestimmten Verhaltensweisen zu
kurz greift. Ich werde darauf in der nächsten Vorlesung nochmals ausführlich zu sprechen
kommen.
Für heute danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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