Lila Reihe Ernährung in der Onkologie Gudrun Zürcher © Nutricia 6. Auflage Juni 2016 Ernährung in der Onkologie Verantwortliche Autorin: Dr. med. Gudrun Zürcher Medizinische Universitätsklinik Abteilung Innere Medizin I Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie Sektion Ernährungsmedizin und Diätetik Hugstetterstraße 55 79106 Freiburg [email protected] Unter Mitarbeit von: Prof. Dr. rer. nat. Dorothee Volkert Institut für Biomedizin des Alterns Universität Erlangen-Nürnberg Kobergerstraße 60 90408 Nürnberg [email protected] Inhalt 1Einleitung 6 2 Grundlagen der Onkologie 7 2.1 Epidemiologie von Krebserkrankungen 7 2.2 Tumorentstehung und Tumorwachstum 8 2.3 Rolle der Ernährung bei der Tumorentstehung 12 2.4 Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos 18 3 Mangelernährung bei Tumorpatienten 20 3.1 Definition 20 3.2 Häufigkeit von Mangelernährung bei Tumorpatienten 21 3.3 Folgen von Mangelernährung bei Tumorpatienten 22 3.4 Ursachen von Mangelernährung bei Tumorpatienten 23 3.4.1 Unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme 23 3.4.2 Stoffwechselstörungen 32 3.5 Erfassung und Diagnose von Mangelernährung 33 4 Ernährung bei Tumorerkrankungen 35 4.1 Empfehlungen zur Ernährung bei Tumorerkrankungen 35 4.1.1 Allgemeines 35 4.1.2 Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffzufuhr 37 4.1.3 Bedeutung der Ernährungsberatung 39 4.1.4 Die sogenannten „Krebsdiäten“ 39 4.2 41 Grundlagen der Ernährungstherapie 4.2.1 Allgemeines 41 4.2.2 Ziele 41 Inhalt 4.2.3 Indikationen 42 4.2.4 Formen der Ernährungstherapie 42 4.2.5 Refeeding-Syndrom 44 4.2.6 Förderung des Tumorwachstums durch Ernährungstherapie? 45 4.3 45 Ernährung bei Operationen 4.3.1 Indikationen 45 4.3.2 Art der Nahrung 47 4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien 48 4.4 Ernährung bei Chemotherapie 58 4.5 Ernährung bei Radio- und Radio-/Chemotherapie 61 4.6 Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation: Knochenmarktrans­plantation (KMT), autologe und allogene hämatopoetische Zelltransplantation (HZT) 62 4.7 Ernährung mit speziellen Substraten 64 4.8 Medikamentöse Therapie zur Stoffwechselmodulation 64 5 Ernährung nach der Tumortherapie 65 6 Ernährung in der Palliativsituation 66 6.1 Enterale und parenterale Ernährung außerhalb antitumoraler Therapie 66 6.2 Ernährung in der Sterbephase 67 Weiterführende Literatur 68 Seite 6 1Einleitung Tumorerkrankungen sind mit 26 % nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen (45 %) die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Bei vielen Krebserkrankungen ist die Ernährung in allen Phasen der Erkrankung von Bedeutung: bei der Entstehung, als unterstützende Maßnahme bei den Behandlungen und in der Erholungsphase, bei Langzeitproblemen mit der Ernährung und bei einem Teil der Tumore, um das erneute Auftreten der Erkrankung zu ver­zögern oder zu ver­hindern. Ziel unseres Leitfadens ist es, den Patienten zu ihren möglichen Problemen ­Lösungen aufzuzeigen und häufig ge­stellte Fragen zu beantworten. Wir möchten aber auch den Angehörigen und den Betreuenden aus allen Fachgebieten das Thema „Ernährung und Onkologie“ nahe bringen. Aus lang­ jähriger Erfahrung wis­sen wir, wie wichtig die Ernährung für an Krebs erkrankte Patienten ist. Wissenschaftliche Grundlage der Aus­ führungen zur Prävention von Krebserkrankungen ist die Dokumentation des World Cancer Research Funds und des American Institute for Cancer Research „Nahrung, Ernährung, Bewegung und die Prävention von Krebs: eine globale Perspektive“ („Food, Nutrition, Physical Activity and the Prevention of Cancer: a Global Perspective“), die im November 2007 zum zweiten Mal erschienen ist. Von besonderem Interesse sind auch die Ergebnisse der seit 1992 in 23 Zentren in 10 europäischen Ländern durchgeführten EPIC-Studie („European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition“), an der aus Deutschland über 50.000 Personen aus zwei Zentren (Heidelberg und Potsdam) teilnehmen. Die Erkenntnisse zur Ernährung während und nach der Tumortherapie basieren überwiegend auf den evidenzbasierten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) und der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN), ergänzt durch aktuelle Fachliteratur. In die Empfehlungen eingeflossen ist aber auch die Erfahrung aus der jahrelangen ernährungsmedizinischen Betreuung von Tumorpatienten. Seite 7 2 Grundlagen der Onkologie 2.1 E pidemiologie von Krebserkrankungen lung zur Früherkennung eines Rezidivs, aber auch zur Minderung eines Rezidivrisikos. Was ist Krebs? Die Epidemiologie in der Onkologie gibt Auskunft über die Häufigkeit des Auftretens und die geographische Verteilung von Krebserkrankungen und untersucht mögliche Zusammenhänge zwischen dem Auftreten einzelner Erkrankungen und Risikofaktoren. Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden Vorsorgemaßnahmen abgeleitet. Unterschieden werden die primäre Prävention, die eine Tumor­entstehung verhindern soll, die sekun­däre Prävention, die Tumorfrüherkennung, und die tertiäre Prävention, die Nachsorge nach einer Tumorbehand- Krebs ist eine Gruppe von mehr als 100 Krankheiten, die als Folge von Veränderungen der genetischen Information der Zellen durch ein unkontrolliertes Wachstum gekennzeichnet ist. Krebs greift viele verschiedene Gewebe und Zellarten an. Wenn er bösartig ist, wächst er in das umgebende Gewebe ein und kann in einem vom Ort der Entstehung entfernten Gewebe weitere Tumore, so genannte Metastasen, bilden. Männer Frauen Prostata 25,4 27,8 16,2 Darm 14,3 Lunge 9,3 Harnblase* 4,8 Magen 4,7 Niere Mundhöhle und Rachen 3,3 Non-Hodgkin-Lymphome 2,9 M. Malanom der Haut 2,8 Bauchspeicheldrüse 2,7 Leukämien 2,1 Hoden 2,1 Speiseröhre 1,7 Kehlkopf n = 230 500 Schilddrüse 2002: n = 218 250 Morbus Hodgkin 17,5 Schätzung der Dachdokumentation Krebs im Robert-Koch-Institut 25 20 15 10 5 Brustdrüse Darm Lunge Gebärmutterkörper 4,7 Eierstöcke 4,1 M. Malanom der Haut 3,8 Magen 3,6 Harnblase* 3,2 Bauchspeicheldrüse 3,2 Niere 3,0 Gebärmutterhals 2,9 Non-Hodgkin-Lymphome 2,1 Leukämien 1,7 Schilddrüse n = 206 000 Mundhöhle und Rachen 2002: n = 206 000 Speiseröhre Morbus Hodgkin Kehlkopf * ohne nicht melanotischen Hautkrebs 6,4 5,7 0 0 5 10 15 20 25 30 RKI 2008 Abbildung 1: Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen an allen Krebsneuerkrankungen* in Deutschland 2004 Seite 8 Nach Schätzung der Dachdokumentation Krebs im Robert-Koch-Institut von 2008 sind in Deutschland 2004 insgesamt 436.500 Krebsneuerkrankungen aufgetreten, 230.500 bei Männern und 206.000 bei Frauen. Gegenüber der Schätzung von 2002 waren das bei den Männern 12.250 Neuerkrankungen mehr. Bei den Frauen war die Anzahl der Neuerkran­kungen gegenüber 2002 unverändert (Abbildung 1). Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit bei den Männern an zehnter und bei den Frauen an elfter Stelle der Häufigkeit von Neuerkrankungen. An Krebs verstorben sind 2004 110.745 Männer, 1.114 mehr als 2002. Von den an Krebs erkrankten Frauen verstarben 2004 dagegen 1.866 Frauen weniger als 2002 (98.079 versus 99.945 Frauen). Bei den Tumorneuerkrankungen steht an erster Stelle bei den Männern der Prostata­ krebs, bei den Frauen der Brustkrebs, bei beiden Geschlechtern gefolgt von den Darmtumoren an zweiter und dem Lungen­ krebs an dritter Stelle (Abbildung 1). Betrachtet man die Krebssterbefälle, so versterben die Männer am häufigsten an Lungenkrebs, die Frauen an Brustkrebs. Zweithäufigste Krebstodesursache ist der Darmkrebs, und erst an dritter Stelle bei den Männern der Prostatakrebs und bei den Frauen der Lungenkrebs. 2.2 Tumorentstehung und Tumorwachstum Die Zellen jedes Lebewesens befinden sich in einem genau geregelten Gleichgewicht von Wachstum (Proliferation), zellulärer Spezialisierung (Differenzierung) und Zelltod (Apoptose beziehungsweise Nekrose). Diesen Erscheinungsformen einer Zelle liegen genau festgelegte genetische Anleitungen zugrunde, die das Wachstumsverhalten und den Ablauf der Zellteilung (Zellzyklus) steuern. Diese genetischen Programme werden wesentlich durch Signale außerhalb der Zelle beeinflusst. Sie bestimmen die Aktivität der Gene einer Zelle. Eine Fehlregulation der Genaktivität, bedingt durch Veränderungen (Mutationen) von Struktur und Funktion des im Zellkern enthaltenen DNS (Desoxyribonukleinsäure)-Erbmaterials kann zu einem unkontrollierten Zellwachstum führen. Zudem unterstützt jeder Mechanismus, der das Überleben DNSgeschädigter Zellen erhöht, zum Beispiel durch Verhindern des apoptotischen Todes solcher Zellen, den Prozess der Krebsentstehung, der Kanzerogenese. Bösartige (maligne) Tumoren entstehen in mehreren Schritten, sogenannte Mehr­ schritt-Theorie der Krebsentstehung (Abbildung 2). Diese Schritte entsprechen jeweils dem Auftreten zusätzlicher Zellschädigungen. Substanzen, die schon in sehr geringen Mengen bleibende DNSVeränderungen hervorrufen, werden als Initiatoren oder Karzinogene bezeichnet. Vorstufen von Karzinogenen, sogenannte Pro-Karzinogene, rufen selbst keine Schäden hervor, können aber im Organismus durch enzymatische Umsetzung in Karzinogene Seite 9 Normale Zelle Prä neoplastische Zelle Dysplasie Maligne Zelle Neoplasie Generalisierung Initiation Promotion Transformation Progression Invasion Metastase Genetische Veränderung • erblich • Chemikalien • Strahlen • Bakterien, Viren, Pilze Klonale Expansion • endokrin • Entzündung • Ernährung Genetische Veränderung • Telomerase • Onkogene • Suppressorgene • Apoptosestörung Genetische Veränderung • Wachstumsfaktoren • Heterogenität Genetische Veränderung • Angiogenese • Proteinasen • Matrixproteine Berger, Martens 2008 Abbildung 2: Modell der Mehrschrittkarzinogenese umgewandelt werden und außerdem die krebserzeugende Wirkung anderer Substanzen verstärken. Am Anfang einer Tumorentwicklung steht die Initiation, die irreversible Veränderung der molekularen Struktur der DNS einer einzelnen normalen, differenzierten und teilungskontrollierten Zelle durch chemische, physikalische und/oder biologische Karzinogene. Chemische Karzinogene sind zum Beispiel reaktive Sauerstoffspezies, auch als „Sauerstoffradikale“ bezeichnet. Diese entstehen normalerweise im Organismus in den Mitochondrien als Nebenprodukt der Zellatmung, aber auch in Lymphozyten zur Keimabwehr. Weitere chemische Karzinogene sind Nitrosamine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Mykotoxine (to­xische Stoffwechselprodukte von Schimmelpilzen), Formaldehyd, Asbest und Medikamente. Eine bedeutende Quelle für reaktive Sauerstoffspezies ist der Zigarettenrauch. Physikalische Kanzerogene sind ionisierende, radioaktive und UV-Strahlung. Biologische Karzinogene sind Bakterien, Viren und Pilze, insbesondere bei chronischen Infekten. Beispiele hierfür sind Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus als Ursache für das Burkitt-Lymphom, mit Helicobacter pylori als Ursache für Magenkarzinome und MALT-Lymphome des Magens, mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) für Lymphome und mit humanen Papillomviren als Ursache für das Gebärmutterhalskarzinom. Wird die initiierte Zelle nicht repariert oder zerstört, kommt es durch die Zell­ teilung zu einer Vermehrung des neu gebildeten veränderten Zellklons. Seite 10 Im Mittelpunkt der Krebsentstehung stehen vier Klassen von Genen: Protoonkogene, Tumorsuppressorgene, Apoptose-regulierende Gene und DNS-Reparaturgene. Protoonkogene sind normale Gene, die physiologische Vorgänge wie das Wachstum und die Spezialisierung der Zellen regulieren. Durch Mutationen entstehen Onkogene, wodurch veränderte Proteine, sogenannte Onkoproteine, gebildet werden. Die Folge sind vielfältige Störungen der normalen Regulationsmechanismen und Signalwege. Tumorsuppressorgene oder Anti-Onko­gene haben in normalen Zellen eine wachs­tums­ hemmende Wirkung. Kommt es zu einem Funktionsverlust, entsteht ein Verlust der Wachstumskontrolle. Apoptose-regulierende Gene sorgen für den programmierten Zelltod, die „Apoptose“. Eine gestörte Apoptose und damit eine unvollständige Beseitigung veränderter Zellen ist eine wesentliche Ursache einer Tumorentstehung. DNS-Reparaturgene sind für die Repa­ratur der auch in einem gesunden Organismus aufgrund von Fehlern bei der Vervielfältigung der DNS oder durch mutagene Effekte (zum Beispiel durch chemische oder physikalische Karzinogene) immer wieder entstehenden genetischen Defekte verantwortlich. Entsprechende Reparaturenzyme entfer­nen die fehlerhaften Abschnitte aus der DNS und ersetzen sie durch die richtigen Folgen. Ist die Funktion dieser Repara­turenzyme vermindert, häufen sich Basenfehlpaarungen, es kommt zu einer genetischen Instabilität, einem sogenannten „Mutatorphänotyp“. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit für Mutationen an Onkogenen und TumorSuppressor-Genen und auch das Risiko für Zellentartungen. Um eine Krebserkrankung entstehen zu lassen, reicht die Initiation nicht aus. Bleibt eine initiierte Zelle erhalten, ist der nächste Schritt zur Krebsentwicklung die klonale Expansion einer zunächst noch homogenen Zellpopulation während der Promotion. Je größer die Anzahl initiierter Zellen ist, umso größer ist das Risiko einer Tumorprogression. Promotoren wie Hormone, Wachstumsfaktoren, in dieser Phase besonders auch Ernährungsfaktoren und nicht genotoxische Karzinogene, die keine gezielte Mutation im Genom auslösen, aber das Wachstum stimulieren, wirken als Wachstumsförderer für die entarteten Zellen. Promotoren stören die metabolische Zellkooperation initiierter Zellen mit Nachbarzellen, indem sie die physiologische interzelluläre Kommunikation über die Kanalverbindungen zwischen den Zellen, die „gap junctions“, unterbrechen. Gap junctions ermöglichen ein konstantes Milieu und eine geordnete Stoffwechsel­ koordination. Der Informationsfluss dient als Kontrolle für das Wachstum initiierter Zellen. Da er durch den Einfluss von Promotoren unterbrochen wird, können die Zellen im proliferativen Stadium bleiben. Damit regen die Promotoren das Wachstum entarteter Zellen an. Oft entstehen dabei zunächst präkanzeröse Veränderungen, zum Beispiel intraepitheliale Neubildungen, Fehlbildungen oder Adenome (gutartige von Drüsen Seite 11 oder Schleimhäuten ausgehende Tumore). Bricht der Kontakt einer Zelle mit dem Promotor ab, bevor sie sich vermehren kann, unterbleibt die Tumorzellbildung. Somit müssen Promotoren vom Initiationsereignis an bis zur klinischen Manifestation des Tumors andauernd vorhanden sein. Während der Vorgang der Initiation ein einmaliges Ereignis ist und nur eine kurze Zeitspanne umfasst, kann die Promotion über Jahre bis Jahrzehnte dauern. Infolge weiterer Veränderungen der DNS kommt es schließlich zur Konversion in maligne Zellen mit dem Erwerb tumorbiologischer Eigenschaften (Transformation). Zu diesen Eigenschaften gehören eigene Wachstumssignale, Unempfindlichkeit gegenüber Antiwachstumssignalen, eine unbegrenzte Möglichkeit zur Vervielfältigung (Replikation), das Umgehen des program­ mierten Zelltodes (Apoptose), eine ununter­ brochene Neubildung von Gefäßen (Angiogenese) und das Einwachsen (Invasion) in das umgebende Gewebe. Aus dieser Transformation entwickelt sich letztlich eine weitere Progression mit Ausbildung von Tochtergeschwülsten (Metastasen) und Ausbreitung im ganzen Körper (Abbildung 2). Die Bildung von Blutgefäßen bei Erwach­ senen ist ziemlich konstant und eng durch ein Gleichgewicht zwischen die Gefäß­ bildung fördernden und hemmenden Faktoren kontrolliert. Ab einer Größe von 1 bis 2 mm können sich Tumore zur Weiter­entwicklung nicht mehr aus der Umgebung durch Diffusion mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen, sie brauchen die Fähigkeit zur Bildung von Blutgefäßen. Die Bildung tumoreigener Blutgefäße wird teilweise von den Tumorzellen selbst, teilweise aber auch von Entzündungszellen in der Umgebung des Tumors beeinflusst. Der Vorgang des Einwachsens eines Tumors in das umgebende Gewebe (Invasion, Infiltration) erfolgt in vielen Schritten und führt schließlich zu einer Zerstörung des Normalgewebes. Tumorzellen bilden Enzyme, die die Gewebematrix auflösen und ihnen erlauben, in das angrenzende Gewebe einzudringen. Dazu haben sie die Fähigkeit zum Einwandern erworben. Die Metastasenbildung schließlich erfolgt durch Einbrechen in Lymph- und/oder Blutgefäße (lymphogene bzw. hämatogene Aussaat), teilweise auch über Körperhöhlen (kavitäre Aussaat). Seite 12 2.3 Rolle der Ernährung bei der Tumorentstehung Unter den Risikofaktoren für eine Tumor­ entstehung werden innere (endogene) und äußere (exogene) Ursachen unterschieden. Zu den inneren Ursachen gehören beispiels­ weise das Alter, eine ererbte genetische Disposition, Erkrankungen mit einem erhöhten Krebsrisiko (zum Beispiel die Colitis ulcerosa oder Dickdarmpolypen), oxidativer Stress oder eine chronische Entzündung. Unter den äußeren oder UmweltFaktoren sind Ernährung und Bewegung sowie Rauchen für die Krebsentstehung von besonderer Bedeutung. Der Einfluss einzelner Ernährungsfaktoren für die Entstehung der verschiedenen Tumore ist dabei sehr unterschiedlich. Überschätzt für die Krebsentstehung wird die Bedeutung von Lebensmittelzusatzstoffen, Arzneimitteln, ionisierenden Strahlen, Industrie­ abfällen und der Umweltverschmutzung. Über die Zusammenhänge zwischen der Ernährung und dem Krebsgeschehen gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen, die zeigen, dass Nährstoffe und Nahrungs­ inhaltstoffe die grundlegenden zellulären Vorgänge in allen Stadien einer Tumor­ entwicklung fördernd und hemmend beeinflussen. Bereits zweimal, 1997 und 2007, haben der World Cancer Research Fund (WCRF) und das American Institute for Cancer ­Research auf der Grundlage wissen- schaftlicher Veröffentlichungen einen umfangreichen Bericht über den Zusammenhang zwischen Ernährung, Bewegung und Krebsprävention veröffentlicht und auch daraus abgeleitete Ernährungsempfehlungen ausgesprochen. Dabei wird deutlich, dass eine „gute“ Ernährung – definiert als angemessene Versorgung mit Nahrung und Nährstoffen des gesam­ten Körpers bis hin zur zellulären und intrazellulären Ebene – für einen normalen Aufbau und eine normale Funktion bereits vor der Geburt notwendig ist. Ist eine Person nicht