Kapitel 2 Depression 1 In der Depression… Lebe ich ohne Sinn und Bewusstsein. Ich sehe, ohne wahrzunehmen. Ich fühle ohne Empfindung und Gefühl. Ich schmecke ohne Genuss. Ich rieche ohne Empfindung. Ich denke ohne Geist und Sinn Und ohne Phantasie und Kombinationsfähigkeit. Ich lache ohne Freude. Ich weine ohne Schmerzensstachel. Ich bewege mich ohne motorische Harmonie und Ausdrucksvermögen. Ich kenne weder Hoffnung noch Mass noch Ziel. Schlaf und Tod sind mir das Erstrebenswerteste. Ich freue mich nicht, ich begeistere mich nicht, Ich liebe nicht, ich trauere nicht. Ich male nicht, ich spreche nicht, ich dichte nicht, Ich singe nicht, ich tanze nicht. Und wenn ich es doch tue, Dann ohne Ausdruck und Phantasie und Ohne dabei zu sein, ohne Leben. Gedicht einer depressiven Frau Gib du ihm deine Hand In einem Sumpf in Nord-Persien war ein Mann versunken. Nur sein Kopf schaute noch aus dem Morast heraus. Lauthals schrie er um Hilfe. Bald sammelte sich eine Menschenmenge an dem Ort des Unglücks, und einer fasste den Mut, dem Verunglückten zu helfen. „Gib mir deine Hand“, rief er zu ihm herüber. „Ich werde dich aus dem Sumpf herausziehen.“ Doch der Versunkene schrie weiterhin um Hilfe und tat nichts, dass der Andere ihn herausziehen konnte. „Gib mir deine Hand“, forderte dieser ihn mehrere Male auf. Die Antwort war lediglich ein erbärmliches Schreien um Hilfe. Da trat ein anderer Mann hinzu und sprach:“ Du siehst doch, dass er dir niemals seine Hand geben wird. Gib du ihm deine Hand, dann wirst du ihn retten können.“ Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 2 Beschreibung der depressiven Symptomatik allgemein Ein Versuch, eine typische Depression anhand von Symptomen zu beschreiben, trifft nur auf die wenigsten Depressionen zu. Oft handelt es sich auch um "Mischungen“ mit anderen psychischen Symptomen oder Persönlichkeitsanteilen. Trotzdem ist es hilfreich, sich an eine Übersicht und Einteilung der depressiven Symptomatik als "Leitidee" halten zu können. Grob aufteilen lassen sich Stimmung, Antrieb, Denken und Fühlen sowie die Vitalgefühle und vegetativen Funktionen. 1. Stimmung depressiv, d.h. leer, tot, ausgebrannt, gleichgültig, hoffnungslos, no-futureStimmung, Gefühl des Nichtfühlenkönnens. Während anfangs noch die Trauer im Vordergrund steht, gilt die Depression als umso stärker und kompletter je weniger Angst, Schmerz und Trauer empfunden werden können. 2. Antrieb (Verwirklichungskraft) gehemmt, d.h. keine Initiative, keinen Schwung, gelähmt, gebunden, kraftlos, entscheidungsunfähig, Nichtwollenkönnen. Dies kann sich zu teilnahmsloser Bewegungslosigkeit steigern: depressiver Stupor. Auch das Denken tritt - als Grübeln - auf der Stelle, kann sich vor allem auf keine Zukunft richten. Da die Gehemmtheit nie einer Antriebslosigkeit, sondern einer Selbstblockierung des Antriebs entspricht, resultiert, quälende Unruhe und Angestrengtheit, die sich entweder nicht äussern kann oder nur als hektisches und sinnloses Hin und Her (agitierte Depression) oder als end- und auswegsloses Klagen (Jammerdepression). 3. Denken und Fühlen sind von bestimmten Inhalten besetzt. Auffällig sind dabei die verschiedenen Ausprägungen der Angst, die im Folgenden dargestellt seien: a) Schuld- oder Versündigungsvorstellungen, die an einem aktuellen Anlass oder an einem früheren, vielleicht bisher verheimlichten, jedenfalls im Alltag vergessenen, wirklichen oder vermeintlichen Vergehen (z.B. Unterschlagung oder Abtreibung) festmachen und jetzt überstark erlebt werden: "Ich bin der schlechteste Mensch der Welt!" b) Erkrankung: Die Gesundheit, der ganze Körper oder ein Körperteil gilt als völlig ruiniert (z.B. innerlich verfault, zerfressen, todkrank), was man hypochondrisch nennt: "Ich bin der kränkste Mensch der Welt!" c) Angst vor Verarmung (Verarmungswahn): Man könne sich oder die Familie nicht mehr ernähren, werde bald am Hunger sterben müssen oder zumindest erwerbsunfähig: "Ich bin der ärmste Mensch der Welt!" d) Versagen und Wertlosigkeit: Das Gefühl absoluter Wertlosigkeit, Überflüssigkeit, Unbrauchbarkeit (Ballastexistenz, den anderen ein Klotz am Bein), verdichtet als Gefühl, nicht mehr zu existieren, sowie das Gefühl, total versagt zu haben, in jeder Beziehung, vor allem bezüglich der Leistung: "Ich bin der Wertloseste der Welt, der grösste Versager aller Zeiten." Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 3 4. Vitalgefühle und vegetative Funktionen: So fühlt man sich im depressiven Zustand ganz allgemein kaputt, zerschlagen, matt, schlaff, eingeengt; unter einem zermürbenden Druck (ganz oder Brust, Kopf, Bauch); ständig müde, dabei schlaflos (Tiefe und Dauer des Schlafes sind herabgesetzt); appetitlos (Gewichtsverlust), verstopft. KreislaufMesswerte wie Blutdruck oder Puls-Atmungs-Quotient können verändert sein. Für verschiedene vegetative Funktionen hat man eine Störung des biologischen 24Stunden-Rhythmus gefunden. Etwa bei die Hälfte der Patienten erleben Tagesschwankungen: Die depressiven Symptome sind am Morgen ausgeprägter, während am Nachmittag und am Abend der Druck sich ermässigt. Wie kommen Depressionen zustande? Am Zustandekommen von Depressionen sind nach den heutigen Erkenntnissen zumeist verschiedene Faktoren beteiligt, was man als „multifaktorielle