TUM, Zentrum Mathematik Lehrstuhl für Mathematische Physik WS 2013/14 Prof. Dr. Silke Rolles Thomas Höfelsauer Felizitas Weidner Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie Lösungsvorschläge zu Übungsblatt 4 Tutoraufgaben: Aufgabe T4.1 Für den Grundraum Ω = {0, 1}n aller Bitfolgen der Länge n möchte man entscheiden, ob eine konkrete Bitfolge (ω1 , . . . , ωn ) zufällig zustandegekommen ist, indem man die Gruppen von aufeinanderfolgenden Nullen und Einsen (sogenannte Runs) betrachtet. Als Kenngröße betrachten wir die Anzahl der Runs R = |{k ∈ {2, . . . , n} : ωk−1 6= ωk }| + 1. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer zufälligen Bitfolge genau l ∈ {1, . . . , n} Runs auftreten. Welche Verteilung versteckt sich hier? Lösung: Wir definieren die Ereignisse Ak := {ω ∈ Ω : ωk−1 6= ωk } für k ∈ {2, . . . , n}. Diese Ereignisse sind unabhängig und es gilt P(Ak ) = 21 für alle k ∈ {2, . . . , n}. Da es n−1 l−1 Möglichkeiten gibt, dass genau l − 1 der Ak eintreten, erhalten wir für alle l ∈ {1, . . . , n} P(R = l) = P(|{k ∈ {2, . . . , n} : ωk−1 6= ωk }| = l − 1) n−1 l−1 n−1−(l−1) 1 n−1 1 n−1 1 = . = 2 2 l−1 2 l−1 R − 1 ist also Binomial n − 1, 12 -verteilt, denn n−1 n−1 1 . P(R − 1 = l) = P(R = l + 1) = l 2 Aufgabe T4.2 Aus einer Urne mit Kugeln der Aufschrift 1, . . . , N wird n mal gezogen und es sei X die höchste gezogene Nummer. Definieren Sie X als Zufallsvariable auf einem geeigneten Wahrscheinlichkeitsraum und bestimmen Sie ihre Verteilung, falls (i) mit Zurücklegen (ii) ohne Zurücklegen gezogen wird. Lösung: Bei (i) ist der Grundraum Ω = {1, . . . , N }n , F = P(Ω) und P die Gleichverteilung. Bei (ii) ändert sich der Grundraum zu Ω = {ω ∈ {1, . . . , N }n | ωi 6= ωj für i 6= j}. Die Zufallsvariable X ist in beiden Fällen die Abbildung X : Ω −→ R, X(ω1 , . . . , ωn ) = max ωi . 1≤i≤n Die Verteilung von X wird dann eindeutig festgelegt durch die Wahrscheinlichkeiten P(X = k) = P(X ≤ k) − P(X ≤ k − 1) = P({ω ∈ Ω| ωi ≤ k ∀i}) − P({ω ∈ Ω| ωi ≤ k − 1 ∀i}) Diese sind nur dann ungleich 0, falls 1 ≤ k ≤ N gilt und in (ii) zusätzlich n ≤ k. In der Situation von (i) ist P({ω ∈ Ω| ωi ≤ k ∀i}) = |{ω ∈ Ω| ωi ≤ k ∀i}| kn = n, |Ω| N )n erhalten. Bei (ii) ist so dass wir P(X = k) = ( Nk )n − ( k−1 N |{ω ∈ Ω| ωi ≤ k ∀i}| P({ω ∈ Ω| ωi ≤ k ∀i}) = = |Ω| und damit P(X = k) = k n − k−1 n k n , N n N −1 . n Aufgabe T4.3* (Zusatzaufgabe) Sei X eine reelle Zufallsvariable auf einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P). Zeigen Sie, dass k, l ∈ R existieren, so dass P(X ≥ k) ≥ 21 sowie P(X ≤ l) ≥ 12 . Lösung: Angenommen es gilt P(X ≥ k) < 21 für alle k ∈ R. Wir betrachten die Ereignisse An := {ω ∈ Ω : X(ω) ≥ n} für n ∈ Z. Dann ist (An )S n∈Z eine absteigende Folge von Ereignissen (An ⊆ An−1 für alle n ∈ Z) und es gilt Ω = n∈Z An . Mit der Stetigkeit des Wahrscheinlichkeitsmaßes