Kapitel 5 Zufallsvariable, Verteilung, Verteilungsfunktion 5.1 Zufallsvariable Sei (Ω, A, P ) ein beliebiger Wahrscheinlichkeitsraum. Häufig interessiert nicht ω selbst, sondern eine Kennzahl X(ω), d.h. wir betrachten eine Abbildung ω 7→ X(ω) Beispiel 5.1 2× würfeln Ω = {(i, j)|i, j ∈ {1, 2 . . . , 6}} X(ω) = X((i, j)) = i + j “Augensumme“ Sei X : Ω → R Wir möchten jetzt dem Ereignis X ∈ B = {ω ∈ Ω|X(ω) ∈ B}, B ⊂ R eine Wahrscheinlichkeit zuordnen. Also muss {ω|X(ω) ∈ B} ∈ A sein. Definition 5.1 Sei (Ω, A) ein beliebiger Messraum. Eine Abbildung X : Ω → R heißt Zufallsvariable, falls X −1 (B) = {ω ∈ Ω|X(ω) ∈ B} ∈ A, ∀ B ∈ B Diese Bedingung nennt man auch (A, B)-Messbarkeit von X. Satz 5.1 Eine Abbildung X : Ω → R ist genau dann Zufallsvariable, wenn X −1 ((−∞, a]) = {ω|X(ω) ≤ a} =: {X ∈ B} =: (X ∈ B) ∈ A, ∀a ∈ R Beweis “⇒“ Sei X Zufallsvariable. (−∞, a] ∈ B ⇒ Behauptung “⇐“ X −1 ((−∞, a]) ∈ A Definiere A0 = {B ⊂ R|X −1 (B) ∈ A}. A0 ist eine σ-Algebra über R: (i) X −1 (R) = Ω ∈ A ⇒ R ∈ A0 (ii) X −1 (B c ) = {ω|X(ω) ∈ / B} = {ω|X(ω) ∈ B}c = (X −1 (B))c c Also B ⊂ A0 ⇒ B ⊂ A0 21 KAPITEL 5. ZUFALLSVARIABLE, VERTEILUNG, VERTEILUNGSFUNKTION 22 (iii) ∞ [ X −1 ( ∞ [ Bn ) = n=1 X −1 (Bn ) n=1 Nach Voraussetzung ist E = {(−∞, a], a ∈ R} ⊂ A0 ⇒ A0 ⊃ σ(E) = B ⇒ Behauptung Bemerkung 5.1 a) Satz 5.1 bleibt richtig, wenn wir E = {(−∞, a], a ∈ R} durch ein anderes Erzeugendensystem von B ersetzen. b) Bei Anwendungen ist oft (Ω, A) = (R, B) Wann ist eine Abbildung X : R → R messbar (ZV)? Satz 5.2 Sei (R, B) gegeben, X : R → R ist z.B. messbar, falls X stetig oder (schwach) monoton wachsend oder fallend. Beweis Sei X stetig. Dann ist X −1 (U ) offen, falls U offen. Sei X wachsend ⇒ {ω ∈ R|X(ω) ≤ a} ist von der Gestalt (−∞, b) ∈ B oder (−∞, b] ∈ B Bemerkung 5.2 Es sei X(ω) = c ∀ω ∈ Ω, c ∈ R. Dann ist X eine Zufallsvariable. Satz 5.3 Seien X : Ω → R und Y : R → R Zufallsvariablen, dann ist Y ◦X : Ω → R wieder eine Zufallsvariable. Satz 5.4 Sei (Ω, A) ein Messraum und X,Y Zufallsvariablen darauf. a) {X < Y } = {ω ∈ Ω|X(ω) < Y (ω)},{X ≤ Y }, {X = Y } ∈ A b) Sind α, β ∈ R, so sind αX + β, X + Y, X · Y, X ∧ Y = min{X, Y }, X ∨ Y = max{X, Y } Zufallsvariablen c) Ist (Xn )n∈N eine Folge von Zufallsvariablen, so sind auch supn∈N Xn , inf n∈N Xn , lim supn→∞ Xn , lim inf n→∞ Xn Zufallsvariablen, falls sie R-wertig sind. Gilt Xn (ω) → X(ω)∀ω ∈ Ω, so ist auch X eine Zufallsvariable. Beweis a) {X < Y } = S < q∈Q {X | {z ∈A q } ∩ {Y > q } } | {z } ∈A {X ≤ Y } = {X > Y }c ∈ A,{X = Y } = {X ≤ Y } ∩ {X ≥ Y } ∈ A b) (i) x 7→ αx + β ist stetig 5.2. VERTEILUNGEN 23 (ii) {X + Y ≤ a} = {X ≤ a − Y } = {X ≤ a − Y } ∈ A ∀a ∈ R, da a − Y Zufallsvariable + Teil a) (iii) X · Y = 41 ((X + Y )2 − (X − Y )2 ) (iv) {X ∨ Y ≤ a} = {X ≤ a} ∩ {Y ≤ a} ∈ A T c) {supn∈N Xn ≤ a} = ∞ n=1 {Xn ≤ a} ∈ A inf n∈N Xn = − supn∈N (−Xn ) lim supn→∞ Xn = inf n∈N supm≥n Xm lim inf n→∞ Xn = supn∈N inf m≥n Xm Im Falle der Konvergenz ist X = lim supn→∞ Xn Bemerkung 5.3 Teil c) ist ohne Einschränkung gültig, wenn man R = R∪{−∞}∪ {+∞} betrachtet und B zu B(R) = σ(B ∪ {{−∞}, {+∞}}) erweitert. 