geeignet ernährt, entweder durch Unteroder Überernährung, hat das Auswirkungen auf die Mikroumgebung des Gewebes durch Beeinträchtigung von Struktur und Funktion. Von besonderem Interesse sind die Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen im Bezug auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung einzelner Tumore und Ernährungsfaktoren, vor allem auch einzelner Lebensmittel, Lebensmittelgruppen und Nahrungsinhaltstoffe. Dazu ist in den letzten Jahren eine Fülle von Arbeiten verschiedener Arbeitsgruppen erschienen, u. a. auch von den beiden an der EPIC-Studie (European Prospective into Cancer and Nutrition-Studie) beteiligten deutschen Zentren. Die bis Ende 2005 vorliegenden Studien sind im o. g. Bericht des WCRF zusammengefasst. Seite 13 In Deutschland wurden in den Ernährungsberichten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) 2004 und 2008 die Beziehungen zwischen ausgewählten Lebensmittelgruppen und Nährstoffen sowie der Entstehung von Organtumoren auf der Grundlage von Veröffentlichungen bis 2007 dargestellt und bewertet. In allen Berichten erfolgt die Bewertung der Studienergebnisse auf der Basis der Einteilung des Grades der Beweise (Evidenz) nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Danach werden die Beweise folgen­ dermaßen eingeteilt: • überzeugende Beweise für eine risikobeeinflussende Wirkung, • wahrscheinliche Beweise für eine risikobeeinflussende Wirkung, • mögliche Beweise für eine risiko­ beeinflussende Wirkung und • unzureichende Beweise für eine risikobeeinflussende Wirkung. Die risikobeeinflussende Wirkung kann dabei risikosteigernd oder risikosenkend sein. Empfehlungen zur Verminderung der Krebsinzidenz werden nur aufgrund überzeugender und wahrscheinlicher Beweise für eine Beeinflussung des Krebsrisikos gegeben. Tabelle 1 gibt die verschiedenen Evidenzgrade zwischen Ernährungsfaktoren und der Entstehung bösartiger Tumore in verschiedenen Organen auf der Grundlage des WCRF-Berichtes 2007 und des Ernährungsberichtes 2008 wieder. Seite 14 Steigerung des Krebsrisikos Betroffenes Organ Senkung des Krebsrisikos Bauchspeicheldrüse Bewegung Obst Lebensmittel mit Folat Blase Obst Brust Bewegung (postmenopausal) Bewegung (prämenopausal) Dickdarm Bewegung Obst und Gemüse Knoblauch Milch und Milchprodukte Ballaststoffe Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren �� � � � � � � � � � � � allgemeines und abdominelles Übergewicht Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren Enddarm Bewegung (weniger stark als Dickdarm) Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Knoblauch Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren Ballaststoffe ��� allgemeines und abdominelles Übergewicht Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren � � �� allgemeines Übergewicht abdominelles Übergewicht Fleisch (rot) � �� � �� �� �� � � � allgemeines Übergewicht (postmenopausal) Alkohol abdominelles Übergewicht (postmenopausal) Fleisch (rot) Fleischwaren Eier Fett gesättigte Fettsäuren (postmenopausal) Eierstöcke Gebärmutter (Hals und Schleimhaut) Bewegung �� allgemeines Übergewicht abdominelles Übergewicht Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko für einzelne Krebsarten Seite 15 Keine Beziehung zu einem Krebsrisiko ��� �� � Fett gesättigte Fettsäuren Unzureichende Hinweise auf Beeinflussung des Krebsrisikos �� �� Alkohol, Gemüse, Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Eier, langkettige ω-3-Fettsäuren, Milch, Milchprodukte, Ballaststoffe, Glykämischer Index Alkohol, Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch, Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index, Alkohol ��� ��� �� Obst und Gemüse Fischverzehr Ballaststoffe (postmenopausal) � � � Geflügel, langkettige ω-3-Fettsäuren, Milch, Milchprodukte, Glykämischer Index � � � � � ��� ��� �� �� ��� ��� �� �� ��� �� Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index �� �� � Geflügel, Eier Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index �� �� � Geflügel, Eier Fett gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol �� �� � � Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Ballaststoffe, Glykämischer Index Fett (Schleimhaut) gesättigte Fettsäuren (Schleimhaut) �� �� Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Ballaststoffe, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett (Hals), gesättigte Fettsäuren (Hals), langkettige ω-3-Fettsäuren, Alkohol, Glykämischer Index Seite 16 Betroffenes Organ Steigerung des Krebsrisikos Senkung des Krebsrisikos Leber Alkohol Lunge Bewegung Obst Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden � �� � �� Magen Ballaststoffe Grünes Gemüse Zwiebelgemüse � �� �� Alkohol Salz Fleischwaren Mund und Rachen Obst und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden �� �� �� Alkohol Niere Obst und Gemüse Prostata Speiseröhre � Allgemeines Übergewicht Lebensmittel mit Lycopen Lebensmittel mit Selen �� �� Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Beta-Carotin Lebensmittel mit Vitamin C � � � � Alkohol Allgemeines Übergewicht Fleisch (rot) Fleischwaren � � � � Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko für einzelne Krebsarten � � � (� � �) überzeugende Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt � � (� �) wahrscheinliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt �(�) mögliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt �(� �) mögliche (wahrscheinliche) Evidenz für keine Veränderung des Krebsrisikos Seite 17 Keine Beziehung zu einem Krebsrisiko Unzureichende Hinweise auf ein Krebsrisiko Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index ��� Fett gesättigte Fettsäuren Alkohol �� �� � Glykämischer Index �� �� � � � ��� ��� � � Fleisch (rot), Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index ��� ��� Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index Alkohol �� Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index Fisch Fett gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol � �� �� � � Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Geflügel, Eier, Ballaststoffe, Glykämischer Index Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe, langkettige ω-3-Fettsäuren, Glykämischer Index WCRF 2007, Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 2008 Seite 18 2.4 Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos Der World Cancer Research Fund (WCRF) und das American Institute for Cancer Research (AICR) haben in ihrem zweiten, im November 2007 veröffentlichten Bericht zur Krebsprävention die folgenden persön­ lichen Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos zusammengestellt: 1. Bleiben Sie so schlank wie möglich! 2. Beziehen Sie körperliche Aktivität in Ihren Alltag ein! 3. Begrenzen Sie den Verzehr energiedichter Lebensmittel (> 225 kcal/100 g). Meiden Sie zuckerhaltige Getränke! 4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs! 5. Schränken Sie den Verzehr von rotem Fleisch ein und meiden Sie verarbeitetes Fleisch! 6. Begrenzen Sie den Konsum alkoholischer Getränke! 7. Begrenzen Sie den Salzkonsum und meiden Sie den Konsum von verschimmeltem Getreide, Getreide­ produkten und Hülsenfrüchten! 8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die normale Ernährung zu decken! 9. Sonderempfehlungen 1. Bleiben Sie so schlank wie möglich! Die Energiezufuhr soll so gestaltet wer­den, dass Übergewichtige ihr Gewicht allmäh­lich dauerhaft vermindern, nor­malgewichtige Patienten ihr Gewicht halten, und unter­ gewichtige Patienten ihr „persönliches Normalgewicht“ wieder erreichen. Bei Übergewicht empfiehlt es sich, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um einseitige und Crash-Diäten zu vermeiden, da diese nicht dauerhaft eingehalten werden können und es regelmäßig erneut zu einer Gewichtszunahme kommt. 2. Beziehen Sie körperliche Aktivität in Ihren Alltag ein! • Mindestens 30 Min./Tag moderate körperliche Aktivität (z.B. schnelles Gehen) • Ziel bei verbesserter Leistungsfähigkeit: mindestens 60 Min./Tag moderate oder mindestens 30 Min./Tag intensive körperliche Aktivität 3. Begrenzen Sie den Verzehr energiedichter Lebensmittel (> 225 kcal/100 g). Meiden Sie zuckerhaltige Getränke! • Seltener Verzehr energiedichter Lebensmittel • Meiden zuckerhaltiger Getränke • Seltener Verzehr von Fast Food, wenn überhaupt Seite 19 4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs! • Täglicher Verzehr von mind. 5 Portionen mit mind. insgesamt 400 g Gemüse und Obst • Verzehr von mind. 25 g Ballastoffen/ Tag bei einer Zufuhr von relativ unver­ arbeiteten Getreideprodukten und/oder Hülsenfrüchten zu jeder Mahlzeit 5. Schränken Sie den Verzehr von rotem Fleisch ein und meiden Sie verarbeitetes Fleisch! • Pro Woche nicht mehr als ein Verzehr von 500 g Fleisch und Fleischwaren, davon wenig, wenn überhaupt, verarbeitet (geräuchert, gepökelt) 6. Begrenzen Sie den Konsum alkoholischer Getränke! • Konsum für Männer: nicht mehr als zwei Gläser/Tag • Konsum für Frauen: nicht mehr als ein Glas/Tag (1 Glas Wein = ca. 10-15 g reiner Alkohol) • Kinder und Schwangere sollen Alkohol meiden 7. Begrenzen Sie den Salzkonsum und meiden Sie den Konsum von verschimmeltem Getreide-/Getreideprodukten und Hülsenfrüchten! • Salzaufnahme von max. 6 g/Tag • Vermeiden gepökelter, gesalzener oder salziger Lebensmittel • Lebensmittel ohne Salz haltbar machen 8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die normale Ernährung zu decken! • Keine Empfehlung von Nahrungsergänzungsmitteln 9. Sonderempfehlungen • Säuglinge sollten sechs Monate ausschließlich gestillt werden, auch um das spätere Krebsrisiko von Mutter und Kind zu verringern • Krebskranke sollten, wenn es keine andersartigen Empfehlungen gibt, die genannten Empfehlungen für Ernährung, Körpergewicht und körperliche Aktivität ebenfalls einhalten. Seite 20 3 Mangelernährung bei Tumorpatienten 3.1 Definition Als Mangelernährung wird ein anhaltendes Defizit an Energie und/oder Nährstoffen im Sinne einer negativen Bilanz zwischen Aufnahme und Bedarf mit negativen Auswirkungen auf Ernährungszustand, physiologische Funktionen und Gesundheitszustand verstanden. Neben einem geringen Körpergewicht ist ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust ein zentrales Kriterium für Mangelernährung. Nach einer Definition der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) besteht bei Tumorpatienten eine Mangel­ ernährung (engl.: malnutrition) in Form eines „krankheitsassoziierten Gewichtsverlustes“, „eines ungewollten, signifikanten Gewichtsverlustes mit Zeichen der Krankheitsaktivität“ („unintended weight loss wasting“). Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust über 10 % in den vergangenen 6 Monaten gilt als schwere Mangel­ernährung. Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust selbst kann Ausdruck der Krankheitsaktivität beziehungsweise erstes Symp­tom einer gravierenden Erkrankung sein. Auch Personen mit einem normalen oder erhöhten BMI können in Zusammenhang mit einem Gewichtsverlust einen klinisch bedeutsamen Verlust an Magermasse haben. Da der BMI das Ausmaß einer Mangel­ ernährung nur unzureichend wiedergibt, ist er für Tumorpatienten kein guter Parameter zur Bestimmung der Mangelernährung (vergleiche Kap. 3.5 Diagnose von Mangel­ ernährung). Ein Gewichtsverlust ist auch bei adipösen Tumorpatienten prognostisch ungünstig. Ein Gewichtsverlust von 40 % der fettfreien Körpermasse ist mit dem Leben nicht mehr vereinbar. Ein schwerer Gewichtsverlust bei Tumor­ patienten wird häufig als „Kachexie“ (griechisch: „schlechter Zustand“) bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings unscharf und wird uneinheitlich verwendet. Einer neueren Definition zufolge besteht eine Kachexie beim Vorliegen eines ödemfreien Gewichtsverlustes von mindestens 5 % in 12 Monaten oder weniger (bei Tumorpatienten 3-6 Monate!) bei einer zugrunde liegenden Erkrankung sowie dem Vorhandensein von mindestens drei der folgenden Kriterien: • eine verminderte Muskelkraft • „Fatigue“ (anhaltende Erschöpfung und Müdigkeit) • „Anorexie“ (Gesamtenergieaufnahme unter 20 kcal/kg Körpergewicht und Tag, < 70 % der üblichen Nahrungsaufnahme oder ein schlechter Appetit) • eine geringe fettfreie Körpermasse • erhöhte inflammatorische Marker (CrP > 5,0 mg/dl, IL-6 > 4,0 pg/ml), Anämie (Hb < 12 g/dl) oder erniedrigtes Serum-Albumin (< 3,2 g/dl) Seite 21 3.2 Häufigkeit von Mangelernährung bei Tumorpatienten Die Angaben zur Häufigkeit einer Mangelernährung bei Tumorpatienten liegen zwischen 30 und 90 %, in Abhängigkeit von der Art, der Lokalisation und dem Stadium der Tumorerkrankung und der Tumortherapie. Ein ungewollter Gewichtsverlust ist oft der erste Hinweis auf eine Krebserkrankung. In der größten europäischen Untersuchung zum Gewichtsverlust in den sechs Monaten vor der Diagnosestellung hatten je nach Tumorart 32 bis 87 % von über 3400 Tumor­patienten an Gewicht verloren. Am seltensten an Gewicht verloren hatten die Patienten mit einer Blutkrebs-Erkrankung, Brustkrebs und Sarkomen, während von den Patienten mit Tumoren des MagenDarm-Traktes (Bauchspeicheldrüsen-, Magenkarzinome) bis 87 % Gewichtsverluste zeigten. Patienten mit Dickdarm-, Prostata- und Lungentumoren lagen mit einer Häufigkeit von 54 bis 61 % dazwischen. Mit einem Gewichtsverlust von über 10 % vom gesunden Ausgangsgewicht waren 16 % der Patienten bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung schwer mangelernährt. Vorläufige Ergebnisse einer prospektiven italienischen Untersuchung ambulanter Tumorpatienten – bisher 1000 Patienten aus 12 Zentren – ergaben eine schwere Mangelernährung mit einem Gewichtsverlust von über 10 % bei 40 % der Patienten. Bei Anwendung des „Nutritional Risk Scores“ (NRS ≥ 3 – siehe Kap. 3.5 Erfassung und Diagnose von Mangelernährung) hatten 34 % der Patienten ein Ernährungsrisiko. Der Gewichtsverlust war größer bei Tumoren im oberen Magen-Darm-Trakt, im fortgeschrittenen Tumorstadium und bei Patienten mit einem schlechten „Performance Status“ (Skala zur Beurteilung des Allgemeinzustandes von Tumorpatienten). Der Bedarf an Ernährungsinterventionen war besonders hoch bei Speiseröhrenund Bauchspeicheldrüsentumoren und wieder bei Patienten mit schlechtem „Performance Status“. Das Ausmaß des Gewichtsverlustes korrelierte gut mit der Schwere der Appetitlosigkeit (Anorexie) der Patienten. Die meisten Patienten mit keinem oder einem Gewichtsverlust unter 10 % waren nicht appetitlos. In einer großen, multizentrischen deutschen Erhebung zur Häufigkeit der Mangelernährung im Krankenhaus nahmen nach den geriatrischen Patienten mit 56 % die Tumorpatienten mit 38 % den zweiten Rang ein. Eine weitere Untersuchung zum Vorliegen einer Mangelernährung in einem deutschen Krankenhaus der Maximalversorgung ergab bei 24 % der 1308 untersuchten internistischen Patienten Zeichen einer Mangelernährung. Bei den Patienten mit gutartiger Erkrankung lag diese Rate bei 16 %, während 53 % der Tumorpatienten mangelernährt waren. Im Verlauf ihres Krankenhausaufenthaltes verlieren etwa 45 % der Tumorpatienten über 10 % ihres Gewichtes. In einer Untersuchung von ambulanten und stätionären Patienten mit fortgeschrittenem metastasiertem Tumorleiden war das häufigste Symptom ein Gewichtsverlust bei 85 % der Patienten. 71 % dieser Patienten hatten über 10 % ihres Gewichts vor der Diagnose der Erkrankung verloren. Seite 22 Obwohl bei fortgeschrittener Tumorerkrankung die Mehrzahl der Erkrankten mangelernährt ist, besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Ernährungs­ zustand und der Größe, der Ausbreitung und dem Differenzierungsgrad des Tumors sowie der Erkrankungsdauer. Somit ist das Auftreten einer Mangelernährung in jedem Stadium der Erkrankung möglich und im Einzelfall nicht vorhersehbar. 3.3 Folgen von Mangelernährung bei Tumorpatienten Mangelernährung hat einen ungünstigen Einfluss auf die Körperzusammensetzung, Krankheitshäufigkeit, Sterblichkeit und Lebensqualität von Tumorpatienten. Die bei onkologischen Patienten auftretenden Änderungen der Körperzusammensetzung unterscheiden sich von den Veränderungen im Hungerzustand. Im Hungerzustand wird vorwiegend Körperfett abgebaut und die Muskelmasse bewahrt. Tumorpatienten verlieren dagegen Körper­ fett- und Körpermagermasse, primär Skelettmuskelmasse. Organgewebe, vor allem das Lebergewebe, bleibt erhalten. Die intrazelluläre Flüssigkeit nimmt ab, eine kompensatorische Zunahme der extra­ zellulären Flüssigkeit kann das tatsächliche Ausmaß einer Gewichtsabnahme verschleiern, ebenso wie Wassereinlagerungen im Rahmen einer Krebsbehandlung oder Änderungen des Hydratationsstatus, zum Beispiel bei Herz-, Leber- und Nieren­ insuffizienz oder bei schwer Kranken. Der Verlust an Körperzellmasse führt zu körperlicher Schwäche, Abnahme der respiratorischen Muskelfunktion und langfristig zu Immobilität. Bei mangelernährten Patienten ist die humorale und zelluläre Immunantwort vermindert, die Infektneigung erhöht und die Wundheilung vermindert, was zu vermehrten Komplikationen durch Wundheilungsstörungen, Infektionen und Sepsis sowie häufigeren und längeren Krankenhausaufenthalten und zu höheren Kosten führt. Mangelernährung führt zu einem schlechteren Ansprechen auf Chemotherapien, zu mangelnder Compliance, Therapieunterbrechungen und dadurch unzureichenden Gesamttherapien, wodurch die Sterblichkeit steigt und die Prognose der Patienten sich verschlechtert. Die Überlebenszeit ist signifikant verkürzt. Gewichtsverlust ist ein eigenständiger Prognosefaktor für die Sterblichkeit bei Non-Hodgkin-Lymphom, Bronchialkarzinom, Mammakarzinom, Kolon- und Prostatakarzinom. Mangelernährung ist darüber hinaus mit Depressionen sowie einer signifikanten Minderung von Leistungsfähigkeit und Lebens­qualität assoziiert. Mangelernährung ist für den Patienten und seine Familie auch eine Ursache psychischer Probleme. Bereits ein Gewichtsverlust von nur 5 % bei unzu­ reichender Energie- und Eiweißaufnahme korrelierte in einer Studie signifikant mit einer Minderung der Lebensqualität. Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren, die zu den Erfahrungen mit ihrer Ernährungs­­situation und zum Grund für die Entscheidung zu einer heimparenteralen Ernährung (HPN) befragt wurden, bezeichneten ihre Ernährungssituation vor der HPN als eine Quelle von „Quälerei und häufiger Verzweiflung“. Seite 23 Sie wollten und versuchten zu essen, waren dazu aber nicht fähig. Die Familie erlebte Machtlosigkeit und Frustration dadurch, dass sie ihren Angehörigen das Essen nicht ermöglichen konnte. Das positivste Merkmal der HPN war das Gefühl von Erleichterung und Sicherheit befriedigter Ernährungsbedürfnisse, was einen direkten positiven Einfluss auf die Lebensqualität, Gewicht, Energie, Kraft und Aktivität hatte. Diese positiven Effekte der HPN glichen die negativen in Form von Einschränkungen im Familienleben und den sozialen Kontakten für die gesamte Familie aus. 3.4 Ursachen von Mangel­­er­nährung bei Tumorpatienten Die Mangelernährung onkologischer Pat­i­enten hat viele Ursachen. Hauptsächlich beteiligt sind eine unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme sowie Stoffwechselstörungen auf der Grundlage von humoralen und entzündungsartigen (inflammatorischen) Reaktionen. 3.4.1 Unzureichende Energieund Nährstoffaufnahme Eine unzureichende Nahrungsaufnahme ist bei onkologischen Patienten gut belegt. So ergab eine Bestimmung der Energie­ zufuhr onkologischer Patienten eine mittlere tägliche Energieaufnahme von 26 ± 10 kcal/kg und Tag (wünschenswerte Energiezufuhr bei Tumorpatienten: 30-35 kcal/kg und Tag), ohne Unterschied zwischen normometabolischen und hyper­ metabolischen Patienten. Patienten mit Kopf- und Halstumoren sowie Tumoren des Magen-Darm-Traktes nahmen in frühen Tumorstadien (Stadium I und II der Erkrankung) lediglich zwischen 20 und 64 kcal/Tag weniger auf als vor der Erkrankung, in fortgeschrittenen Stadien (III bzw. IV) jedoch zwischen 491 und 1095 kcal/ Tag weniger. Die Eiweißzufuhr (wünschenswerte Eiweißzufuhr bei Tumorpatienten: 1,2-1,5 g/kg Körpergewicht und Tag) war im Stadium I und II nur minimal zwischen 0,2 und 1,0 g/Tag vermindert, im Stadium III und IV allerdings zwischen 64 und 94 g/Tag. Dass auch das Ernährungsmuster von Tumorpatienten die Energie- und Nährstoffzufuhr und folglich das Körpergewicht beeinflusst, konnte eine kanadische Arbeitsgruppe zeigen. Sie untersuchten Patienten mit fortgeschrittenen soliden Tumoren (80 % der Teilnehmer litten an Tumoren der Lunge, des Magen-DarmTraktes, der Brust oder der Prostata), die nicht mehr mit Bestrahlung oder Chemo­ therapie behandelt wurden, zuhause lebten und dort ihre Speisen auswählten. Die Auswertung der über jeweils drei Tage ausgefüllten Essprotokolle ergab drei unterschiedliche, aber typische Muster für die Kombination der verzehrten Nahrungs­ mittel: ein normales Muster, „Fleisch-undKartoffel“-Typ, einen „Früchte-Weiß­brot“Typ mit bevorzugt weicher Kost und einen „Milch-und-Suppe“-Typ mit bevorzugt flüssiger Kost. Die aufgenommene Energie­ menge variierte von 4 bis 53 kcal/kg Körpergewicht und Tag. Zwischen den Ernährungsmustern ergab sich vom Typ der normalen über die weiche zur flüssigen Kost eine Abnahme der Energieaufnahme von 27 vs. 24 vs. 20 kcal/kg und Tag und eine Zunahme des Gewichtsverlustes von 11 vs. 16 vs. 21 %. Besonders beachtenswert Seite 24 war, dass der mittlere Body Mass Index (BMI) in den 3 Gruppen vergleichbar war (23,5 vs. 23,8 vs. 22,8 kg/m2), der mittlere Gewichtsverlust in den letzten 6 Monaten jedoch deutlich unterschiedlich (11 vs. 12 vs. 21 %). Die Untersuchung unterstreicht die Unzulänglichkeit des BMI zur Bestimmung des Ausmaßes einer Mangel­ ernährung bei Tumorpatienten. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass onkologische Patienten sehr häufig ungenügende Nahrungsmengen zu sich nehmen. So kann eine verminderte Nahrungsaufnahme zum einen durch die Erkrankung selbst verursacht sein, z.B. als Folge einer direkten Beeinträchtigung durch Obstruktionen im Mund- und Halsbereich oder im oberen Magen-Darm-Trakt oder infolge einer durch den Tumor ausgelösten Appetitlosigkeit. In vielen Fällen führt die Therapie der Tumor­ erkrankung zu einer unzureichenden Nahrungs­aufnahme. So können Operationen im Bereich von Kopf-, Hals- und Magen-Darm-Trakt in Abhängigkeit vom Ort und der Ausdehnung des Eingriffs zu einer Vielzahl von Beeinträchtigungen der Operation Effekte Mundhöhle/Hals • Kau- und Schluckstörungen • Geschmacksstörungen Speiseröhre • Appetitlosigkeit • Angst vor dem Essen • Empfindlichkeit gegen Scharfes und Saures • Motilitätsstörungen des Magens, Völlegefühl Magen • Störung von Appetit- und Sättigungsregulation • Nahrungsmittelaversionen • Reflux-Ösophagitis • Dumpingsyndrom • Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) •F ettstühle (durch unzureichende Mischung des Speisebreies mit den Pankreasfermenten) •M alabsorption: Eisen, Calcium, Zink, Folsäure, Vitamine B12, C, A, D, E, K, Carotinoide Bauchspeicheldrüse • Diabetes mellitus • Maldigestion: Fett • Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide Dünndarm • In Abhängigkeit vom Ort und Ausmaß der Resektion: bei Resektion von > 50 %: generalisierte Malabsorption • chologene Diarrhö • Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide • enterale Hyperoxalurie mit Gefahr der Nierensteinbildung • Blähungen bei unzureichendem Kauen Dickdarm • Lebensmittelintoleranzen, Diarrhoe • Wasser- und Elektrolytverluste Tabelle 2: Ernährungsrelevante Folgen von Operationen Seite 25 • Anorexie (praktisch alle Zytostatika) • Geschmacks- und Geruchsstörungen • Übelkeit, Erbrechen • Nahrungsmittelaversionen • Sodbrennen, Blähungen, Völlegefühl • Schleimhautentzündungen/ -ulzerationen • Abdominalschmerzen • Durchfall, Verstopfung, Ileus • Organschäden: Lunge, Herz, Leber, Niere • Sekundär bei Infektionen, Sepsis, Atemnot Tabelle 3: Ernährungsrelevante Neben­wirkungen einer Chemotherapie Nährstoffaufnahme und Nährstoffverwertung führen (Tabelle 2). Ebenso können Chemo- und/oder Strahlentherapie von ernährungsrelevanten Nebenwirkungen begleitet sein (Tabelle 3, Tabelle 4). Nebenwirkungen einer Strahlentherapie treten in der Regel lokal organbezogen auf (Tabelle 4). Gleichzeitig kann eine Bestrahlung Ursache für allgemeine Symptome wie Anorexie, Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Fatigue-Syndrom oder Mangelernährung sein. Dabei besteht eine ausgeprägte Dosis-Wirkungs-Beziehung für das Auftreten von Nebenwirkungen. Von Bedeutung sind neben der Gesamtdosis die Einzeldosis, die Fraktionierung, Art und Anteil mitbestrahlter Organe und Gewebe sowie das Bestrahlungsvolumen. Gleichzeitig beeinflussen Alter und Begleiterkrankungen des Patienten, vorangegangene Therapien, gleichzeitig stattfindende Behandlungen (kombinierte Radiochemotherapie) und zusätzliche Noxen (Alkohol und Nikotin) Art und Ausmaß der Nebenwirkungen. Bei den Strahlenreaktionen des Normalgewebes unterscheidet man in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf akute und späte, chronische Nebenwirkungen (Tabelle 4). Akute Nebenwirkungen treten innerhalb von 90 Tagen nach Bestrahlungsbeginn auf, chronische nach mehr als 90 Tagen. Die Ursachen der akuten und späten Nebenwirkungen sind unterschiedlich. Akutreaktionen sind die direkte Folge der Verminderung der Zahl funktionsfähiger Parenchymzellen in rasch wachsenden Geweben (Epithelgewebe, Knochenmark). Typische Akutsymptome nach Strahleneinwirkung sind Entzündungsreaktionen, Ödembildung, Haut- und Schleimhautreaktionen sowie spezifische Veränderungen an strahlensensiblen Geweben wie Knochenmark, Dünndarmepithel und Keimdrüsen. Chronische Strahlennebenwirkungen sind die Folge einer irreversiblen Schädigung gewebstypischer Parenchym-, Endothel- oder Bindegewebszellen. Ursächlich angesehen werden Veränderungen am Gefäßbindegewebe und der Durchblutung. Letztere können auch noch nach Jahren auftreten und zeigen häufig einen fortschreitenden Verlauf. Schon vor Beginn der Tumortherapie kann auch die Lebensführung eines Patienten mit einer zu geringen Nahrungszufuhr, einseitiger Ernährung und einem erhöhten Nährstoffbedarf Ursache einer Mangelernährung sein. Besonders gefährdet sind Patienten mit chro­nischem Nikotin- und Alkoholkonsum. Schließ­lich können Schmerzen, lange Nüch­tern­phasen im Rahmen der Diagnostik, psy­chische Faktoren (Angst, Depressionen) und Bewegungsmangel Grund für eine unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme sein. Seite 26 Akuteffekte Späteffekte ZNS • Hirndrucksteigerung, Übelkeit, Erbrechen • Hirnnekrose HNO • Schleimhautentzündungen • Speichelveränderungen • Mundtrockenheit • Anorexie •G eschmacks- / Geruchsstörungen • Schluckstörungen • Laryngitis • Oesophagitis • Mundtrockenheit (Xerostomie) • Karies • vermindertes / fehlendes Geschmacksempfinden Thorax • Oesophagitis • Pneumonitis • Oesophagitis • Fibrose • Stenose • Fisteln • Lungenfibrose Abdomen/ Becken • Übelkeit • Erbrechen • Diarrhoe • Meteorismus • Tenesmen • Enteritis • Zystitis • Ulzera • Diarrhoe, Malabsorption • chronische Enteritis • Strikturen • Obstruktion • Fisteln Endokrinum • Funktionelle Insuffizienz • Endokrine Insuffizienz: thyreoidal, adrenokortikal, gonadal Tabelle 4: Ernährungsrelevante Nebenwirkungen einer Strahlentherapie Viele Faktoren, die die Nahrungsaufnahme negativ beeinflussen, sind bereits bei der Diagnosestellung vorhanden. 40 % der Patienten leiden bereits unter einer Anorexie, 61 % unter einem Völlegefühl, 46 % unter Geschmacksveränderungen, 41 % unter Verstopfung, 40 % unter Mundtrockenheit, 39 % unter Übelkeit und 27 % unter Erbrechen. In einer neueren Untersuchung zur Symp­ tomhäufigkeit bei Patienten mit Tumoren in der Lunge und im Magen-Darm-Trakt ohne Chemo- und Radiotherapie fand sich als häufigstes Symptom Appetitlosigkeit bei 38 % der Patienten, gefolgt von vorzeitigem Sättigungsgefühl (27 %), Schmerzen (23 %), Geschmacksveränderungen (20 %), Übelkeit (18 %), Mund­trockenheit (17 %), Verstopfung (14 %), Erbrechen und Durchfall (jeweils 11 %), Schluckproblemen (9 %), Geruchsstörungen (7 %) sowie Mundsoor (1 %). 62 % der Patienten hatten ein oder mehrere Symptome. Von Symptomen betroffen waren alle Patienten mit einem Pankreaskarzinom, 75 % der Patienten mit einem Tumor im oberen Gastrointestinaltrakt, 66 % der Patienten mit einem Lungentumor und 41 % der Patienten mit Seite 27 kolorektalen Tumoren. An Gewicht verloren 48 % der Patienten mit gastrointestinalen und 19 % mit Lungen-Tumoren. Die meisten appetitlosen Patienten (fast 60 %) waren Patienten mit Lungentumoren. Anorexie Ein besonderes Problem stellt bei Tumorpatienten die Anorexie oder Appetitlosigkeit dar, meist verbunden mit vorzeitigem Sättigungsgefühl, Nahrungsmittelaversionen sowie Geschmacks- und Geruchs­ störungen, die ebenfalls eng miteinander in Wechselbeziehung stehen. In einer Untersuchung bestand bei 40 % der Patienten bereits zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eine Anorexie. Das Auftreten war abhängig vom Typ und der Lage des Tumors sowie dem Stadium der Tumorerkrankung. Von 186 nacheinander aufgenommenen Patienten waren 1/3 der Patienten mit Lungen- oder Dickdarmkarzinom oder einem Lymphom und alle Patienten mit einem Tumor im Bereich von Speiseröhre, Magen oder Leber betroffen. Die höchste Prävalenz bestand im Spätstadium der Tumorerkrankung, zu 80 % bei Patienten mit Speiseröhren- und Magenkarzinomen sowie Lymphomen, zu 30 % bei Patienten mit Tumoren, die nicht den oberen Magen-Darm-Trakt betrafen. Besonders im fortgeschrittenen Stadium einer Tumorerkrankung ist die Anorexie signifikant mit dem Ernährungsstatus verbunden. Nach neuen Vorstellungen zur Entstehung der Anorexie bei Tumorpatienten ist sie das Ergebnis eines durch Zytokine und Serotonin (einem Neurotransmitter) vermittelten Ungleichgewichts zwischen zentralen Signalen von Neuropeptid Y (appetitfördernd) und Pro-Opiomelanocortin (appetithemmend) zu Gunsten von ProOpiomelanocortin. Weitere mögliche Ursachen einer Anorexie sind Nebenwirkungen der Tumortherapien, Infekte, Fieber, Schmerzen, Elektrolytstörungen (Hyperkaliämie, ­Hyperkalzämie), Störungen des Säure-Basen-Haushalt, zerebrale Störungen (toxisch, entzündlich, tumorbedingtes Hirnödem, Hirnmetastasen), Magen-, Darm-, Nieren-, Nebennieren-, Leber- und Lungenerkrankungen sowie endo­krinologische Erkrankungen. Geschmacks- und Geruchsveränderungen Unter Chemotherapie klagen 36 bis 75 % der Patienten über Geschmacksveränderungen in allen Formen. Dabei ist eine Hypogeusie (partieller Geschmacksverlust) häufig mit einer Dysgeusie (Missempfinden des Geschmacks) verbunden. Zu Geschmacksveränderungen führen hauptsächlich folgende Zytostatika: Carboplatin, Cisplatin, Cyclophosphamid, Doxorubicin, 5-Fluorouracil, Methotrexat und Paclitaxel. Am häufigsten wird unter Cisplatin und Doxorubucin über schwere Geschmacksveränderungen berichtet. Bei autologer Stammzelltransplantation ist unter Hochdosistherapie ein völliger Geschmacksverlust beschrieben. Die Geschmacksveränderungen können während der Zytostatikagabe auftreten und von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen, Wochen oder sogar Monaten andauern. So empfinden 77 % der Patienten unter einer Cisplatintherapie (allein oder in Kombination mit Cyclophosphamid, Doxorubicin und 5-Fluorouracil) einen metallischen Geschmack für wenige Stunden bis zu drei Wochen. Patienten berichten über eine große Vielfalt an Geschmacksveränderungen, auch Seite 28 im Bezug auf Lebensmittel. Diese schmecken nach Pappe oder Sandpapier, ranzig, sind zu salzig, süß, sauer oder bitter. Oft ist die Geschmacksschwelle für eine bestimmte Geschmacksempfindung erhöht bzw. erniedrigt. Etwa 1/3 der Patienten hat eine erhöhte Geschmacksschwelle für süß, während die für bitter erniedrigt ist. Letzteres ist der Grund, warum viele Tumorpatienten eine Abneigung gegen den Verzehr von Fleisch haben. Bei einer Strahlentherapie treten Geschmacksstörungen meist innerhalb der ersten drei Wochen nach Bestrahlungsbeginn auf, oft kommt es zum völligen Geschmacksverlust. Eine Besserung tritt ohne Therapie innerhalb einiger Wochen ein. Leichtere Geschmacksveränderungen halten oft über lange Zeit an. Zudem haben viele Patienten ein gesteigertes Geruchsempfinden, vor allem gegenüber Nahrungsmittel- und Essensgerüchen. 82 % der Patienten unter Chemotherapie lehnen deshalb den Verzehr von einem oder mehreren Lebensmitteln oder ganzen Mahlzeiten ab. Meist betroffen sind Kaffee, Tee, Zitrusfrüchte, Fleisch und Schokolade. Manche Patienten berichten über einen bitteren Geschmack im Mund während der Applikation der Chemotherapie und lernen, diesen unangenehmen Geschmack mit den vor der Therapie verzehrten Lebensmitteln in Verbindung zu bringen. Wesentliche Ursache von Geschmacks- und Geruchsstörungen unter Zytostatikatherapie sind Schädigungen der sich schnell teilenden Geschmacks- und Geruchsrezeptoren (mittlere Lebensdauer eines Geschmacksrezeptors 10 Tage, eines Geruchsrezeptors 30 Tage). Es sollte aber auch daran gedacht werden, dass Geschmacks- und Geruchsstörungen Folge einer Mangel­ernährung (Mangel an Vitamin B12, Zink, Kupfer) oder einer schlechten Mundhygiene sein können. Mundtrockenheit (Xerostomie) Bei Kopf- und Halstumoren kann es infolge einer Strahlentherapie zu lang anhaltenden Veränderungen im Mundbereich mit ge­störter Speicheldrüsenfunktion und nachfolgender Mundtrockenheit (Xerostomie) kommen. Bereits ein unstimulierter Speichelfluss wird durch viele Faktoren beeinflusst wie den Hydratationszustand, Kauen, Geschmack und Geruch. Ein Gewichtsverlust durch Entwässerung von 2 % vermindert den Speichelfluss um 60 %, ein Verlust von 8 % Körperwasser stoppt den Speichelfluss ganz. Unter Bestrahlung vermindert sich der Speichelfluss in den ersten 2 Wochen schnell. Nach zwei Wochen Therapie mit einer Dosis von 20 Gy sezernieren alle Speichel­drüsen nur noch 20 % ihrer übli­ chen Speichelproduktion. Betroffen ist zuerst die seröse und etwas zeitversetzt die visköse Komponente. Der Speichel wird zuerst zäh, dann verringert sich der Speichelfluss insgesamt. Die Pa­rotis ver­liert mehr Funktion (nahezu 0 % Speichelfluss) als die submandibularen und sublingualen Speicheldrüsen (Stabilisierung bei 20 % Speichelfluss). Nach einer HochdosisStrahlentherapie sind seröse und muzinöse Acini fast vollständig verschlossen. Der genaue Mechanismus der strahleninduzierten Speicheldrüsenschädigung ist unbekannt. Angenommen werden eine direkte Schädi­ gung der DNA der Speicheldrüse durch strahlentherapiebedingte freie Radikale, eine Schädigung der Zellen durch von den Zellen selbst gebildetes toxisches Material Seite 29 und das Auslösen einer Apoptose durch einen intrazellulären Mechanismus. Die gestörte Speichelproduktion und Mundtrockenheit geht mit Schluckstörungen einher. Die veränderte Mundhöhlenökologie führt bei unzureichender Prophylaxe und Pflege auch zu einer zunehmenden Schädigung der Zähne. Übelkeit und Erbrechen Übelkeit und Erbrechen sind die am meisten belastenden und von Patienten gefürchteten Nebenwirkungen der Chemotherapie. Bei Palliativpatienten liegt die Opioidtherapie-unabhängige Häufigkeit von Übelkeit und Erbrechen bei 40-70 %. Es gibt hierfür viele Ursachen. Ausgelöst und vermittelt werden tumor- und nicht tumorbedingte Übelkeit und Erbrechen peripher von Chemo- und/oder Mechanorezeptoren der Leber und des Magen-Darm-Traktes und Mechanorezeptoren im Kopf-, HalsBereich, Brustkorb, Bauch und Becken und zentral vom Vestibularisapparat, der zerebralen Kortex und im Hirnstamm von der Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ) und vom Brechzentrum. Durch eine Chemotherapie ausgelöstes Erbrechen kann in drei Formen auftreten: akut, verzögert und antizipatorisch. Das akute Erbrechen beginnt meist 1 bis 6 Stunden nach Gabe des Zytostatikums und kann 6 bis 24 Stunden anhalten. Das verzögerte Erbrechen tritt mit einer Verzögerung von 24 Stunden nach dem akuten Erbrechen auf. Antizipatorisches Erbrechen ist ein erlerntes, psychisch bedingtes Erbrechen, das vor, während und nach der Chemotherapie auftreten kann. Haupt­ ursache ist eine unzureichende Vorbeugung gegen Erbrechen bei vorangegangenen Therapiezyklen. Antizipatorisches Erbrechen lässt sich daher weitgehend vermeiden, wenn bei der ersten Chemotherapie Erbrechen verhindert wird. Die Ausprägung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien wird hauptsächlich durch die Brechreiz erregende Stärke des