Genese“ depressiver Erkrankungen bezeichnet. Zum einen sind sicherlich alle Menschen grundsätzlich in der Lage, bei anhaltender und schwerer Überforderung depressiv zu reagieren, doch ist die Veranlagung dazu von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt dementsprechend Menschen, die schneller depressiv erkranken und manchmal auch ohne erkennbaren Grund. Eine solche Veranlagung für depressive Erkrankungen ist bis zu einem gewissen Grad vererbbar wie die vergleichende Forschung bei eineiigen Zwillingen ergeben hat. Belastende und schlecht verarbeitete Erfahrungen und Traumatisierungen in der Kindheit und in späteren Lebensabschnitten können einen Menschen verletzlicher (vulnerabel) machen und ihn somit für das Entstehen von Depressionen anfälliger werden lassen. Mangelhafte Ernährung, Drogenmissbrauch (auch Alkoholmissbrauch), die Einnahme bestimmter Medikamente sowie akute und chronische Erkrankungen (mit chronischen Schmerzen) können die Entwicklung depressiver Symptome begünstigen oder sogar direkt auslösen. Im Weiteren spielen psychische Belastungen wie Mobbing, Mid-life-Krise, Burnout, Schwangerschaft, Babyblues eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Depressionen. Depressionen können aber auch entstehen, auch wenn keine dieser Belastungen oder Dispositionen vorliegen. Was allerdings immer noch sehr unterschätzt wird, ist die eigene Bewältigungsform (Coping) oder Bewältigungsstrategie, also wie jemand mit einer solchen Situation/Belastung umgeht. Hier handelt es sich um (um-)lernbare Denkprozesse, die entscheidend sein können, ob jemand depressiv wird oder nicht. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 4 Moderne Erklärungsmodelle für die Depressionsentstehung 1. Kognitives Modell: als Veranlagung für Depressionen wird von vielen Fachleuten eine kognitive Störung angesehen, nämlich eine negative, charakteristische Triade der Veränderung der Denk- und Einstellungsmuster: Hauptsächlich handelt es sich dabei um 1. eine negative Sichtweise der eigenen Person („Ich bin nichts wert“), 2. der (Um-)Welt („Alles ist schlecht“) und 3. der Zukunft („Es ist hoffnungslos“), was zu realitäts-verzerrter Beurteilung von Ereignissen führt. Dabei dominieren typische „automatische Gedanken“ (verallgemeinernd, unangemessen, unlogisch) das Denken. Das Therapieziel liegt daher im kognitiven „Umstrukturieren“, wobei die Patienten zum Hinterfragen dieser zu Depressionen führenden Gedanken und zum Ersetzen durch andere Denkstile (Wahrnehmungs- und Denkstrukturen) bewegt werden. Beispiele von falschen Kognitionen (logische Denkfehler): - Generalisierendes und nicht situationsbezogenes Denken; - Depressive beurteilen Sachverhalte im Entweder-Oder-Stil statt im Sinne von Mehroder-weniger; - Depressive beziehen neutrale Sachverhalte in negativer Weise auf sich; - Tendenz zur selektiven Wahrnehmung: negative Sachverhalte und Misserfolge werden besonders intensiv wahrgenommen; - Neutrale Erfahrungen und Sachverhalte werden ausschliesslich negativ interpretiert (Bsp: „Das Glas ist halbleer.“); - Es besteht ein negatives Selbstbild (Bsp. „Ich bin an allem schuld.“) 2. Stress-Vulnerabilitäts-Modell: Depression wird als komplexes bio-psycho-soziales Reaktionsmuster bei Hilflosigkeit und Überforderung verstanden. Je ausgeprägter die Vulnerabilität (Verletzlichkeit), desto stärker werden Stressoren (belastende Einflüsse) als überwältigend und krankmachend erlebt. a) Stressoren können sein: - Chronische Krankheiten (körperliche und psychische) - Chronisches Schmerzsyndrom - Lebensbedrohliche Krankheiten (z.B. Krebs) - Verlust eines geliebten Menschen - Arbeitsplatzverlust - soziale Isolation und Abstieg b) Vulnerabilität ist bei folgenden Konstellationen erhöht: - Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Kriegserlebnisse) - Frühere depressive Episoden - Positive Familienanamnese mit Depression - Hohes Alter - Frauen in der Postnatal-Phase - Sexueller Übergriff in der Kindheit Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 5 3. Lernpsychologische und verhaltenstheoretische Sicht Lernpsychologisch wird die Entstehung der Altersdepressivität erklärt durch wenig erfolgreiches Altern und verhaltenstheoretisch durch Mangel an positiver Verstärkung, durch erlernte Hilflosigkeit und verzerrte (nicht funktionierende) Denkmuster. Erfolgreiches Altern bedeutet z.B. das Vornehmen von Neuanpassungen und Veränderungen von Erwartungen, Zielen und Ansprüchen an sich und andere. Wichtige Fragen, die sich für ein erfolgreiches Altern stellen, sind: - - Wie gelingt es alternden Menschen, beginnende Schwächen, Einbussen, Verluste anderweitig zu kompensieren, also auszugleichen? o Kann der Tätigkeits- und Aktivitätsspielraum o Der Entscheidungs- und Kontrollspielraum (Selbst- oder Mitbestimmung) o Der Interaktions- und Kontaktspielraum zur sozialen Unterstützung o Und der Anerkennungsspielraum (Wertschätzung/Akzeptanz) erweitert werden? Wie können bestehende (evtl. nicht verwendete) Ressourcen optimaler genutzt werden? Wie können unter anderen Bedingungen durch Neu-Anpassung und Veränderung der Erwartungshaltung (Ziele) trotzdem Zufriedenheit (mit sich) erreicht werden? Aufgabe: Wie können im Alltagsgeschehen positive Verstärker eingesetzt werden, um das depressive Denken und Verhalten konstruktiv zu beeinflussen? 