P (Satz 1.16) erhalten wir 1 = P(Ω) = P 1 An = lim P(An ) ≤ , n→−∞ | {z } 2 n∈Z [ < 12 was zu einem Widerspruch führt. Es existiert also ein k ∈ R , so dass P(X ≥ k) ≥ 12 . Angenommen es gilt P(X ≤ l) < 12 für alle l ∈ R. Analog zum ersten Teil gilt für Bn := {ω ∈ Ω : X(ω) ≤ n} 1 = P(Ω) = P 1 Bn = lim P(Bn ) ≤ , n→∞ | {z } 2 n∈Z [ < 21 was zu einem Widerspruch führt. Es existiert also ein l ∈ R , so dass P(X ≤ k) ≥ 12 . Hausaufgaben: Aufgabe H4.1 (i) Seien (Ωi , Fi ) für i ∈ {1, 2, 3} Ereignisräume und seien X1 : (Ω1 , F1 ) → (Ω2 , F2 ) und X2 : (Ω2 , F2 ) → (Ω3 , F3 ) Zufallsvariablen. Zeigen Sie, dass X2 ◦ X1 : (Ω1 , F1 ) → (Ω3 , F3 ) eine Zufallsvariable ist. (ii) Seien X, Y reelle Zufallsvariablen auf einem Ereignisraum (Ω, F). Zeigen Sie: (a) (X, Y ) : (Ω, F) → (R2 , B(R2 )), ω 7→ (X(ω), Y (ω)) ist eine Zufallsvariable. (b) X + Y , X · Y und min{X, Y } sind reelle Zufallsvariablen. (c) Y (sin X)2 + (cos X)eX+Y ist eine reelle Zufallsvariable. Hinweis: Sie dürfen folgende Aussage verwenden: Eine Abbildung (Ω, F) → (Rd , B(Rd )) ist bereits dann eine Zufallsvariable, wenn X −1 (A) ∈ F für jede Menge A der Form A = (−∞, a1 ]× . . . × (−∞, ad ] mit a1 , . . . , ad ∈ R gilt. Lösung: (i) Sei A ∈ F3 . Es reicht zu zeigen, dass (X2 ◦ X1 )−1 (A) = X1−1 (X2−1 (A)) ∈ F1 gilt. Da A ∈ F3 und X2 eine Zufallsvariable bezüglich F2 und F3 ist, folgt X2−1 (A) ∈ F2 . Da aber auch X1 eine Zufallsvariable bezüglich F1 und F2 ist, folgt hieraus X1−1 (X2−1 (A)) ∈ F1 . (ii) (a) Seien a, b ∈ R. Laut Hinweis reicht es zu zeigen, dass (X, Y )−1 ((−∞, a] × (−∞, b]) ∈ F gilt. Nun ist aber (X, Y )−1 ((−∞, a] × (−∞, b]) = ω ∈ Ω : (X(ω), Y (ω)) ∈ (−∞, a] × (−∞, b] = {ω ∈ Ω : X(ω) ∈ (−∞, a], Y (ω) ∈ (−∞, b])} = X −1 ((−∞, a]) ∩ Y −1 ((−∞, b]) ∈ F, da X und Y Zufallsvariablen und (−∞, a], (−∞, b] ∈ B(R) sind. (b) Die Abbildungen ρ : R2 → R, (x, y) 7→ x + y, σ : R2 → R, (x, y) 7→ x · y und τ : R2 → R, (x, y) 7→ min{x, y} sind stetig und daher nach Vorlesung Zufallsvariablen bezüglich B(R) und B(R2 ). Nun ist aber X + Y = ρ ◦ (X, Y ), X · Y = σ ◦ (X, Y ) und min(X + Y ) = τ ◦ (X, Y ). Nach (i) und (ii)(a) folgt hieraus die Behauptung. (c) Die Abbildung φ : R2 → R, (x, y) 7→ y(sin x)2 + (cos x)ex+y ist stetig und daher laut Vorlesung eine Zufallsvariable. Analog zu (a) ist folglich auch Y (sin X)2 + (cos X)eX+Y = φ ◦ (X, Y ) eine Zufallsvariable. Anmerkung zum Hinweis: Allgemein gilt folgendes Messbarkeitskriterium für Zufallsvariablen: Seien (Ω1 , F1 ) und (Ω2 , F2 ) zwei Ereignisräume und werde F2 von einem Mengensystem E ⊆ P(Ω2 ) erzeugt, d. h. es gelte F = σ(E). Dann ist X : Ω1 → Ω2 bereits dann eine Zufallsvariable, wenn die Bedingung X −1 (A) ∈ F1 für alle A ∈ E erfüllt ist. Dies beweist man wie folgt: Das Mengensystem A = {A ⊆ Ω2 : X −1 (A) ∈ F1 } bildet eine σ-Algebra, die E umfasst. Da nach Definition F2 die