verabreichten Medikamentes bestimmt, außerdem durch die Dosis und die Darreichungsform. Während einer Strahlentherapie leiden 40 bis 80 % der Patienten unter Übelkeit und/oder Erbrechen. Die Ursache und die Formen des Erbrechens entsprechen den Ausführungen bei der Chemotherapie. Zum Risiko des Auftretens von Übelkeit und Erbrechen im Rahmen einer Strahlentherapie siehe Tabelle 5. Weitere Risikofaktoren sind hochmaligne Tumore, spätes Tumorstadium und Metastasierung, bei der Strahlentherapie hohe Einzeldosis, großes Bestrahlungsvolumen und ein kurzes Fraktionierungsintervall, zudem ein hohes individuelles Risiko (Tabelle 6). Die Kombination von Chemo- und Strah­len­ therapie verstärkt das Risiko von Übelkeit und Erbrechen. Nicht tumorbedingte Ursachen von Übelkeit und Erbrechen können Infektionen, Arzneimittel wie Opioide und Antiphlogistika (entzündungshemmende Medikamente), Stoffwechselstörungen (zum Beispiel eine Hyperkalzämie), Schmerzen und psychische Ursachen (zum Beispiel Angst) sein. Dazu kommen individuelle Risikofaktoren des Patienten (Tabelle 6). Schleimhautschädigungen Chemotherapiebedingte Schleimhautschädigungen (Mukositiden) bis zu Ulzerationen können im Mund, der Speiseröhre Seite 30 > 90 % Ganzkörperbestrahlung Total nodale Bestrahlung 60 - 90 % Obere Halbkörperbestrahlung Oberes Abdomen Gesamtes Abdomen 30 - 60 % Untere Halbkörperbestrahlung Becken Untere Thoraxregion < 30 % Kopf, Hals Extremitäten Extraabdominelle Felder Tabelle 5: Risiko des Auftretens von Übelkeit/Erbrechen bei Strahlentherapie (modifiziert nach Riesenbeck 2003) und dem gesamten Magen-Darm-Trakt auftreten. Die Häufigkeit bei allen systemisch verabreichten Chemo­therapien wird mit 40 % angegeben. Erste Mukositissymptome treten in der Regel zwischen Tag 5 und 7 nach der ersten Chemotherapieapplikation auf. Ein schlechter oraler Gesundheitsstatus, reduziertes Allgemeinbefinden und junges Alter sind Risikofaktoren für orale Komplikationen. Ursache sind DNA-Schädigungen des Epithels durch zytostatikabedingte Sauerstoffradikale. Zusätzliche Schädigungen der Schleimhäute können in der Phase der Neutropenie (Verminderung der weißen Blutkörperchen) durch bakterielle und pilzbedingte Infektionen auftreten (indirekte Toxizität). Folge der Schleimhautschädigungen sind Schmerzen, Abnahme der Speicheldrüsenfunktion, Geschmacksstörungen, Anorexie, Bewegungsstörungen und Durchfall. Die Schleimhautschädigung heilt im Allgemeinen 10 bis 14 Tage nach der Therapie ab. Folgen einer Chemotherapie-induzierten Schleimhautschädigung sind auch Störungen der Flüssigkeitsresorption im gesamten Darmtrakt, in schweren Fällen eine „sekretorische“ Diarrhoe. Diese sistiert nicht bei Nahrungskarenz im ­Gegensatz zur „osmotischen“ Diarrhoe. Als Folge der Schleimhautschädigung kann es zu einer Intoleranz von Milchzucker (Laktose) und anderen Nährstoffen (Fruchtzucker, Fett, Ballaststoffe) kommen. Bei Patienten mit Dickdarmkarzinom wurde unter einer Therapie mit 5-Fluorouracil ein Anstieg des Mangels an Milchzucker spaltendem Enzym (Laktase) von 24 auf 35 % beobachtet. Bei 94 % der Patienten bestand eine Milchzuckerunverträglichkeit. Strahlenbehandlungen können Ursache für ausgeprägte Haut- und Schleimhautschädigungen sein. Klinisch kommt es zu einer Schleimhautentzündung mit Rötung und umschriebenen und flächigen Läsionen bis zu Nekrosen. Ähnliche Veränderungen wie an der Mundschleimhaut (siehe Mundtrockenheit) zeigen sich unter der Bestrahlung auch an der Darmschleimhaut. Hier wird das Zottenepithel geschädigt. Risikoscore Risikofaktor Alter > 55 Jahre < 55 Jahre 0 1 Geschlecht männlich weiblich 1 2 Alkoholkonsum ja (> 100 g/Tag) nein 0 1 Vorerfahrungen mit Übelkeit/ Erbrechen ja nein 1 0 Angst ja nein 1 0 Risikoscore: ≤ 4 5 – 6 Normales Risiko Hohes Risiko Tabelle 6: Ermittlung des individuellen Emesisrisikos eines Patienten (Feyer et al. 2005) Seite 31 Durchfall tritt zwischen der 2. und 3. Bestrahlungswoche auf. Ursache ist ein komplexer Prozess mit Bewegungsstörungen, Enzyminsuffizienz, verminderter Resorption von Gallensalzen mit Wasserretention und Veränderung der Darmflora. Nach Bestrahlungsende kommt es in der Regel innerhalb ­eines Monats zur Wiederherstellung der Schleimhaut. Wesentliche Ursache für die Spätreaktionen sind endotheliale Veränderungen. Durchfall und Verstopfung Ursachen für Durchfall können neben Chemotherapie-induzierten Schleimhautschädigungen (siehe oben) auch vorangegangene Operationen im Magen-Darm-Trakt sein, Magen-Darm-Infektionen, Verdauungsund Absorptionsstörungen, Allergien, eine mechanische Obstruktion oder eine Begleitmedikation wie Antibiotika. Verbunden ist Durchfall häufig mit Blähungen, Völlegefühl und Schmerzen. Auch eine Verstopfung kann durch Chemotherapeutika ausgelöst werden. Weitere mögliche Ursachen für Verstopfung sind unter anderem Stoffwechselstörungen (z.B. Hyperkalzämie), endokrine Erkrankungen (z.B. Hypothyreose), rektoanale Erkrankungen (Entzündungen, Störungen der Stuhlentleerung), neurogene Störungen (bei Diabetes mellitus), Flüssigkeitsmangel, Abnahme der oralen Nahrungszufuhr, ballaststoffarme Kost, Bewegungsarmut sowie Begleitmedikationen wie Opiate, Opioide, trizyklische Antidepressiva, orale Eisenpräparate, Diuretika. Infektanfälligkeit Chemo- und Strahlentherapie führen bei Leuko- und Lymphopenie durch eine Verminderung der Immunabwehr zu erhöhter Infektanfälligkeit. Diese besteht sowohl systemisch als auch lokal im gesamten Magen-Darm-Trakt. Die lokalen Infektionen im Sinne einer Stomatitis, Mukositis und Kolitis können zu einer Reduktion der Nahrungsaufnahme und ausgeprägter Malabsorption führen. In der Speiseröhre führen die Entzündungen zu einer deutlichen, schmerzbedingten Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme bis hin zur kompletten Unfähigkeit, selbst den Speichel zu schlucken. Im Magen ist bedingt durch die Magensäure die lokale Infektgefahr geringer. Trotz einer möglichen, ausgedehnten Gastritis gibt es keine schweren Infektionen, die den Magen betreffen, wenn nicht medikamentös durch Senkung des Magen-pHs die Bakterienabtötung vermindert wird. Die Schädigung der Mukosa-Barriere des Darmes (Kolitis) durch Chemo- und Strahlentherapie ist ein Risiko für das Durchwandern von Infektionserregern mit nachfolgenden Bakteriä­mien. Neben der verminderten Flüssigkeits- und Nährstoffaufnahme führen diese Enterocolitiden auch zu einem deutlichen Verlust an Flüssigkeit und Nährstoffen, vor allem auch von Eiweiß. Seite 32 3.4.2 Stoffwechselstörungen Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von Mangelernährung und bei der Veränderung der Körperzusammensetzung von Tumorpatienten sind Stoffwechselveränderungen, die sich von den Stoffwechselveränderungen im Hungerzustand (z.B. beim Fasten) unterscheiden. Sie sind bedingt durch eine Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse. Bei vielen Patienten findet sich diese Akut-Phase-Reaktion bereits bei der Diagnosestellung, zum Beispiel bei 50 % der Patienten mit einem Tumor der Bauchspeicheldrüse. Eiweißstoffwechsel Ganzkörpereiweißumsatz erhöht Eiweißoxidation unverändert Eiweißabbau im Muskel erhöht Eiweißaufbau im Muskel vermindert Eiweißaufbau in der Leber (Akut-Phase-Proteine) erhöht Stickstoffbilanz negativ Aminosäurenimbalance: Alanin, Leucin, Threonin Glutamat, Phenylalanin vermindert erhöht Im Gegensatz zum Hungerzustand können Tumorpatienten ihren Grundumsatz bei unzureichender Energiezufuhr nicht reduzieren. Während der Energiestoffwechsel onkologischer Patienten nicht generell erhöht ist (1/3 der Patienten ist hypometabol, 1/4 hypermetabol), zeigen Eiweiß-, Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel charakteristische Veränderungen (Tabelle 7). Der Abbau von Muskeleiweiß ist erhöht, ebenso die Neubildung von Glukose aus Aminosäuren und Laktat, was zu einem Eiweißverlust beim Patienten führt. Zusätzlich tragen ein unökonomischer Glukosestoffwechsel und eine Insulinresistenz, ein gesteigerter Fettabbau und verminderter Fettaufbau zum Gewebeverlust bei. Es kommt zum zunehmenden Gewichtsverlust und zu Mangelernährung. Typische biochemische Veränderungen sind eine Hypalbuminämie, Anämie und Hyperlaktatämie. Kohlenhydratstoffwechsel Als Mediatoren dieser Stoffwechselveränderungen gelten verschiedene Faktoren: vom Patienten aus Zellen des Glucoseumsatz erhöht Glucoseoxidation vermindert Gluconeogenese erhöht Glykogenolyse erhöht Anaerobe Glykolyse und Laktatbildung erhöht Insulinresistenz vermindert Fettstoffwechsel Fettabbau erhöht Lipoprotein-Lipase-Aktivität (Serum) vermindert Fettaufbau vermindert Blutfettwerte erhöht Umsatz an freien Fettsäuren erhöht De Novo Fettsäurensynthese erhöht Tabelle 7: Stoffwechselveränderungen beim Tumorpatienten Seite 33 Immunsystems (Makrophagen, T-Zellen) und auch aus Zellen des ZNS freigesetzte Zytokine (Tumornekrosefaktor-(TNF)-α, Interleukin-1β, Interleukin-6, Interleukin-8 und Interferon-γ), außerdem von Tumoren ausgeschüttete (Glyko-)Proteine wie der Proteolysis-Inducing-Faktor (PIF) und der Lipid-Mobilizing-Faktor (LMF). Während die Zytokine an verschiedenen Zielorten wie Knochenmark, Skelettmuskelzellen, Hepatozyten, Adipozyten und Endothelzellen, aber auch zentral wirken, wo sie die zur Mangelernährung führenden Stoffwechselveränderungen veranlassen, mobilisieren die tumorspezifischen Produkte PIF und LMF Aminosäuren und Fettsäuren direkt im Muskel- und Fettgewebe. PIF findet sich nur bei Tumorpatienten und wirkt über eine Steigerung des Ubiquitinproteasomalen Proteinabbaus. LMF führt im Adipozyten über einen cAMP-gekoppelten Prozess zur Lipolyse. Durch die Entzündungsprozesse ebenfalls vermehrt ausgeschüttet werden katabole Hormone, Kortikosteroide, Glukagon und Katecholamine sowie inflammatorische Eikosanoide. 3.5 E rfassung und Diagnose von Mangelernährung Die Stoffwechselstörungen sind auch Ursache für die Schwierigkeiten, eine bestehende Mangelernährung zu beheben und einen Aufbau von Körpersubstanz und eine Gewichtszunahme zu erreichen. Die Gewichtsänderung sollte in Prozent des gesunden Ausgangsgewichtes angegeben werden. Die Folgen der Mangelernährung und die Ernährungsprobleme von Tumorpatienten verdeutlichen die Notwendigkeit einer Ernährungsintervention. Bevor die Indikation zu einer Ernährungstherapie gestellt werden kann, ist eine Untersuchung des Ernährungszustandes notwendig. Diese sollte bei Behandlungsbeginn und während des gesamten Krankheitsverlaufs in Abhängigkeit vom Zustand des Patienten in individuell festzulegenden Abständen sowohl in der Klinik als auch im ambulanten Bereich durchgeführt werden. Weit verbreitet zur Erfassung des Ernährungszustands ist der Body-Mass-Index (BMI). Dieser gibt das Ausmaß einer Mangelernährung bei Tumorpatienten jedoch nur unzureichend wieder. Vorrangig sollte deshalb immer der Gewichtsverlauf beachtet werden. Hierzu sind regelmäßige standardisierte Messungen des Körpergewichts notwendig. Weiterhin sind Veränderungen der üblichen Nahrungsmengen von Bedeutung. Die Energie- und Nährstoffaufnahme kann in prozentualen Anteilen der üblichen Nahrungsmenge abgeschätzt oder mit quantitativen und möglichst auch qualitativen Essprotokollen ermittelt werden. Grundlage dafür ist eine mündliche Ernährungsanamnese beim Patienten oder der betreuenden Person. Ein Ernährungsprotokoll sollte mindestens 3 Tage, maximal 7 Tage unter Einschluss eines Wochenendes Seite 34 geführt werden und kann mittels PC ausgewertet werden. Das Erfassen der Nahrungsaufnahme gibt auch Aufschluss über individuelle Ernährungsgewohnheiten und Ernährungsbedürfnisse eines Patienten und ist somit die Basis jeder notwendigen Ernährungsberatung. Als einfache und schnelle Methode zum Ernährungsscreening, das heißt zur schnellen und einfachen Identifikation von gefährdeten oder bereits betroffenen Patienten, haben sich in den letzten Jahren verschiedene Fragebögen bewährt, die die oben genannten Aspekte kombinieren. Von der Europäischen Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN) empfohlen werden für Erwachsene im ambulanten Bereich das „Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)“ und im Krankenhaus das „Nutritional Risk Screening (NRS)“. Beide Instrumente erfassen mit einfachen Fragen BMI, Gewichtsverlust, Essmenge und Vorhandensein bzw. Schweregrad der Erkrankung und berechnen einen Punktescore, der je nach Höhe auf Mangelernährung bzw. auf ein bestehendes Risiko hinweist. Ein weiteres Instrument, der „SGA (Subjective Global Assessment)“, klassifiziert den Ernährungszustand des Patienten als A = gut ernährt, B = mäßig mangelernährt bzw. Verdacht auf Mangelernährung oder C = schwer mangelernährt. Die Einschätzung wird anhand vorgegebener Kriterien vom geschulten Untersucher subjektiv vorgenommen. Der SGA ist auch modifiziert für Tumorpatienten als „Scored PatientGenerated Subjective Global Assessment (PG-SGA)“ verfügbar. MUST, NRS und SGA sind auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) unter www.dgem.de verfügbar, der SGA mit einer ausführlichen Erklärung zur Anwendung. Dort finden sich auch Richtlinien und Tabellen zur differenzierten Bestimmung des Ernährungszustandes (Leitlinie Enterale Ernährung: Ernährungsstatus). Zum frühzeitigen Erkennen einer Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse sollte darüber hinaus das Ausmaß einer eventuell bestehenden Akut-PhaseReaktion abgeschätzt werden. Dies kann unter anderem durch Bestimmung des C-reaktiven Proteins (CrP) erfolgen. Seite 4 Ernährung bei Tumorerkrankungen 4.1 Empfehlungen zur Ernährung bei Tumorerkrankungen 4.1.1 Allgemeines Da viele Ernährungsprobleme und Mangel­ ernährung bereits früh im Krankheitsverlauf und nicht erst im Zusammenhang mit einer Tumortherapie auftreten können, ist es sinnvoll, auch Ernährungsmaßnahmen frühzeitig, das heißt bei Diagnosestellung, in den Therapieplan eines Patienten mit einzubeziehen. Häufig unterschätzen auch die Patienten selbst das Ausmaß ihrer bereits vorhandenen Ernährungsstörungen. Bei bestehendem Übergewicht ist eine Gewichtsabnahme aus Sicht des Patienten sogar oft willkommen, doch verschlechtert ein Gewichtsverlust auch bei übergewichtigen Patienten die Prognose. Tumorpatienten und ihre betreuenden Angehörigen sind an Ernährung generell sehr interessiert. Ernährung ist etwas, womit Patienten aktiv selbst etwas tun können, um ihre Gesundung zu unterstützen. Ziel der Ernährungstherapie onkologischer Patienten während der Tumor­therapie ist es, eine ausreichende Energie- und Nährstoffzufuhr zu gewährleisten, um zumindest das Gewicht des Patienten konstant zu halten. Hierzu benötigt der Patient nicht grundsätzlich eine spezielle Ernährung. Bestehen keine Ernährungsprobleme, kann er sich mit einer Vollkost oder leichten Vollkost in Form einer abwechslungsreichen Mischkost ernähren, die unter Berücksichtigung individueller Unverträglichkeiten und Wünsche des Patienten als eine „gesteuerte Wunschkost“ zusammengestellt ist. Die leichte Vollkost enthält im Unterschied zur Vollkost keine Lebensmittel oder Speisen, die erfahrungsgemäß häufig, das heißt bei mehr als 5 % der Patienten, Unverträglichkeiten auslösen (Tabelle 8). Unspezifische Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind bei Krebspatienten häufig. Vielfach anzutreffen ist eine Abneigung gegen tierisches Eiweiß. Meist werden zunächst Schweine- und Rindfleisch, später Geflügel und Fisch und zuletzt Eier und Milchprodukte abgelehnt. Auch die Zubereitungs- und Darreichungsform spielen eine Rolle. So wird Fleisch als Scheibe oder Steak angeboten eher abgelehnt als in Stücken in einem Eintopf. Auch Streichwurst wird eher akzeptiert als Schnittwurst. Einseitige Ernährungsformen sollten ver­mieden werden, da sie die Gefahr von Nährstoffdefiziten beinhalten. 