4. Biologische Grundlagen der Depression? Depressionen entstehen durch Störungen von komplexen Regelkreisen der Hirnaktivität. Verschiedene Vorgänge können zu diesen gestörten Mustern im Bereiche des Hirnstoffwechsels führen und diese auch wieder korrigieren. Die Hirnaktivität verändert sich nicht nur unter einer Depression, sondern auch im Zusammenhang mit Traumatisierungen, Angststörungen und anderen (psychotischen) Impulsstörungen. Zu den zwei im Rahmen der biologischen Depressionsforschung hauptsächlich untersuchten Gebieten gehören einerseits - die Veränderungen im Bereich der Neurohormone (Nervenhormone) der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, auch Stress-Achse genannt (durch übermässige Ausschüttung von Cortisol) und - andererseits die Störungen bei den Neurotransmittersystemen (Serotonin-, Noradrenalin- und Dopaminsystem). Es handelt sich hierbei um Strukturen der Verbindungsstellen von Nervenzellen, die für die Erregungsübertragung verantwortlich sind. Schliesslich wurde im Zusammenhang mit Depressionen auch ein Nervenschwund im Hippokampus („Lernzentrum“) beobachtet, einer zentralen Hirnregion, die einem Seepferdchen (griech. Hippokampos = Seepferdchen) gleicht. Diese sich gegenseitig beeinflussenden Veränderungen können durch diverse belastende Einwirkungen ausgelöst, aber auch durch medikamentöse und andere biologische Eingriffe in die Regelsysteme sowie durch Psychotherapie wieder ausgeglichen werden. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 6 Was ist eine larvierte (maskierte) Depression? Depressionen sind häufig mit hartnäckigen körperlichen Beschwerden gekoppelt. Diese Symptome können derart im Vordergrund stehen, dass die dahinterstehenden eigentlichen psychischen Beschwerden vorerst nicht wahrgenommen werden, weder vom Leidenden selbst noch vom behandelnden Arzt. Das Leiden wird also körperlich erfahren und der Patient ist überzeugt, dass es sich um ein körperliches Geschehen handelt, selbst wenn keine organischen Befunde nachgewiesen werden können. Die daraus entstehende Verzweiflung – niemand versteht mich – kann die Symptomatik zusätzlich verstärken. Das Umfeld bekundet oft Mühe, sich in die Person einzufühlen, gewinnt den Eindruck von hypochondrischem Verhalten oder vermutet bisweilen das Vorliegen von „eingebildetem Kranksein“, was den depressiven Kreislauf jedoch nur anheizt, indem der Patient quasi „beweisen“ muss, dass es ihm nicht gut geht. In solchen Krankheitsfällen spricht man vom Verdacht auf eine maskierte oder larvierte (Larve) Depression. Larvierte Depression ist im strengen Sinne keine Diagnose, sondern drückt die Vermutung aus, dass es sich aufgrund bestimmter Verdachtsmomente um eine unerkannte Depression handelt. In diesem Zusammenhang können körperliche Beschwerden Ausdruck einer chronischen Belastung oder einer nicht erinnerbaren frühkindlichen Traumatisierung sein. Es ist von entscheidender Bedeutung, zu wissen, dass körperliche Schmerzen psychischen Ursprungs sehr eingreifend sein können und nichts mit Einbildung („Der eingebildete Kranke“, Molière) oder Übertreibung zu tun haben. Für den Erkrankten sind die Beschwerden oder Schmerzempfindungen absolut real, auch wenn kein körperlicher Befund vorliegt. Gemäss neuen Erhebungen nehmen Depressionen dieser Art zu, besonders unter der älteren Bevölkerung. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 7 Reiss dich doch zusammen Kurze Notiz an Verena „Reiss dich doch zusammen“ „Nach dem Regen kommt auch wieder Sonnenschein“ „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ Meine absoluten „Lieblingssätze“!!! Und Deine? Fragt in Eile Ruedi Kurze Antwort an Ruedi Deine drei „Lieblingssätze“ kannst Du getrost auch bei mir einsetzen ... Dazu noch einer: „Nimm dich doch nicht so wichtig!“ Dieser Satz ist ein wahrer Hammer, er suggeriert dir, dass Du etwas Unanständiges tust, nämlich Dich in den Mittelpunkt des Universums stellen willst. Und dabei ist man ja gerade daran, irgendwo nach einem winzigen Fleckchen Ausschau zu halten, wo man sich verkrümeln könnte. Und ausserdem appelliert er noch an den eigenen Humor, den man in diesem Zustand gar nicht haben kann. Denn: Wenn man selber nicht mehr wichtig ist, ist auch sonst nichts wichtig. Ich kann – dieser Satz muss einfach mal wieder gesagt sein – nur andere lieben, wenn ich mich selber liebe. Ich glaube daran, dass Worte Waffen sind, die tödlich sein können, und dieser Satz „Nimm dich doch nicht so wichtig“ ist ein tödlicher Satz. Es grüsst Dich Verena Liebe Verena Die Behauptung, „Ihr Depressiven seid doch alle unglaubliche Egoisten“, stimmt insofern, als man sich in einer depressiven Phase sehr stark um die eigene Problematik dreht. Doch möchte ich den sehen, der bohrende Zahnschmerzen oder Migräne hat und dann noch gross an andere denken kann! Sobald sich das schwarze Loch lichtet, ist es wichtig, dass man sich wieder anderen zuwendet und nicht ständig unproduktiv um sich selbst kreist. Es gab jemand im Radio, der mir sagte: „Du hast autistische Züge und es mangelt dir an Teamfähigkeit.