PSYCHISCHE KRANKHEIT UND GEFÄHRLICHKEIT SS 2017 Hans Schanda 4.3. + 11.3.2017 jeweils 09:00-17:00 (HS U10) Nicht prüfungsimmanente LV (= 1. Note kann nicht korrigiert werden, letzte Note gilt) Die Prüfung findet am Ende des 2. Vorlesungsblocks statt. (10 Multiple-ChoiceFragen, die sich auf den 1. Vorlesungsblock beziehen; für eine positive Benotung sind mindestens 5 richtige Antworten erforderlich.) Eine Auswahl der ppt-Folien ist über die Homepage des Instituts für Strafrecht und Kriminologie erhältlich. Die Noten sind ausnahmslos erst ab 25.3.2017 über U:SPACE abrufbar, für Studierende der MUW über MedCampus. Möglichkeit zur Wiederholung der Prüfung am 6.5.2017, 09:00, im Hörsaal U11 des Juridicums. Für die Ablegung der Wiederholungsprüfung ist eine neuerliche Anmeldung über U:SPACE zwischen 27.3. und 23.4.2017 unbedingt erforderlich. (Studierende der MUW benötigen keine neuerliche Anmeldung für die Wiederholungsprüfung!) Die Einsichtnahme in die Ergebnisse der Prüfung vom 11.3. ist erst am 6.5.2017 im Anschluss an die Wiederholungsprüfung möglich, da beim Wiederholungstermin die gleichen Fragen zu beantworten sind. 1 1) Wie wird psychische Krankheit definiert? Wie wird Gefährlichkeit definiert? Wie wird Gefährlichkeit „gemessen“? Wie entsteht Aggression? (im allgemeinen, bei psychisch Kranken, Hypothesen, biologische Befunde) 2) Charakteristika der Risikoklientel 3) Aktuelle Daten zum Kriminalitäts- bzw. Gewalttätigkeitsrisiko psychisch Kranker (Exkurse: Psychisch Kranke als Opfer; Politisch/ Religiös motivierte Gewalt, School shooting) 4) Externe Faktoren (gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen der allgemeinpsychiatrischen Versorgung, Zunahme dissozialen Verhaltens psychisch Kranker?) 5) Fallbeispiele ICD-10 Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F30-F39 Affektive Störungen F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F70-F79 Intelligenzstörung F80-F89 Entwicklungsstörungen F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F99-F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen 2 SCHIZOPHRENIE (F20) ! Störungen von Denken und Wahrnehmung, inadäquate oder verflachte Affekte Bewusstseinsklarheit und intellektuelle Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, jedoch im Laufe der Zeit Entwicklung gewisser kognitiver Defizite. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene: Gedankenlautwerden Gedankeneingebung oder Gedankenentzug Gedankenausbreitung Control override-Symptome Wahnwahrnehmung Kontrollwahn Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten Stimmen, die in der dritten Person das Verhalten des Patienten kommentieren oder über ihn sprechen Denkstörungen und Negativsymptome Verlauf: Kontinuierlich Episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten Eine oder mehrere Episoden mit vollständiger oder unvollständiger Remission SCHIZOPHRENE STÖRUNGEN Lebenszeitprävalenz ~ 0,7% bis 1% Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen ~ gleich hoch ~ 90% der Männer und ~ 66% der Frauen erkranken vor dem 30. Lebensjahr Hoher Anteil chronischer Verläufe Nur 18% bleiben innerhalb von 5 Jahren nach der ersten Episode rückfallfrei.1) 5x höhere Rückfallraten nach Absetzen der Medikation1) Verdreifachung der Zeit bis zur Remission vom 1. zum 3. Rückfall 2) Deutliche Reduktion des Funktionsniveaus in den ersten Jahren der Erkrankung3) 1)Robinson D, Woerner M, Alvir JMJ, Bilder R, Goldman R, Geisler St, Koreen A, Sheitman B, Chakos M, Mayerhoff D, Lieberman J. Predictors of relapse following response from a first episode of schizophrenia or schizoaffective disorder. Arch Gen Psychiatry 1999;56:241-247 2) Lieberman JA, Koreen AR, Chakos M, Sheitman B, Woerner M, Alvir JM, Bilder R. Factors influencing treatment response and outcome of first-episode schizophrenia: implications for understanding the pathophysiology of schizophrenia. J Clin Psychiatry 1996;57(Suppl 9):5-9 3)Birchwood M , Todd P, Jackson C. Early intervention in psychosis. The critical period hypothesis. Br J Psychiatry Suppl 1998;172:53-59 3 SCHIZOPHRENIE 1 Erstmanifestation meist zwischen dem 17. und 30. Lebensjahr Prävalenz bei Männern und Frauen gleich, allerdings erkranken Männer durchschnittlich 2 Jahre früher Genetisch teildeterminierte Erkrankung ► Höhere Konkordanzraten bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen ► polygener Erbgang ► Verursachung wahrscheinlich durch mehrere/viele Dispositions-/ Suszeptibilitätsgene ► Ca. 30% des Risikos durch Umweltfaktoren erklärt (Schwangerschafts-, Geburtskomplikationen, hohes väterliches Alter, Drogenmissbrauch) Maier W, Lichtermann D, Rietschel M, Held T, Falkai P, Wagner M, Schwab S. Genetik schizophrener Störungen. Nervenarzt 1999;70:955-969 Falkai P, Maier W. Fortschritte in der neurobiologischen Erforschung der Schizophrenie. Perspektiven für neue Therapieansätze. Nervenarzt 2006 (Suppl 2) 77:S65-S76 SCHIZOPHRENIE 2 Höhere familiäre Belastung bei Patienten mit ausgeprägter Negativsymptomatik (sozialer Rückzug, bizarres Verhalten, formale Denkstörungen) In Familien Schizophrener gehäuft auftretende subklinische neuroanatomische und neuropsychologische Normabweichungen Variable Expression des Phänotyps wahrscheinlich aufgrund unterschiedlicher Kombinationen von prädisponierenden Genmutationen und Interaktionen mit Umweltfaktoren (vgl. Diabetes mellitus Typ I und II, koronare Herzerkrankung, Hypertonie) Störung des dopaminergen, des serotonergen- und des glutamatergen Systems im Gehirn Maier W, Lichtermann D, Rietschel M, Held T, Falkai P, Wagner M, Schwab S. Genetik schizophrener Störungen. Nervenarzt 1999;70: 955-969 Falkai P, Maier W. Fortschritte in der neurobiologischen Erforschung der Schizophrenie. Perspektiven für neue Therapieansätze. Nervenarzt 2006 (Suppl 2) 77:S65-S76 4 SCHIZOPHRENIE UND ERBLICHKEIT Lebenszeitrisiko 0,7-1%, Suizidrisiko 10% 80% der Patienten haben keine manifest erkrankten Eltern 60% keine manifest erkrankten weiteren Verwandten Allgemeinbevölkerung 0,7-1% Cousins, Onkel, Tanten 2% Neffen, Nichten 3% Enkel 4% Eltern 6% Geschwister 10% Kinder 13% Zweieiige Zwillinge 17% Kinder von zwei manifest erkrankten Eltern 46% Eineiige Zwillinge 48% RELATIVES RISIKO (RR) FÜR SCHIZOPHRENIE RR Geburtskomplikationen 2-4 Hohes väterliches Alter 2-4 Drogenkonsum (v.a. Cannabis) 2-4 Aufwachsen in Großstädten 1,5 - 2,5 Niedrige (aber normgerechte) Intelligenz 1,5 Infektionen des Gehirns während der Kindheit 1,5 Infektionen, Unterernährung der Mutter während der 1,2 - 2,0 Schwangerschaft Falkai P, Maier W. Fortschritte in der neurobiologischen Erforschung der Schizophrenie. Perspektiven für neue Therapieansätze. Nervenarzt 2006 (Suppl 2) 77:S65-S76 5 ANHALTENDE WAHNHAFTE STÖRUNGEN (F22) Störungen, bei denen ein langandauernder Wahn das einzige oder das auffälligste klinische Charakteristikum ist, und