35 Seite 36 a) Prinzip • Mehrere kleine Mahlzeiten • Fettreduzierte abwechslungsreiche Kost • Individuelle Unverträglichkeiten beachten • Blähende Lebensmittel und Speisen meiden • Wenig Süßes • Hell-/mittelbraune Bräunung beim Braten • Gut kauen und langsam essen • Alkohol in Maßen b) Schlechter vertragene Lebensmittel und Zubereitungsarten, die bei der leichten Vollkost gemieden werden sollten • Fette Brühen, Suppen, Saucen • Große Mengen Streich- und Kochfett • Frisches Brot oder frische und sehr fette Backwaren, sehr grobe Vollkornbrote, ganze oder grob gemahlene Vollkornprodukte • Vollfette Milchprodukte (z.B. Sahneprodukte, Käsesorten mit Rahm- oder Doppelrahmstufe) • Stark oder mit Speck angebratene, geröstete und frittierte Lebensmittel • Fette oder frittierte Kartoffelprodukte • Fette und geräucherte Fleisch-, Wurst- und Fischwaren • Hart gekochte Eier, fette Eierspeisen, Mayonnaisen • Schwer verdauliche oder blähende Gemüse (Grün-, Rot-, Weiß-, Rosenkohl, Wirsing, Sauerkraut, Lauch, Schwarzwurzeln, Zwiebeln, Knoblauch, Pilze, Paprika, Oliven, Gurken- und Rettichsalat, Erbsen und Bohnen, die nicht sehr fein sind, getrocknete Hülsenfrüchte), sehr fettreiche Zubereitungen • Unreifes Obst, Steinobst, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Avocados • Fette Süßigkeiten • Alkohol in jeder Form, kohlensäurehaltige Mineralwässer oder Limonaden, eisgekühlte Getränke • Große Mengen an scharfen Gewürzen, Zwiebel- oder Knoblauchpulver Tabelle 8: Leichte Vollkost Klagt ein Patient dennoch über Beschwerden oder gibt er über diese Tabelle hinausgehende Intoleranzen an, so ist dies zu berücksichtigen. Seite 37 4.1.2 Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffzufuhr Der Energie- und Nährstoffbedarf von Tumorpatienten wird vom Ernährungszustand, der Art der Erkrankung, Begleit­ erkrankungen, der Tumortherapie sowie dem klinischen Zustand und der Prognose des Tumorleidens bestimmt. Für die optimale Energie- und Nährstoffzufuhr onkologischer Patienten gibt es daher keine allgemein gültigen Standards. Energie Bei jeweils etwa 25 % der Patienten mit aktiver Tumorerkrankung liegt der mit indirekter Kalorimetrie gemessene Ruheenergieumsatz (REE) um mehr als 10 % über oder unter dem Erwartungswert. Eine Voraussage zur Richtung und dem Ausmaß der Abweichung ist derzeit nicht möglich. Der Mittelwert des REEs für eine Gruppe von Tumorpatienten entspricht in etwa dem Mittelwert eines gesunden Kollektivs. Untersuchungen bei Patienten mit unterschiedlichen Tumorarten ergaben einen normalen REE bei Patienten mit Magenoder Dickdarm- und Enddarm-Krebs und einen erhöhten REE bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsen- und Lungenkrebs. Ein gesteigerter Energiebedarf wird auch beim Eierstockkrebs beschrieben. Genauere Untersuchungen bei Patienten mit fortgeschrittenem Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkarzinom zeigten zwar einen gegenüber Gesunden erhöhten REE, jedoch eine verminderte körperliche Aktivität und einen gering erniedrigten Gesamtenergieumsatz. Kann der tatsächliche Ruheenergieumsatz im Einzelfall nicht gemessen werden, kann daher für Erwachsene zunächst ein normaler Energieumsatz angenommen werden. Bei der Berechnung der Gesamtenergiezufuhr müssen mögliche Steigerungen des Energiebedarfs durch tumorbedingte Entzündungsprozesse und auch die Intensität körperlicher Aktivität im Einzelfall berücksichtigt werden. Als Faustregel kann der Gesamtenergiebedarf onkologischer Patienten mit folgenden Formeln berechnet werden: • bettlägeriger Patient 25 kcal/kg KG und Tag, • mobiler Patient 30 kcal/kg KG und Tag. Eine Tagesenergiezufuhr von mehr als 35 kcal/kg KG ist selten notwendig. Das Berechnungsgewicht ist bei untergewichtigen Patienten das Ist-Gewicht, ebenso bei Patienten mit einem BMI bis 30 kg/m2. Da adipöse Patienten auch an Magermasse zugenommen haben, haben sie einen erhöhten Grundumsatz und somit einen höheren Energiebedarf. Verlieren adipöse Patienten an Gewicht, verlieren auch sie zunächst Mager-, also Skelettmuskelmasse, was besonders bei Tumorpatienten nicht erwünscht ist. Man kann zur Berechnung des Energiebedarfs adipöser Tumorpatienten ein adaptiertes Gewicht zugrunde legen. Zur Berechnungsformel siehe Tabelle 9. Eiweiß Die Eiweißzufuhr sollte für Tumorpatienten bei 1,2 bis 1,5 g/kg KG und Tag liegen, höher als bei Gesunden (0,8 g/kg KG und Tag). Es gibt keinen Hinweis, dass eine darüber liegende Eiweißzufuhr bei onkologischen Patienten antikatabol wirkt. Für schwer kranke adipöse Patienten werden allerdings 2 g/kg Idealgewicht und Tag angegeben. Seite 38 • Adaptiertes Körpergewicht (kg) = (Körpergewicht – Idealgewicht) x 0,4 + Idealgewicht • Idealgewicht (kg) Männer: 48 + (Größe – 152) x 1,06 Frauen: 45,4 + (Größe – 152) x 0,89 Tabelle 9: Berechnung des Körpergewichtes adipöser Patienten als Basis zur Abschätzung des Energiebedarfs Fett Tumorpatienten weisen eine erhöhte Fett­ oxidation und eine gesteigerte Nutzung zugeführter Fette auf. Es wird daher empfohlen, den Fettanteil in der Ernährung von Tumorpatienten auf über 35 % der Gesamtenergiezufuhr zu erhöhen. Ein derartiger Fettanteil entspricht dem in der Ernährung der Gesamtbevölkerung üblicherweise verzehrten Fettanteil. Bei vorliegender Entzündung wird für die parenterale Ernährung zunehmend empfohlen, keine Fettlösungen mit ausschließlich langkettigen ω-6-Fettsäuren (Sojaöl) anzuwenden, sondern diese mit MCT (mittelkettigen Triglyzeriden), einfach ungesättigten Fettsäuren („Olivenöl“) oder ω-3-Fettsäuren („Fischöl“) zu kombinieren. Mikronährstoffe Die Zufuhr an Mikronährstoffen erfolgt auf der Basis der DACH-Empfehlungen für die Ernährung Gesunder (DACH = Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Österreichische Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsforschung, Schweizerische Vereinigung für Ernährung). Auf eine ausreichende Versorgung mit Spurenelementen und Vitaminen ist zu achten. Kontrovers diskutiert wird die medikamentöse Zufuhr von Vitaminen mit antioxidativer Wirkung, vor allem in Megadosen, während Chemo- und/oder Radiotherapie. Grund für die Warnungen vor einer unkontrollierten bzw. hohen Zufuhr ist der Umstand, dass viele Chemotherapeutika (Alkylantien, Anthrazykline, Mitomycin, Bleomycin, Etoposid) und auch die Radiotherapie Tumorzellen durch Schädigung mittels Radikalenbildung zer­stören, Tumorzellen die zugeführten Antioxidantien jedoch als Schutz gegen diese Schädigung benutzen könnten. Unter einer Therapie mit Velcade® (Bortezomib, PS-341) sollen Patienten keine Vitamin-C-Medikation erhalten, da Vita­min C die Wirkung des Chemotherapeutikums im Zellversuch aufhebt. Denselben Effekt hatten in einer aktuellen Untersuchung verschiedene Polyphenole aus grünem Tee. Auch bei der Einnahme von Multivitamin-/Multimineralstoffpräparaten wird aus Sicherheitsgründen empfohlen, maximal die dreifache Menge der Zufuhrempfehlun­gen der Fachgesellschaften an Spurenelementen und Vitaminen einzunehmen. Eine vitaminreiche Ernährung ist ebenfalls sicher. Bei enteraler Ernährung ist mit 1500 kcal einer Standardnahrung im Normalfall der Basisbedarf eines gesunden Erwachsenen an Spurenelementen und Vitaminen gewährleistet. Seite 39 Wird parenteral ernährt, müssen Spuren­ elemente und Vitamine immer zugegeben werden, Elektrolyte können in den Nähr­ lösungen enthalten sein. Die DGEM-Leitlinie zur parenteralen Zufuhr von Wasser, Elektrolyten, Spurenelementen und Vitaminen orientiert sich bei ihren Empfehlungen zur Mikronährstoffzufuhr an den Zufuhrempfehlungen amerikanischer Fachgesellschaften. Auch diese basieren auf Zufuhrempfehlungen für Gesunde. 4.1.4 Die sogenannten „Krebsdiäten“ 4.1.3 Bedeutung der Ernährungsberatung Angebliche Wirkmechanismen von Krebsdiäten sind: Die „gesteuerte Wunschkost“ als Form einer optimierten oralen Ernährung kann am besten mit Hilfe der fachkundigen Betreuung und Beratung durch eine Ernährungsfachkraft durchgeführt werden, vor allem unter stationären Bedingungen. Diese Ernährungsfachkraft ist auch der Ansprechpartner für Angehörige bei Ernährungsfragen und Ansprechpartner des Patienten zwischen und nach einer onkologischen Therapie, wenn zu Hause Ernährungsprobleme auftreten. Eine ver­mittelnde und damit sehr wichtige Stel­lung in der Ernährungsbetreuung onkologischer Patienten haben Pflegekräfte. Sie sollten besonders für die bestehenden und auftretenden Ernährungsprobleme und Ernährungsbedürfnisse von Patienten sensibilisiert sein, da sie im klinischen Alltag meist erster und wichtigster Ansprechpartner des Patienten sind und auch den intensivsten Kontakt zu ihm haben. Ernährungsmaßnahmen sind eine wich­tige unterstützende Behandlung, aber keine Behandlung zur Heilung einer Krebs­ erkrankung. Entgegen immer wieder geäußerten Behauptungen gibt es bis jetzt keine spezielle Ernährung im Sinne einer „Krebsdiät“, die einen vorhandenen Tumor heilt und so eine spezifische Tumortherapie ersetzen kann. • die Aktivierung der Zellatmung, • der Abbau von Tumorgiften, • eine Steigerung der Verletzlichkeit des Tumors, • das Wiederherstellen des Stoffwechselgleichgewichtes, • eine Entgiftung des Organismus sowie • die Stimulation der Immunabwehr und • eine Wachstumshemmung des Tumors durch die gesteigerte Zufuhr einzelner Nahrungsinhaltsstoffe. Einige „Krebsdiäten“ haben eine Zusammensetzung, wie sie auch von den Fachgesellschaften für eine gesunde und krebspräventive Ernährung der Allgemeinheit empfohlen werden. So handelt es sich oft um laktovegetabile Kostformen, in denen der Eiweißbedarf durch Milch und Milchprodukte sowie pflanzliche Lebensmittel gedeckt wird bzw. um Ernährungsformen mit mäßigem Fleischverzehr, bevorzugtem Verzehr von Vollkornprodukten, Obst und Gemüse sowie pflanzlicher Fette. Zu meiden sind meist Zucker und Seite 40 Weißmehlprodukte, Margarine, Salz, Koffein und Alkohol. Es gibt somit durchaus „Krebsdiäten“, die nach Prüfung ihrer Ausgewogenheit von einem Tumorpatienten bei Wunsch durchgeführt werden können, allerdings nicht mit dem Ziel, das Krebswachstum zu verhindern oder gar die Krebserkrankung heilen zu können. Häufig genannte „Krebsdiäten“ sind in Tabelle 10 zusammengestellt. Von den fett gedruckten Diäten ist abzuraten. Keinesfalls durchgeführt werden sollten Fastenkuren, mit denen der Tumor ausgehungert werden soll oder einseitige, zu Mangelernährung führende Ernährungsformen. Besonders beworben wird seit einiger Zeit die sogenannte Transketolase-like-1 (TKL1)-„Ketogene Diät“. Die Diät stützt sich auf die Beobachtung, dass fortgeschrittene Tumore gegenüber gesunden Zellen eine höhere Glukoseaufnahme haben und mit zunehmender Aggressivität auch stärker von Glukose als Energiequelle abhängig sind. Der Nachweis einer stärkeren Ausschüttung des Enzyms Transketolase-like-1 im Tumorgewebe soll ein Zeichen für das Vorliegen einer dahingehend im Tumorgewebe geänderten Stoffwechselsituation sein. Diese Beobachtungen führten dazu, eine strenge Begrenzung der Glukosezu- • Annemüller und Ries: „Stoffwechselaktive Kost“ • Breuß: „Krebskur - total“ • Budwig: „Öl-Eiweiß-Kost“ • Burger: „Instinktotherapie“ • Gerson: „Diättherapie bösartiger Erkrankungen“ • Krebs: „Stoffwechseltherapie“ • Kuhl: „Milchsäurekost“ • Leupold: „Konservative Krebs-Therapie“ • Moermann: „Krebsdiät“ • Ohsawa (Kushi) Diät: „Makrobiotik“ • Reckeweg: „Homotoxinlehre“ • Schmidt: „Gesundheitskost“ • Seeger: „Rote Bete als Heilmittel“ • Transketolase-like1- „Ketogene Diät“ (nur unter ärztlicher Kontrolle und Betreuung einer sachkundigen Ernährungsfachkraft!) • Windstosser: „Heilkost“ • Zabel: „Ernährung des Krebskranken“ Tabelle 10: Die wichtigsten sogenannten „Krebsdiäten“ * * von den fett gedruckten „Krebsdiäten“ ist abzuraten! Seite 41 fuhr mit der Nahrung in Form einer äußerst kohlenhydratarmen, eiweiß- und energiebilanzierten und extrem fettreichen „ketogenen Diät“ als Behandlungsansatz bei bösartigen Tumoren zu erwägen. Die Diät führt zu einem Stoffwechselzustand, wie er beim Gesunden beim Fasten auftritt. Es gibt bisher keine veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen, die belegen, dass diese Art von Ernährung einen günstigen Einfluss auf Tumore mit Ausschüttung der TKL-1 hat. Zudem muss vorher geklärt sein, ob der Tumor des Patienten TKL-1 vermehrt ausschüttet. Eine ketogene Diät darf nur unter ärztlicher Aufsicht bei einer klaren Indikation und dem Ausschluss von Kontraindikationen, nach einem ausführlichen Aufklärungsgespräch, einer Ernährungsanamnese und einer eingehenden internistischen Untersuchung durchgeführt werden. Die ketogene Diät erfordert eine Diätassistentin im Team, die stationäre Einleitung der Diät sowie die regelmäßige ambulante Weiterbetreuung des Patienten. Die für die Diät angebotenen speziellen fettreichen und mit Süßstoff gesüßten Nahrungsmittel sind nicht notwendig. Kritisch ist auch anzumerken, dass es unklar ist, wie weit Blutglukose- oder Insulinspiegel gesenkt werden müssen, um negative Wirkungen auf Tumorzellen zu erreichen. Viele Studien belegen, dass Tumorzellen Glukosetransporter überexprimieren, die ihre halbmaximale Aktivität bereits im niedrigen Glukosebereich um und unter 2 mM (18 mg/dl) erreichen. Es ist deshalb möglich, dass eine Glukoseabsenkung unter physiologischen Bedingungen nicht ausreicht, um die Glukoseversorgung bösartiger Zellen zu gefährden. 4.2Grundlagen der Ernährungstherapie 4.2.1Allgemeines Die Ernährungstherapie wird individuell in Abhängigkeit vom Ernährungszustand, zusätzlich bestehenden Erkrankungen, der Therapieform und dem klinischen Zustand eines Patienten im Hinblick auf die Applikationsart, die Kostform und den Nährstoffbedarf festgelegt. In das Gesamtkonzept mit einzubeziehen sind die Wünsche und Lebensumstände des Patienten sowie die Prognose des Tumorleidens. 4.2.2Ziele Ziele einer Ernährungstherapie vor und während der Tumortherapie sind: • die Stabilisierung des Ernährungs­ zustandes, mindestens das Aufhalten bzw. Mindern eines fortschreitenden Gewichtsverlustes, • eine Steigerung der Effektivität und Reduktion von Nebenwirkungen der Antitumortherapie, • das Vermeiden von Therapieunter­ brechungen sowie • der Erhalt oder eine Verbesserung der Lebensqualität des Patienten. Nach der Tumorbehandlung ist eine Aufgabe der Ernährungstherapie, die möglichen Langzeitfolgen der Tumortherapie zu lindern und die Lebensqualität zu erhalten. Seite 42 Weitere Ziele sind eine Verminderung des Risikos von Komorbiditäten sowie die Verhinderung eines Rezidivs und damit letztlich die Steigerung der Wahrscheinlichkeit einer Überlebensverlängerung. 4.2.3 Indikationen Eine Ernährungstherapie ist schon bei drohender und generell bei bestehender Mangelernährung indiziert. Merkmale dafür sind ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust und eine anhaltend verminderte Nahrungszufuhr. Spätestens bei einem Gewichtsverlust von 5 % und mehr vom gesunden Ausgangsgewicht wird empfohlen, eine Ernährungsdiagnostik durchzuführen, möglichst einschließlich einer quantitativen und auch qualitativen Erfassung der Energie- und Nährstoffzufuhr (siehe Kap. 3.5 Erfassung und Diagnose von Mangelernährung). Die Erfassung der Ernährungssituation sollte so gestaltet sein, dass sich daraus der Interventionsbedarf und geeignete Maßnahmen ableiten. Bei Bedarf sollte dann eine individuelle Ernährungs­ beratung erfolgen sowie Kontrolltermine zur weiteren Ernährungsbetreuung ver­ einbart werden. Jede Nahrungszufuhr sollte möglichst physiologisch und komplikationsarm sein. Daher ist so lange wie möglich eine orale Ernährung anzustreben. Ist die orale Ernährung mit üblichen Lebensmitteln unzureichend, kann die Ernährung zunächst mit Trinknahrungen verbessert werden. Ist die orale Ernährung auch dann noch unzureichend oder ist eine orale Ernährung überhaupt nicht möglich, besteht die Indi- kation zur Sondenernährung. Dies ist bei einer zu erwartenden Nahrungskarenz von mindestens 5 Tagen beziehungsweise einer zu erwartenden unzureichenden Ernährung des Patienten von mindestens 10 Tagen der Fall. Nahrungskarenz ist definiert als orale Nahrungszufuhr unter 500 kcal/ Tag, unzureichende Nahrungszufuhr als Nahrungszufuhr unter 60 % des errechneten Bedarfs eines Patienten. Nur wenn auch die enterale Ernährung unzureichend oder unmöglich ist, sollten Nährstoffe auf parenteralem Weg zugeführt werden. Der Ernährungsbeginn erfolgt unmittelbar nach Indikationsstellung, gegebenenfalls mit einem Nahrungsaufbau über 2 bis 4 Tage. Dies ist besonders bei mangelernährten Patienten oder Patienten nach längerer Nahrungskarenz von Bedeutung, um ein potenziell tödliches „Refeeding-Syndrom“ zu vermeiden (siehe Kap. 4.2.5). Die Zufuhrmenge sollte generell den Fehlbedarf ersetzen. Bei weiterhin möglicher oraler Ernährung ergeben sich kombinierte Ernährungsregimes aus oraler und enteraler und/oder parenteraler Ernährung. 4.2.4 F ormen der Ernährungstherapie Orale Ernährung mit Trinknahrung Die übliche orale Ernährung kann durch Trinknahrungen optimiert werden, die es in vielen Zusammensetzungen und Geschmacksvarianten gibt, so dass jeder Patient nach seinem individuellen Bedürfnis damit versorgt werden kann. Eine Übersichtsarbeit über randomisierte, kontrollierte Studien zum Effekt einer oralen und enteralen Eiweiß-Energie-Supp­lemen- Seite 43 tierung gegenüber keiner Supplementierung auf Gewicht, anthropometrische Daten und Überleben erwachsener Patienten ergab auch für Tumorpatienten positive Effekte. In einer Untersuchung an Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die nicht mehr behandelt wurden, trug vor allem die Zahl der Essperioden und dabei die Zwischenmahlzeiten zu einer Steigerung der Energie- und Nährstoffzufuhr bei. Eine aktuelle Erhebung an Patienten mit oropharyngealen Tumoren unter Radiotherapie allein oder unter Radio-Chemotherapie zum Effekt einer oralen Ernährungssupplementierung mit zusätzlicher Trinknahrung ergab in der supplementierten Gruppe einen signifikant niedrigeren Gewichtsverlust und in der nur mit Radiotherapie behandelten Gruppe eine geringere Zahl notwendiger PEG-Anlagen (Perkutane Endoskopische Gastrostomie). Für Tumorpatienten besonders geeignet sind energie-, eiweiß- und fettreiche Trinknahrungen. Die Erfahrung zeigt, dass es wichtig ist, den Patienten selbst ausprobieren zu lassen, was ihm schmeckt. Auch die Geschmacksrichtung der Trink­nahrung sollte abwechslungsreich sein. Diese Erfahrung bestätigt eine klinische Erhebung zur Geschmackspräferenz mangelernährter Patienten für verschiedene orale Trinknahrungen. Die Supplemente wurden insgesamt gut akzeptiert und auch gut toleriert, allerdings gab es unterschiedliche Präferenzen für verschiedene Produktarten (Milchoder Frucht-Basis) und Geschmacksrichtungen. Um die Compliance zu verbessern, mussten diese beiden Faktoren beachtet werden. Enterale Ernährung Voraussetzungen für eine enterale Ernährung sind eine ungestörte MagenDarm-Passage, eine ungestörte Motilität des Magen-Darm-Traktes sowie eine weitgehend erhaltene beziehungsweise ausreichende Verdauung und Resorption der Nährstoffe. Ein breites Produktangebot steht auch hier zur Verfügung. Die verschiedenen Produkte unterscheiden sich im Bezug auf Eigenschaften wie Energiedichte (0,75-2,4 kcal/ ml), Art und Gehalt an Pro­tein, Zusammensetzung der Fette, Ballaststoffgehalt, Osmolarität und Viskosität. Sondennahrungen sind in der Regel glutenfrei und enthalten Elektrolyte, Spurenelemente und Vitamine unter Berücksichtigung der Referenzwerte der Fachgesellschaften für Gesunde sowie eines „Sicherheitszuschlages“. Zudem müssen die gesetzlich vorgegebenen Mindestund Höchstmengen an Mikronährstoffen eingehalten werden. Die Auswahl der Formuladiät zur enteralen Ernährung ist vom individuellen Bedarf und den individuellen Anforderungen des Patienten abhängig. Im Vergleich zu selbst hergestellten Sondennahrungen bieten industriell hergestellte Produkte zahlreiche Vorteile: Sie sind voll bilanziert, d.h. sie gewährleisten bei alleiniger Gabe eine bedarfsgerechte Versorgung mit allen lebensnotwendigen Nährstoffen und entsprechen den ernährungsphysiologischen Kriterien einer Normalkost. Aufgrund lebensmitteltechnischer Möglichkeiten kann bei der industriellen Herstellung eine geringere Viskosität (Zähflüssigkeit) als bei selbst hergestellten Sondennahrungen erreicht werden und Seite 44 damit das Risiko der Verstopfung auch kleinlumiger Sonden minimiert werden. Industriell hergestellte Produkte haben eine physiologische Osmolarität, die bei selbst hergestellten Sondennahrungen schwer zu erreichen ist, und gewährleisten damit eine deutlich bessere Verträglichkeit. Durch die Herstellung unter sterilen Bedingungen sind sie zudem hygienisch verlässlicher als eine selbst gefertigte Sondenkost. Schließlich sind