“ Damals habe ich realisiert, dass man ganz bewusst auf andere zugehen muss, denn auch sie sind verunsichert und wissen nicht, inwieweit Nähe in Ordnung und gefragt ist. Also ist es ganz wichtig, dass man auch Aufgaben übernimmt, die für andere wichtig sind, damit man aus der Selbstzentriertheit herauskommt. Insofern kann ich die Aussage, „Nimm dich doch nicht so wichtig“, nicht stehen lassen, da jeder Mensch für sich sehr wichtig ist und einzigartig. Und ich merke auch, dass mir diese selbstherrlichen Bemerkungen dieser Leute gewaltig auf die Nerven gehen. Ehrlich, darum habe ich nicht die geringste Lust, mir diesen Sermon anzuhören und darüber zu diskutieren. Herzlichst, Ruedi Zitiert aus „Mittendrin und nicht dabei“, Seite 66, 67 Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 8 Die manisch-depressive Erkrankung Die manisch-depressive Krankheit verläuft in Phasen; dabei kann es sich um manische Phasen handeln, d.h. Perioden anormaler Hochstimmung und erhöhter Aktivität, oder um depressive Phasen, d.h. Perioden anormaler Traurigkeit und Inaktivität. Beim gleichen Patienten können sowohl manisch als auch depressive Phasen auftreten. Depressionen sind aber häufiger als Manien. Gelegentlich treten gleichzeitig manische und depressive Symptome auf; dies nennen wir Mischzustand. Die manisch-depressive Krankheit ist eine ziemlich häufige Erkrankung; das Krankheitsrisiko beträgt 1-2% (auf 100 Personen). Sowohl Manien als auch Depressionen kommen bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Die Krankheit beginnt oft im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, sie kann aber auch schon im Jugendalter zwischen 15 und 20 oder sehr viel später, zwischen 60 und 70 Jahren, auftreten. Manische und depressive Phasen zeigen in ihrer Ausgestaltung bei verschiedenen Menschen und auch beim gleichen Patienten zu verschiedenen Zeiten ein wechselhaftes Bild. Im Folgenden sind einige charakteristische Krankheitssymptome dargestellt; es sei aber betont, dass nicht in jeder Phase alle diese Symptome vorkommen müssen. Charakteristische Symptome manischer Phasen sind gehobene Stimmung, Reizbarkeit und eine Beschleunigung der gedanklichen Abläufe. Die gehobene Stimmung reicht von einer ungewöhnlichen Begeisterungsfähigkeit bis zu hemmungslosem Überschwang. Die Reizbarkeit zeigt sich meist darin, dass die Patienten ärgerlich werden, wenn die Umgebung ihren Vorstellungen nicht sofort folgen kann; sie können dann aufbrausend und unter Umständen gewalttätig werden. Die geistige Tätigkeit zeichnet sich durch eine belebende Geschwindigkeit aus; der Kopf ist voller Ideen, der Patient spricht mit grosser Geschwindigkeit und fast ohne Pausen; witzige Wortspiele wechseln ab mit verletzenden Antworten. Die Selbsteinschätzung eines Patienten ist in der manischen Phase verändert. Er ist extrem selbstbewusst, aber es mangelt ihm auch an Selbstkritik. Das führt zu einer ungewohnten Vitalität, deren Konsequenzen aber, insbesondere in Verbindung mit Ideenreichtum, mangelnder Ermüdbarkeit und Enthemmung, sehr negativ sein können: Es kommt vor, dass Patienten in ihren manischen Phasen ihre Ehe zerstören, ihren guten Ruf riskieren und sich auch finanziell ruinieren. Gewöhnlich fehlt den Patienten die Krankheitseinsicht. Im Gegenteil, sie fühlen sich aussergewöhnlich wohl und können kaum verstehen, dass ihre Nächsten und liebsten Freunde hierin anderer Meinung sind. Es ist in der Regel eine enorme Belastung für eine Ehe oder den Familienzusammenhalt, wenn die Angehörigen den Patienten für krank und behandlungsbedürftig halten. Solche Situationen erfordern von allen Beteiligten ein Höchstmass an Verständnis, Takt und Geduld. Besonders schwierig wird es, wenn Aussenstehende durch Ablehnung und aufgrund eigener Kränkung die Lage noch komplizieren, weil sie nicht wissen, dass beim Betreffenden nicht schlechtes Benehmen, sondern eine Krankheit im Spiel ist. Manische Patienten haben für gewöhnlich ein geringes Schlafbedürfnis. Sie fühlen sich selten müde und werden durch den schnellen Strom ihrer Einfälle wachgehalten. Auch die sexuelle Aktivität ist häufig erhöht. Oft vernachlässigen Patienten die Nahrungsaufnahme und verlieren dabei deutlich an Gewicht. Wenn übersteigerte Aktivität, verminderte Nahrungsaufnahme und Schlafmangel zusammenkommen, entwickelt sich zunehmende körperliche Erschöpfung. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 9 Maniformer Redefluss Patient gegenüber Oberarzt im IPS, Lavaboraum) „Ich will austreten. Aber wenn Sie nicht wollen, machen Sie halt mit mir, was Sie wollen. Mein Körper ist in Ihrer Hand. Sie können mich vergiften, wenn Sie wollen. Aber denken Sie an meinen Chef, den da oben. Können Sie das verantworten, dass Sie mich hierbehalten? In Ihrer Lage möchte ich nicht stecken, nein, gar nicht. Wenn der da oben mal losschlägt, dann möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken, oh nein! Wissen Sie, warum ich hier bin?! Hier drinnen sind die, die den anderen nichts tun wollen, die nicht schiessen; die Verrückten, die sind draussen! Ich bin kein Verrückter, ich schiesse nicht. Aber ich habe ein Gewehr zu Hause mit 24 Schuss. Was meinen Sie, wenn ich mal auf die Station komme und ... bumm, bumm, bumm mache, Herr Doktor, he! Und wenn dann der Doktor auftaucht und fragt, was ich mache ... bumm, bumm, bumm, he!? Aber das mache ich ja nicht, sonst würde ich zu den Verrückten gehören. Ich habe nämlich ein Gewehr, das