die nicht als organisch, schizophren oder affektiv klassifiziert werden können. Entwicklung einer einzelnen Wahnidee oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, bestehen. Die Inhalte sind sehr variabel (Verfolgungswahn, hypochondrischer oder Größenwahn, Querulantenwahn, Eifersuchtswahn, sensitiver Beziehungswahn). Eindeutige und anhaltende akustische Halluzinationen (Stimmen), schizophrene Symptome wie Kontrollwahn oder Affektverflachung oder eine eindeutige Gehirnerkrankung sind nicht mit der Diagnose vereinbar. Gelegentliche oder vorübergehende akustische Halluzinationen schließen besonders bei älteren Patienten die Diagnose jedoch nicht aus, solange diese Symptome nicht typisch schizophren erscheinen und nur einen kleinen Teil des klinischen Bildes ausmachen. AFFEKTIVE STÖRUNGEN (F30-F39) Veränderung der Stimmung oder der Affektivität entweder ► zur Depression (mit oder ohne Angst) ► zur gehobenen Stimmung (Hypomanie, Manie) Dieser Stimmungswechsel wird meist von einer Veränderung des allgemeinen Aktivitätsniveaus begleitet. Die meisten anderen Symptome beruhen hierauf oder sind im Zusammenhang mit dem Stimmungs- und Aktivitätswechsel leicht zu verstehen. Rückfallneigung Beginn der einzelnen Episoden oft in Zusammenhang mit belastenden Ereignissen oder Situationen ► Unipolar ► Bipolar 6 MANISCHE EPISODE (F30) Situationsinadäquat gehobene Stimmung (sorglose Heiterkeit bis fast unkontrollierbare Erregung) Vermehrter Antrieb ► Überaktivität ► Rededrang ► Vermindertes Schlafbedürfnis Aufmerksamkeitsstörung Ablenkbarkeit Überhöhte Selbsteinschätzung (übertriebener Optimismus, Größenideen) Gesteigerte Libido Verlust sozialer Hemmungen, das Verhalten erscheint ► leichtsinnig ► rücksichtslos ► unpassend ► persönlichkeitsfremd DEPRESSIVE EPISODE (F32) Gedrückte Stimmung (morgendliches Pessimum) Verminderung von Antrieb und Aktivität Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit Ausgeprägte Müdigkeit Freudlosigkeit Interessenverlust Konzentrationsstörung Beeinträchtigung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Schuldgefühle oder Gedanken über die eigene Wertlosigkeit Schlafstörung (Etappenschlaf, vorzeitiges Erwachen) Appetitstörung Gewichtsverlust Libidoverlust 7 EPIDEMIOLOGIE UND GENETIK AFFEKTIVER ERKRANKUNGEN Unipolare Depression Bipolare Störung Lebenszeitprävalenz 17% 1% M:F 1:2 1:1 Ersterkrankungsalter Zwischen 15. - 70. LJ ˂30. LJ (80%) Erhöhung des Risikos bei Verwandten 1. Grades OR ~ 2,0 OR ~ 6 - 8 Erblichkeit 37 - 65% 60 - 89% Maier W. Genetik der Depression. Gegenwärtiger Erkenntnisstand und Perspektiven. Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2004;47:487-492 ORGANISCHE EINSCHLIESSLICH SYMPTOMATISCHER PSYCHISCHER STÖRUNGEN (F00-F09) Psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Primär (Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen) Sekundär (systemische Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen betreffen) Demenz (F00-F03): Störung höherer kortikaler Funktionen (Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen) Veränderungen ► der emotionalen Kontrolle ► des Sozialverhaltens ► der Motivation Das Bewusstsein ist nicht getrübt. 8 PSYCHISCHE UND VERHALTENSSTÖRUNGEN DURCH PSYCHOTROPE SUBSTANZEN (F10-F19) Störungen unterschiedlichen Schweregrades mit verschiedenen klinischen Erscheinungsbildern; die Gemeinsamkeit besteht im Gebrauch einer oder mehrerer psychotroper Substanzen (mit oder ohne ärztliche Verordnung). Akute Intoxikation (akuter Rausch) Schädlicher Gebrauch Abhängigkeitssyndrom Entzugssyndrom Psychotische Störung ► Alkoholhalluzinose ► Alkoholische Paranoia ► Alkoholischer Eifersuchtswahn PERSÖNLICHKEITS- UND VERHALTENSSTÖRUNGEN (F60-F69) Meist länger anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster als Ausdruck ► des charakteristischen, individuellen Lebensstils ► des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen Einige dieser Zustandsbilder und Verhaltensmuster entstehen als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen schon früh im Verlauf der individuellen Entwicklung, während andere erst später im Leben erworben werden. ! Spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60.-), kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen (F61), Persönlichkeitsänderungen (F62.-): ► Tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen äußern. ► Gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. ► Meistens stabile Verhaltensmuster, die sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und der psychologischen Funktionen beziehen. Sie gehen häufig mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher. 9 Spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60-) Schwere Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens, die nicht direkt auf eine Hirnschädigung oder -krankheit oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen sind. Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit persönlichen und sozialen Beeinträchtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter. Paranoide Persönlichkeitsstörung Schizoide Persönlichkeitsstörung Dissoziale Persönlichkeitsstörung Emotional instabile Persönlichkeitsstörung Histrionische Persönlichkeitsstörung Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung Andauernde Persönlichkeitsänderung nach psychischer Krankheit Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle Störungen der Geschlechtsidentität Störungen der Sexualpräferenz PRÄVALENZ (%) VON PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN IN DER ALLGEMEINBEVÖLKERUNG UND IN KOLLEKTIVEN VON BEGUTACHTETEN STRAFTÄTERN UND GEFÄNGNISINSASSEN Paranoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 1,8 (3 - 9) Schizoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 0,9 (1,7 - 6,6) Antisoziale Persönlichkeitsstörung 0,2 - 3,0 (17 - 29,3) Borderline-Persönlichkeitsstörung 1,1 - 4,6 (6,1 - 17,9) Histrionische Persönlichkeitsstörung 1,3 - 3,0 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 0 - 0,4 (4,4 - 8,8) Selbstunsichere Persönlichkeit und ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung 0 - 1,3 Dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung 1,5 - 6,7 Anankastische Persönlichkeitsstörung 1,7 - 6,4 Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung 0,0 - 3,0 10 PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN BEI MASSNAHMEPATIENTEN (§ 21/1 StGB, ERST- UND ZWEITDIAGNOSEN) ICD-10 DSM-IV CLUSTER A (sonderbar, exzentrisch) PARANOID PARANOID Misstrauen und Argwohn, andere seien böswillig SCHIZOID SCHIZOID Soziale Distanz, eingeschränkter Ausdruck von Emotionen (F 21 SCHIZOTYPE STÖRUNG) SCHIZOTYPISCH Soziale Ängste, Verzerrung von Denken und Wahrnehmung, exzentrisch CLUSTER B (dramatisch, emotional, extrovertiert) DISSOZIAL ANTISOZIAL Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, Impulsivität, Aggressivität