Skript Depression

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Kapitel 2
Depression
1
In der Depression…
Lebe ich ohne Sinn und Bewusstsein.
Ich sehe, ohne wahrzunehmen.
Ich fühle ohne Empfindung und Gefühl.
Ich schmecke ohne Genuss.
Ich rieche ohne Empfindung.
Ich denke ohne Geist und Sinn
Und ohne Phantasie und Kombinationsfähigkeit.
Ich lache ohne Freude.
Ich weine ohne Schmerzensstachel.
Ich bewege mich ohne motorische Harmonie und Ausdrucksvermögen.
Ich kenne weder Hoffnung noch Mass noch Ziel.
Schlaf und Tod sind mir das Erstrebenswerteste.
Ich freue mich nicht, ich begeistere mich nicht,
Ich liebe nicht, ich trauere nicht.
Ich male nicht, ich spreche nicht, ich dichte nicht,
Ich singe nicht, ich tanze nicht.
Und wenn ich es doch tue,
Dann ohne Ausdruck und Phantasie und
Ohne dabei zu sein, ohne Leben.
Gedicht einer depressiven Frau
Gib du ihm deine Hand
In einem Sumpf in Nord-Persien war ein Mann versunken. Nur sein Kopf schaute noch
aus dem Morast heraus. Lauthals schrie er um Hilfe. Bald sammelte sich eine
Menschenmenge an dem Ort des Unglücks, und einer fasste den Mut, dem Verunglückten
zu helfen. „Gib mir deine Hand“, rief er zu ihm herüber. „Ich werde dich aus dem Sumpf
herausziehen.“
Doch der Versunkene schrie weiterhin um Hilfe und tat nichts, dass der Andere ihn
herausziehen konnte. „Gib mir deine Hand“, forderte dieser ihn mehrere Male auf. Die
Antwort war lediglich ein erbärmliches Schreien um Hilfe.
Da trat ein anderer Mann hinzu und sprach:“ Du siehst doch, dass er dir niemals seine
Hand geben wird. Gib du ihm deine Hand, dann wirst du ihn retten können.“
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
2
Beschreibung der depressiven Symptomatik allgemein
Ein Versuch, eine typische Depression anhand von Symptomen zu beschreiben, trifft nur
auf die wenigsten Depressionen zu. Oft handelt es sich auch um "Mischungen“ mit
anderen psychischen Symptomen oder Persönlichkeitsanteilen.
Trotzdem ist es hilfreich, sich an eine Übersicht und Einteilung der depressiven
Symptomatik als "Leitidee" halten zu können. Grob aufteilen lassen sich Stimmung,
Antrieb, Denken und Fühlen sowie die Vitalgefühle und vegetativen Funktionen.
1. Stimmung depressiv, d.h. leer, tot, ausgebrannt, gleichgültig, hoffnungslos, no-futureStimmung, Gefühl des Nichtfühlenkönnens. Während anfangs noch die Trauer im
Vordergrund steht, gilt die Depression als umso stärker und kompletter je weniger Angst,
Schmerz und Trauer empfunden werden können.
2. Antrieb (Verwirklichungskraft) gehemmt, d.h. keine Initiative, keinen Schwung,
gelähmt, gebunden, kraftlos, entscheidungsunfähig, Nichtwollenkönnen. Dies kann sich
zu teilnahmsloser Bewegungslosigkeit steigern: depressiver Stupor. Auch das Denken tritt
- als Grübeln - auf der Stelle, kann sich vor allem auf keine Zukunft richten. Da die
Gehemmtheit nie einer Antriebslosigkeit, sondern einer Selbstblockierung des Antriebs
entspricht, resultiert, quälende Unruhe und Angestrengtheit, die sich entweder nicht
äussern kann oder nur als hektisches und sinnloses Hin und Her (agitierte Depression)
oder als end- und auswegsloses Klagen (Jammerdepression).
3. Denken und Fühlen sind von bestimmten Inhalten besetzt. Auffällig sind dabei die
verschiedenen Ausprägungen der Angst, die im Folgenden dargestellt seien:
a)
Schuld- oder Versündigungsvorstellungen, die an einem aktuellen Anlass
oder an einem früheren, vielleicht bisher verheimlichten, jedenfalls im Alltag
vergessenen, wirklichen oder vermeintlichen Vergehen (z.B. Unterschlagung
oder Abtreibung) festmachen und jetzt überstark erlebt werden: "Ich bin der
schlechteste Mensch der Welt!"
b)
Erkrankung: Die Gesundheit, der ganze Körper oder ein Körperteil gilt als
völlig ruiniert (z.B. innerlich verfault, zerfressen, todkrank), was man
hypochondrisch nennt: "Ich bin der kränkste Mensch der Welt!"
c)
Angst vor Verarmung (Verarmungswahn): Man könne sich oder die Familie
nicht mehr ernähren, werde bald am Hunger sterben müssen oder zumindest
erwerbsunfähig: "Ich bin der ärmste Mensch der Welt!"
d)
Versagen und Wertlosigkeit: Das Gefühl absoluter Wertlosigkeit, Überflüssigkeit, Unbrauchbarkeit (Ballastexistenz, den anderen ein Klotz am Bein),
verdichtet als Gefühl, nicht mehr zu existieren, sowie das Gefühl, total versagt
zu haben, in jeder Beziehung, vor allem bezüglich der Leistung: "Ich bin der
Wertloseste der Welt, der grösste Versager aller Zeiten."
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
3
4. Vitalgefühle und vegetative Funktionen: So fühlt man sich im depressiven Zustand
ganz allgemein kaputt, zerschlagen, matt, schlaff, eingeengt; unter einem zermürbenden
Druck (ganz oder Brust, Kopf, Bauch); ständig müde, dabei schlaflos (Tiefe und Dauer
des Schlafes sind herabgesetzt); appetitlos (Gewichtsverlust), verstopft. KreislaufMesswerte wie Blutdruck oder Puls-Atmungs-Quotient können verändert sein.
Für verschiedene vegetative Funktionen hat man eine Störung des biologischen 24Stunden-Rhythmus gefunden. Etwa bei die Hälfte der Patienten erleben
Tagesschwankungen: Die depressiven Symptome sind am Morgen ausgeprägter,
während am Nachmittag und am Abend der Druck sich ermässigt.
Wie kommen Depressionen zustande?
Am Zustandekommen von Depressionen sind nach den heutigen Erkenntnissen zumeist
verschiedene Faktoren beteiligt, was man als „multifaktorielle Genese“ depressiver
Erkrankungen bezeichnet. Zum einen sind sicherlich alle Menschen grundsätzlich in der
Lage, bei anhaltender und schwerer Überforderung depressiv zu reagieren, doch ist die
Veranlagung dazu von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt
dementsprechend Menschen, die schneller depressiv erkranken und manchmal auch
ohne erkennbaren Grund. Eine solche Veranlagung für depressive Erkrankungen ist bis
zu einem gewissen Grad vererbbar wie die vergleichende Forschung bei eineiigen