industriell hergestellte Sondennahrungen weniger zeitaufwändig und billiger. Selbst hergestellte Sondennahrungen sollten daher nicht verwendet werden. Parenterale Ernährung Ist auch eine enterale Ernährung unzureichend oder nicht möglich, besteht die Indikation zur ergänzenden oder ausschließlichen parenteralen Ernährung. In der Praxis ergänzen sich enterale und parenterale Ernährung und sind zur Verbesserung von Ernährungsparametern und Immunstatus gleichwertig. Konzepte zur parenteralen Ernährung sind die alleinige Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr, eventuell mit einer basalen Kohlenhydratzufuhr, die hypokalorische, periphervenöse Basisernährung, die zentral-venöse Ernährung mit Komplettlösungen, der nach Möglichkeit der Vorzug zu geben ist, sowie die individuelle zentral-venöse Ernährung mit Einzelkomponenten. Letztere kommt bevorzugt bei Leber- und Niereninsuffzienz zur Anwendung, da hier spezielle Aminosäurenlösungen empfohlen werden, die in Komplettlösungen nicht enthalten sind. 4.2.5 Refeeding-Syndrom Eine leicht zu übersehende und unterschätzte Komplikation, besonders bei langfristig mangelernährten Patienten, ist das „Refeeding Syndrom“. Es tritt innerhalb von zwei bis vier Tagen nach Beginn einer oralen, enteralen oder parenteralen Ernährung auf und ist zunächst asymptomatisch. Ursache ist eine Verminderung von SerumElektrolyten, besonders von Phosphat (schwere Hypophosphatämie bei einem Serum-Phosphat < 0,5 mmol/l), aber auch von Kalium und Magnesium, eine Hyperglykämie sowie Flüssigkeits- und Natriumretention. Diese Veränderungen sind Folge einer vermehrten Insulinsekretion mit Beginn einer vor allem kohlenhydratreichen Ernährung oder intravenöser Glukosegaben und nachfolgender vermehrter intrazellulärer Aufnahme von Phosphat. Weitere Risikofaktoren sind zum Beispiel lang anhaltendes Erbrechen und Diarrhoe, chronischer Alkoholismus, ein unkontrollierter Diabetes mellitus, ein längerer „nil per os“-Status in der Bauchchirurgie, maligne intestinale Fisteln, nasogastrisches Absaugen, Fieber, Sepsis sowie ein höheres Alter. Lebensbedrohliche Komplikationen sind unter anderem Atemstillstand (Hypophosphatämie), Herzrhythmusstörungen (Hypokaliämie, Hypokalzämie, Hypomagnesiämie), Laktazidose und neuropsychiatrische Störungen (VitaminB1-Mangel) sowie Lungenödeme (Flüssigkeits- und Natriumretention). Die Gefahr eines „Refeeding-Syndromes“ macht die Notwendigkeit eines gut kontrollierten Ernährungsaufbaus vor allem bei parenteraler Ernährung deutlich, gerade bei den oft mangelernährten Tumorpatienten. Seite 45 4.2.6 Förderung des Tumor­ wachstums durch Ernährungstherapie? Es wird immer wieder gefragt, inwieweit Ernährung, vor allem enterale und parenterale Ernährung, das Tumorwachstum fördert. Die Mehrheit der Studien, die die Beziehung zwischen Tumorwachstum und parenteraler Ernährung untersuchten, sind Tierversuche. Allerdings können die Wirkungen parenteraler Ernährung auf experimentelle Tumore aus verschiedenen Gründen nicht auf den Menschen übertragen werden. Gut kontrollierte klinische Studien zur Beurteilung dieser Fragestellung gibt es nicht. Es gibt jedoch eine Reihe von Beobachtungen, alle an Patienten mit Kopf- und Hals- oder gastrointestinalen Tumoren, die enteral oder parenteral ernährt wurden. Ein gesteigertes Tumorwachstum war bei Patienten, die ihre übliche Ernährung erhielten, nicht nachweisbar. Bei einem Teil der Untersuchungen unter künstlicher Ernährung war eine Proliferation von Tumorzellen zu beobachten. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass die Anregung des Tumorstoffwechsels im Vergleich zur Stimulation der Körperzellen unverhältnismäßig hoch war. Sollten jedoch unter klinischen Bedingungen Tumore durch Ernährungsmaßnahmen zu erhöhtem Wachstum stimuliert werden, so könnte dies für eine gleichzeitige Chemo- und Radiotherapie durchaus von Vorteil sein, da eine verbesserte Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Tumors sowie eine Steigerung der Teilungsrate die Wirkung dieser beiden Therapieformen erhöht. Da gesicherte Daten zum Einfluss einer Ernährung auf das Tumorwachstum fehlen, sollte die Entscheidung zu jeder Art von Ernährung eines Tumorpatienten von diesen theoretischen Überlegungen nicht beeinflusst werden. 4.3 Ernährung bei Operationen 4.3.1 Indikationen Prä- und perioperative Ernährung Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin zur enteralen und parenteralen Ernährung und die Leitlinien der ESPEN (Europäische Gesellschaft für Klinische Ernährung und Stoffwechsel) zur enteralen Ernährung empfehlen, bei hohem ernährungsmedizinischem Risiko eine Operation zu verschieben, um präoperativ über 10 bis 14 Tage eine gezielte Ernährungstherapie durchzuführen. Ziel dieser Maßnahme ist, die Energie- und Nährstoffspeicher aufzufüllen und dadurch das Risiko post-operativer (infektiöser) Komplikationen zu reduzieren. Nach der Definition der ESPEN besteht ein hohes ernährungsmedizinisches Risiko, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien zutrifft: 1. Gewichtsverlust über 10-15 % innerhalb der letzten 6 Monate 2. Body-Mass-Index < 18,5 kg/m2 3. Subjective Global Assessment (SGA) Grad C oder Nutritional Risk Screening (NRS) ≥ 3 4. S erum-Albumin < 30 g/l (bei fehlenden Anzeichen einer hepatischen oder renalen Dysfunktion) Seite 46 Besteht die Indikation zu einer präoperativen Ernährung, sollte diese zur Vermeidung nosokomialer Infektionen möglichst prästationär ambulant durchgeführt werden. Patienten, die ihren Energiebedarf präoperativ nicht mit normaler Kost decken können, sollten zunächst zur zusätzlichen Aufnahme von Trinknahrung motiviert werden. Ist eine weitergehende präoperative Ernährungstherapie notwendig, sollte diese nach Möglichkeit enteral erfolgen und schon vor der Krankenhausaufnahme begonnen werden. Diese Indikation besteht auch bei Patienten ohne Zeichen der Mangelernährung, die perioperativ voraussichtlich länger als 7 Tage keine Nahrung zu sich nehmen oder sich voraussichtlich länger als 10 Tage oral nur unzureichend (unter 60 % der empfohlenen Energiezufuhr) ernähren können. Die Indikation zu einer ausschließlichen parenteralen Ernährung besteht perioperativ nur bei absoluten Kontraindikationen für eine enterale Ernährung, wie bei ausgeprägtem Kurzdarm oder einer chronischen Darmobstruktion mit relevanter Passagestörung, z.B. bei Peritonealkarzinose. Kann der Energie- und Nährstoffbedarf durch orale und enterale Ernährung allein längerfristig nicht gedeckt werden, ist eine kombinierte enterale und parenterale Ernährung indiziert, besonders, wenn die Energiezufuhr unter 60 % des Bedarfs liegt und ein zentral-venöser Zugang zur parenteralen Ernährung bereits vorhanden ist. Muss ein zentral-venöser Zugang zum Zweck der künstlichen Ernährung noch gelegt werden, ist die Indikation in Abhängigkeit von der zu erwartenden Dauer der parenteralen Ernährung zu stellen. Beträgt diese < 4 Tage, ist eine kombinierte Ernährung nicht erforderlich. Beträgt sie 4 bis 7 Tage, kann die Ernährung hypokalorisch mit 2 g Kohlenhydraten und 1 g Aminosäuren/kg KG und Tag über einen peripher-venösen Zugang erfolgen. Beträgt die Zeitdauer > 7 bis 10 Tage, wird die Anlage eines zentral-venösen Katheters empfohlen. Perioperative Ernährung Unmittelbar vor einer Operation können Patienten ohne spezifisches Aspirationsrisiko in der Regel bis 2 Stunden vor Narkosebeginn klare Flüssigkeiten trinken. Feste Nahrung ist bis zu 6 Stunden vorher erlaubt. Vor großen chirurgischen Eingriffen werden für die meisten Patienten (keine Störung der Magenentleerung, kein Diabetes mellitus) kohlenhydrathaltige Getränke am Vorabend und bis 2 Stunden vor der Operation empfohlen. Enteral nicht ernährbare Patienten erhalten innerhalb der letzten 12 Stunden vor der Operation intravenös 200 g Glukose. Postoperative Ernährung Postoperativ ist eine Unterbrechung der Nahrungszufuhr bei den meisten Patienten nicht erforderlich. Auch nach gastrointestinalen Eingriffen kann frühzeitig mit einem normalen Kostaufbau oder einer enteralen Ernährung begonnen werden. Bei den meisten Patienten nach Kolonresektionen ist der orale Kostaufbau postoperativ mit der Gabe klarer Flüssigkeit innerhalb weniger Stunden möglich. Die orale Nahrungsaufnahme ist jedoch an die Art der Operation und an die individuelle Toleranz des Patienten anzupassen (siehe Kap. 4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien). Seite 47 Ist ein früher oraler Kostaufbau nicht möglich, wird eine Sondenernährung empfohlen, speziell bei Patienten nach schweren Tumoroperationen im Hals-, Kopf- oder Gastrointestinalbereich, bei Patienten mit schwerer Mangelernährung zum Zeitpunkt der Operation und bei Patienten mit voraussichtlich unzureichender (unter 60 %) Nahrungsaufnahme über mehr als 10 Tage postoperativ. Besteht die Indikation zur Sondenernährung, soll bei großen gastrointestinalen Eingriffen für alle Patienten die Anlage einer Feinnadelkatheterjejunostomie (FKJ) oder einer nasojejunalen Sonde erfolgen. Bei Anastomosen am oberen Gastrointestinaltrakt soll die Sondenspitze distal der Anastomose liegen. Im Fall einer über 4 Wochen notwendigen enteralen Ernährung besteht die Indikation zur Anlage einer perkutanen Sonde (z.B. PEG, FKJ). Mit der Sondenernährung sollte innerhalb 24 Stunden nach dem chirurgischen Eingriff begonnen werden. Aufgrund limitierter Toleranz wird eine Sondenernährung mit einer geringen Menge, z.B. 10 bis maximal 20 ml/h, empfohlen. Es kann 5 bis 7 Tage dauern, bis der Energiebedarf auf enteralem Wege gedeckt werden kann, was kein Nachteil ist. Zur Sicherung einer effektiven Ernährungs­therapie in der Chirurgie wird empfohlen, klinikinterne standardisierte Ernährungsschemata zu erstellen. 4.3.2 Art der Nahrung Standardnahrung versus Immunonutrition Die meisten Patienten können mit hochmolekularen Standardnahrungen ernährt werden. Perioperativ werden für Patienten mit großen Tumoroperationen (Larynx-, Pharynx-Oesophagusresektionen, Gastrektomie und Duodeno-Pankreatektomie) unabhängig vom Ernährungszustand bevorzugt immunmodulierende Nahrungen mit Zusatz von Arginin, ω-3-Fettsäuren und Nukleotiden empfohlen. Wenn möglich, sollte mit diesen Nahrungen 5 bis 7 Tage vor der Operation begonnen und die Anwendung nach komplizierten Eingriffen über 5 bis 7 Tage postoperativ fortgesetzt werden. Glutamin Für schwer mangelernährte, enteral nicht adäquat ernährbare und daher parenteral ernährte Patienten besteht derzeit in der elektiven Chirurgie postoperativ die Indikation zur parenteralen Gabe von Glutamin-Dipeptidlösungen. Seite 48 4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien Nachfolgend sind Folgeerkrankungen und ernährungstherapeutische Maßnahmen nach Ösophagektomie, Gastrektomie, ausgedehnten Operationen im Bereich von Dünn- und Dickdarm, Pankreatektomie und nach Ileo- und Kolo-Stoma-Anlage zusammengestellt. Auf medikamentöse, möglicherweise endoskopisch durchführbare oder weiter notwendige operative Maßnahmen wird nicht immer eingegangen. Es empfiehlt sich, in die Betreuung und Beratung dieser Patienten ernährungsmedizinisch ausgebildete, erfahrene Ärzte und Ernährungsfachkräfte einzubeziehen. Besonders Patienten mit Kurzdarmsyndrom benötigen eine individuelle, langfristige Hilfe. Ösophagektomie Postoperativ empfiehlt sich für die ersten Tage eine enterale Ernährung über eine distal der Anastomose liegende Sonde. Darf der Patient essen, ist nach dem Kostaufbau eine leichte Vollkost mit 4 bis 6 kleinen Mahlzeiten unter Beachten individueller Unverträglichkeiten indiziert. Vor allem am Abend sollten keine voluminösen und ballaststoffreichen Mahlzeiten gegeben werden. Die meisten länger überlebenden Patienten nach Operation eines Ösophaguskarzinoms haben eine zufriedenstellende Lebensqualität. Mögliche auftretende Probleme sind eine multifaktorielle Inappetenz mit nachfolgender Mangelernährung, eine Anastomosenstenose (in 10 bis 56 %) mit Dysphagie, Refluxbeschwerden (in 21 bis 58 %) mit Ösophagitis, bei der häufig durchgeführten hohen Vagotomie eine chronische Magenentleerungsstörung sowie als Komplikation der subtotalen Ösophagektomie eine vorübergehende oder dauernde Schädigung von Nerven mit der Folge von Heiserkeit, Dysphagie und Aspiration. Bei Refluxbeschwerden und Ösophagitis sind scharfe und saure Speisen und Getränke sowie Gewürze und Alkoholika zu meiden. Alkoholika (Wein und Bier) erhöhen den Säuregrad des Magensaftes und begünstigen einen Reflux. Sie reizen aber – ebenso wie saure Getränke und scharfe Gewürze und Speisen – auch die Schleimhaut. Im Liegen ist das Höherstellen des Kopfendes hilfreich. Das Völlegefühl bei chronischer Magenentleerungsstörung wird durch voluminöse, ballaststoffreiche Mahlzeiten und hypertone Getränke gesteigert. Gastrektomie Nach Gastrektomie ist die Reservoirfunktion des Magens und damit die dosierte Abgabe des Speisebreies in das Duodenum gestört bzw. aufgehoben. Dabei bereitet eine teilweise oder subtotale Gastrektomie meist weniger Probleme als eine totale. Unter den in Tabelle 11 aufgeführten Problemen nach Gastrektomie sind das Früh- und Spät-Dumpingsyndrom sowie die Syndrome der zu- und abführenden Schlinge mit den heutigen Operationstechniken selten geworden. Das wesentliche ernährungsmedizinische Problem ist eine unzureichende Deckung des Energie- und Nährstoffbedarfs. Bei 10 bis 20 % der Patienten mit einer Magenteilresektion und bei 60 % der Patienten mit totaler Gastrektomie liegt das Körper­ gewicht unter der Norm. Ursache sind eine unzureichende Nahrungsaufnahme infolge Inappetenz und eine Malassimila- Seite 49 Syndrom Klinik Ursache Diagnostik „Frühdumping“ Nausea, Emesis, epigastrisches Druck- bzw. Völlegefühl, Tenesmen, Stuhldrang, vasomotorische Beschwerden wie Schweißausbruch und Schwindel bis zu 30 Min. postprandial rascher Übertritt von ­hypertonem Mageninhalt in den Dünndarm mit nachfolgender Ver­schiebung von Plasmavolumen und Ausschüttung von Hormonen (Serotonin, Bradykinin) Magen-Darm-Passage, Klinik „Spätdumping“ reaktive Hypoglykämie 90 – 180 Minuten postprandial hohe Insulinausschüttung durch eine schnelle Passage leicht resorbierbarer Kohlenhydrate Glukosetoleranztest Biliärer Reflux (bei 50%) Sodbrennen, Ösophagitis Gallereflux bzw. saurer Reflux nach partieller Gastrektomie Endoskopie Syndrom der zuführenden Schlinge postprandiales Völlegefühl, dumpfe oder kolikartige Schmerzen oder plötzliches galliges Erbrechen Typ I: Passage von Speisen in zuführende Schlinge Sonographie, Magen-Darm-Passage, MRT (Magnetresonanztomographie) Syndrom der abführenden Schlinge akut: Symptome des hohen mechanischen Ileus chronisch: intermittierendes Erbrechen mit Beimengungen von Nahrungsbestandteilen und Galle Obstruktion der abführenden Schlinge Magen-Darm-Passage, Endoskopie Pankreatikozibale Asynchronie Steatorrhoe (bei 16 – 43 %) unzureichende Durch­mischung des Nahrungsbreies mit Pankreassekret Therapie mit Pankreasfermenten Typ II: gestörter Zufluss von Pankreassekret und Galle in den abführenden Dünndarm Tabelle 11: Mögliche Komplikationen und deren Diagnostik nach Gastrektomie tion. Ursächlich für die Malassimilation werden eine verminderte Verdauung von Nährstoffen als Folge einer unzureichenden Durchmischung des Speisebreies mit Bauchspeicheldrüsensekret durch die schnelle Passage des Speisebreies (sogenannte „pankreatikozibale Asynchronie“), eine bakterielle Fehlbesiedelung des oberen Gastrointestinaltraktes aufgrund der fehlenden Säurebarriere im Magen, Stase Seite 50 beim Syndrom der zuführenden Schlinge, eine reduzierte Gallensäurekonzentration in den proximalen postanastomotischen Dünndarmabschnitten und das Fehlen des Intrinsic Factors angesehen. Bei 50 % der Patienten besteht auch eine Laktoseintoleranz. Die Angaben zur Häufigkeit von Mängeln und Folgen der Malassimilation nach Gastrektomie sind für die einzelnen Nährstoffe unterschiedlich. Ein Eisenmangel wird bei 40 bis 70 % der Patienten an­ gegeben, ein Vitamin B12-Mangel bei 36 bis 80 %, ein Folsäuremangel bei 33 bis 41 %, ein Vitamin D-Mangel bei bis zu 50 %, ein Kalziummangel bei bis zu 30 % (und folglich mehrere Jahre nach Gastrektomie ein sekundärer Hyperparathyreoidismus) und eine Störung der Knochenmineralisation („Postgastrektomie-Osteopathie“), altersabhängig bei 15 bis 75 % der Patienten. 