EMOTIONAL INSTABIL (impulsiver und Borderline-Typ) BORDERLINE Instabilität in Beziehungen, im Selbstbild, in Affekten, Impulsivität, wiederholte Selbstverletzungen und Suizidversuche HISTRIONISCH HISTRIONISCH Übermäßige Emotionalität, übermäßiges Verlangen nach Aufmerksamkeit === NARZISSTISCH Gefühl der Großartigkeit, Bedürfnis, bewundert zu werden, Mangel an Empathie, benützt andere CLUSTER C (ängstlich, furchtsam) ÄNGSTLICH SELBSTUNSICHER Soziale Hemmung, Gefühl der Unzulänglichkeit, Angst vor negativer Beurteilung und Zurückweisung ABHÄNGIG DEPENDENT Unterwürfig, anklammernd, Bedürfnis, versorgt zu werden ANANKASTISCH ZWANGHAFT Beschäftigt mit Ordnung, Perfektionismus und Kontrolle (KOMORBIDE) PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN (PS) BEI PSYCHOTISCHEN PATIENTEN MIT ERHÖHTEM GEWALTTÄTIGKEITS-/KRIMINALITÄTSRISIKO V.a. Cluster B-PS (dissoziale, narzisstische und emotional instabile PS vom impulsiven und vom Borderline-Typus) (vgl. Gutachtensprobanden und Gefängnisinsassen) Besonders häufig „kombinierte PS“ Entsprechen zumeist der „Psychopathy“ nach Hare (= stabile Kombination aus dissozialen, histrionischen und narzisstischen Zügen). Charakteristische Merkmale: Gewissenlosigkeit, oberflächlicher, missbrauchender Umgang mit anderen, oft zahlreiche Delikte, schlechte Kriminalprognose. Dissozialität bei emotional instabilen PS: Zumeist aufgrund von impulsivem, wenig kontrolliertem Verhalten Dissozialität bei narzisstischen und antisozialen PS bzw. Psychopathy: Eher planvoll und instrumentell eingesetzt 11 PERSÖNLICHKEIT UND VERANTWORTETE ENTWICKLUNG (H. Saß) Somatische Faktoren Angelegte Merkmale von Temperament (Dynamik) und Charakter (Struktur) Hormonelle und vegetative Funktionen Lern-und Beziehungsgeschichte Herkunftsfamilie Soziales Umfeld Erziehung und Bildung Partnerschaftserfahrungen Kritische Lebensereignisse Persönlichkeit Gewachsene Merkmale von Temperament (Dynamik) und Charakter (Struktur) Selbstbild Wertgefüge Intentionalität Verhaltensstile der Kognition Affektivität Impulsregulation Beziehungsgestaltung Subjektive Entscheidungs- und Begründungsmuster Verhaltenssteuerung, Lebensgestaltung „Gefährlichkeit“ Individuelle, subjektive Definitionen? Informeller gesellschaftlicher Konsens? Formaler gesellschaftlicher Konsens (Gesetze)? Welche Faktoren beeinflussen diesen Konsens? Haben Krankheitsfaktoren Einfluss auf die subjektiven Definitionen von Gefährlichkeit? Gibt es überhaupt irgendwelche Beziehungen zwischen Krankheit und Gefährlichkeit? 12 Methodische Probleme ● Unterschiedliche - Settings - Informationsquellen - Definitionen - Bezugsgrößen - Gesellschaftliche Bedingungen ALLGEMEINE DAS KRIMINALITÄTS- BZW. GEWALTTÄTIGKEITSRISIKO BEEINFLUSSENDE FAKTOREN Gesellschaftliche Situation Soziale Situation Substanzmissbrauchsraten* Kriminalitätsraten* Basisraten* 13 BASISRATEN Jeder Rückfall Einschlägiger Rückfall Tötungsdelikte 1-42% 0-5% Körperverletzung 35-54% 32-35% Sexualdelikte 18-68% MW 40% Vergewaltigung 34-50% 14-29% Sexueller Kindesmissbrauch 15-43% Exhibitionismus MW 78% Eigentumsdelinquenz 47-80% Nach Nedopil 2005 Wie entstehen Aggression und Gewalttätigkeit im allgemeinen – und wie bei psychisch Kranken? 14 HETEROGENITÄT AGGRESSIVEN VERHALTENS 1. Psychose-assoziiert Feindseligkeit Wahn Imperative Stimmen Desorganisiertheit 2. Impulsiv Situativ ausgelöste Reaktion Emotional getönt Physiologische Erregung Ungeplant, manchmal nachträglich Reue und Unverständnis für das eigene Verhalten Allgemeine neuronale Übererregbarkeit, spezifische Störungen inhibitorischen Systeme im präfrontalen Cortex 3. Persönlichkeitsbedingt Planung, instrumenteller Charakter (Gewinn, Vorteil) Fehlen von Reue Anamnese von kindlichen Verhaltensstörungen Auffälligkeiten oft unterhalb der Diagnoseschwelle für Persönlichkeitsstörungen Ullrich W. Pharmakologische Therapie der Aggressivität. 28. Münchner Herbsttagung der AGFP, München 10.-12.10.2013 DIE INDIVIDUELLE AGGRESSIONSBEREITSCHAFT Bei psychisch Gesunden Bei psychotischen Patienten Geschlecht Geschlecht Alter Alter Aggressiver Prädisposition Aggressiver Prädisposition Externe Faktoren (Alkohol, Drogen, Erziehung, Sozialisation) Externe Faktoren (Alkohol, Drogen, Erziehung, Sozialisation) + Art und Ausprägung der Erkrankung Wechselwirkungen zwischen der Erkrankung und anderen Faktoren 15 Biologische Befunde zur Entstehung von aggressivem/ antisozialem Verhalten TESTOSTERON, SEROTONIN UND AGGRESSIVES VERHALTEN TESTOSTERON SEROTONIN Kompetitive Aggression Aggressivität, Impulsivität Dominanz-Aggression Hyperreagibilität PATHOLOGISCHE AGGRESSION 16 SCHÄTZUNG DES EINFLUSSES GENETISCHER UND UMWELTFAKTOREN AUF ANTISOZIALES VERHALTEN IN UNTERSCHIEDLICHEN ENTWICKLUNGSTADIEN POPULATIONSBASIERTE STUDIE, 6.806 GLEICH- UND GEGENGESCHLECHTLICHE ZWILLINGE Männer <15 15-17 Frauen 18+ <15 15-17 18+ Keine geschlechtsspezifischen genetischen bzw. gemeinsamen Umweltfaktoren Genetische Faktoren in der Kindheit unterschiedlich von denen in Jugend und Erwachsenenalter Gemeinsame Umweltfaktoren in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter ähnlich Jacobson KC, Prescott CA, Kendler KS. Sex differences in the genetic and environmental influences on the development of antisocial behavior. Development and Psychopathology 2002;14:395-416 INTERAKTION GENETISCHER UND UMWELTBEDINGTER RISIKEN Mittlere Anzahl dissozialer Verhaltensweisen 4 Genetisches Risiko 3 2 1 Kein genetisches Risiko 0 Nicht vorhanden Vorhanden Umweltrisiko Interaktionseffekte erhöhen das Risiko für gewalttätiges Verhalten deutlich stärker als genetische und Umweltfaktoren für sich alleine. Nach Cadoret RJ, Caun CA, Crowe RR. Evidence from gene-environment interaction in the development of adolescent antisocial behavior. Behav Genet 1983;13:301-310. In: Retz W. Genetik forensisch relevanten Verhaltens. Müller J (Hrsg.). Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen. Kohlhammer (Stuttgart 2010) pp. 96-108 17 Befunde und Hypothesen zur Entstehung von antisozialem/aggressivem Verhalten bei Menschen mit Psychosen MMD und Dissozialität: Genetische Faktoren - 1 47 Kinder schizophrener Mütter, die kurz nach der Geburt zur Adoption freigegeben oder in Waisenhäusern untergebracht wurden. ► 5 (10,6%) der Kinder erkrankten an Schizophrenie. ► 11 (23,4%) der 47 Kinder wurden wegen Gewaltkriminalität zu Haftstrafen verurteilt. Heston LL. Psychiatric disorders in foster-home reared children of schizophrenics. Br J Psychiatry 1966;112:819-825 18 EXPOSURE TO INFLUENZA EPIDEMIC Infektion im Übergang vom 6. zum 7. LM erhöhtes Risiko für Gewaltkriminalität % of sons convicted for violent offences 40 Exposition im 2. Trimenon (v.a. 6. LM) erhöhtes Risiko für Schizophrenie 35 30 25 20 - 20% Exposition ˡ 1 87% Exposition 20% Exposition ˡ 2 ˡ 3 Trimester Mednick SA , Machon RA, Huttunen MO, Bonnet D. Adult schizophrenia following prenatal exposure to an influenza epidemic. Arch Gen Psychiatry 1988; 45:189-192 Tehrani JA , Brennan PA, Hodgins S, Mednick SA. Mental illness and criminal violence. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 1998;33:81-85 ENTSTEHUNG UND STEUERUNG VON AGGRESSION HEMMUNG/REGULIERUNG Sensorische Beeinträchtigung (Alkohol, Drogen) Kulturelle, soziale Faktoren Stimulus, Anregung, Reiz Sensorische Verarbeitung Sensorische Defizite (optisch, akustisch) Stress, Trauma (orbitofrontaler Cortex, Gyrus cinguli anterior) Frühe InformationsVerarbeitung, Kognitive Beurteilung AUSLÖSUNG/TRIGGER (Amygdala, Insel) Kognitive Beeinträchtigung (paranoide Reaktionsbereitschaft) Nach Siever LJ. Neurobiology of aggression and violence. Am J Psychiatry 2008;165:429-442 19 GEMEINSAME MORPHOFUNKTIONELLE GRUNDLAGEN VON SCHIZOPHRENEN PSYCHOSEN UND GEWALT Cortikale Areale: Suppression von Psychose/Aggression Orbitofrontaler Cortex Anteriorer cingulärer Cortex Basalganglien Amygdala Subcortikale Areale: Triggerung von Psychose/Aggression Kalus P (2010) Gewalttätigkeit schizophrener Patienten: Aktueller Stand der neurobiologischen Forschung. In: Lammel M, Sutarski S, Lau S, Bauer M (Hrsg) Wahn und Schizophrenie. Psychopathologie und forensische Relevanz. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin 2010) pp 49-65 MÖGLICHE WEGE DER ENTSTEHUNG VON AGGRESSION BEI SCHIZOPHRENIE Prädisponierende Risikofaktoren Psychiatrische Erkrankungen Biologisch (z.B. Genotyp, pränatale Schädigung, Geburtskomplikationen) Schizophrenie Psychiatrische Symptome Risikointeraktionen, auslösende Faktoren Akuter psychopathologischer Risikocluster Feindseligkeit Bedrohungsgefühl, Wahn, Halluzinationen Impulsivität/ Enthemmung Substanzmissbrauch Nonadhärenz Neurokognitive Beeinträchtigung Akuter Stress Aggression Unruhe/Erregung Frühe psychosoziale Belastungen, Viktimisierung, Entwicklungsstörungen Kindliche Störungen des Sozialverhaltens Mangelnde Einsicht Antisoziale Persönlichkeit/ Psychopathy Intoxikation Chronischer kriminogener Risikocluster Nach Volavka J, Swanson JW, Citrome L. Managing violence and aggression in schizophrenia. In: Lieberman JA, MurrayRM, eds. Comprehensive Care of Schizophrenia: A Textbook of Clinical Management. 2nd ed. New York, NY: Oxford University Press; 2011 (In: Volavka J, Citrome L. Pathways to aggression in schizophrenia affect results of treatment. Schizophr Bull 2011;37:921-929) 20 BEDINGUNGSKONSTELLATIONEN DISSOZIALEN/ GEWALTTÄTIGEN VERHALTENS PSYCHISCH KRANKER Persönlichkeit, Sozialisation Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch Persönlichkeit, Sozialisation Krankheit Krankheit Persönlichkeit, Sozialisation Substanzmissbrauch TYPOLOGIE GEWALTTÄTIGER PATIENTEN MIT PSYCHOSEN Mäßig Beitrag der Erkrankung Deutlich Leicht Schweregrad der Gewalt Schwer Vorstrafen, (komorbider) Substanzmissbrauch, Dissozialität/Psychopathy-Score 21 PYCHOSEN (MAJOR MENTAL DISORDERS) UND DISSOZIALES VERHALTEN Early starters: Stabiles Muster dissozialen Verhaltens von Jugend an, m >> f Late starters: Einsetzen dissozialen Verhaltens erst nach Krankheitsbeginn Keine wesentlichen Unterschiede im Ausprägungsgrad der Erkrankung Early starters: ▪ Mehr Verurteilungen/Vorstrafen (wegen jeder Art von Delinquenz) ▪ Bei der ersten Verurteilung im Durchschnitt 10 Jahre jünger ▪ Komorbider Substanzmissbrauch deutlich häufiger (76% vs 42%) ▪ Geringere Beeinträchtigung im psychosozialen Bereich ▪ Weniger neurologische “soft signs” ▪ Häufiger schulische Verhaltensprobleme in Kindheit und Jugend (50% vs 13%) ▪ Bezüglich Art und Schweregrad dissozialen Verhaltens in Kindheit und Jugend Ähnlichkeiten mit Personen, die eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln Hodgins S. The etiology and development of offending among persons with major mental disorders. In Hodgins S (ed). Violence among the Mentally Ill. Effective Treatment and Management Strategies. Kluwer (Dordrecht 2000) pp 89-116 1) Wie wird psychische Krankheit definiert? Wie wird Gefährlichkeit definiert? Wie wird Gefährlichkeit „gemessen“? Wie entsteht Aggression? (im allgemeinen, bei psychisch Kranken, Hypothesen, biologische Befunde) 2) Charakteristika der Risikoklientel 3) Aktuelle Daten zum Kriminalitäts- bzw. Gewalttätigkeitsrisiko psychisch Kranker (Exkurse: Psychisch Kranke als Opfer; Politisch/ Religiös motivierte Gewalt, School shooting) 4) Externe Faktoren (gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen der allgemeinpsychiatrischen Versorgung, Zunahme dissozialen Verhaltens psychisch Kranker?) 5) Fallbeispiele 22 Charakteristika psychotischer Patienten mit Gewaltdelinquenz, gewalttätigem Verhalten: Psychotische Symptome, Motive I (Symptome = Motive?) Wahn Bei Tötungsdelikten in 25% Motiv (Gibbens 1958) „Systemisierter Wahn“ häufig, in 68% „paranoide Beziehung“ (Böker & Häfner 1973) In 20% sicheres, in 26% wahrscheinliches Motiv (93% aktive psychotische Symptome bei Attacke) (Taylor 1985) 60% „acting on delusions“ (Wessely et al 1993) Halluzinationen Bei 17,5% der männlichen und 23% der weiblichen schizophrenen Patienten mit Gewaltdelinquenz imperative Stimmen (gelegentlich Trigger, selten Motiv) (Böker & Häfner 1973) Selten Motiv (Taylor 1985) Halluzinationen vergrößern das Risiko für Aggressivität nicht signifikant. (Hellerstein 1987) PSYCHOSE UND GEWALTTÄTIGKEIT: KRANKHEITSDAUER Schwere Gewaltdelinquenz schizophrener Patienten nur bei 9% in den ersten 6 Monaten nach Erkrankungsbeginn. (Böker & Häfner 1973) „An interaction of several years may be required before a delusional belief is likely to be translated into action.“ (Wessely & Taylor 1992, p 221) 46% der erstmals hospitalisierten Schizophrenen mit aggressivem, bedrohlichem Verhalten warenbereits länger als 1 Jahr krank. (Humphreys et al 1992) Krankheitsdauer bis zum Zeitpunkt des Tötungsdelikts im MW 9 Jahre. (Schanda & Knecht 1998) 23 Charakteristika psychiatrischer Patienten mit Gewaltdelinquenz, gewalttätigem Verhalten: Non-Compliance Massive Belastung Angehöriger durch Non-Compliance. (Gibbons et al 1984) Hochsignifikante Korrelation (p<0,001) zwischen Non-Compliance und Vorgeschichte gewalttätiger Handlungen. (Smith 1989) Non-Compliance und Substanzmissbrauch sind die besten Prädiktoren für polizeiliche Festnahmen Schizophrener. (McFarland et al 1989) Bei Patienten mit Tötungsdelikten im letzten Monat vor der Tat Compliance in 8%, Krankheitseinsicht in 15%. (Schanda & Knecht 1998) Hochsignifikante Korrelation (p<0,001) zwischen Non-Compliance und kriminellen Rückfällen entlassener Maßnahmepatienten. (Schanda et al 1998) KONSEQUENZEN VON NONCOMPLIANCE Psychotische Rückfälle Häufigere Spitalsaufenthalte Schlechtere Krankheitsprognose Schlechtere soziale Prognose Erhöhte Morbidität, Mortalität Erhöhtes Suizidrisiko Erhöhtes Aggressionsrisiko Belastung der Angehörigen Höhere Kosten 24 Psychose und Gewalttätigkeit: Vorhospitalisierungen • Schwere Gewaltdelinquenz Schizophrener: Nur bei 41% keine stationäre Vorbehandlung; „irreguläre Entlassungen“ vor der Tat häufiger. (Böker &Häfner 1973) • 61,3% der deutschen Maßregelpatienten (§63 DStGB) mindestens 1x hospitalisiert, davon 70% unfreiwillig (am häufigsten Patienten mit schizophrenen, affektiven und hirnorganischen Störungen). (Leygraf 1988) • Maßnahmepatienten (§21/1 ÖStGB) mit Tötungsdelikten: 66,7% mindestens 1x hospitalisiert MW 4,5), davon bei 70% zumindest 1 unfreiwillige Aufnahme (MW 3,3). (Schanda et al 1997) • „… the English special hospital patients, more than 90% of whom were well known to general mental health services before admission and the vast majority of whom will return eventually to them.