Zwillingen ergeben hat.
Belastende und schlecht verarbeitete Erfahrungen und Traumatisierungen in der Kindheit
und in späteren Lebensabschnitten können einen Menschen verletzlicher (vulnerabel)
machen und ihn somit für das Entstehen von Depressionen anfälliger werden lassen.
Mangelhafte Ernährung, Drogenmissbrauch (auch Alkoholmissbrauch), die Einnahme
bestimmter Medikamente sowie akute und chronische Erkrankungen (mit chronischen
Schmerzen) können die Entwicklung depressiver Symptome begünstigen oder sogar
direkt auslösen.
Im Weiteren spielen psychische Belastungen wie Mobbing, Mid-life-Krise, Burnout,
Schwangerschaft, Babyblues eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von
Depressionen.
Depressionen können aber auch entstehen, auch wenn keine dieser Belastungen oder
Dispositionen vorliegen.
Was allerdings immer noch sehr unterschätzt wird, ist die eigene
Bewältigungsform (Coping) oder Bewältigungsstrategie, also wie
jemand mit einer solchen Situation/Belastung umgeht. Hier handelt
es sich um (um-)lernbare Denkprozesse, die entscheidend sein
können, ob jemand depressiv wird oder nicht.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
4
Moderne Erklärungsmodelle für die Depressionsentstehung
1. Kognitives Modell: als Veranlagung für Depressionen wird von vielen Fachleuten eine
kognitive Störung angesehen, nämlich eine negative, charakteristische Triade der
Veränderung der Denk- und Einstellungsmuster: Hauptsächlich handelt es sich dabei um
1. eine negative Sichtweise der eigenen Person („Ich bin nichts wert“),
2. der (Um-)Welt („Alles ist schlecht“) und
3. der Zukunft („Es ist hoffnungslos“), was zu realitäts-verzerrter Beurteilung von
Ereignissen führt.
Dabei dominieren typische „automatische Gedanken“ (verallgemeinernd, unangemessen,
unlogisch) das Denken.
Das Therapieziel liegt daher im kognitiven „Umstrukturieren“, wobei die Patienten zum
Hinterfragen dieser zu Depressionen führenden Gedanken und zum Ersetzen durch
andere Denkstile (Wahrnehmungs- und Denkstrukturen) bewegt werden.
Beispiele von falschen Kognitionen (logische Denkfehler):
- Generalisierendes und nicht situationsbezogenes Denken;
- Depressive beurteilen Sachverhalte im Entweder-Oder-Stil statt im Sinne von Mehroder-weniger;
- Depressive beziehen neutrale Sachverhalte in negativer Weise auf sich;
- Tendenz zur selektiven Wahrnehmung: negative Sachverhalte und Misserfolge
werden besonders intensiv wahrgenommen;
- Neutrale Erfahrungen und Sachverhalte werden ausschliesslich negativ interpretiert
(Bsp: „Das Glas ist halbleer.“);
- Es besteht ein negatives Selbstbild (Bsp. „Ich bin an allem schuld.“)
2. Stress-Vulnerabilitäts-Modell: Depression wird als komplexes bio-psycho-soziales
Reaktionsmuster bei Hilflosigkeit und Überforderung verstanden. Je ausgeprägter die
Vulnerabilität (Verletzlichkeit), desto stärker werden Stressoren (belastende Einflüsse) als
überwältigend und krankmachend erlebt.
a) Stressoren können sein:
- Chronische Krankheiten (körperliche und psychische)
- Chronisches Schmerzsyndrom
- Lebensbedrohliche Krankheiten (z.B. Krebs)
- Verlust eines geliebten Menschen
- Arbeitsplatzverlust
- soziale Isolation und Abstieg
b) Vulnerabilität ist bei folgenden Konstellationen erhöht:
- Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Kriegserlebnisse)
- Frühere depressive Episoden
- Positive Familienanamnese mit Depression
- Hohes Alter
- Frauen in der Postnatal-Phase
- Sexueller Übergriff in der Kindheit
Alfred Siegrist, Nuglar
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Depression
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3. Lernpsychologische und verhaltenstheoretische Sicht
Lernpsychologisch wird die Entstehung der Altersdepressivität erklärt durch wenig
erfolgreiches Altern und verhaltenstheoretisch durch Mangel an positiver Verstärkung,
durch erlernte Hilflosigkeit und verzerrte (nicht funktionierende) Denkmuster.
Erfolgreiches Altern bedeutet z.B. das Vornehmen von Neuanpassungen und
Veränderungen von Erwartungen, Zielen und Ansprüchen an sich und andere. Wichtige
Fragen, die sich für ein erfolgreiches Altern stellen, sind:
-
-
Wie gelingt es alternden Menschen, beginnende Schwächen, Einbussen, Verluste
anderweitig zu kompensieren, also auszugleichen?
o Kann der Tätigkeits- und Aktivitätsspielraum
o Der Entscheidungs- und Kontrollspielraum (Selbst- oder Mitbestimmung)
o Der Interaktions- und Kontaktspielraum zur sozialen Unterstützung
o Und der Anerkennungsspielraum (Wertschätzung/Akzeptanz) erweitert
werden?
Wie können bestehende (evtl. nicht verwendete) Ressourcen optimaler genutzt
werden?
Wie können unter anderen Bedingungen durch Neu-Anpassung und
Veränderung der Erwartungshaltung (Ziele) trotzdem Zufriedenheit (mit sich)
erreicht werden?
Aufgabe: Wie können im Alltagsgeschehen positive Verstärker eingesetzt werden, um
das depressive Denken und Verhalten konstruktiv zu beeinflussen?
4. Biologische Grundlagen der Depression?
Depressionen entstehen durch Störungen von komplexen Regelkreisen der
Hirnaktivität. Verschiedene Vorgänge können zu diesen gestörten Mustern im Bereiche
des Hirnstoffwechsels führen und diese auch wieder korrigieren.
Die Hirnaktivität verändert sich nicht nur unter einer Depression, sondern auch im
Zusammenhang mit Traumatisierungen, Angststörungen und anderen (psychotischen)
Impulsstörungen.
Zu den zwei im Rahmen der biologischen Depressionsforschung hauptsächlich
untersuchten Gebieten gehören einerseits
- die Veränderungen im Bereich der Neurohormone (Nervenhormone) der
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, auch Stress-Achse genannt
(durch übermässige Ausschüttung von Cortisol) und
- andererseits die Störungen bei den Neurotransmittersystemen (Serotonin-,
Noradrenalin- und Dopaminsystem). Es handelt sich hierbei um Strukturen der