kleinste σ-Algebra mit dieser Eigenschaft ist, folgt F2 ⊆ A, woraus die Behauptung folgt. Zeigt man noch, dass das Mengensystem {(−∞, a1 ]× . . . × (−∞, ad ] : a1 , . . . , ad ∈ R} die Borel-σ-Algebra auf Rd erzeugt, ist die Aussage des Hinweises gezeigt. Aufgabe H4.2 Sei (pn )n∈N eine Folge in [0, 1] mit npn → α für eine Konstante α > 0. Weiter sei (Xn )n∈N eine Folge von Zufallsvariablen auf einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P), wobei Xn Binomial(n, pn )-verteilt ist. Zeigen Sie, dass für jedes k ∈ N0 der Limes limn→∞ P(Xn = k) existiert und bestimmen Sie diesen. Lösung: Sei k ∈ N0 . Dann ist n k P(Xn = k) = p (1 − pn )n−k k n n · (n − 1) · . . . · (n − k + 1) 1 npn n k (1 − pn )−k = (np ) 1 − n k k! n n n n − 1 npn n n−k+1 1 (npn )k · 1 − . = · ... · n n n (1 − pn )k k! n Nach Voraussetzung gilt npn → α und somit limn→∞ pn =x 0. Wir benutzen weiter die xn n = e für xn → x und erhalten aus der Analysis bekannte Identität limn→∞ 1 + n lim P(Xn = k) = e−α n→∞ αk . k! Aufgabe H4.3 Sei X eine reelle Zufallsvariable mit Wahrscheinlichkeitsdichte f (x) = c·(1+x)e−x 1[0,∞) (x), x ∈ R, mit einer Konstante c ∈ R. (i) Bestimmen Sie die Konstante c. (ii) Berechnen Sie die Verteilungsfunktion F von X. (iii) Skizzieren Sie die Dichte f und die Verteilungsfunktion F . (iv) Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeiten P(X = 2), P(1 ≤ X ≤ 2) und P(X < 5). Veranschaulichen Sie diese Wahrscheinlichkeiten in Ihrer Skizze der Dichte f . Lösung: (i) Nach Bermerkung 3.21 gilt: Z Z Z ∞ Z ∞ −x −x 1= f (x) dx = c · (1 + x)e 1[0,∞) (x) dx = ce dx + cxe−x dx R R 0 0 Z ∞ = lim [−ce−x ]a0 + lim [−cxe−x ]a0 − −ce−x dx = c + 0 + c = 2c a→∞ Folglich muss c = a→∞ 1 2 sein. 0 (ii) Die Verteilungsfunktion F von X ist an der Stelle x definitionsgemäß Z x Z x 1 f (y) dy = F (x) = P(X ≤ x) = (1 + y)e−y 1[0,∞) (y) dy 2 Z x −∞ Z x 0 1 −y 1 −y e dy + ye dy = 1[0,∞) (x) 0 2 0 2 Z x 1 −y −y x −y x = 1[0,∞) (x) [−e ]0 + [−ye ]0 − −e dy 2 0 1 = 1[0,∞) (x) 1 − e−x − xe−x . 2 (iii) Skizze der Dichte f und der Verteilungsfunktion F : F 1 f 0 1 2 3 4 5 6 (iv) Die gesuchten Wahrscheinlichkeiten lassen sich mithilfe der Verteilungsfunktion berechnen: \n o 1 1 2− <X ≤2 = lim P 2 − < X ≤ 2 P(X = 2) = P n→∞ n n n∈N 1 = lim P X ≤ 2 − P X ≤ 2 − n→∞ n 1 = lim F (2) − F 2 − = F (2) − F (2) = 0 n→∞ n Im zweiten Schritten haben wir die Stetigkeit des Wahrscheinlichkeitsmaßes P ausgenutzt, vorletzten Schritt die Stetigkeit der Funktion F . Analog ist P(X = 1) = 0 sowie P(X = 5) = 0 und daher P(1 ≤ X ≤ 2) = F (2) − F (1) + P(X = 1) = 1 − e−2 − 1 1 · 2 · e−2 − 1 + e−1 + e−1 2 2 3 = e−1 − 2e−2 2 sowie 5 P(X < 5) = F (5) − P(X = 5) = 1 − e−5 − e−5 . 