30 bis 75 % leiden unter einer Anämie. Nach Gastrektomie ist eine frühzeitige Ernährungsberatung des Patienten wichtig, um eine Mangelernährung zu begrenzen und Nährstoffdefizite rechtzeitig auszuglei- • Basis „leichte Vollkost“ mit mehreren (zunächst bis zu 10, später 6-8), kleinen, über den Tag verteilten Mahlzeiten • Langsam essen • Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten • Zu den festen Speisen maximal 1/2 Tasse Flüssigkeit; 15 Min. vor und 30 Min. nach einer Mahlzeit keine größeren Mengen trinken • Beim „Früh-Dumping“ Verzehr eines Stückes Brot 15 Min. vor der Mahlzeit; natriumarm essen (Salz erhöht die Osmolarität!); Nahrungsaufnahme im Liegen, evtl. Anlegen einer Bauchbinde • Bei „Spätdumping“ schnell aufnehmbare Kohlenhydrate meiden, z.B. Lebensmittel und Getränke mit Zucker, Honig und Sirup, Maltodextrin. Als Ersatz Süßstoffe verwenden. Zusatz von Pektin, Guar zu den Mahlzeiten bzw. Einnahme von Acarbose. (Abnehmende Intensität der Symptome mit der Zeit (2/3 nach ca. 10 Jahren beschwerdefrei!) • Bei Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) milchzuckerfreie Milch und Milchprodukte oder Sojaprodukte (mit Kalzium angereichert) verwenden • Bei Fettunverträglichkeit und höhergradiger Steatorrhoe Koch- und Streichfett durch ein spezielles Fett mit mittelkettigen Fettsäuren (MCT) ersetzen (MCT-Basis plus Margarine und Öl) • Wenn verträglich, Bevorzugung ballaststoffhaltiger Lebensmittel • Bei pankreatikozibaler Asynchronie Substitition von Pankreasfermenten • Parenterale Vitamin-B12-Zufuhr (auch bei partieller Gastrektomie oder bakteriellem Abbau nötig!). An weitere Vitamin-und Spurenelementdefizite ist zu denken! Tabelle 12: Ernährung nach Gastrektomie Seite 51 chen. Die Grundlagen der Ernährungstherapie sind in Tabelle 12 zusammengefasst. Eine Vitamin-B12-Substitution ist Standard, auch bei partieller Gastrektomie, da eine unzureichende Zufuhr mit der Nahrung, ein Mangel an Intrinsic Faktor oder ein Abbau durch Bakterien zum Vitamin B12Mangel führen kann. Da die Leber über Vitamin-B12-Reserven von bis zu 2 Jahren verfügt, kann ein Mangel erst nach Jahren auftreten. eine parenterale Ernährung notwendig. Kurzdarmsyndrom Ernährungsrelevante Probleme nach einer Ileumresektion hängen vom Ort und der Ausdehnung der Resektion ab. Eine Resektion von 50-100 cm terminalen Ileums führt zu einem kompensierten Gallensäureverlustsyndrom. Es tritt zwar eine chologene Diarrhoe mit wässerigen Durchfällen auf, aber die Fettresorption ist noch erhalten. Da Gallensäuren ausschließlich im terminalen Ileum rückresorbiert werden, gehen bei einer Resektion von über 1 m terminalen Ileums vermehrt Gallensäuren verloren und ihr Pool verringert sich. Die Abnahme der Gallensalzkonzentration in der Galle führt zum Unterschreiten der kritischen mizellären Konzentration mit Fettmaldigestion und Fettmalabsorption und damit zur Steatorrhoe (dekompensiertes Gallensäureverlustsyndrom). Damit verbunden ist eine Resorptionsstörung der fettlöslichen Vitamine A, D, E und K. Der Gallensäureverlust ist auch Ursache einer vermehrten Lithogenität der Galle und Gallensteinbildung. Die durch die geringe Gallensäurekonzentration verzögert resorbierten Fettsäuren bilden mit Kalzium unlösliche Kalkseifen. Damit steht weniger Kalzium zur Bildung von wasserunlöslichem Calciumoxalat zur Verfügung und es wird mehr freie, mit der Nahrung aufgenommene Oxalsäure resorbiert. Zudem Zentraler Pathomechanismus beim Kurz­ darmsyndrom ist die Reduktion der funktionellen Oberfläche des Dünndarmes mit verkürzter Kontaktzeit des Darminhaltes in Abhängigkeit von der Grunderkrankung, dem Ausmaß der Resektion, den betroffenen Dünndarmabschnitten, dem Vorhandensein der Ileozökalklappe, dem Vorhandensein des Dickdarmes, der Funktion und Physiologie des Restdarmes und vom zeitlichen Abstand zur Operation. Der Dünndarm ist etwa 3 m lang, die Länge des Jejunums beträgt etwa 1,2 m, die des Ileums etwa 1,5 m. Von besonderer Bedeutung sind das terminale Ileum und die Dickdarmklappe (Ileozökalklappe oder Bauhin‘sche Klappe), der Übergang zum Dickdarm, da ausschließlich dort die Rückresorption der Gallensäuren stattfindet. Nach einer Resektion von bis zu 50 % des Dünndarmes kann in der Regel der Verlust an Resorptionskapazität durch Adaptation des Restdarmes ausgeglichen werden, ab einer Entfernung von über 75 % kommt es in der Regel zu einer ausgeprägten Malabsorption und Malnutrition. Ab einer Restlänge von unter 100 cm ist häufig Nach Jejunumresektion kommt es zu einer beschleunigten Magenentleerung. Ursache ist die abnehmende reflektorische Hemmung der Magenentleerung durch den Speisebrei. Günstig ist, dass ein Großteil der Resorptionskapazität des Jejunums vom Ileum übernommen werden kann. Da die stärkste Laktaseaktivität im proximalen Dünndarm vorhanden ist, ist eine Laktoseintoleranz häufig. Seite 52 gelangt mit den Gallensalzen mehr Glyzin ins Kolon, das nach bakterieller Umwandlung in Glyoxalat in der Leber in Oxalsäure umgewandelt wird. Die gesteigerte Oxalsäureresorption kann zur Bildung von Oxalatharnsteinen führen. Auf oxalsäurereiche Lebensmittel sollte dann verzichtet werden (siehe Tabelle 13). Die Ileozökalklappe beeinflusst zusammen mit dem terminalen Ileum den proximalen intestinalen Transit (sogenannte Ileumbremse). Auch verhindert sie bei Bewegungs­ störungen des Dünndarmes ein Aufsteigen von Dickdarmbakterien und eine nachfolgende bakterielle Fehlbesiedelung. Bei Resektion der Ileozökalklappe ist die Transitzeit verkürzt und die Kontaktzeit des Darminhaltes mit der Darmwand vermindert. Die Keimaszension kann durch Störung der Gallensäurerückresorption infolge bakterieller Dekonjugation zu einer Steatorrhoe führen. Nach Dünndarmresektion wird auch eine passagere Hyperazidität des Magens beobachtet. Bei einem Verlust des Dünn­ darmes ist der zusätzliche Verlust des Kolons besonders gravierend, da hier der Stuhl konzentriert wird und Flüssigkeitsverluste begrenzt werden können. Ab einer Dünndarmrestlänge von < 100 cm ist bei fehlendem Kolon von einer negativen Flüssigkeitsbilanz auszugehen und eine parenterale Flüssigkeitssubstitution not­ wendig. Bei vorhandenem Kolon ist die Flüssigkeitsresorption meist ausreichend und die Adaptation des verbleibenden Dünndarmes besser. Die Resorptionsorte von Eiweiß und Kohlenhydraten sowie von Elektrolyten, Spurenelementen und Vitaminen sind zur Diagnostik und Therapie möglicher Mängel • Individuelle Ernährung in Abhängigkeit vom Ort und der Ausdehnung der Operation • Kostumstellung allmählich beginnend mit 10 % des täglichen Energiebedarfs und einer Steigerung um 10 % alle 3-7 Tage • Basis: „leichte Vollkost“ mit 6-8 kleinen, ballaststoffarmen Mahlzeiten. Essen und Trinken trennen. Zusatznahrung. • Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten (Laktoseintoleranz!) • Fettzufuhr bis zu 40 % der Gesamtenergiezufuhr mit je 50 % mittel(MCT-Basis plus Margarine und Öl) und langkettigen Fettsäuren • Je geringer das Restjejunum, um so höher ist der Energiebedarf. (bei < 100 cm Restjejunum Resorption von zunächst nur 50-60 % der oral zugeführten Energie!) • Oxalsäurereiche Lebensmittel vermeiden: Spinat, Mangold, Rhabarber, Sauerampfer; größere Mengen Kakaopulver und dunkle Schokolade • Substitution von Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen • Eventuell zusätzlich parenterale Ernährung (Flüssigkeit!) Tabelle 13: Ernährung bei Kurzdarmsyndrom Seite 53 Resorption von Kohlenhydraten und Proteinen • in allen Dünndarmabschnitten möglich • daher allein Ausmaß der Resektion bedeutsam • „ruhende“ funktionelle Reserve bis zu 70 % Resorption von Vitaminen und Spurenelementen • Vitamin B12 nur im terminalen Ileum (keine Übernahme durch andere Darmabschnitte) • Folsäure und Vitamine des B-Komplexes im gesamten Dünndarm • Eisen, Kalzium und Magnesium überwiegend duodenal • Verlust von Kalzium und Magnesium auch durch Kalkseifenbildung infolge Fettmalabsorption • Verstärkung der gestörten Kalzium-Aufnahme durch Vitamin D-Mangel • S purenelemente entlang des gesamten Dünndarmes: Mangel Folge der Ausdehnung der Resektion Tabelle 14: Resorptionsorte von Makro-und Mikronährstoffen im Dünndarm in Tabelle 14 zusammengestellt. Eine teilweise Dünndarmresektion führt in den Restabschnitten zu Anpassungen von Struktur und Funktion. Die Größe von Zotten und Krypten nimmt zu und Partialfunktionen können gesteigert werden, zum Beispiel die Expression des NatriumGlukose-Kotransportes. Zudem wächst der Darm in Länge und Durchmesser, und ein geändertes Motilitätsmuster führt zu einer verlängerten Kontaktzeit. Diese Anpassung läuft in drei Phasen ab (Tabelle 15). In den ersten beiden Phasen adaptiert sich der verbleibende Darm in­nerhalb von bis zu 2 Jahren. In der dritten, der Erhaltungsphase, ist es Ziel der Thera­pie, anhaltende Funktionsstörungen zu be- seitigen und Entwicklungen von Mängeln zu verhindern. Ab 60 bis 80 cm Restdarm wird postoperativ mit einer oralen Ernährungstherapie so früh wie möglich begonnen, um schnell eine maximale Anpassung des Restdarmes zu erreichen. Die Grundprinzipien der Ernährungstherapie sind in Tabelle 13 und Tabelle 15 zusammengestellt. Tabelle 16 gibt zudem eine Übersicht über die Mikronährstoffsupplementierung. Die über eine lange Zeit notwendige Betreuung von Patienten mit Kurzdarmsyndrom benötigt ein Team mit besonderen Fachkenntnissen, wenn möglich in einer Spezialambulanz. Seite 54 Phase Charakteristikum Zeitraum Ernährungstherapie I Stuhlvolumina > 2,5 l Hypersekretion 4-12 Wochen TPN, Elektrolytersatz, frühe enterale Ernährung („Zottenfütterung“) II Stuhlvolumina < 2,5 l Adaptation 4 Wochen bis 2 Jahre Ergänzung/Ersatz der TPN durch enterale Ernährung, vorsichtiger Kostaufbau III Maximale Adaptation bis 2 J ahre Nach 3 Monaten normale Ernährung, ggf. mit Supplementierung (Trinknahrung, Sondenkost, Vitamine, Spurenelemente), ggf. zusätzlich parenterale Ernährung Tabelle 15: Adaptationsphasen des Kurzdarmsyndroms (Amasheh et al. 2007) Fettlösliche Vitamine Vitamin D 10 000 IE Cholecalciferol Vitamin A 50 000–150 000 IE Vitamin K 15 mg Wasserlösliche Vitamine Vitamin C 500 mg Vitamin B12 1 mg i.m. alle 8 Wochen Folsäure 5–15 mg Mineralien/Spurenelemente Kalzium 1–2 g Magnesium 50–400 mg Eisen 100–150 mg Zink 300 mg Phosphat 30–45 mmol Selen 60–100 μg Tabelle 16: Tägliche Mikronährstoff­supplementierung bei Kurzdarmsyndrom (Amasheh et al. 2007) Seite 55 Kolonresektionen Das Kolon resorbiert einen großen Teil der Ileumflüssigkeit sowie der darin enthaltenen Kohlenhydrate. Zudem werden dort kurzkettige Fettsäuren resorbiert. Bei Verlust des Kolons kann es zu erheblichen Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten und auch einem Verlust an Makronährstoffen kommen. Dennoch gibt es nach Kolonresektionen keine spezifische Ernährung. Es wird lediglich empfohlen, auf individuelle Intoleranzen sowie Flüssigkeits- und Elektrolytverluste zu achten. jede Zubereitungsform die individuelle Toleranz zu ermitteln. In der Phase des Kostaufbaus sollte höchstens ein neues Lebensmittel pro Tag in nicht zu großer Menge zugelegt werden. Erst nach etwa 8 bis eventuell 12 Wochen kommt es zu einer Stabilisierung der Stuhlbeschaffenheit, die jedoch flüssig bis breiig bleibt. Die Ernährungsrichtlinien bei Ileostoma sind in Tabelle 17 zusammengestellt. Dünndarmstoma (Ileostoma) Ziel der Ernährungstherapie bei Ileostoma ist, in Abhängigkeit vom Restdarm einen Flüssigkeits- und Elektrolytverlust und auch eine chemische Reizung des Stomas durch Lebensmittel zu vermeiden. Eine Einheitsdiät für Stomaträger gibt es nicht. In Abhängigkeit von der Restdarmfunktion ist für jedes Lebensmittel und • Basis: Prinzip der „leichten Vollkost“ • Langsam essen und trinken • Ballaststoffe < 20–30 g/d • Evtl. milchzuckerreduzierte Kost • Säurearm, mild gewürzt • Abdominelle Beschwerden bei 40–60 % durch: gebratenes Fleisch, Fisch, Bohnen, Erbsen, Blattkohlgemüse und Rhabarber • Ausreichende Trinkmenge wichtig: ca. 3 l pro Tag. Mindestens Produktion von 1 l Urin pro Tag (Gefahr des prärenalen Nierenversagens). Nicht überhastet trinken! (Steigerung des Stomavolumens!) • Kochsalzaufnahme 6–9 g pro Tag • Quellende Lebensmittel, flüssigkeitsbindende Präparate (Pektine), industriell hergestellte Dickungsmittel (Guar) Tabelle 17: Ernährung bei Dünndarmstoma Seite 56 Dickdarmstoma (Kolostoma) Ziele der Ernährungstherapie sind, unter einer bedarfsgerechten Ernährung eine möglichst normale Stuhlfrequenz und Stuhlkonsistenz zu erreichen, eine peristomale Hautreizung zu vermeiden sowie den Windabgang und die Geruchsentwicklung gering zu halten. Die Stühle sind zu Beginn des Kostaufbaus oft flüssig und weich. Bei funktionsfähigem Dünndarm wird nach einer etwa zweiwöchigen Anpassungsphase eine normale Stuhlbeschaffenheit erreicht. Grundlage der Ernährungstherapie sind ein geregelter Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten und ein langsames Essen und gutes Kauen. Ernährungsempfehlungen zu den verschiedenen Problemen bei vorhandenem Kolostoma gibt Tabelle 18. • Keine festgelegte Diät • Bis zu 1 Jahr „leichte Vollkost“ empfehlenswert • Regelmäßige Mahlzeiten • Ausreichende Nährstoffzufuhr beachten • Blähungsfördernd kohlensäurehaltige Getränke (Sekt, Bier, Federweißer), koffeinhaltige Getränke, frisches Obst, Birnen, Rhabarber, Hülsenfrüchte, Kohlgemüse, Paprika, Zwiebeln, Knoblauch, Spargel, Schwarzwurzeln, Pilze, frisches Brot, Pumpernickel, Eier, Eiprodukte, Mayonnaise • Blähungshemmend Kümmel, Fenchel, Anis (Gewürz, Öl, Tee), Heidelbeeren, Preiselbeeren, Joghurt • Geruchsfördernd Kohlgemüse, Bohnen, Spargel, Pilze, Zwiebeln, Knoblauch, Schnittlauch, Eier, ­Eiprodukte, Fleisch, Fleischerzeugnisse, v.a. Geräuchertes und Gebratenes, Fisch, Fischerzeugnisse, Käse, v.a. vollreife und vollaromatische Hartkäse, scharfe Gewürze • Geruchshemmend Petersilie, Spinat, Heidelbeeren, Preiselbeeren, grüner Salat, Joghurt • Abführende Wirkung Milch und gesäuerte Milchprodukte, alkoholische, koffein- und kohlensäure­haltige Getränke, Säfte, Rohkost, frisches Obst, Feigen, Trockenpflaumen, Vollkorn­produkte, fette und gebratene Speisen, scharfe Gewürze • Stopfende Wirkung Kakao, Schokolade, Schwarztee, Hafer- und Reisschleimsuppe, Weißmehlprodukte (abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck), geriebener Apfel, Banane, Heidelbeeren, gekochte Karotten, Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis, trockener Käse, Kokosflocken Tabelle 18: Ernährung bei Dickdarmstoma Seite 57 Operationen im Bereich des Pankreas Die Bauchspeicheldrüse hat bei der Verdauung und im Stoffwechsel in- und exkretorische Funktionen. Endokrin wird in den α-Zellen der über das ganze Pankreas verteilten Langerhans‘schen Inseln Glukagon und in den β-Zellen Insulin gebildet. Die exokrine Funktion besteht in der Produktion von Verdauungsenzymen zur Spaltung von Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten sowie von Elektrolyten, vor allem Natrium, Kalium und Chlorid sowie Hydrogenkarbonat. Der Ausfall der endokrinen Funktion führt zu einem Diabetes mellitus, ein Ausfall der exokrinen Pankreasfunktion zur Beeinträchtigung der Nahrungsausnutzung mit einer Fettmaldigestion und Steatorrhoe als führendem Symptom. Aber auch bei totalem Ausfall des exokrinen Pankreas enthält der Stuhl nur ca. 60 % der zugeführten Fettmenge. Eine Fettrestriktion wird daher nicht als erste Maßnahme empfohlen. Die Entferntes Organ Aus­prägung der Symptome ist von der Art und Ausdehnung des operativen Eingriffes abhängig (Operation nach KauschWhipple: Entfernung von Pankreaskopf, 2/3 des Magens, Duodenum, Gallenblase; pyloruserhaltende Pankreaskopfresektion nach Traverso-Longmire: Entfernung von Pankreaskopf, Duodenum, Gallenblase) (Tabelle 19). Grundsätzlich erhalten alle Patienten eine Enzymtherapie in beschwerdeadaptierter Dosis. Auch bei totaler Pankreasentfernung können damit 80 bis 100 g Fett meist bedarfsdeckend ausgenutzt werden. Dabei ist eine Fettzufuhr in halbflüssiger Form günstiger als eine in fester Form. Bei erhaltener Magensäuresekretion werden Pankreasenzyme in Form säuregeschützter Mikrotabletten oder Mikropellets (Durchmesser ≤ 2 mm) gegeben. Ein Mangel an fettlöslichen Vitaminen, evtl. auch Vitamin B12 ist auszugleichen. Nach Kausch-Whipplescher Op-bedingte Folgen Ernährungstherapie Kopf Verdauungsinsuffizienz, evtl. Diabetes mellitus energiereich, fettmodifizierte Kost, evtl. Diabetes-Prinzip Schwanz endokrine Insuffizienz, evtl. exokrine Insuffizienz Kost mit Diabetes-Diät-Prinzip, evtl. fettmodifizierte Kost Totalresektion exokrine und endokrine Insuffizienz Fettmodifizierte Kost und Diabetes-Diät-Prinzip Magen (2/3 Resektion) evtl. Dumping-Syndrom, Malassimilation, evtl. Laktoseintoleranz, Mangelernährung viele kleine Mahlzeiten, fettmodifiziert, evtl. meiden schnell aufnehmbarer Zuckerstoffe, evtl. laktosearm, Essen und Trinken trennen Duodenum Maldigestion, Malabsorption wie oben Pankreas Teilresektion Tabelle 19: Ernährungstherapie nach Operationen im Bereich des Pankreas Seite 58 Operation liegt die Inzidenz eines Diabetes mellitus bei 20-50 %. Er wird mit intensivierter Insulintherapie behandelt. Die Hauptgefahr dieser Folgeerkrankung liegt im Auftreten von Hypoglykämien, da der Mangel auch an Glukagon zu keiner Gegen­regulation führt. Grundlage der Ernährung ist eine eher leichte, vor allem gut verträgliche Vollkost. Bei biliodigestiver Anastomose besteht eine erhöhte Gefahr aufsteigender Infektionen (aszendierende Cholangitis) durch Darmbakterien. Patienten sollten über die Früherkennung von Symptomen (Fieber, Oberbauchschmerzen) unterrichtet sein, da eine rasche Antibiotikatherapie erforderlich ist. 4.4 E rnährung bei Chemotherapie Grundlage der oralen Ernährung ist eine Vollkost oder leichte Vollkost, die individuell als „gesteuerte Wunschkost“ unter Berücksichtigung von Unverträglichkeiten und Wünschen des Patienten zusammengestellt ist (siehe Kap. 4.1. Empfehlungen zur Ernährung bei Tumorerkrankungen). Hinweise zur Ernährung bei Beschwerden und möglichen Nebenwirkungen unter der Therapie geben die Tabellen 20 bis 23. Leukopenie- und immunsupprimierte Patienten erhalten zur Minderung des Infektionsrisikos eine keimreduzierte Kost. Dabei ist die Lebensmittelauswahl durch den Verzicht auf rohes Obst und Gemüse sowie rohe und halbgare Lebensmittel eingeschränkt, Speiseschimmelkulturen sind verboten. Die Speisen werden frisch und mit besonderer Sorgfalt von der Küche • Kleine Portionen anbieten • Nahrungszufuhr alle 2-3 Stunden, evtl. auch nachts • Geschmackliche Akzeptanz der Nahrungsmittel berücksichtigen (Geschmacksschwelle für Bitter ist herabgesetzt; nacheinander Wiederauftreten des Geschmacksempfindens für Süßes, Bitteres, Saures, Salziges; häufig Dysgeusie: ranziger, bitterer, metallischer Geschmack, Geschmack nach Pappe) • Starke Essensgerüche vermeiden (gut belüftete Räume, Abdeckungen der Speisen vor dem Auftragen entfernen) • Mahlzeiten appetitlich anrichten • Gewürzarm kochen und selbst nachwürzen lassen • Appetitanregend wirken auch Aperitifs, Wein oder Bier eine Stunde vor dem Essen Tabelle 20: Ernährung bei Appetitlosigkeit, Geschmacksveränderungen (Dysgeusie) und ­Geschmacksverlust (Hypo-, Ageusie) Seite 59 zubereitet, verpackt und zugedeckt auf die Station geschickt. Leidet ein Patient zusätzlich an weiteren Krankheitsbildern, z.B. Diabetes mellitus, Störungen der Leber-, Bauchspeicheldrüsen- und/oder Nierenfunktion oder an Operationsfolgen, so sind die für die jeweilige Erkrankung speziellen Ernährungsrichtlinien zu berücksichtigen. • Flüssige oder pürierte Kost bevorzugen • Scharfe Gewürze und zu salzige Speisen vermeiden • Zu säurehaltige Nahrungsmittel (Obst mit hohem Fruchtsäuregehalt wie z.B. Johannisbeeren, Orangen, Grapefruit und Obstsäfte sowie Tomaten) vermeiden • Evtl. industriell gefertigte Säuglingsnahrung anbieten (meist säure- und salzarm sowie passiert) • Nicht zu kalt und nicht zu heiß essen • Kohlensäurehaltige Getränke vermeiden; besser sind stille Wasser oder Tee (Kamillen-, Fenchel-, Salbeitee) • Der Speichelfluss kann durch häufiges Trinken kleiner Flüssigkeitsmengen, Kaugummi, Pfefferminztee, zuckerfreie