“ (Taylor 1997, p 19) • Schizophrene Patienten im Maßregelvollzug von Nordrhein-Westfalen(2005): Ø 7,5 stationäre Vorbehandlungen, ¼ der Patienten mit Körperverletzung war zum Zeitpunkt des Delikts obdachlos. (Seifert 2007) Charakteristika psychotischer Patienten mit Gewaltdelinquenz, gewalttätigem Verhalten: Zusatzdiagnose Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch und Non-Compliance sind die besten Prädiktoren für eine polizeiliche Festnahme von chronisch kranken Patienten. (McFarland et al 1989) Bei schizophrenen Patienten mit aggressivem Verhalten in 36,8% sicherer, in 55,2% wahrscheinlicher Substanzmissbrauch. (Lindqvist & Allebeck 1989) Substanzmissbrauch erhöht das Gewalttätigkeitsrisiko von Schizophrenen in einem 12-Monatszeitraum fast um das 4-fache. (Swanson et al 1990) 48,7% der Männer und 42,9% der Frauen mit Major Mental Disorders und Gewaltdelinquenz haben die Zusatzdiagnose Substanzmissbrauch. (Hodgins et al 1992) Die Zusatzdiagnose Alkoholismus erhöht die OR für Tötungsdelinquenz bei Männern um das 2,4-fache (17,2), bei Frauen um das 15,9-fache (80,9). (Eronen et al 1996) 25 MMD UND KOMORBIDER SUBSTANZMISSBRAUCH Jacobi et al 2004 (GHS-MHS, n = 4 181, M-CIDI,DSM-IV, Lebenszeitprävalenz) Alkohol Non-Alkohol (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) Schizophrenie Manie m m Depression m 2,63 f 2,43 m 4,76 f 6,47 10,21 f 17,18 m 0,79 f 3,71 1,78 f 2,52 m 2,55 f 2,49 Jacobi F, Wittchen H-U, Hölting C, Höfler M, Pfister H, Müller N, Lieb R. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: Results from the German General Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004;34:115 PSYCHOSE UND AGGRESSION: RISIKOMERKMALE Schwere, chronische Verläufe Aktive Krankheitssymptome Ausgeprägte Wahndynamik Auch für Armut, Viktimisierung, erhöhte Morbidität, Mortalität ! Komorbidität (Substanzmissbrauch, Persönlichkeitsstörung) Mangelnde Krankheitseinsicht Fehlende Therapiemotivation Non-Compliance Viele (unfreiwillige) stationäre Vorbehandlungen Häufige Behandlungsabbrüche Schlechte medikamentöse Beeinflussungsmöglichkeit Impulsivität/mangelnde Impulskontrolle In der Vorgeschichte Drohungen, Sachbeschädigungen, Tätlichkeiten Destabilisierende äußere Einflüsse Biographische Schädigung, Milieuschädigung 26 RISK OF VIOLENCE/AGGRESSION IN PSYCHOSIS Witt K, van Dorn R, Fazel S. Risk factors for violence in psychosis: Systematic review and meta-regression analysis of 110 studies. PLOS one 2013;8(2)e55942 CHARAKTERISTIKA PSYCHIATRISCHER PATIENTEN MIT SCHWERER GEWALTDELINQUENZ: OPFER 60% aus der Kernfamilie, 23% Freunde, Bekannte, 7% „Autoritätspersonen“, 9% Fremde. (Böker & Häfner 1973) „Closely related (emotionally linked) females“ (Tötungsdelikte). (Planansky & Johnston 1977) 79% Familienmitglieder (Tötungsdelikte). (Gottlieb et al 1987) 48% aus dem engsten Familienkreis, weitere 40% aus der nächsten Umgebung, 12% Fremde; 50% der Opfer lebten im letzten halben Jahr vor der Tat im gemeinsamen Haushalt mit dem Täter (Tötungsdelikte). (Knecht & Schanda 1998) 43% der Opfer schizophrener Patienten aus dem Familien- und Bekanntenkreis, 22% Exekutivbeamte bzw. Spitalspersonal, 31% Fremde; die Schwere der Gewalttätigkeit war innerhalb der Familie am größten; Opfer tödlicher Angriffe im Fall von Fremden eher Männer, im engeren Familienverband eher Frauen (v.a. Mütter). (Nordström & Kullgren 2003) 27 1) Wie wird psychische Krankheit definiert? Wie wird Gefährlichkeit definiert? Wie wird Gefährlichkeit „gemessen“? Wie entsteht Aggression? (im allgemeinen, bei psychisch Kranken, Hypothesen, biologische Befunde) 2) Charakteristika der Risikoklientel 3) Aktuelle Daten zum Kriminalitäts- bzw. Gewalttätigkeitsrisiko psychisch Kranker (Exkurse: Psychisch Kranke als Opfer; Politisch/ Religiös motivierte Gewalt, School shooting) 4) Externe Faktoren (gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen der allgemeinpsychiatrischen Versorgung, Zunahme dissozialen Verhaltens psychisch Kranker?) 5) Fallbeispiele Schizophrenie, Kriminalität und Gewalttätigkeit: Aktuelle Befunde Lindqvist & Allebeck 1990 N RR Jede Verurteilung Verurteilung wegen Gewaltdelikt m 1,2 (0,7-2,1) m+w 3,9 (3,0-5,1) Tötungsdelinquenz w 2,2 (1,5-3,6) Modestin & Ammann 1996 N OR Eronen et al 1996b D OR Hodgins et al 1996 K RR Tiihonen et al 1997 K OR Räsänen et al 1998 K OR Wallace et al 1998 K OR m 0,9 (0,7-1,3) m 5,2 (1,5-18,3) m 8,0 (6,1-10,4) w 6,5 (2,6-16,0) m 3,7 ( 3,5-4,0) w 4,5 (4,1-5,0) Mullen et al 2000 K RR Brennan et al 2000 K OR Erb et al 2001 D OR Haller et al 2001 D RR Schanda et al 2004 D OR m 4,5 (3,9-5,1) w 8,7 (6,0-12,4) m+w 7,2 (3,1-16,6) m+w 7,0 (2,8-16,7) m 3,2 (2,6-3,9) m 4,4 (3,5-5,7) m 10,1 (5,5-18,6) w 4,2 (2,1-8,4) w 4,3 (1,6-11,6) w 10,6 (1,4-80,4)? m 3,0 (1,9-4,9) m 6,0 (2,2-16,6) m 1,9 (1,4-2,6) w 7,1 (3,3-15,3) m+w 16,6 (11,2-24,5) m +w 1,6 (1,3-1,9) m +w 3,2 (2,4-4,2) m+w 38,1 (17,9-81,0)? m 5,9 (4,3-8,0) w 18,8 (11,2-31,6) 28 SCHIZOPHRENIE, KRIMINALITÄT UND GEWALTTÄTIGKEIT: KOMORBIDER SUBSTANZMISSBRAUCH Jede Art von Kriminalität Eronen et al 19961) D OR m OR w Gewaltkriminalität Tötungsdelinquenz - 7,3 (5,4-9,7) + 17,2 (12,4-23,7) - 5,1 (1,9-13,7) + 80,9 (25,7-255,0) Räsänen et al 19981) K OR Wallace et al 19982) K OR Schanda et al 20041) D OR - m+w ? 3,6 (0,9-12,3) + 25,2 (6,1-97,5) m 1,9 (1,4-2,5) + 12,4 (9,1-16,8) 2,4 (1,7-3,4) + 18,8 (13,5-26,5) m+w + 7,1 (3,3-15,5) + 7,1 (5,1-9,8) 28,8 (10,7-77,9) ? 