5.2 Verteilungen Definition 5.2 Es sei (Ω, A, P ) ein Wahrscheinlichkeitsraum und X : Ω → R eine Zufallsvariable. Die Verteilung der Zufallsvariablen ist die Mengenfunktion PX : B → [0, 1] mit PX (B) = P ({ω ∈ Ω|X(ω) ∈ B}) ∀B ∈ B Bemerkung 5.4 a) PX ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem Messraum (R, B), denn: – PX (R) = P (Ω) = 1 (Normiertheit) – Für B1 , B2 , . . . ∈ B paarweise disjunkt gilt: (σ-Additivität) ∞ ∞ ∞ ∞ ∞ X X X X X PX ( Bi ) = P (X −1 ( Bi )) = P ( X −1 (Bi )) = P (X −1 (Bi )) = PX (Bi ) i=1 i=1 i=1 i=1 i=1 b) Die Abbildung P → PX nennt man Maßtransport vom Messraum (Ω, A) in den Messraum (R, B) 5.3 Verteilungsfunktion Eine Verteilung PX : B → [0, 1] kann durch eine “einfachere“ Funktion FX : R → [0, 1] beschrieben werden. Definition 5.3 Es sei (Ω, A, P ) ein Wahrscheinlichkeitsraum und X : Ω → R eine Zufallsvariable. Die Funktion FX : R → [0, 1] mit FX (x) = P (X ≤ x) = P ({ω ∈ Ω|X(ω) ≤ x}) = PX ((−∞, x]) heißt Verteilungsfunktion von X. Bemerkung 5.5 Da die Mengen (−∞, x], x ∈ R einen ∩-stabilen Erzeuger von B bilden, wird PX durch FX eindeutig festgelegt (siehe Satz 4.4) KAPITEL 5. ZUFALLSVARIABLE, VERTEILUNG, VERTEILUNGSFUNKTION 24 Satz 5.5 Sei X : Ω → R eine Zufallsvariable und FX : R → [0, 1] ihre Verteilungsfunktion. Dann gilt: a) lim FX (x) = 0, lim FX (x) = 1 x→∞ x→−∞ b) FX ist (schwach) monoton wachsend. c) FX ist rechtsseitig stetig. Beweis b) folgt aus der Monotonie von PX a) Sei (xn ) eine reellwertige Folge mit limn→∞ xn = −∞ Setze yn := supm≥n xm Dann gilt yn ↓ −∞, also (−∞, yn ] ↓ ∅ Da PX stetig in ∅ ist (Satz 1.4) folgt: 0 ≤ FX (xn ) = PX ((−∞, xn ]) ≤ PX ((−∞, yn ]) → 0 für n → ∞ Andere Grenzwertaussage mit Stetigkeit von unten von PX c) Sei x ∈ R, xn ≥ x ∀n ∈ N und limx→∞ xn = x Setze yn = supm≥n xm , also yn ↓ x und FX (x) = PX ((−∞, x]) ≤ PX ((−∞, xn ]) = FX (xn ) ≤ n→∞ ≤ PX ((−∞, yn ]) −→ PX ((−∞, x]) = FX (x) weil PX stetig von oben. Umgekehrt gibt es zu jeder Funktion F : R → [0, 1] mit den Eigenschaften a),b),c) aus Satz 5.5 eine Zufallsvariable X, so dass F = FX . Definition 5.4 Es sei F : R → [0, 1] eine Funktion mit den Eigenschaften a),b),c) aus Satz 5.5. Die Quantilfunktion F −1 zu F ist: F −1 (0, 1) → R, F −1 (y) = inf{x ∈ R|F (x) > y} Bemerkung 5.6 a) Ist F stetig und streng monoton wachsend, so ist F −1 die übliche Umkehrfunktion. b) Für 0 < α < 1 heißt FX−1 (x) α-Quantil zu X Lemma 5.6 y ≤ F (x) ⇔ F −1 (y) ≤ x, ∀ y ∈ (0, 1), x ∈ R Beweis “⇒“ Definition von F −1 “⇐“ F (x) < y ⇒ F (x + n1 ) < y für ein n ∈ N (F ist rechtsseitig stetig) 5.3. VERTEILUNGSFUNKTION ⇒ F −1 (y) ≥ x + ⇒ F −1 (y) > x 1 n 25 (F monoton wachsend) Satz 5.7 Es sei F : R → [0, 1] eine Funktion mit den Eigenschaften a),b),c) aus Satz 5.5. Dann gibt es einen Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, A, P ) und eine Zufallsvariable X : Ω → R mit Verteilungsfunktion F . Beweis Wähle Ω = [0, 1), A = B[0,1) , P = Unif[0, 1) (Gleichverteilung). Definiere X : Ω → R durch X(ω) := F −1 (ω) Offenbar ist F −1 monoton wachsend, also X eine Zufallsvariable und L.5.6 FX (x) = P (X < x) = P ({ω ∈ Ω|F −1 (ω) ≤ x}) = P ({ω ∈ Ω|ω ≤ F (x)}) = P ([0, F (x)]) = F (x) 26 KAPITEL 5. ZUFALLSVARIABLE, VERTEILUNG, VERTEILUNGSFUNKTION