Verbindungsstellen von Nervenzellen, die für die Erregungsübertragung
verantwortlich sind.
Schliesslich wurde im Zusammenhang mit Depressionen auch ein Nervenschwund im
Hippokampus („Lernzentrum“) beobachtet, einer zentralen Hirnregion, die einem
Seepferdchen (griech. Hippokampos = Seepferdchen) gleicht.
Diese sich gegenseitig beeinflussenden Veränderungen können durch diverse belastende
Einwirkungen ausgelöst, aber auch durch medikamentöse und andere biologische
Eingriffe in die Regelsysteme sowie durch Psychotherapie wieder ausgeglichen werden.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
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Was ist eine larvierte (maskierte) Depression?
Depressionen sind häufig mit hartnäckigen körperlichen Beschwerden gekoppelt. Diese
Symptome können derart im Vordergrund stehen, dass die dahinterstehenden
eigentlichen psychischen Beschwerden vorerst nicht wahrgenommen werden, weder vom
Leidenden selbst noch vom behandelnden Arzt. Das Leiden wird also körperlich
erfahren und der Patient ist überzeugt, dass es sich um ein körperliches Geschehen
handelt, selbst wenn keine organischen Befunde nachgewiesen werden können. Die
daraus entstehende Verzweiflung – niemand versteht mich – kann die Symptomatik
zusätzlich verstärken.
Das Umfeld bekundet oft Mühe, sich in die Person einzufühlen, gewinnt den Eindruck von
hypochondrischem Verhalten oder vermutet bisweilen das Vorliegen von „eingebildetem
Kranksein“, was den depressiven Kreislauf jedoch nur anheizt, indem der Patient quasi
„beweisen“ muss, dass es ihm nicht gut geht.
In solchen Krankheitsfällen spricht man vom Verdacht auf eine maskierte oder larvierte
(Larve) Depression. Larvierte Depression ist im strengen Sinne keine Diagnose, sondern
drückt die Vermutung aus, dass es sich aufgrund bestimmter Verdachtsmomente um eine
unerkannte Depression handelt.
In diesem Zusammenhang können körperliche Beschwerden Ausdruck einer chronischen
Belastung oder einer nicht erinnerbaren frühkindlichen Traumatisierung sein. Es ist von
entscheidender Bedeutung, zu wissen, dass körperliche Schmerzen psychischen
Ursprungs sehr eingreifend sein können und nichts mit Einbildung („Der eingebildete
Kranke“, Molière) oder Übertreibung zu tun haben. Für den Erkrankten sind die
Beschwerden oder Schmerzempfindungen absolut real, auch wenn kein körperlicher
Befund vorliegt.
Gemäss neuen Erhebungen nehmen Depressionen dieser Art zu, besonders unter der
älteren Bevölkerung.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
7
Reiss dich doch zusammen
Kurze Notiz an Verena
„Reiss dich doch zusammen“
„Nach dem Regen kommt auch wieder Sonnenschein“
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“
Meine absoluten „Lieblingssätze“!!! Und Deine?
Fragt in Eile
Ruedi
Kurze Antwort an Ruedi
Deine drei „Lieblingssätze“ kannst Du getrost auch bei mir einsetzen ...
Dazu noch einer: „Nimm dich doch nicht so wichtig!“
Dieser Satz ist ein wahrer Hammer, er suggeriert dir, dass Du etwas Unanständiges tust, nämlich
Dich in den Mittelpunkt des Universums stellen willst. Und dabei ist man ja gerade daran, irgendwo
nach einem winzigen Fleckchen Ausschau zu halten, wo man sich verkrümeln könnte. Und
ausserdem appelliert er noch an den eigenen Humor, den man in diesem Zustand gar nicht haben
kann. Denn: Wenn man selber nicht mehr wichtig ist, ist auch sonst nichts wichtig. Ich kann –
dieser Satz muss einfach mal wieder gesagt sein – nur andere lieben, wenn ich mich selber liebe.
Ich glaube daran, dass Worte Waffen sind, die tödlich sein können, und dieser Satz „Nimm dich
doch nicht so wichtig“ ist ein tödlicher Satz.
Es grüsst Dich Verena
Liebe Verena
Die Behauptung, „Ihr Depressiven seid doch alle unglaubliche Egoisten“, stimmt insofern, als
man sich in einer depressiven Phase sehr stark um die eigene Problematik dreht. Doch
möchte ich den sehen, der bohrende Zahnschmerzen oder Migräne hat und dann noch gross an
andere denken kann!
Sobald sich das schwarze Loch lichtet, ist es wichtig, dass man sich wieder anderen zuwendet
und nicht ständig unproduktiv um sich selbst kreist. Es gab jemand im Radio, der mir sagte: „Du
hast autistische Züge und es mangelt dir an Teamfähigkeit.“ Damals habe ich realisiert, dass
man ganz bewusst auf andere zugehen muss, denn auch sie sind verunsichert und wissen
nicht, inwieweit Nähe in Ordnung und gefragt ist. Also ist es ganz wichtig, dass man auch
Aufgaben übernimmt, die für andere wichtig sind, damit man aus der Selbstzentriertheit
herauskommt. Insofern kann ich die Aussage, „Nimm dich doch nicht so wichtig“, nicht stehen
lassen, da jeder Mensch für sich sehr wichtig ist und einzigartig.
Und ich merke auch, dass mir diese selbstherrlichen Bemerkungen dieser Leute gewaltig auf die
Nerven gehen. Ehrlich, darum habe ich nicht die geringste Lust, mir diesen Sermon anzuhören
und darüber zu diskutieren.
Herzlichst, Ruedi
Zitiert aus „Mittendrin und nicht dabei“, Seite 66, 67
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
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Die manisch-depressive Erkrankung
Die manisch-depressive Krankheit verläuft in Phasen; dabei kann es sich um manische
Phasen handeln, d.h. Perioden anormaler Hochstimmung und erhöhter Aktivität, oder um
depressive Phasen, d.h. Perioden anormaler Traurigkeit und Inaktivität. Beim gleichen
Patienten können sowohl manisch als auch depressive Phasen auftreten. Depressionen
sind aber häufiger als Manien. Gelegentlich treten gleichzeitig manische und depressive
Symptome auf; dies nennen wir Mischzustand. Die manisch-depressive Krankheit ist eine
ziemlich häufige Erkrankung; das Krankheitsrisiko beträgt 1-2% (auf 100 Personen).
Sowohl Manien als auch Depressionen kommen bei Frauen häufiger vor als bei Männern.
Die Krankheit beginnt oft im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, sie kann aber auch schon