will ich aber nicht abgeben. Was würden die Leute auch denken. Die Patronen hat meine Mutter sowieso irgendwo versteckt. Aber dass Sie mich nicht gehen lassen ... ! ... Was heisst hier überhaupt, ich sei angetrieben, ich hätte eine Manie!!! Niemand kann mir das erklären. Ich fordere von Ihnen gerade jetzt: Was ist eine Manie, Herr Doktor!? Doktor sind Sie, das wissen Sie, ich vergesse das manchmal, Herr Doktor, aber Sie wissen ja, dass Sie es sind, da muss man es nicht immer sagen. Was glauben Sie eigentlich, weshalb so viel passiert in der Welt! Da steckt doch etwas dahinter. Lesen Sie die Zeitung, dann wissen Sie, was über mich geschrieben steht. Oh, Herrgott, wir halten zusammen! Jetzt werde ich da eingesperrt im IPS, wo ich es nicht aushalte. Ich will in ein Zimmer vorne und zwar jetzt, sonst laufe ich davon. Ihr mit eurem Personalmangel, nicht einmal spazieren kann man. Ich fordere dreimal zwei Stunden Spaziergang, das ist es nämlich, was ich brauche. Sie, Herr Doktor, Sie haben doch so viel Einfluss: Gehen Sie doch mal zum Regierungsrat Spitteler und sagen Sie ihm, dass ich dreimal zwei Stunden Spaziergang will oder ich gehe gleich selber zu ihm. (Schaut in den Spiegel) Du, was meinsch? Bliibe mir do? ... Jo, chumm, mer bliibe do. Sie sehen ja, ich bleibe da, ich könnte ja davonlaufen. Ich will jetzt aber einen Zeugen, ihr seid zwei, ich bin allein. Ich will zu Herrn ... (Name eines Pflegers).“ Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 10 Manie-Erfahrung In den Jahren nach der Scheidung erlebte ich immer wieder eindeutig manische Zeiten mit all den bekannten sozialen und finanziellen Verwüstungen, gefolgt von Depressionen voller Selbstzweifel und Selbstvorwürfen. Doch ich begrüsste die Anfänge jeder neuen Manie und hiess diese unglaubliche Energie und Ideenvielfalt freudig willkommen. „Endlich bin ich wieder ich“, sagte ich jedes Mal, als hätte ich in den Zeiten dazwischen nur geschlafen. So war es auch Anfang 2003, jenes Jahr mit dem unglaublich heissen Sommer in Europa. Im Herbst zuvor war meine Mutter gestorben, was mich zunächst in eine monatelange, tiefe Trauer versetzte. Nun, da die Tage länger und wärmer wurden, begann ich mich besser und besser zu fühlen und die Steigerung dieser Hochstimmung wollte gar kein Ende nehmen. Ich dachte noch: „Pass auf, das könnte manisch werden“, aber dann wischte ich alle Bedenken beiseite und wollte nur noch „fliegen“. Von dem Neuroleptikum, das der Psychiater meines Vertrauens mir aktuell verordnet hatte, nahm ich genau eine einzige Pille – das war nicht das, was ich jetzt wollte! Die Besuche bei ihm stellte ich dann ein. Dieser Sommer war ein einziger Rausch, geprägt von rastlosen Reisen, intensiven und manchmal heftigen Begegnungen mit neuen Bekanntschaften, sexuellen Abenteuern und finanziellen Waghalsigkeiten. I Im Herbst erwachte ich dann von einem Tag auf den anderen wie aus einem glühenden, fantastischen Traum und fand mich von einem vollkommen unübersichtlichen Trümmerfeld umgeben: Meine Wohnung war gekündigt, Telefon und Internet gekappt. Die neuen Bekanntschaften hatten sich in Luft aufgelöst, Freunde und Geschwister hatten sich entsetzt abgewandt und das Letzte, was ich von meinen Kindern hörte, waren Verwünschungen am Telefon. Sämtliche Konten waren bis zur Schmerzgrenze ausgereizt und ich hatte keine Ahnung, wie ich den immensen Stapel an Rechnungen begleichen sollte, der sich angesammelt hatte. Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich mich ernähren sollte. So verzweifelt und hoffnungslos auch alles schien, diese Katastrophe hatte auch ihr Gutes, denn zum ersten Mal wurden mir ein paar Dinge klar und möglicherweise brauchte es so einen gewaltigen Absturz, um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen: - Das, was ich diesen Sommer erlebt hatte, war eine Manie, da gab es kein Deuteln mehr (bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Diagnose immer angezweifelt). - So etwas wollte ich nie mehr durchmachen und auch meinen Mitmenschen nie mehr antun. - Gegen die Symptome dieser Erkrankung kann man angehen und ich nahm mir vor, genau dies in Zukunft auch konsequent zu tun. Das gelungene Abfangen beginnender manischer Symptome empfand ich jeweils als einen wirklich Sieg, eine Bestätigung, dass es möglich ist, mit dieser Disposition umzugehen, so lange man sich an die Spielregeln hält. … Man ist nie sicher vor einer erneuten Krankheitsphase und muss daher ständig auf der Hut sein. Einen guten Mittelweg zu finden zwischen dauernder, ängstlicher Selbstbeobachtung und grosszügiger Nichtbeachtung möglicher Frühsymptome, ist wahrscheinlich eine lebenslange Aufgabe. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 11 Klassifizierungsversuche depressiver Erkrankungsweisen a) b) c) nach (hypothetischer) Ursache Endogene Depression Reaktive Depression (von innen heraus entstehend) umweltstabil (durch äussere Umstände ausgelöst) umweltlabil Primäre Depression Sekundäre Depression (ohne Zusammenhang mit anderer psychiatrischer Erkrankung auftretend) (nach anderer Krankheit, z.B. Alkoholismus, Parkinsonismus oder Schizophrenie, auftretend) nach Schweregrad und Erscheinungsbild Psychotische Depression Neurotische Depression (über einfühlbare und verständliche Reaktionsweise hinausgehend; oft mit Wahnideen einhergehend) (aufgrund einer Konfliktlage verständliche und besser einfühlbare Depression) Major Depression Minor Depression (bei systematischer Erfassung von Symptomen wird ein definierter Schweregrad einer depressiven Störung erreicht) Depression im engeren Sinne (bei systematischer Erfassung von Symptomen liegt deren Zahl und Schweregrad unterhalb der Definitionsschwelle einer Major Depression) mildere depressive Verstimmung Affektive Störung Dysthyme Störung (Erkrankungsform mit klinisch deutlich depressivem - oder manischem - Bild) meist akut & episodisch auftretend (unterschwellige Erkrankungsform mit mild depressivem Bild, oft unbehandelt) meist schleichend auftretend mit langgezogenem Verlauf nach Verlauf Unipolare Störung Bipolare Störung (im Langzeitverlauf nur depressive Phasen auftretend, Unterform der affektiven Störung) (im Langzeitverlauf neben depressiven Phasen auch Manien auftretend, Unterform der affektiven Störung) Saisonale Depression Nicht-saisonale Depression (meist auf Wintersaison beschränkte Depression mit häufig gesteigertem Schlaf- und Essbedürfnis; seltene z.Z. noch umstrittene Unterform der affektiven Störung) (unabhängig von Jahreszeiten auftretende Depression, weitaus häufigste Unterform der affektiven Störung) Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 12 Grundsätzliches zum Umgang mit Depressiven In vielen Ratgebern wird dem Leser erklärt, was er nicht tun soll. Hingegen sind die Hinweise, was denn zu praktizieren wäre, eher spärlich abgefasst. Dies ist sicher ein Zeichen, das die Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Depressiven aufzeigt. Ganz wichtig ist jedoch die eigene Erkenntnis, dass man als Betreuungsperson eine Depression nicht heilen kann – trotz hohem Engagement. Depressionen erfordern in der Regel eine psychotherapeutische und/oder medikamentöse Behandlung. Mit depressiven Menschen zu arbeiten, stellt sich meist als eine sehr anspruchsvolle Arbeit heraus, da die Depression einen hohen Grad an „Ansteckungsgefahr“ in sich birgt! Was bedeutet das? Die Niedergeschlagenheit der Betroffenen kann sich auf die Helfenden übertragen – in diesem Sinne „Ansteckung“. Die erlebte Ausweg– und Hoffnungslosigkeit der Depressiven führt beim begleitenden Umfeld nicht selten zu Vermeidungsreaktionen: Man beginnt diesen auszuweichen, weil man nicht erfolgreich und mit bleibender Wirkung helfen kann. Sehr wichtig: häufiges geduldiges Zuhören (Es ist nämlich schon positiv, dass eine depressive Person überhaupt redet!) Sich Zeit nehmen; jedoch nicht unbegrenzt. Wenn man keine Zeit hat, ist es wichtig, eine Verbindlichkeit herzustellen und zu erklären, wann man denn Zeit aufbringen kann. Andernfalls fühlt sich die depressive Person verständnislos abgewiesen. Oft dreht sich das Gespräch um ein Thema, das immer wieder im Mittelpunkt steht. Das muss bis zu einem bestimmten Grad ausgehalten werden. Gleichzeitig ist es auch richtig, ein solches Thema hin und wieder bewusst auszuklammern und sich auf andere Themen zu konzentrieren. Besser: Fragen stellen, statt Rat-Schläge erteilen Die Depressivität als gegeben akzeptieren und gleichzeitig der Entwertung entgegentreten („Nein, Sie sind nicht ein Versager!“) Gezielt Wertschätzung äussern (bezogen auf Verhalten, Eigenschaften, Aussehen etc.), die ehrlich gemeint ist. „Aufmunterungsversuche“ sind eher schädlich, da sie dem Depressiven erst recht signalisieren wie schlecht es um ihn steht. Vorsicht: Keine Verstärkung der Schuldgefühle ("Hätten Sie nur, ..." oder "Sie müssen nur das und das tun, dann ...") Oder: Absolut falsch: Reissen Sie sich zusammen. Depressive können krankheitsbedingt nicht, nicht, weil sie nicht wollen! Seine Welt (mit Wahnideen) als momentane Realität akzeptieren, nicht wegdiskutieren; sich aber abgrenzen, in dem Sinne, dass man selbst eine andere Sichtweise hat Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 13 Bestätigen, dass er depressiv ist (damit der Leidende es uns nicht noch beweisen muss) Vorsichtige Konfrontation; eher Offerte: Möchten Sie mit mir darüber reden? Falls das nicht dem Wunsch des Betreffenden entspricht, nehme ich das nicht persönlich (Beziehungsohr!), sondern erachte das jetzt als autonomen Entschluss. Nicht mit anderen vergleichen. Dies löst nur Widerstand aus: „Mir geht es noch viel schlechter als den anderen.“ Die depressive Symptomatik kann dadurch unnötig verstärkt werden – als Beweismittel! Kleine und konkrete Ziele setzen (sei das in der täglichen Körperpflege, in bestehenden Beziehungen oder in der Freizeitgestaltung). Eine detaillierte Pflegeplanung, abgestützt auf individuelle Ressourcen und Bedürfnisse, kann sehr hilfreich sein. Ehrlich und offen begegnen; eigene Grenzen in Bezug auf das Verständnis und die Hilfsmöglichkeiten aufzeigen Um das verlorengegangene Zeitgefühl wiederzugewinnen, bewähren sich klare Tagesstrukturen, die im Gespräch verhandelt und langsam aufgebaut werden müssen. Die Zusage des Depressiven im Gespräch widerspricht allerdings oft der folgenden Praxis im Alltag, wo sich Depressive zu entziehen versuchen. Hier sind klare und bestimmte Haltungen des Personals erforderlich. Depressive sind sehr empfänglich für nonverbale Botschaften. Durch Gesten, Blicke oder tolerierte