20,7 (12,4-34,1) 1)Alkoholmissbrauch; 2)Substanzmissbrauch. D= direkter Zusammenhang; K= Koinzidenz einer Registrierung in einem Arrest-/Strafregister und einem Patientenregister bei einer Person Eronen M et al. Schizophrenia and homicidal behavior. Schizophr Bull 1996;22:83-89 Räsänen P. Schizophrenia, alcohol abuse and violent behavior: A 26-year follow-up study of an unselected birth cohort. Schizophr Bull 1998;24:437-440 Wallace C et al. Serious criminal offending and mental disorder. Case linkage study. Br J Psychiatry 1998;172:477-484 Schanda et al. Homicide and major mental disorders: A twenty-five year study. Acta Psychiatr Scand 2004;110:98-107 RISK OF VIOLENT CRIME IN INDIVIDUALS WITH BIPOLAR DISORDER WITH AND WITHOUT COMORBID SUBSTANCE ABUSE (COMPARISON WITH UNAFFECTED GENERAL POPULATION) Adjusted odds ratio1) (95%CI) Bipolar Disorder Without comorbid With comorbid substance abuse substance abuse 1.3 6.4 (1.0-1.5) (5.1-8.1) 1)General population controls were matched by age (birth year) and gender and the association was adjusted by confounders income (lowest vs. middle and highest tertiles), marital status (single vs. not single), and immigrant status (individual or at least one parent born outside Sweden). Fazel S, Lichtenstein P, Grann M, Goodwin GM, Långström N. Bipolar disorder and violent crime: new evidence from population -based longitudinal studies and systematic review. Arch Gen Psychiatry 2010;67:931-938 29 DER EINFLUSS PSYCHOTISCHER ERKRANKUNGEN1) AUF GEWALTKRIMINALITÄT2) Odds ratio (95% CI) Population attributable risk3) Population attributable risk fraction4) M 4,0 (3,9-4,1) 4,3 4,9% F 6,1 (5,8-6,5) 0,6 10,4% M+F 3,8 (3,7-3,9) 2,4 5,2% Alle 1988-2000 aus schwedischen psychiatrischen Krankenhäusern mit der Diagnose „Psychose“ entlassenen Patienten (n=98.082), verglichen mit den Daten des schwedischen Strafregisters 1)Schizophrenien (295.0-6, 295.8-9, F20-21), schizoaffektive Störungen (295.7, F25), affektive Psychosen (296), paranoide (297) und andere nicht-organische Psychosen (298, F28, F29), persistierende und induzierte wahnhafte Störungen (F22, F24), akute und vorübergehende psychotische Störungen (F23), manische Episoden (F30), bipolare affektive Störungen mit psychotischen Symptomen (F31.2, F31.5), depressive Störungen mit psychotischen Symptomen (F32.3, F33.3) 2)Mord, Mordversuch, Körperverletzung, Raub, gefährliche Drohung, Nötigung, Brandstiftung, alle Formen von Sexualdelinquenz 3)Zahl der Straftaten pro 1000 Gesamtbevölkerung, die ohne Psychosen nicht begangen worden wären (r-ro) 4)Anteil der von Menschen mit Psychosen begangenen Gewaltverbrechen (r-ro/r) Fazel S, Grann M. The population impact of severe mental illness on violent crime Am J Psychiatry 2006;163:1397-1403 Aggression und Gewalttätigkeit sind allgemeinmenschliche, nicht auf psychische Störungen oder gar (endogene) Psychosen beschränkte Phänomene. Durch psychiatrische Krankheiten i.e.S. (mit)bedingte Aggressivität erklärt nur einen kleinen Teil der in unserer Gesellschaft insgesamt zu beobachtenden Gewaltbereitschaft und Kriminalität. 30 ZUM VERGLEICH: GETÖTET IM STRASSENVERKEHR – GETÖTET VON PSYCHISCH KRANKEN N Verkehrstote 2014 430 Verkehrstote 2015 475 Verkehrstote 2016 427 Verkehrstote zwischen 1.1. und 8.1.2017 6 Einweisungen nach § 21/1 StGB 1990-1999 Ø 3,4/a Einweisungen nach § 21/1 StGB 2000-2013 Ø 3,8/a Quellen: Gerichtliche Kriminalstatistik, BMI Unfallstatistik Exkurs: Wie gefährlich sind psychisch Kranke für sich selbst? Psychisch Kranke als Opfer 31 MMD UND KOMORBIDER SUBSTANZMISSBRAUCH Jacobi et al 2004 (GHS-MHS, n = 4 181, M-CIDI,DSM-IV, Lebenszeitprävalenz) Alkohol Non-Alkohol (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) Schizophrenie Manie m m Depression m 2,63 f 2,43 m 4,76 f 6,47 10,21 f 17,18 m 0,79 f 3,71 1,78 f 2,52 m 2,55 f 2,49 Jacobi F, Wittchen H-U, Hölting C, Höfler M, Pfister H, Müller N, Lieb R. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: Results from the German General Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004;34:115 Jacobi F. Unveröffentliche Daten SCHIZOPHRENIE UND NIKOTINABUSUS Schizophrenie Täglicher Gebrauch 60% - 90% Täglicher Gebrauch im letzten Monat DSM-IV Missbrauch oder Abhängigkeit 25,9% 28,5%1) DSM-IV Abhängigkeit im letzten Jahr 1)Odds Allgemeinbevölkerung 12,8% Ratio im Vergleich zu Kontrollen 2,8 Volkow ND. Substance use disorders in schizophrenia - clinical implications of comorbidity. Schizophr Bull 2009;35:469-472 32 RISIKO FÜR KARDIOVASKULÄRE ERKRANKUNGEN BEI SCHIZOPHRENIE Lebenserwartung 61 Jahre vs. 76 Jahre in der Allgemeinbevölkerung Mortalität > 2/3 vs.1/2 in der Allgemeinbevölkerung Risikofaktoren - ↑ Fettleibigkeit (42% BMI > 27 vs. 27% in der Allgemeinbevölkerung) - ↑ Störungen des Fettstoffwechsels (Cholesterin, LDL-Cholesterin, Glucose) - ↑ Diabetes (> 1,5-2 x häufiger als in der Allgemeinbevölkerung) - ↑ Bluthochdruck - ↑ Metabolisches Syndrom (> 50% vs. 25% in der Allgemeinbevölkerung) - ↑ Körperliche Inaktivität - ↑ Rauchen (75% vs. 25% in der Allgemeinbevölkerung) ↓ Einsicht ↓ Zugang zu medizinischer Versorgung ↓ Nutzung medizinischer Angebote ↓ Behandlungscompliance ↓ Ökonomische Faktoren Nach Hennekens CH, Hennekens AR, Hollar D, Casey DE. Schizophrenia and increased risk of cardiovascular disease. Am Heart J 2006;150:1115-1121 EXCESS MORTALITY IN SUBJECTS WITH SCHIZOPHRENIA AND AFFECTIVE DISORDERS; NATURAL CAUSES (STANDARDIZED MORTALITY RATES, 95% CI) SCHIZOPHRENIA Brown 1997: Meta-analysis (18 studies), n= 66.161 Ösby et al 2000: Stockholm County, Sweden, 1973-1995, n= 7.784 m 1.2 (1.2-1.3) f 1.3 (1.2-1.3) m 2.0 (1.8-2.2) f 1.9 (1.8-2.0) AFFECTIVE DISORDERS Ösby et al 2001: Stockholm County, Sweden, 1973-1995, n= 54.568 BIPOLAR DISORDER m 1.9 (1.8-2.0) f 2.1 (2.0-2.2) UNIPOLAR DEPRESSION m 1.5 (1.4-1.5) f 1.6 (1.5-1.6) Brown St. Excess mortality of schizophrenia. A meta-analysis. Br J Psychiatry 1997;171:502-508 Ösby U, Correia N, Brandt L, Ekblom A, Sparen P. Mortality and causes of death in schizophrenia in Stockholm County, Sweden. Schizophrenia Res 2000;45:21-28 Ösby U, Brandt L, Correia N, Ekblom A, Sparen P. Excess mortality in bipolar and unipolar disorder in Sweden. Arch Gen Psychiatry 2001;58:844-850 33 SOZIALE EXKLUSION SCHIZOPHRENER PATIENTEN Allgemeinbevölkerung1) Psychiatrische Patienten Schizophrene Patienten2) 50,6% 22% 7,6% Berufstätig 1) Repräsentative 2) 37,9% Stichprobe der Karlsruher Bevölkerung gesetzliche Betreuung, Wahlbeteiligung 25,8% Eikelmann B. Nach Enquete und PsychPV - Wie steht es um die soziale Integration schizophrener Patienten? Nervenarzt 2008;S4:499 Niedrige Schulbildung, wenig Geld, Schulden Niedrige Wahlbeteiligung, deutlich seltener Handybesitz und Internetzugang Deutlich seltener Aktivitäten wie z.B. Urlaub, Kinobesuche etc. Wenige Vertrauenspersonen; Kontakte v.a. mit anderen Betroffenen Reker T. Soziale Exklusion bei Patienten einer psychiatrischen Institutsambulanz. Nervenarzt 2008;S4:450 PRÄVALENZ (%) PSYCHIATRISCHER ERKRANKUNGEN BEI OBDACHLOSEN MÄNNERN (MÜNCHEN) DIS/DSM-III Lebenszeitprävalenz 6-Monatsprävalenz Schizophrenie 12,4 9,6 Affektive Störungen 41,8 24 Alkoholmissbrauch, -abhängigkeit 91,1 71,2 Jede Achse-I-Diagnose 94,5 80,8 Fichter MM, Koniarczyk M, Geifenhagen A, Koegel P, Quadflieg N, Wittchen HU, Wölz J. Mental illness in a representative sample of homeless men in Munich, Germany. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1996;246:185-196 OBDACHLOSIGKEIT UND KRIMINALITÄT Schizophrene Patienten im Maßregelvollzug von Nordrhein-Westfalen (2005) hatten Ø 7,5 stationäre Vorbehandlungen. ¼ der Patienten mit Körperverletzungsdelikten war zum Zeitpunkt des Delikts obdachlos. Kutscher S-U, Schiffer B, Seifert D. Schizophrene Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug § 63 StGB) Nordrhein-Westfalens. Entwicklungen und Patientencharakteristika. Fortschr Neurol Psychiat 2009;77:91-96 34 VIKTIMISIERUNG SCHWER PSYCHISCH KRANKER - 1 UK, London, 361 Patienten mit SMI (ICD-10: 58,4% Schizophrenie, 12,5% BIP, 9,7% Depression und andere affektive Störungen, 8,0% PD) vs. 3138 Kontrollen (national crime survey), adjustiert für Alter, Geschlecht, Ethnie, Stand, Beschäftigungsstatus, alleine lebend, Mietdauer, multiple deprivation index, output area characteristic type, 1-Jahresprävalenz Patienten % Kontrollen % OR (95% CI) Jede kriminelle Handlung 40,2 14,1 2,8 x (2,0-3,8) Gewalt 18,8 2,8 5,3 x (3,1-8,8) Frauen Patienten % Kontrollen % OR (95% CI) 23,4 3,5 6,3 x (2,9-13,7) 9,4 2,3 3,7 x (1,1-11,8) Patienten % Kontrollen % OR (95% CI) 22,6 5,3 2,5 x (1,2-5,6) - Körperliche Gewalt - Sexuelle Gewalt Männer - Körperliche Gewalt Khalifeh H, Johnson S, Howard SLM, Borschmann R, Osborn D, Dean K, Hart C, Hogg J, Moran P. Violent and non-violent crime against adults with severe mental illness. Br J Psychiatry 2015; 206:275-282 TOD DURCH SUIZID, HOMIZID UND UNFALL BEI PATIENTEN MIT SCHIZOPHRENEN UND AFFEKTIVEN PSYCHOSEN (Dänemark, 1973-1993, bevölkerungsbasierte Daten, n = 275.720, standardised mortality rates, SMR, 95%CI) Todesursache Suizid Homizid Unfall SMR (95% CI) SMR (95% CI) SMR (95% CI) Schizophrenie m 10,73 (9,73-11,83) 7,34 (3,50-15,39) 2,13 (1,68-2,69) f 10,80 (9,36-12,46) 3,41 (0,85-13,63) 2,87 (2,44-3,69) m 16,44 (15,62-17,31) 3,05 (1,27-7,32) 2,23 (1,95-2,54) f 16,00 (15,26-16,78) 3,27 (1,76-6,08) 2,10 (1,90-2,32) Affektive Psychosen Hiroeh U, Appleby L, Mortensen PB, Dunn G. Death by homicide, suicide, and other unnatural causes in people with mental illness. Lancet 2001; 358: 2110-2112 35 GEWALTDELIKTE (VERURTEILUNGEN), SUIZID UND VORZEITIGER TOD INNERHALB VON 1, 2 UND 5 JAHREN NACH ERSTDIAGNOSE BEI PATIENTEN MIT SCHIZOPHRENIE, WAHNHAFTEN UND SCHIZOAFFEKTIVEN STÖRUNGEN qqq Schweden, sämtliche 24.297 zwischen 1972 und 2009 erstmals stationär behandelten Patienten qqqq qqqq Fazel S, Wolf A, Palm C, Lichtenstein P. Violent crime, suicide, and premature mortality in patients with schizophrenia and related disorders: a 38-year total population study in Sweden. Lancet Psychiatry 2014;1:44-54. doi:10.1016/S2215-0366(14)70223-8 “With respect to mortality, a substantial gap exists between the health of people with schizophrenia and the general community. This differential mortality gap has worsened in recent decades.“ Saha S, Chant D, McGrath J. A systematic review of mortality in schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 2007;64:1123-1131 36 Psychotische Patienten tragen nur in geringem Ausmaß zur Gesamtkriminalität bei. Allerdings besteht ein mäßiger, statistisch robuster Zusammenhang zwischen Schizophrenie und gewalttätigem Verhalten. Dieser Zusammenhang wird mit zunehmender Schwere der Gewalttätigkeit und in Populationen mit niedrigem Risiko deutlicher, ist jedoch in jedem Fall geringer als der zwischen allgemeinen kriminogenen Faktoren wie Substanzmissbrauch bzw. Persönlichkeitsstörungen und gewalttätigem Verhalten. Überdies betrifft die Risikoerhöhung nicht „die Schizophrenen“, sondern vor allem eine Subgruppe mit bekannten Risikomerkmalen. Darunter zählen vor allem komorbider Substanzmissbrauch und komorbide Persönlichkeitsstörungen, die jedoch - ebenso wie sozioökonomische Faktoren - nicht imstande sind, die Risikoerhöhung völlig zu erklären. Im Gegensatz dazu ist die Entstehung gewalttätigen Verhaltens von Patienten mit affektiven Erkrankungen zum überwiegenden Teil auf allgemeine kriminogene Faktoren, v.a. Substanzmissbrauch, zurückzuführen. 37 1) Wie wird psychische Krankheit definiert? Wie wird Gefährlichkeit definiert? Wie wird Gefährlichkeit „gemessen“? Wie entsteht Aggression? (im allgemeinen, bei psychisch Kranken, Hypothesen, biologische Befunde) 2) Charakteristika der Risikoklientel 3) Aktuelle Daten zum Kriminalitäts- bzw. Gewalttätigkeitsrisiko psychisch Kranker (Exkurse: Psychisch Kranke als Opfer; Politisch/ Religiös motivierte Gewalt, School shooting) 4) Externe Faktoren (gesellschaftliche Veränderungen, Veränderungen der allgemeinpsychiatrischen Versorgung, Zunahme dissozialen Verhaltens psychisch Kranker?) 5) Fallbeispiele DER UMGANG DER GESELLSCHAFT MIT PSYCHISCH KRANKEN NS-Regime, Tötung psychisch Kranker Psychiatrische Asyle 1750 1800 1850 1900 1950 2000 2050 Philippe Pinel [1745-1826] Jean Etienne Esquirol [1772-1840] John Conolly [1794-1866] Robert Gardiner Hill [1811-1876] 38 PSYCHIATRISCHE VERSORGUNG IN DER PRÄ-REFORM ÄRA ◈ Die Versorgung schwer psychisch Kranker fand hauptsächlich in großen psychiatrischen Asylen statt. ◈ Lange Aufenthaltsdauer, hoher Anteil unfreiwilliger Aufnahmen, beschränkte somatische Behandlungsmöglichkeiten. ◈ Patienten und Psychiater waren gleichermaßen Ziel von Vorurteilen: ★ Psychisch Kranke - im besonderen Schizophrene - galten als unberechenbar und potentiell gefährlich. ★ Psychiatrische Krankenhäuser wurden als Orte sozialer Kontrolle angesehen, in denen Psychiater unkontrolliert und willkürlich Zwang gegen wehrlose Patienten ausüben. DER UMGANG DER GESELLSCHAFT MIT PSYCHISCH KRANKEN NS-Regime, Tötung psychisch Kranker Psychiatrische Asyle 1750 1800 1850 1900 1950 2000 2050 Philippe Pinel [1745-1826] Jean Etienne Esquirol [1772-1840] John Conolly [1794-1866] R e f o r m e n Robert Gardiner Hill [1811-1876] 39 Verbesserung der Situation psychisch Kranker Normalisierung der Sonderstellung psychisch Kranker (und der Psychiatrie!!) Medikalisierung Ideologie Lebensqualität Krankheitseinsicht, Compliance Zwang Entstigmatisierung ‘... in 1973, Robert Reich, … called the care and treatment of the severely and chronically mentally ill a national disgrace. Since then things have grown worse.‘ Talbott JA: Care of the chronically mentally ill - still a national disgrace. Am J Psychiatry 136 (1979) 688-689 ‘The net result of the movement was that what had been achieved was not deinstitutionalization but transinstitutionalization. The chronic mentally ill patient had his locus of living and care transferred from a single lousy institution to multiple wretched ones.‘ Talbott, JA. Deinstitutionalization: Avoiding the disasters of the past. Hospital and Community Psychiatry 1979;30:621-624. (Reprint in Psychiatric Services 2004;55:1112-1115, p.1113) 40 ‘... the relation between ... crime and mental disorder can be accounted for largely by demographic and historical characteristics that the two groups share. When appropriate statistical controls are applied for factors such as age, gender, race, social class and previous institutionalization, whatever relations between crime and mental disorder are reported tend to disappear.’ Monahan J, Steadman H. Crime and mental illness: an epidemiological approach. In: Morris N, Tonry M (eds). Crime and Justice, Vol 4, University of Chicago Press (Chicago 1983), pp 145-189 (p 152) ‘The data that have recently become available, fairly read, suggest the one conclusion I did not want to reach: Whether the measure is the prevalence of violence among the disordered or the prevalence of disorder among the violent, whether the sample is people who are selected for treatment as inmates or patients in institutions or people randomly chosen from the open community, and no matter how many social and demographic factors are statistically taken into account, there appears to be a relationship between mental disorder and violent behavior.’ Monahan J. Mental disorder and violent behavior. Perceptions and evidence. American Psychologist 1992;47:511-521, p 519 41 ZAHL ALLGEMEINPSYCHIATRISCHER UND FORENSISCH-PSYCHIATRISCHER BETTEN, ZAHL DER GEFÄNGNISINSASSEN ZWISCHEN 1990-93 UND 1999-03 (Angaben pro 100.000 Bevölkerung) AP-Betten England Deutschland Italien Niederlande Spanien Schweden 131,8/62,8 141,7/128,2 4,5/5,32) 159,2/135,5 59,5/43,0 168,6/58,3 -52% -10% +18% -15% -28% -65% 1,3/1,81) 4,6/7,8 2,0/2,2 4,7/11,4 1,2/1,5 9,8/14,3 +38% +70% +10% +143% +25% +46% 90/141 71/98 81/100 49/100 90/136 63/73 +57% +38% +23% +104% +51% +16% FP-Betten Gefängnisinsassen 1)Hochsicherheits2)Nur und andere Spitäler, Emilia-Romagna (4 Millionen EW) Priebe S, Badesconyi A, Fioritti A, Hansson L, Kilian R, Torres-Gonzales F, Turner T, Wiersma D. Reinstitutionalisation in mental health care: comparison of data on service provision from six European countries. BMJ 2005;330:123-126 ÖSTERREICH: VERÄNDERUNGEN DER STATIONÄREN ALLGEMEINPSYCHIATRISCHEN VERSORGUNG 1970 Betten/100.000 2005 150 70% 27% Aufnahmen Ø Behandlungsdauer 167 d 2011 40 Bevölkerung % unfreiwillige 2008 16,6 d 42 PRÄVALENZ UND INZIDENZ ZURECHNUNGSUNFÄHIGER STRAFTÄTER (ÖSTERREICH, § 21 Abs. 1 StGB, 1990-2015) Prävalenz1) 1990 2015 110 397 20 97 (jeweils 31.12.) Inzidenz1)2)3) für Justiz; Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016 Austria 3)Nur unbedingte Einweisungen, jeweils 31.12. 1)Bundesministerium 2)Statistik VERHÄLTNIS ZWISCHEN FORENSISCHEN PATIENTEN (FP) UND ALLGEMEINPSYCHIATRISCHEN BETTEN (AB) Deutschland1) Österreich2) 1980 1 : 32,2 1992 1 : 19,3 1 : 23,93) 2000 1 : 9,3 1 : 9,63) 2005 1 : 6,8 1 : 4,63) 2008 2012 1)Freese 1 : 4,1 R. Persönliche Mitteilung (Oktober 2012) aus Katschnig et al 2004; Gesundheit Österreich 2012; BMJ 2012 2)Basisdaten 3)§§ 21/1 + 21/2 StGB; AB : § 21/1 StGB 1992 1 : 49,9; 2000 1 : 19,4; 2008 1 : 9,9 43 PRÄVALENZ GEISTIG ABNORMER RECHTSBRECHER (§§ 21 ABS. 1 UND ABS. 2 STGB), ÖSTERREICH, 1979 - 2016 (JEWEILS 1.1.) 450 400 350 300 250 200 150 100 50 19 7 19 9 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 8 19 4 8 19 5 8 19 6 8 19 7 8 19 8 8 19 9 9 19 0 9 19 1 9 19 2 9 19 3 9 19 4 9 19 5 9 19 6 9 19 7 9 19 8 9 20 9 0 20 0 0 20 1 0 20 2 0 20 3 0 20 4 0 20 5 0 20 6 0 20 7 0 20 8 0 20 9 1 20 0 1 20 1 1 20 2 1 20 3 1 20 4 1 20 5 16 0 § 21 Abs. 1 StGB § 21 Abs. 2 StGB ÄNDERUNG DER %-ANTEILE VERSCHIEDENER DELIKTTYPEN AN DEN JÄHRLICHEN EINWEISUNGSINZIDENZEN (§ 21/1 STGB, ÖSTERREICH, 1990 - 2012, CURVE ESTIMATION, AB 2002 INZIDENZEN INKL. BEDINGTE EINWEISUNGEN) 70 60 50 n = 87 45% 59,6% 40 30 25,3% 35% n=4 20 15,1% 20% 10 Inzidenz 1990 20 110 Prävalenz 1.1.1990 Inzidenz 2012 146 409 Prävalenz 1.1.2012 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07 20 08 20 09 20 10 20 11 20 12 0 Eigentumsdelikte, Brandstiftung, Sexualdelikte Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung Gefährliche Drohung, Nötigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt 44 Allgemeinpsychiatrie Forensische Psychiatrie Obdachlosigkeit Gefängnis DER UMGANG DER GESELLSCHAFT MIT PSYCHISCH KRANKEN NS-Regime, Tötung psychisch Kranker Psychiatrische Asyle Forensifizierung 1750 1800 1850 1900 1950 2000 2050 Philippe Pinel [1745-1826] Jean Etienne Esquirol [1772-1840] John Conolly [1794-1866] R e f o r m e n Robert Gardiner Hill [1811-1876] 45 SCHIZOPHRENIE UND TÖTUNGSDELIKTE IM LAUFE DER PSYCHIATRIEREFORM Erb et al 2001: Risko für Tötungsdelikte (inkl. Versuche) bei Schizophrenie (Verurteilungen vs. Exkulpierungen, m + w) Schizophrenie OR (95% CI) BRD 1955 - 1964 Hessen 1992 - 1996 12,7 (11,2 - 14,3) 16,6 (11,2 - 24,5) Statistisch signifikante Zunahme von komorbidem Alkoholismus (p< 0,001), Vorstrafen (p< 0,01) und Vorstrafen wegen Gewalttätigkeit (p< 0,01) bei schizophrenen Straftätern. Schanda et al 2010: Risiko für Tötungsdelikte bei Schizophrenie (inkl. Wahnhafte Störung, Verurteilungen vs. Exkulpierungen, m + w) Schizophrenie OR (95% CI) Österreich 1976 - 1983 Österreich 1992 - 1999 9,01 (6,3 - 12,9) 10,48 (7,80 - 14,04) Bei gleichbleibenden Raten von komorbidem Alkoholmissbrauch (37,1% bzw. 38,5%) deutliche Zunahme von komorbidem Polysubstanzmissbrauch (Alkohol + Drogen) von 8,6% auf 23,1%. Erb M, Hodgins S, Freese R, Müller-Isberner R, Jöckel D. Homicide and schizophrenia: Maybe treatment does have a preventive effect. Crim Behav Ment Health 2001;11: 6-26 Schanda H, Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Steigende Kriminalität schizophrener Patienten: Fiktion, logische Konsequenz oder vermeidbare Folge der Psychiatriereform? Neuropsychiatrie 2010;24:170-181 Psychiatriereformen ? Inzidenz und Prävalenz zurechnungsunfähiger Straftäter Inzidenz und Prävalenz zurechnungsunfähiger Straftäter mit Schizophrenie Inzidenz von Tötungsdelikten schizophrener Patienten = 46 Gesellschaftliche Situation Versorgung Klientel Politik, Gesetzgebung Unsere moderne Gesellschaft ist geprägt durch zunehmende Beschleunigung der (technischen) Entwicklung, zunehmende Differenzierung in allen Lebensbereichen, Zunahme von Information (Umfang, Erleichterung des Zugriffs). Daraus folgt ☆ eine Zunahme der (theoretischen) Wahlmöglichkeiten Anspruch auf maximale persönliche Freiheit ☆ eine Zunahme der (hypothetischen) Bedrohungen. Anspruch auf maximale persönliche Sicherheit und, als Konsequenz, (angstminderndes) Bedürfnis nach vereinfachenden, simplen Lösungsstrategien zunehmende (angstmindernde) Formalisierung und Verrechtlichung. 47 Gesellschaft Projektionen, Ambivalenzen Projektionen, Ambivalenzen Politik, Gesetzgebung Forensische Psychiatrie Arme vs. gefährliche Patienten Hilflose vs. repressive Psychiatrie „Gefährliche“ Kranke Schwer psychisch Kranke unterliegen nach wie vor einer massiven sozialen Exklusion. Sie findet jedoch im Gegensatz zu früher subtiler, politisch und formal korrekter statt. 48