im Jugendalter zwischen 15 und 20 oder sehr viel später, zwischen 60 und 70 Jahren,
auftreten.
Manische und depressive Phasen zeigen in ihrer Ausgestaltung bei verschiedenen
Menschen und auch beim gleichen Patienten zu verschiedenen Zeiten ein wechselhaftes
Bild. Im Folgenden sind einige charakteristische Krankheitssymptome dargestellt; es sei
aber betont, dass nicht in jeder Phase alle diese Symptome vorkommen müssen.
Charakteristische Symptome manischer Phasen sind gehobene Stimmung, Reizbarkeit
und eine Beschleunigung der gedanklichen Abläufe. Die gehobene Stimmung reicht von
einer ungewöhnlichen Begeisterungsfähigkeit bis zu hemmungslosem Überschwang. Die
Reizbarkeit zeigt sich meist darin, dass die Patienten ärgerlich werden, wenn die
Umgebung ihren Vorstellungen nicht sofort folgen kann; sie können dann aufbrausend
und unter Umständen gewalttätig werden. Die geistige Tätigkeit zeichnet sich durch eine
belebende Geschwindigkeit aus; der Kopf ist voller Ideen, der Patient spricht mit grosser
Geschwindigkeit und fast ohne Pausen; witzige Wortspiele wechseln ab mit verletzenden
Antworten.
Die Selbsteinschätzung eines Patienten ist in der manischen Phase verändert. Er ist
extrem selbstbewusst, aber es mangelt ihm auch an Selbstkritik. Das führt zu einer
ungewohnten Vitalität, deren Konsequenzen aber, insbesondere in Verbindung mit
Ideenreichtum, mangelnder Ermüdbarkeit und Enthemmung, sehr negativ sein können: Es
kommt vor, dass Patienten in ihren manischen Phasen ihre Ehe zerstören, ihren guten
Ruf riskieren und sich auch finanziell ruinieren.
Gewöhnlich fehlt den Patienten die Krankheitseinsicht. Im Gegenteil, sie fühlen sich
aussergewöhnlich wohl und können kaum verstehen, dass ihre Nächsten und liebsten
Freunde hierin anderer Meinung sind. Es ist in der Regel eine enorme Belastung für eine
Ehe oder den Familienzusammenhalt, wenn die Angehörigen den Patienten für krank und
behandlungsbedürftig halten. Solche Situationen erfordern von allen Beteiligten ein
Höchstmass an Verständnis, Takt und Geduld. Besonders schwierig wird es, wenn
Aussenstehende durch Ablehnung und aufgrund eigener Kränkung die Lage noch
komplizieren, weil sie nicht wissen, dass beim Betreffenden nicht schlechtes Benehmen,
sondern eine Krankheit im Spiel ist.
Manische Patienten haben für gewöhnlich ein geringes Schlafbedürfnis. Sie fühlen sich
selten müde und werden durch den schnellen Strom ihrer Einfälle wachgehalten. Auch die
sexuelle Aktivität ist häufig erhöht. Oft vernachlässigen Patienten die Nahrungsaufnahme
und verlieren dabei deutlich an Gewicht. Wenn übersteigerte Aktivität, verminderte
Nahrungsaufnahme und Schlafmangel zusammenkommen, entwickelt sich zunehmende
körperliche Erschöpfung.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
9
Maniformer Redefluss
Patient gegenüber Oberarzt im IPS, Lavaboraum)
„Ich will austreten. Aber wenn Sie nicht wollen, machen Sie halt mit mir, was Sie wollen.
Mein Körper ist in Ihrer Hand. Sie können mich vergiften, wenn Sie wollen. Aber denken
Sie an meinen Chef, den da oben. Können Sie das verantworten, dass Sie mich
hierbehalten? In Ihrer Lage möchte ich nicht stecken, nein, gar nicht. Wenn der da oben
mal losschlägt, dann möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken, oh nein!
Wissen Sie, warum ich hier bin?! Hier drinnen sind die, die den anderen nichts tun wollen,
die nicht schiessen; die Verrückten, die sind draussen! Ich bin kein Verrückter, ich
schiesse nicht. Aber ich habe ein Gewehr zu Hause mit 24 Schuss. Was meinen Sie,
wenn ich mal auf die Station komme und ... bumm, bumm, bumm mache, Herr Doktor, he!
Und wenn dann der Doktor auftaucht und fragt, was ich mache ... bumm, bumm, bumm,
he!?
Aber das mache ich ja nicht, sonst würde ich zu den Verrückten gehören. Ich habe
nämlich ein Gewehr, das will ich aber nicht abgeben. Was würden die Leute auch denken.
Die Patronen hat meine Mutter sowieso irgendwo versteckt.
Aber dass Sie mich nicht gehen lassen ... ! ... Was heisst hier überhaupt, ich sei
angetrieben, ich hätte eine Manie!!! Niemand kann mir das erklären. Ich fordere von Ihnen
gerade jetzt: Was ist eine Manie, Herr Doktor!? Doktor sind Sie, das wissen Sie, ich
vergesse das manchmal, Herr Doktor, aber Sie wissen ja, dass Sie es sind, da muss man
es nicht immer sagen. Was glauben Sie eigentlich, weshalb so viel passiert in der Welt!
Da steckt doch etwas dahinter. Lesen Sie die Zeitung, dann wissen Sie, was über mich
geschrieben steht. Oh, Herrgott, wir halten zusammen!
Jetzt werde ich da eingesperrt im IPS, wo ich es nicht aushalte. Ich will in ein Zimmer
vorne und zwar jetzt, sonst laufe ich davon. Ihr mit eurem Personalmangel, nicht einmal
spazieren kann man. Ich fordere dreimal zwei Stunden Spaziergang, das ist es nämlich,
was ich brauche. Sie, Herr Doktor, Sie haben doch so viel Einfluss: Gehen Sie doch mal
zum Regierungsrat Spitteler und sagen Sie ihm, dass ich dreimal zwei Stunden
Spaziergang will oder ich gehe gleich selber zu ihm. (Schaut in den Spiegel) Du, was
meinsch? Bliibe mir do? ... Jo, chumm, mer bliibe do.
Sie sehen ja, ich bleibe da, ich könnte ja davonlaufen. Ich will jetzt aber einen Zeugen, ihr
seid zwei, ich bin allein. Ich will zu Herrn ... (Name eines Pflegers).“
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
10
Manie-Erfahrung
In den Jahren nach der Scheidung erlebte ich immer wieder eindeutig manische Zeiten
mit all den bekannten sozialen und finanziellen Verwüstungen, gefolgt von Depressionen
voller Selbstzweifel und Selbstvorwürfen. Doch ich begrüsste die Anfänge jeder neuen
Manie und hiess diese unglaubliche Energie und Ideenvielfalt freudig willkommen.
„Endlich bin ich wieder ich“, sagte ich jedes Mal, als hätte ich in den Zeiten dazwischen
nur geschlafen.