Berührungen des Wohlwollens signalisieren wir, dass wir sie so annehmen wie sie sind. Motivationsarbeit: „Fördern durch Fordern“. Damit wird der totale Rückzug zumindest verhindert. Wie können Beschäftigungsangebote, Besuche von Anlässen etc. schmackhaft gemacht werden? Humor trotz(t) auch der depressiven Entwicklung, wenn er angepasst ist. Folgende Überlegungen können für ein Gespräch hilfreich sein: - Worüber spricht der Pflegeempfänger? Welche Themen stehen für ihn im Vordergrund? Wie spricht er über den Verlust, mit welchen Worten, Ausdrücken? Welche Erinnerungen an frühere Verlusterlebnisse hat er? Wie ist er damit umgegangen (Bewältigungsform)? Was hat ihm dabei geholfen? Welche Ressourcen zeigt der Pflegeempfänger in Gesprächen und in seinem Verhalten? Welche körperlichen, psychischen, sozialen Bedürfnisse äussert er? Welche Selbstpflegedefizite stelle ich fest (Bsp. Mangelnde Körperpflege, Störungen im Essverhalten, Schlafstörungen)? Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 14 Das themenspezifische Gespräch bei depressiven Menschen Die Alltagspraxis hat schon mehrfach gezeigt, dass es sich oftmals als günstig erweist, bei täglichen (Erst-)Begegnungen nicht zwingend nach dem (körperlichen) Wohlergehen zu fragen, sondern ein themenspezifisches Gespräch zu beginnen, also weg von den üblichen Allgemeinplätzen wie: „Wie geht`s?“ oder „Haben Sie gut geschlafen?“ oder „War das Essen heute gut?“ In Kenntnis einiger biografischer Angaben und Ressourcen Durch welche ist es oft deutlich wirkungsvoller, sich über ein Thema zu Brille schauen unterhalten, das sich nicht mit „Pathologie“ befasst (Was ist wir: nicht, falsch, krank etc.). Dies trifft im Besonderen dann zu, Durch jene mit dem wenn wir schon im Voraus aus Erfahrung wissen, was Defizitblick oder Angesprochene jeweils antworten und wir innerlich „flüchten“, durch jene mit dem weil wir uns diese erneute Negativsymptomatik nicht anhören Ressourcenblick? wollen. Beispiel: Eine Pflegende fragte eine Bewohnerin morgens bei der Morgentoilette statt nach dem Wohlbefinden nach ihrer Katze. Dabei machte sie eine ganz andere Erfahrung. Die depressive Frau berichtete engagiert von ihrem geliebten Haustier. Nichts von der sonst üblichen Leidensthematik kam zum Vorschein. Danach beschlich die Pflegende jedoch das mulmige Gefühl: „Du solltest doch anständigerweise schon noch nach dem Wohlbefinden fragen. Das wirkt doch sonst kalt und desinteressiert.!“ Gedacht, getan. Nun musste sie sich sämtliche Leiden anhören, die ihr schon bekannt waren und auf die es keine wirklich griffigen Erklärungen und Hilfen gibt. ... Ein weiteres Beispiel: Eine andere Pflegende berichtete einem depressiven Bewohner von ihrem letzten Pferderitt. Dessen Augen leuchteten und sie kamen beide ins Schwärmen beim Thema Pferd. Es liegt auf der Hand, was hier mehr Sinn macht. Für uns stellen sich hier folgende Fragen: - Was wissen wir über das gelebte Leben solcher Menschen? - Was sind ihre bevorzugten Themen? - Was sind Schlüsselthemen? - Wie kommt es an, wenn ich von mir erzähle? Von meinen Freizeitbetätigungen, vom eigenen Garten, von den Kindern, Enkeln etc.? Die Dokumentationsunterlagen haben auch Rubriken zur Kommunikation. Könnten solche Kenntnisse von geeigneten Themen dort notiert werden, damit alle im Team diese Angaben für Alltagsbegegnungen nutzen könnten? Ein weiteres Beispiel: Eine depressive Bewohnerin war früher Schauspielerin. Eben früher. Und heute? Sie leidet. Das Leiden steht derart im Vordergrund, dass es schwierig ist, sie abzulenken. Wir könnten uns dazu im Voraus Fragen überlegen wie: - Wo haben Sie Auftritte gehabt? In welchen Schauspielhäusern? Welche Rollen hatten Sie dabei? Welche Rollen haben Ihnen besonders entsprochen? Warum gerade diese? Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 15 Einige Bewohnerinnen beherrschen eine oder mehrere Fremdsprachen. Wie wäre es, wenn sich Betreuende mit ihnen spasseshalber in dieser Sprache unterhielten? Das Bewusstsein um immer noch vorhandene Sprachkenntnisse einerseits und die Erfahrung, als (sprach-)kompetente Person beachtet zu werden, haben hier einen aufbauenden Effekt. Dazu kommt noch der Lerneffekt. Zudem ergeben sich daraus auch Gespräche über frühere Reisen in fremde Länder. Und schon haben wir ein weiteres Thema. Verfügen die Bewohnerinnen noch über entsprechendes Bildmaterial? Fotos? Bücher? Bildbände? Geplante Kurzbesuche Neben den Kontakten, die sich durch die Unterstützung oder teilweise Übernahme der Körperpflege ergeben, ist es hilfreich, gezielte Kurzbesuche bei den Bewohnern zu planen. Ähnlich wie gewisse behandlungstechnische Untersuchungen in der Arbeitsagenda als Gedankenstütze notiert sind, können solche Besuche im Voraus fixiert werden, sichtbar in der Agenda als bedeutende pflegerische Tätigkeit. Das wäre eine sinnvolle Aufwertung der psychosozialen Aspekte gegenüber den zahlenmässig überlegenen körperzentrierten Aufgaben. Dabei geht es thematisch nicht um das gegenwärtige (Un-)Wohlbefinden, sondern um das bewusste Verfolgen eines Gesprächsthemas, das weit weg vom depressiven Geschehen liegt. Das können Inhalte sein, die sich mit ihren Ressourcen, mit dem Alltagsgeschehen aus Nah und Fern befassen oder im Zusammenhang mit Fernsehsendungen oder Zeitungsberichten stehen. Dies bedingt allerdings eine innere Bereitschaft und Vorbereitung, um nicht schon nach kurzer Zeit auf einer körpersymptomatisch ausgerichteten Ebene zu landen, die dazu verführen kann, wiederum nach Lösungen zu schauen, die es nicht gibt oder die nicht angenommen werden können. Solche Besuche signalisieren den Betroffenen Aufmerksamkeit, Beachtung und Interesse an der Person („Es chunnt öpper wäge mir.