2 1 1 1 P(1 ≤ X ≤ 2) P(X = 2) P(X < 5) f 0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6 Aufgabe H4.4 Das Bertrandsche Paradoxon: In einem Kreis mit Radius 1 werde rein zufällig eine Sehne gezogen. Betrachten Sie dazu die Fälle: (i) Der Sehnenmittelpunkt ist auf der Einheitskreisscheibe gleichverteilt. (ii) Der Winkel, unter dem die Sehne vom Kreismittelpunkt erscheint, ist auf [0, π] gleichverteilt. (iii) Der Abstand der Sehne vom Kreismittelpunkt ist auf [0, 1] gleichverteilt. Präzisieren Sie jeweils den zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeitsraum. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist die Sehne länger als die Seiten des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks? Bezeichne weiter X den Abstand der zufälligen Sehne vom Kreismittelpunkt. Bestimmen Sie in allen drei Fällen die Verteilungsfunktion der Zufallsvariable X. b Lösung: Das Ereignis, dass die im Kreis gezogene Sehne länger ist als die Seiten des in den Kreis einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks, bezeichnen wir jeweils mit A. (i) Wir wählen als Ergebnisraum Ω = {x ∈ R2 : |x| ≤ 1}, als σ-Algebra F = B(Ω) die Borel-σ-Algebra auf Ω und als Wahrscheinlichkeitsmaß P die Gleichverteilung. Das Ergebnis ω ∈ Ω soll den Mittelpunkt der Sehne beschreiben. Im so definierten Ergebnisraum lässt sich das Ereignis durch A = {x ∈ Ω : |x| ≤ 21 } beschreiben. Es folgt λ2 (A) π/4 1 P(A) = 2 = = . λ (Ω) π 4 (ii) Wir wählen Ω = [0, π], F = B(Ω) und die Gleichverteilung als Wahrscheinlichkeitsmaß P. Das Ergebnis ω ∈ Ω soll den Winkel beschreiben, unter dem die Sehne vom Kreismittelpunkt aus erscheint. Im so definierten Ereignisraum kann , π . Es folgt das betrachtete Ereignis beschrieben werden durch A = 2π 3 P(A) = λ(A) π/3 1 = = . λ(Ω) π 3 (iii) Wir wählen Ω = [0, 1], F = B(Ω) und die Gleichverteilung als Wahrscheinlichkeitsmaß P. Das Ergebnis ω ∈ Ω soll den Abstand der Sehne vom Kreismittelpunkt beschreiben. Im so definierten Ereignisraum kann das betrachtete Ereignis beschrieben werden durch A = 0, 12 . Es folgt P(A) = λ(A) 1/2 1 = = . λ(Ω) 1 2 Als nächstes bestimmen wir die Verteilungsfunktion der Zufallsvariable X in allen drei Fällen: (i) Der Abstand der Sehne p vom Mittelpunkt ist gegeben durch die Zufallsvariable X : Ω → R, (x, y) 7→ x2 + y 2 . Für c ∈ [0, 1] ist die Verteilungsfunktion F (c) = P(X ≤ c) = P (x, y) ∈ R2 : x2 + y 2 ≤ c2 = c2 π = c2 . π Für c < 0 gilt offenbar F (c) = 0 und für c > 1 ist F (c) = 1. (ii) Der Abstand der Sehne vom Mittelpunkt ist gegeben durch die Zufallsvariable X : Ω → R, x 7→ cos x2 . Für c ∈ [0, 1] ist n x o F (c) = P(X ≤ c) = P x ∈ R : cos ≤c = P([2 arccos c, π]) 2 π − 2 arccos c 2 arcsin c = . = π π Für c < 0 gilt wieder F (c) = 0 und für c > 1 ist F (c) = 1. (iii) Der Abstand der Sehne vom Mittelpunkt ist hier durch die Identität X : Ω → R, x 7→ x gegeben. Für c ∈ [0, 1] ist die Verteilungsfunktion F (c) = P(X ≤ c) = P({x ∈ R : x ≤ c}) = c. Für c < 0 gilt erneut F (c) = 0 und für c > 1 ist F (c) = 1.