So war es auch Anfang 2003, jenes Jahr mit dem unglaublich heissen Sommer in Europa.
Im Herbst zuvor war meine Mutter gestorben, was mich zunächst in eine monatelange,
tiefe Trauer versetzte. Nun, da die Tage länger und wärmer wurden, begann ich mich
besser und besser zu fühlen und die Steigerung dieser Hochstimmung wollte gar kein
Ende nehmen. Ich dachte noch: „Pass auf, das könnte manisch werden“, aber dann
wischte ich alle Bedenken beiseite und wollte nur noch „fliegen“. Von dem
Neuroleptikum, das der Psychiater meines Vertrauens mir aktuell verordnet hatte, nahm
ich genau eine einzige Pille – das war nicht das, was ich jetzt wollte! Die Besuche bei ihm
stellte ich dann ein.
Dieser Sommer war ein einziger Rausch, geprägt von rastlosen Reisen, intensiven und
manchmal heftigen Begegnungen mit neuen Bekanntschaften, sexuellen Abenteuern und
finanziellen Waghalsigkeiten. I
Im Herbst erwachte ich dann von einem Tag auf den anderen wie aus einem glühenden,
fantastischen Traum und fand mich von einem vollkommen unübersichtlichen
Trümmerfeld umgeben: Meine Wohnung war gekündigt, Telefon und Internet gekappt.
Die neuen Bekanntschaften hatten sich in Luft aufgelöst, Freunde und Geschwister hatten
sich entsetzt abgewandt und das Letzte, was ich von meinen Kindern hörte, waren
Verwünschungen am Telefon. Sämtliche Konten waren bis zur Schmerzgrenze ausgereizt
und ich hatte keine Ahnung, wie ich den immensen Stapel an Rechnungen begleichen
sollte, der sich angesammelt hatte. Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich mich ernähren
sollte.
So verzweifelt und hoffnungslos auch alles schien, diese Katastrophe hatte auch ihr
Gutes, denn zum ersten Mal wurden mir ein paar Dinge klar und möglicherweise brauchte
es so einen gewaltigen Absturz, um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen:
- Das, was ich diesen Sommer erlebt hatte, war eine Manie, da gab es kein Deuteln
mehr (bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Diagnose immer angezweifelt).
- So etwas wollte ich nie mehr durchmachen und auch meinen Mitmenschen nie
mehr antun.
- Gegen die Symptome dieser Erkrankung kann man angehen und ich nahm mir vor,
genau dies in Zukunft auch konsequent zu tun.
Das gelungene Abfangen beginnender manischer Symptome empfand ich jeweils als
einen wirklich Sieg, eine Bestätigung, dass es möglich ist, mit dieser Disposition
umzugehen, so lange man sich an die Spielregeln hält. … Man ist nie sicher vor einer
erneuten Krankheitsphase und muss daher ständig auf der Hut sein. Einen guten
Mittelweg zu finden zwischen dauernder, ängstlicher Selbstbeobachtung und
grosszügiger Nichtbeachtung möglicher Frühsymptome, ist wahrscheinlich eine
lebenslange Aufgabe.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
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Klassifizierungsversuche depressiver Erkrankungsweisen
a)
b)
c)
nach (hypothetischer) Ursache
Endogene Depression
Reaktive Depression
(von innen heraus entstehend)
umweltstabil
(durch äussere Umstände ausgelöst)
umweltlabil
Primäre Depression
Sekundäre Depression
(ohne Zusammenhang mit anderer psychiatrischer Erkrankung auftretend)
(nach anderer Krankheit, z.B. Alkoholismus,
Parkinsonismus oder Schizophrenie, auftretend)
nach Schweregrad und
Erscheinungsbild
Psychotische Depression
Neurotische Depression
(über einfühlbare und verständliche Reaktionsweise hinausgehend; oft mit Wahnideen
einhergehend)
(aufgrund einer Konfliktlage verständliche
und besser einfühlbare Depression)
Major Depression
Minor Depression
(bei systematischer Erfassung von Symptomen wird ein definierter Schweregrad
einer depressiven Störung erreicht)
Depression im engeren Sinne
(bei systematischer Erfassung von Symptomen liegt deren Zahl und Schweregrad
unterhalb der Definitionsschwelle einer Major
Depression)
mildere depressive Verstimmung
Affektive Störung
Dysthyme Störung
(Erkrankungsform mit klinisch deutlich depressivem - oder manischem - Bild)
meist akut & episodisch auftretend
(unterschwellige Erkrankungsform mit mild
depressivem Bild, oft unbehandelt)
meist schleichend auftretend mit
langgezogenem Verlauf
nach Verlauf
Unipolare Störung
Bipolare Störung
(im Langzeitverlauf nur depressive Phasen
auftretend, Unterform der affektiven Störung)
(im Langzeitverlauf neben depressiven Phasen
auch Manien auftretend, Unterform der
affektiven Störung)
Saisonale Depression
Nicht-saisonale Depression
(meist auf Wintersaison beschränkte Depression mit häufig gesteigertem Schlaf- und Essbedürfnis; seltene z.Z. noch umstrittene
Unterform der affektiven Störung)
(unabhängig von Jahreszeiten auftretende
Depression, weitaus häufigste Unterform der
affektiven Störung)
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
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Grundsätzliches zum Umgang mit Depressiven
In vielen Ratgebern wird dem Leser erklärt, was er nicht tun soll. Hingegen sind die
Hinweise, was denn zu praktizieren wäre, eher spärlich abgefasst. Dies ist sicher ein
Zeichen, das die Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Depressiven aufzeigt.
Ganz wichtig ist jedoch die eigene Erkenntnis, dass man als Betreuungsperson eine
Depression nicht heilen kann – trotz hohem Engagement. Depressionen erfordern in
der Regel eine psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung.
Mit depressiven Menschen zu arbeiten, stellt sich meist als eine sehr anspruchsvolle
Arbeit heraus, da die Depression einen hohen Grad an „Ansteckungsgefahr“ in sich birgt!
Was bedeutet das? Die Niedergeschlagenheit der Betroffenen kann sich auf die
Helfenden übertragen – in diesem Sinne „Ansteckung“. Die erlebte Ausweg– und
Hoffnungslosigkeit der Depressiven führt beim begleitenden Umfeld nicht selten zu
Vermeidungsreaktionen: Man beginnt diesen auszuweichen, weil man nicht
erfolgreich und mit bleibender Wirkung helfen kann.