“). Selbst wenn depressive Personen solche Besuche nicht immer mit einem „Willkommen“ aufnehmen oder Wertschätzung ausdrücken, sie nehmen sie wahr. „Dran bleiben“, heisst die Devise, z.B. ein- bis zweimal wöchentlich während 10 – 15 Minuten durch eine geeignete (Bezugs-) Person. Direktives Ansprechen Depressive Menschen lösen bei Betreuungspersonen und Angehörigen oft das Gefühl aus: „Jo nüt falsch mache.“ Dies führt dazu, dass in übertriebener Weise, die Person „geschont“ wird. Man will ihr nicht etwas zumuten, sie nicht überfordern. Das Bild von „in Watte packen“, drängt sich hier auf. Diese Schonhaltung birgt die Gefahr in sich, dass depressiven Bewohnerinnen einiges an Selbstverantwortung abgenommen wird und damit Abhängigkeit, Verunsicherung und schliesslich mangelndes Selbstwertgefühl erzeugt werden. Gleichzeitig spüren solche Menschen: Wenn man so mit mir umgeht, muss es mir schlecht gehen. Ein Beispiel: An einem heissen Sommertag regt eine Pflegende eine Bewohnerin an, den Rollladen rechtzeitig herunter zu lassen, um einen Hitzestau im Zimmer zu vermeiden. Trotzig entgegnet die depressive Frau: „Nei, das mach i nit!“ Die Pflegende, überrascht über sich selbst, erwidert: „Dann entscheiden Sie heute, ob Sie schwitzen und sich unwohl fühlen.“ Was geschah? Die Bewohnerin erkannte ihre Verantwortung und bediente den Rollladen entsprechend. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 16 Das tönt vorerst etwas provokant und kann auf Seiten Pflegender ein unangenehmes Gefühl aufkommen lassen. „So redet man doch nicht!“ oder „Was denken die anderen von mir?“, meldet sich das eigene Über-Ich mit Bremswirkung. Erfahrungen, wie die erwähnte, belegen jedoch, wenn diese Methodik überlegt und im richtigen Ton eingesetzt wird, kann sie depressive Menschen durchaus „bewegen“, ihre Passivität für kurze Zeit zu verlassen. Depressives Verhalten in der Zweierbeziehung Die folgende Übersicht gibt Aufschluss über die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehung zwischen einer depressiven und nicht-depressiven Person – seien das Angehörige, Mitarbeiter, Nachbarn oder beruflich Helfende. Die beschriebenen Auswirkungen auf die zweitgenannte Gruppe stellen sich früher oder später ein. Eine wesentliche Hilfe, dass sich das Verhältnis nicht in diese Richtung entwickelt, bilden Einsicht und professionelle Unterstützung/Begleitung seitens des Depressiven sowie Kenntnisse des Krankheitsverlaufs, ein wirksames Coping und supervisorische Begleitung für die Helfenden – den sekundär Betroffenen. Verhalten des depressiven Patienten Deprivationsverhalten: Hemmung, Interesseverlust, Apathie, „Versteinerung“, soziale Isolation Auswirkungen auf Partner, Betreuer - Wiederholte Dämpfung von Erwartungen - Frustration eigener Bedürfnisse → Rückzug vom Kranken Negativistisches, feindseliges Verhalten: - Eindruck des Abgewiesenwerdens - Eindruck des Nicht-genügen-könnens Negative, pessimistische Gefühle, → Enttäuschung, Ärger, Groll Dysphorie (Unlust), Gereiztheit, „Klagsamkeit“ Appellationsverhalten: Verzweiflung, Hilflosigkeit, Klagsamkeit, Einsamkeit, „Schrei nach Liebe“ - Anfangs Mitgefühl und Mitleid erweckend - Ambivalentes Mitschwingen → Anteilnahme („Helfer-Syndrom“) Doppelbotschaft (kontradiktorisch): „Hilf mir!“ und „Du kannst mir nicht helfen!“ („Der Widerstand gegen die Heilung“) - Ambivalenz, in der Folge Spannung, Lähmung - Überforderung, dann Umschlagen in Ablehnung → Ausbrennen (Burnout-Syndrom) Die Aufstellung zeigt gleichzeitig auf, dass die beschriebenen Gefühle durchaus normal sind – mit anderen Worten: eine Prävention gegen ein unbegründetes schlechtes Gewissen, das sich andernfalls wie eine einschnürende Zwangsjacke lähmend auswirken oder in ungerichteten Aktivismus ausarten kann. Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] Kapitel 2 Depression 17 Literaturliste Canacakis Jorgos Ich sehe deine Tränen, Kreuz Verlag Dörner Klaus Irren ist menschlich, Kap. 6 und 7 , Psychiatrieverlag Grond Erich Altersschwermut, Ernst Reinhardt Verlag Hell Daniel Welchen Sinn macht Depression? rororo Verlag Hirsch Rolf D. Altern und Depressivität, Huber Verlag Hirzel Martina Suizidalität im Alter, Peter Lang Verlag Rahn Ewald Lehrbuch Psychiatrie, Psychiatrie Verlag Schou Mogens Lithium-Behandlung der manisch-depressiven Krankheit, Thieme Verlag Sulz Serge K.D. Verständnis und Therapie der Depression, E. Reinhardt Verlag Schneider Frank/ Depressionen im Alter – Die verkannte Volkskrankheit, Herbig Nesseler Thomas Verlag Thiels Cornelia Das Selbsthilfeprogramm bei Depressionen, Herder Verlag Woggon Brigitte Ich kann nicht wollen! Berichte depressiver Patienten, Huber Verlag Wolfersdorf M./ Depressionen im Alter, Verlag Kohlhammer Film Mr. Jones Alfred Siegrist, Nuglar [email protected] mit Richard Gere als Hauptdarsteller einer manisch-depressiven Person