Sehr wichtig: häufiges geduldiges Zuhören (Es ist nämlich schon positiv,
dass eine depressive Person überhaupt redet!)

Sich Zeit nehmen; jedoch nicht unbegrenzt. Wenn man keine Zeit hat, ist
es wichtig, eine Verbindlichkeit herzustellen und zu erklären, wann man
denn Zeit aufbringen kann. Andernfalls fühlt sich die depressive Person
verständnislos abgewiesen.

Oft dreht sich das Gespräch um ein Thema, das immer wieder im
Mittelpunkt steht. Das muss bis zu einem bestimmten Grad ausgehalten
werden. Gleichzeitig ist es auch richtig, ein solches Thema hin und wieder
bewusst auszuklammern und sich auf andere Themen zu konzentrieren.

Besser: Fragen stellen, statt Rat-Schläge erteilen

Die Depressivität als gegeben akzeptieren und gleichzeitig der Entwertung
entgegentreten („Nein, Sie sind nicht ein Versager!“)

Gezielt Wertschätzung äussern (bezogen auf Verhalten, Eigenschaften,
Aussehen etc.), die ehrlich gemeint ist. „Aufmunterungsversuche“ sind
eher schädlich, da sie dem Depressiven erst recht signalisieren wie
schlecht es um ihn steht.

Vorsicht: Keine Verstärkung der Schuldgefühle ("Hätten Sie nur, ..." oder
"Sie müssen nur das und das tun, dann ...") Oder: Absolut falsch:
Reissen Sie sich zusammen. Depressive können krankheitsbedingt nicht,
nicht, weil sie nicht wollen!

Seine Welt (mit Wahnideen) als momentane Realität akzeptieren, nicht
wegdiskutieren; sich aber abgrenzen, in dem Sinne, dass man selbst eine
andere Sichtweise hat
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
13

Bestätigen, dass er depressiv ist (damit der Leidende es uns nicht noch
beweisen muss)

Vorsichtige Konfrontation; eher Offerte: Möchten Sie mit mir darüber
reden? Falls das nicht dem Wunsch des Betreffenden entspricht, nehme
ich das nicht persönlich (Beziehungsohr!), sondern erachte das jetzt als
autonomen Entschluss.

Nicht mit anderen vergleichen. Dies löst nur Widerstand aus: „Mir geht es
noch viel schlechter als den anderen.“ Die depressive Symptomatik kann
dadurch unnötig verstärkt werden – als Beweismittel!

Kleine und konkrete Ziele setzen (sei das in der täglichen Körperpflege,
in bestehenden Beziehungen oder in der Freizeitgestaltung). Eine
detaillierte Pflegeplanung, abgestützt auf individuelle Ressourcen und
Bedürfnisse, kann sehr hilfreich sein.

Ehrlich und offen begegnen; eigene Grenzen in Bezug auf das
Verständnis und die Hilfsmöglichkeiten aufzeigen

Um das verlorengegangene Zeitgefühl wiederzugewinnen, bewähren sich
klare Tagesstrukturen, die im Gespräch verhandelt und langsam
aufgebaut werden müssen. Die Zusage des Depressiven im Gespräch
widerspricht allerdings oft der folgenden Praxis im Alltag, wo sich
Depressive zu entziehen versuchen. Hier sind klare und bestimmte
Haltungen des Personals erforderlich.

Depressive sind sehr empfänglich für nonverbale Botschaften. Durch
Gesten, Blicke oder tolerierte Berührungen des Wohlwollens signalisieren
wir, dass wir sie so annehmen wie sie sind.

Motivationsarbeit: „Fördern durch Fordern“. Damit wird der totale
Rückzug zumindest verhindert. Wie können Beschäftigungsangebote,
Besuche von Anlässen etc. schmackhaft gemacht werden?

Humor trotz(t) auch der depressiven Entwicklung, wenn er angepasst ist.
Folgende Überlegungen können für ein Gespräch hilfreich sein:
-
Worüber spricht der Pflegeempfänger?
Welche Themen stehen für ihn im Vordergrund?
Wie spricht er über den Verlust, mit welchen Worten, Ausdrücken?
Welche Erinnerungen an frühere Verlusterlebnisse hat er?
Wie ist er damit umgegangen (Bewältigungsform)? Was hat ihm dabei geholfen?
Welche Ressourcen zeigt der Pflegeempfänger in Gesprächen und in seinem
Verhalten?
Welche körperlichen, psychischen, sozialen Bedürfnisse äussert er?
Welche Selbstpflegedefizite stelle ich fest (Bsp. Mangelnde Körperpflege, Störungen
im Essverhalten, Schlafstörungen)?
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
14
Das themenspezifische Gespräch bei depressiven Menschen
Die Alltagspraxis hat schon mehrfach gezeigt, dass es sich oftmals als günstig erweist, bei
täglichen (Erst-)Begegnungen nicht zwingend nach dem (körperlichen) Wohlergehen zu
fragen, sondern ein themenspezifisches Gespräch zu beginnen, also weg von den
üblichen Allgemeinplätzen wie: „Wie geht`s?“ oder „Haben Sie gut geschlafen?“ oder „War
das Essen heute gut?“
In Kenntnis einiger biografischer Angaben und Ressourcen
Durch welche
ist es oft deutlich wirkungsvoller, sich über ein Thema zu
Brille schauen
unterhalten, das sich nicht mit „Pathologie“ befasst (Was ist
wir:
nicht, falsch, krank etc.). Dies trifft im Besonderen dann zu,
Durch jene mit dem
wenn wir schon im Voraus aus Erfahrung wissen, was
Defizitblick oder
Angesprochene jeweils antworten und wir innerlich „flüchten“,
durch jene mit dem
weil wir uns diese erneute Negativsymptomatik nicht anhören
Ressourcenblick?
wollen.
Beispiel: Eine Pflegende fragte eine Bewohnerin morgens bei der
Morgentoilette statt nach dem Wohlbefinden nach ihrer Katze. Dabei machte
sie eine ganz andere Erfahrung. Die depressive Frau berichtete engagiert von
ihrem geliebten Haustier. Nichts von der sonst üblichen Leidensthematik kam
zum Vorschein. Danach beschlich die Pflegende jedoch das mulmige Gefühl:
„Du solltest doch anständigerweise schon noch nach dem Wohlbefinden
fragen. Das wirkt doch sonst kalt und desinteressiert.!“ Gedacht, getan. Nun
musste sie sich sämtliche Leiden anhören, die ihr schon bekannt waren und auf
die es keine wirklich griffigen Erklärungen und Hilfen gibt. ...
Ein weiteres Beispiel: Eine andere Pflegende berichtete einem depressiven
Bewohner von ihrem letzten Pferderitt. Dessen Augen leuchteten und sie
kamen beide ins Schwärmen beim Thema Pferd. Es liegt auf der Hand, was
hier mehr Sinn macht.
Für uns stellen sich hier folgende Fragen:
- Was wissen wir über das gelebte Leben solcher Menschen?
- Was sind ihre bevorzugten Themen?
- Was sind Schlüsselthemen?
- Wie kommt es an, wenn ich von mir erzähle? Von meinen Freizeitbetätigungen,
vom eigenen Garten, von den Kindern, Enkeln etc.?
Die Dokumentationsunterlagen haben auch Rubriken zur Kommunikation. Könnten solche
Kenntnisse von geeigneten Themen dort notiert werden, damit alle im Team diese
Angaben für Alltagsbegegnungen nutzen könnten?
Ein weiteres Beispiel: Eine depressive Bewohnerin war früher Schauspielerin. Eben
früher. Und heute? Sie leidet. Das Leiden steht derart im Vordergrund, dass es schwierig
ist, sie abzulenken. Wir könnten uns dazu im Voraus Fragen überlegen wie:
-
Wo haben Sie Auftritte gehabt?
In welchen Schauspielhäusern?
Welche Rollen hatten Sie dabei?
Welche Rollen haben Ihnen besonders entsprochen?
Warum gerade diese?
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
15
Einige Bewohnerinnen beherrschen eine oder mehrere Fremdsprachen. Wie wäre es,
wenn sich Betreuende mit ihnen spasseshalber in dieser Sprache unterhielten? Das
Bewusstsein um immer noch vorhandene Sprachkenntnisse einerseits und die Erfahrung,
als (sprach-)kompetente Person beachtet zu werden, haben hier einen aufbauenden
Effekt. Dazu kommt noch der Lerneffekt. Zudem ergeben sich daraus auch Gespräche
über frühere Reisen in fremde Länder. Und schon haben wir ein weiteres Thema.
Verfügen die Bewohnerinnen noch über entsprechendes Bildmaterial? Fotos? Bücher?
Bildbände?
Geplante Kurzbesuche
Neben den Kontakten, die sich durch die Unterstützung oder teilweise Übernahme der
Körperpflege ergeben, ist es hilfreich, gezielte Kurzbesuche bei den Bewohnern zu
planen. Ähnlich wie gewisse behandlungstechnische Untersuchungen in der
Arbeitsagenda als Gedankenstütze notiert sind, können solche Besuche im Voraus
fixiert werden, sichtbar in der Agenda als bedeutende pflegerische Tätigkeit. Das wäre
eine sinnvolle Aufwertung der psychosozialen Aspekte gegenüber den zahlenmässig
überlegenen körperzentrierten Aufgaben.
Dabei geht es thematisch nicht um das gegenwärtige (Un-)Wohlbefinden, sondern um das
bewusste Verfolgen eines Gesprächsthemas, das weit weg vom depressiven
Geschehen liegt. Das können Inhalte sein, die sich mit ihren Ressourcen, mit dem
Alltagsgeschehen aus Nah und Fern befassen oder im Zusammenhang mit
Fernsehsendungen oder Zeitungsberichten stehen.
Dies bedingt allerdings eine innere Bereitschaft und Vorbereitung, um nicht schon nach
kurzer Zeit auf einer körpersymptomatisch ausgerichteten Ebene zu landen, die dazu
verführen kann, wiederum nach Lösungen zu schauen, die es nicht gibt oder die nicht
angenommen werden können.
Solche Besuche signalisieren den Betroffenen Aufmerksamkeit, Beachtung und
Interesse an der Person („Es chunnt öpper wäge mir.“). Selbst wenn depressive
Personen solche Besuche nicht immer mit einem „Willkommen“ aufnehmen oder
Wertschätzung ausdrücken, sie nehmen sie wahr. „Dran bleiben“, heisst die Devise, z.B.
ein- bis zweimal wöchentlich während 10 – 15 Minuten durch eine geeignete (Bezugs-)
Person.
Direktives Ansprechen
Depressive Menschen lösen bei Betreuungspersonen und Angehörigen oft das Gefühl
aus: „Jo nüt falsch mache.“ Dies führt dazu, dass in übertriebener Weise, die Person
„geschont“ wird. Man will ihr nicht etwas zumuten, sie nicht überfordern. Das Bild von „in
Watte packen“, drängt sich hier auf. Diese Schonhaltung birgt die Gefahr in sich, dass
depressiven Bewohnerinnen einiges an Selbstverantwortung abgenommen wird und damit
Abhängigkeit, Verunsicherung und schliesslich mangelndes Selbstwertgefühl erzeugt
werden. Gleichzeitig spüren solche Menschen: Wenn man so mit mir umgeht, muss es mir
schlecht gehen.
Ein Beispiel: An einem heissen Sommertag regt eine Pflegende eine
Bewohnerin an, den Rollladen rechtzeitig herunter zu lassen, um einen
Hitzestau im Zimmer zu vermeiden. Trotzig entgegnet die depressive
Frau: „Nei, das mach i nit!“ Die Pflegende, überrascht über sich selbst,
erwidert: „Dann entscheiden Sie heute, ob Sie schwitzen und sich
unwohl fühlen.“ Was geschah? Die Bewohnerin erkannte ihre
Verantwortung und bediente den Rollladen entsprechend.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
16
Das tönt vorerst etwas provokant und kann auf Seiten Pflegender ein unangenehmes
Gefühl aufkommen lassen. „So redet man doch nicht!“ oder „Was denken die anderen von
mir?“, meldet sich das eigene Über-Ich mit Bremswirkung. Erfahrungen, wie die erwähnte,
belegen jedoch, wenn diese Methodik überlegt und im richtigen Ton eingesetzt wird, kann
sie depressive Menschen durchaus „bewegen“, ihre Passivität für kurze Zeit zu verlassen.
Depressives Verhalten in der Zweierbeziehung
Die folgende Übersicht gibt Aufschluss über die Entwicklung der zwischenmenschlichen
Beziehung zwischen einer depressiven und nicht-depressiven Person – seien das
Angehörige, Mitarbeiter, Nachbarn oder beruflich Helfende. Die beschriebenen
Auswirkungen auf die zweitgenannte Gruppe stellen sich früher oder später ein.
Eine wesentliche Hilfe, dass sich das Verhältnis nicht in diese Richtung entwickelt, bilden
Einsicht und professionelle Unterstützung/Begleitung seitens des Depressiven sowie
Kenntnisse des Krankheitsverlaufs, ein wirksames Coping und supervisorische Begleitung
für die Helfenden – den sekundär Betroffenen.
Verhalten des depressiven Patienten
Deprivationsverhalten:
Hemmung, Interesseverlust, Apathie,
„Versteinerung“, soziale Isolation
Auswirkungen auf Partner, Betreuer
- Wiederholte Dämpfung von Erwartungen
- Frustration eigener Bedürfnisse
→ Rückzug vom Kranken
Negativistisches, feindseliges Verhalten: - Eindruck des Abgewiesenwerdens
- Eindruck des Nicht-genügen-könnens
Negative, pessimistische Gefühle,
→ Enttäuschung, Ärger, Groll
Dysphorie (Unlust), Gereiztheit,
„Klagsamkeit“
Appellationsverhalten:
Verzweiflung, Hilflosigkeit, Klagsamkeit,
Einsamkeit, „Schrei nach Liebe“
- Anfangs Mitgefühl und Mitleid erweckend
- Ambivalentes Mitschwingen
→ Anteilnahme („Helfer-Syndrom“)
Doppelbotschaft (kontradiktorisch):
„Hilf mir!“ und „Du kannst mir nicht helfen!“
(„Der Widerstand gegen die Heilung“)
- Ambivalenz, in der Folge Spannung,
Lähmung
- Überforderung, dann Umschlagen in
Ablehnung
→ Ausbrennen (Burnout-Syndrom)
Die Aufstellung zeigt gleichzeitig auf, dass die beschriebenen Gefühle durchaus normal
sind – mit anderen Worten: eine Prävention gegen ein unbegründetes schlechtes
Gewissen, das sich andernfalls wie eine einschnürende Zwangsjacke lähmend auswirken
oder in ungerichteten Aktivismus ausarten kann.
Alfred Siegrist, Nuglar
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Kapitel 2
Depression
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Literaturliste
Canacakis Jorgos Ich sehe deine Tränen, Kreuz Verlag
Dörner Klaus
Irren ist menschlich, Kap. 6 und 7 , Psychiatrieverlag
Grond Erich
Altersschwermut, Ernst Reinhardt Verlag
Hell Daniel
Welchen Sinn macht Depression? rororo Verlag
Hirsch Rolf D.
Altern und Depressivität, Huber Verlag
Hirzel Martina
Suizidalität im Alter, Peter Lang Verlag
Rahn Ewald
Lehrbuch Psychiatrie, Psychiatrie Verlag
Schou Mogens
Lithium-Behandlung der manisch-depressiven Krankheit,
Thieme Verlag
Sulz Serge K.D.
Verständnis und Therapie der Depression, E. Reinhardt Verlag
Schneider Frank/ Depressionen im Alter – Die verkannte Volkskrankheit, Herbig
Nesseler Thomas Verlag
Thiels Cornelia
Das Selbsthilfeprogramm bei Depressionen, Herder Verlag
Woggon Brigitte
Ich kann nicht wollen! Berichte depressiver Patienten, Huber Verlag
Wolfersdorf M./
Depressionen im Alter, Verlag Kohlhammer
Film
Mr. Jones
Alfred Siegrist, Nuglar
[email protected]
mit Richard Gere als Hauptdarsteller einer manisch-depressiven
Person
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