Drops angeregt werden • Verträglichkeit von Frischmilch im Hinblick auf Verschleimung testen. Geeignet sind: Sauermilch, Sauermilchprodukte, Kefir, Sojadrinks • Zur Kariesprävention auf eine besonders gute Zahnhygiene achten! Tabelle 21: Ernährung bei Schluckbeschwerden, Entzündungen der Mundhöhle, Mundtrockenheit (Xerostomie) • Leichte Kost in vielen kleinen Mahlzeiten anbieten • Rasches Essen und Trinken vermeiden • Keine besonders süßen, fetthaltigen, blähenden oder stark riechenden Speisen anbieten • Keine gebundenen Suppen oder Saucen anbieten • Lieblingsspeisen nicht anbieten, um eine „erlernte Aversion“ gegen diese Speisen zu verhindern • Kühle, leicht gewürzte Speisen bevorzugen • Trockene, stärkehaltige Nahrungsmittel (Cracker, Zwieback, Toast) verhindern Erbrechen • Günstig sind auch kalte Getränke wie Cola Tabelle 22: Ernährung bei Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen Seite 60 Bei starken Durchfällen ist eine leichte, fett-, laktose- und ballaststoffarme Kost empfehlenswert Vermeiden: •S aure Säfte aus Orangen, Grapefruits, Johannisbeeren, Tomaten, Sauerkraut; Brottrunk • Alkohol und alkoholhaltige Getränke • Kaffee (Coffein motilitätssteigernd) • Kohlensäurehaltige Getränke, sulfatreiche Mineralwässer (Sulfatgehalt > 200 mg/l), • Säurehaltige Obstsorten wie Zitrusfrüchte, rohes Steinobst, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Weintrauben •F risches Obst; laxierende Obstsorten wie Aprikosen, Erdbeeren, Pfirsiche, Pflaumen (enthalten Diphenylisatin = laxierende Substanz) • Trockenobst (Datteln, Feigen, Rosinen, Pflaumen) • Rohkost • Gemüsesorten wie Bohnen, Kohl, Wirsing, Sauerkraut, Hülsenfrüchte, Lauch, Knoblauch, Zwiebeln • Nüsse, Mandeln •G rob geschrotete Vollkornprodukte, Vollkornbrot mit ganzen und grob geschroteten Körnern, Vollkorngerichte • Milch, Molke, gesäuerte Milchprodukte wie Butter-, Dickmilch, Kefir, Joghurt •F ettreiche Gerichte und Lebensmittel: frittierte, panierte Speisen; fette Fleisch-, Fisch- und Wurstwaren; fettreiches Gebäck (Sahne- und Cremetorten, Berliner, Blätterteiggebäck) • Röstprodukte: stark gebratene, geröstete und gegrillte Speisen • Scharfe Gewürze • Fruktose, Sorbit Bevorzugen: • Fencheltee, Gerbsäure-haltige Teesorten (Schwarztee), Kakao, Schokolade •B anane, geriebener ungeschälter Apfel (enthält viskositätssteigerndes Pektin, bindet Gallensäure), gekochte Karotten, Heidelbeeren • Hafer- und Reisschleimsuppe • Weißmehlprodukte: abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck • Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis • Trockener Käse •Z ugabe von Guar, Johannisbrotkernmehl (lösliche Ballastoffe, viskositätssteigernde Quellstoffe, binden toxische Substanzen) Tabelle 23: Ernährung bei Durchfall, Blähungen und Völlegefühl Seite 61 Bei der Kostzusammenstellung ist auch auf Substratverwertungsstörungen (z.B. Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) und Nährstoffmängel zu achten (z.B. Kalziummangel bei Laktoseintoleranz, Vitamin-B12-Mangel nach Gastrektomie und Entfernung des terminalen Ileums, Mangel an fettlöslichen Vitaminen bei Fettmalabsorption). Auch hier werden zur Verbesserung der Energie- und Nährstoffzufuhr bilanzierte Trinknahrungen empfohlen, zum Beispiel als Zwischenmahlzeit. Eine weitere Möglichkeit zur Energieanreicherung sind KohlenhydratKonzentrate wie Maltodextrin, die geschmacksneutral sind und in Speisen und Getränke eingerührt werden. Das gleiche gilt für fetthaltige Emulsionen. Eine routinemäßige enterale oder parenterale Ernährung ist unter einer Chemotherapie nicht indiziert. In zwei Untersuchungen konnte allerdings gezeigt werden, dass Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die bei unzureichender oraler und enteraler Ernährung zusätzlich parenteral ernährt wurden, länger überlebten. Eine Untersuchung belegt auch die lebensverlängernde Wirkung einer zusätzlichen Insulingabe. 4.5 E rnährung bei Radio- und Radio-/Chemotherapie Auch während einer Radio- und einer Radio-/Chemotherapie erhalten die Patienten eine Vollkost oder leichte Vollkost als „gesteuerte Wunschkost“, bei Nebenwirkungen modifiziert nach den Empfehlungen der Tabellen 20-23. Besonders Patienten mit Kopf-, Hals- und gastrointestinalen Tumoren profitieren von einer regelmäßigen intensiven Ernährungsberatung und dem Einsatz von Trinknahrung. Bei Patienten mit obstruierenden Kopf-, Hals- oder Ösophagustumoren oder bei zu erwartender schwerer strahleninduzierter oraler oder ösophagealer Mukositis besteht die Indikation zur enteralen Ernährung, bevorzugt über eine perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG). Bei unzureichender oraler und/oder enteraler Ernährung wird parenteral ernährt, z.B. bei chronischer, schwerer, radiogener Enteritis. Seite 62 4.6 Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation: Knochenmarktransplantation (KMT), autologe und allogene hämatopoetische Zelltransplantation (HZT) Die hämatologische Zelltransplantation wird unter anderem zur Heilung von bösartigen lymphatischen Erkrankungen des Knochenmarks eingesetzt. Man unterscheidet die autologe und die allogene Transplantation. Bei der autologen Transplantation werden dem Patienten die vor der Chemo-/Radiotherapie entnommenen eigenen hämatopoetischen Stammzellen wieder zurückgegeben, bei der allogenen erhält er Zellen eines Familien- oder Fremdspenders. Jeder Patient benötigt bei der Aufnahme, unter der Transplantation und bei der Entlassung eine individuelle, auf die Besonderheiten der Zelltransplantation abgestimmte Ernährungsbetreuung und Ernährungstherapie. Bei der allogenen Transplantation gibt es 5 Phasen für eine unterschiedliche Ernährungstherapie: 1. der Ernährungsstatus bei der Aufnahme, 2. die Ernährung unter Chemo-/Radio- therapie-Konditionierungstherapie, 3.die Aplasiephase (Phase der starken Zellverminderung) 4. das Anwachsen des Transplantates mit der Möglichkeit einer akuten Abstoßungsreaktion (GvHD = Graft versus Host Disease) und 5. die frühe Phase der Entlassung. Bei der autologen Transplantation gibt es nur die Phasen 1 bis 3. In den verschiedenen Phasen einer Transplantation treten individuell unterschiedlich starke, multiple und auch ernährungsrelevante Probleme wie Übelkeit und Erbrechen, eine Schleimhautentzündung im Mund und dem gesamten Magen-Darm-Trakt mit unzureichender Energie- und Nährstoffaufnahme, Maldigestion und Malabsorption und eine hohe Infektanfälligkeit auf. Eine besondere Herausforderung ist die akute oder chronische Graft versus Host Disease (GvHD), eine Inflammation des gesamten Magen-Darm-Traktes mit Diarrhoe, Maldigestion und Malabsorption und dadurch bedingten Flüssigkeits- und Nährstoffverlusten. Die ernährungsmedizinische Betreuung transplantierter Patienten benötigt ein erfahrenes Ernährungsteam. Hier werden daher nur die Grundlagen der Ernährungstherapie besprochen. Für spezifische Fragen, die vor allem die allogene Transplantation betreffen, sei auf die Fachliteratur verwiesen. Die orale Ernährung entspricht den Grundsätzen der Ernährung unter einer Chemotherapie. Die keimarme Zubereitung der Speisen muss aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr streng beachtet werden. Probiotische Joghurts, Malzbier, Limonaden, Mineralwasser und Tomatensaft sollten den Patienten erst bei einer Granulozytenzahl über 500/μl und einer Leukozytenzahl über 1000/μl angeboten werden. Allogen transplantierte Patienten müssen die keimarme Kost ca. 100 Tage einhalten. Eine Übersicht über Lebensmittel, bei denen auch für Gesunde ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht und die von Patienten unter Immunsuppression auch in der Nachsor- Seite 63 gephase vermieden werden sollen, gibt Tabelle 24. Nach langen Phasen einer Nahrungskarenz ist die Ernährung aufzubauen. Bei bestehender GvHD können besondere Ernährungsverordnungen notwendig sein, z.B. eine glutenfreie, laktose- und ballaststoffarme Kost. Zur Optimierung der oralen Ernährung werden Trinknahrungen empfohlen. Eine routinemäßige enterale oder parenterale Ernährung ist nicht indiziert. Wird enteral ernährt, können Standardnahrungen eingesetzt werden. Nach allogener Transplantation allerdings ist eine parenterale Ernährung häufig für längere Zeit erforderlich. Regelmäßige Kontrollen des Ernährungszustandes sind besonders wichtig, vor allem auch nach der Entlassung, um Energie- und Nährstoffdefizite rechtzeitig auszugleichen, eventuell mit einem kombinierten Ernährungsregime. Milch Rohmilch ist oft stark keimbelastet � Milch kochen oder pasteurisierte Milch kaufen Käse Rohmilchkäse kann gesundheitsbedenkliche Bakterien (Listerien) enthalten � Käsesorten, die aus pasteurisierter Milch hergestellt wurden Fleisch Rohes Fleisch wie Tatar, Mett oder Carpaccio können Krankheitserreger übertragen � Fleisch immer gut durchgaren Geflügel Salmonellengefahr � immer gut durchgaren; im Kühlschrank auftauen und das Auftauwasser sorgfältig beseitigen Eier Bei rohen oder weichgekochten Eiern besteht weiterhin ein erhöhtes Risiko für eine Salmonellenvergiftung � kein Unterschied bezüglich Freiland- oder Massenhaltung Fisch Rohen Fisch (z.B. Sushi) meiden; Schalen- und Krustentiere u.a. nicht roh verspeisen. Es ist nicht kontrollierbar, ob diese aus verschmutzten Gewässern kommen. Getreide Nicht erhitztes Getreide meiden; Keimlinge und Sprossen sind oft mit Pilzen kontaminiert; keine Sojasaucen (Impfung mit Aspergillus) Gemüse Gut waschen! Keine abgepackten Mischsalate essen. Obst Waldbeeren können Überträger des Fuchsbandwurmes sein � kochen oder garen; rohe Beeren können gegessen werden, wenn sie aus dem Gartenanbau kommen. Nüsse In der Schale sind sie oft mit Schimmelpilzen behaftet; verarbeitete Nüsse sind möglich: geröstet oder z.B. im Kuchen mitgebacken. Eis Kein Softeis vom Stand oder Automaten � abgepacktes Eis aus der Tiefkühltruhe Tabelle 24: Ernährungsmedizinisch bedenkliche Lebensmittel nach hämatopoetischer Zelltransplantation (Medizinische Universitätsklinik Freiburg, Sektion Ernährungsmedizin und Diätetik, 2008) Immer: faule, schimmelige, übel riechende und farbveränderte Lebensmittel wegwerfen! Seite 64 4.7 Ernährung mit speziellen Substraten 4.8 M edikamentöse Therapie zur Stoffwechselmodulation In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin wird derzeit keine Empfehlung zur routinemäßigen Anwendung spezieller Substrate wie Glutamin, ω-3-Fettsäuren oder verzweigtkettige Aminosäuren während einer Chemo-, Radio-/Radiochemotherapie oder einer hämatopoetischen Zelltransplantation gegeben. Empfohlen werden kann die Anwendung dieser Substanzen aufgrund einer individuellen Entscheidung in Abhängigkeit vom klinischen Befund des Patienten. So gibt es neue Untersuchungen zur Therapie mit topisch bzw. intravenös angewandtem Glutamin und positiven Effekten in der Behandlung einer Chemound Radiotherapie-induzierten Mukositis, auch unter autologer Stammzelltransplantation. Eine Studie berichtet über eine signifikante Minderung des Grades einer Oxaliplatin-induzierten peripheren Neuropathie unter oraler Therapie mit 30 g Glutamin/Tag über 7 Tage mit Beginn der Oxaliplatintherapie. Die Daten zum Effekt von ω-3-Fettsäuren sind unterschiedlich, doch gibt es auch positive Ergebnisse im Bezug auf die antiinflammatorische Wirkung, den Gewichtserhalt und die Lebensqualität. Zwei Veröffentlichungen belegen unter einer Therapie mit 4 g bzw. 6 g L-Carnitin einen positiven Effekt auf das Fatigue-Syndrom. Beim Vorliegen einer systemischen tumorassoziierten Inflammationsreaktion wird in den Leitlinien empfohlen, zusätzlich zur Ernährungstherapie entzündungsmodulierende Medikamente zu verordnen. Wirksam sind Steroide (z.B. 20 mg Prednisolon) und Gestagene (500 mg Medroxyprogesteronacetat bzw. 160 mg Megestrolacetat) zur Besserung von Appetit, Körpergewicht und Lebensqualität. Zur Wirksamkeit von Gestagenen gibt es zwei Metaanalysen, die die Anwendung empfehlen. Steroide sollten nur für kurze Zeitintervalle und unter Abwägen von Nutzen und Nebenwirkungen, Gestagene unter Beachten des gesteigerten Thromboserisikos eingesetzt werden, zumal Tumorpatienten krankheitsbedingt häufig ein gesteigertes Thromboserisiko haben. Seite 65 5 Ernährung nach der Tumortherapie Durch die Fortschritte in der Krebstherapie in den letzten Jahrzehnten kann ein meist tumorfreies Überleben bei 60 % der Erwachsenen erreicht werden. Geheilten Patienten sowie Patienten in Remission wird empfohlen, sofern möglich einen präventiven, gesunden Lebensstil einzuhalten. Dieser besteht aus einer gesunden Ernährung, Rauchverzicht und körperlicher Aktivität. Zu den Ernährungsempfehlungen des World Cancer Research Fund (WCRF) und des American Institute for Cancer Research (AICR) im Einzelnen ­siehe Kap. 2.4. Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos. Seite 66 6 Ernährung in der Palliativsituation 6.1 Enterale und parenterale Ernährung außerhalb antitumoraler Therapie Patienten mit unheilbarer, fortgeschrittener Tumorerkrankung können heute trotz fehlender Antitumortherapie durch unterstützende medizinische Maßnahmen eine Lebenserwartung von mehreren Wochen oder Monaten haben und bis zu einem Punkt überleben, an dem eine Unterernährung die Länge der weiteren Überlebenszeit wesentlich mitbestimmt. Randomisierte Untersuchungen zum Wert einer künstlichen, auch parenteralen Ernährung, sind in diesen Situationen unethisch, wenn ein Vorteil der künstlichen Ernährung angenommen wird, aber auch, wenn der Untersucher die Vergeblichkeit einer künstlichen Ernährung nachweisen will. Falls die aufgrund der fortschreitenden Tumorerkrankung erwartete Überlebenszeit 2 bis 3 Monate, das heißt die Überlebenszeit bei vollständigem Hungern, übersteigt, kann begründet angenommen werden, dass eine künstliche, in dieser Situation meist parenterale Ernährung das Überleben eines Patienten verlängert, der keine orale Nahrung toleriert. In dieser Situation ähnelt eine künstliche Ernährung eher einer Basisbetreuung als einer medizinischen Therapie. Erfahrungen spezialisierter Zentren mit langfristiger parenteraler Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung zeigen mittlere Überlebenszeiten von 2 bis 5 Monaten. Dies bedeutet, dass ein erheblicher Anteil der so betreuten Patienten länger überlebte, als für die Bedingungen kompletten Hungerns angenommen werden muss. Da ein Vorteil einer künstlichen Ernährung nur dann besteht, wenn die Lebenserwartung mehr durch die unzureichende Nahrungszufuhr eingeschränkt ist als durch die Tumorerkrankung selbst, empfehlen unterschiedliche Expertengruppen den Einsatz einer künstlichen Ernährung dann zu erwägen, wenn die erwartete tumorabhängige Lebenserwartung zumindest 4 Wochen oder 2 bis 3 Monate beträgt. Bei einer kürzeren Lebenserwartung ist kein wesentlicher Vorteil einer künstlichen Ernährung zu erwarten. Auch die DGEM-Leitlinie zur parenteralen Ernährung sieht bei unzureichender oraler Ernährung mit dadurch eingeschränkter Prognose eine Indikation zur künstlichen Ernährung, so lange der Patient zustimmt und die Sterbephase nicht eingesetzt hat, zumal vor allem mit parenteraler Ernährung bei der Mehrzahl der Patienten eine Gewichtsstabilisierung sowie eine Stabilisierung von Parametern der Lebensqualität möglich ist. Seite 67 Voraussetzung für eine längerfristige künstliche Ernährung sind das Vorliegen folgender vier Kriterien: 1. eine unzureichende orale bzw. enterale Ernährung, 2. e ine erwartete Überlebenszeit von mehr als 4 Wochen, 3. e ine mögliche Stabilisierung oder Verbesserung des Allgemeinzustandes oder Parameter der Lebensqualität des Patienten und 4. der Wunsch des Patienten. 6.2 Ernährung in der Sterbephase In der Sterbephase stehen neben der Linderung quälender Beschwerden das Stillen des subjektiven Durst- und Hungergefühls im Vordergrund. Flüssigkeit und Nahrung gehören zur Basispflege, wozu allerdings die Zustimmung des Betroffenen Voraussetzung ist. Die meisten Patienten empfinden in der terminalen Lebensphase keinen Hunger und kommen mit minimalen Flüssigkeitsmengen aus. Eine ohne Berücksichtigung der veränderten Bedürfnisse fortgeführte Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr kann daher den Sterbenden und seine Angehörigen unzumutbar belasten und ist deshalb zu vermeiden. Die Regulation des Flüssigkeitshaushalts verdient jedoch Beachtung, da eine Dehydratation, induziert durch Diuretika oder eingeschränktes Trinken, aber auch eine durch Infusionen verursachte Überwässerung das Befinden erheblich beeinträchtigen können. Der „trockene Mund” ist zwar ein Zentralsymptom Sterbender, Durst und „trockener Mund” korrelieren jedoch nicht mit dem Ausmaß der Hydratation oder der intravenösen Flüssigkeitszufuhr. Sterbende Patienten scheinen oft zu viel Flüssigkeit zu erhalten, wodurch sich das Risiko für periphere Ödeme, Aszites, Pleuraergüsse und die Entwicklung eines Lungenödems erhöht. Eine Dehydratation allerdings kann zur Austrocknung der Schleimhäute mit Verletzungen und Infektionen führen, mindert die Vigilanz und begünstigt das Auftreten von Unruhe- und Verwirrtheitszuständen, die den Patienten und die Angehörigen ebenfalls stark belasten können. Retrospektive Untersuchungen geben Hinweise, dass neuropsychiatrische Symptome wie Sedierung, Halluzinationen, Myoklonie und Erregung durch Flüssigkeitszufuhr vermindert werden können. In einer randomisierten Studie konnte gezeigt werden, dass bei exsikkierten Patienten mit terminaler Tumorerkrankung bei einer Flüssigkeitszufuhr um 1000 ml/Tag der Verlauf für bestehende Symptome und Beschwerden signifikant günstiger war als die Behandlung in der Kontrollgruppe mit einer minimalen Flüssigkeitszufuhr um 100 ml/Tag. Empfehlungen zur Betreuung Sterbender betonen daher, die Flüssigkeitszufuhr individuell zu gestalten und primär auf die Vermeidung belastender Symptome zu achten. Bei symptomatischer Exsikkose werden Flüssigkeitsmengen um 1000 ml/Tag empfohlen. Eine parenterale Ernährung ist nicht erforderlich. Im Krankenhaus oder zuhause kann Flüssigkeit subkutan infundiert werden und außerdem als Träger für die Gabe von Medikamenten dienen, obwohl die dazu verwendeten isotonen Elektrolytlösungen streng genommen dafür nicht zugelassen sind. Seite 68 Weiterführende Literatur (Auswahl) 1. Amasheh M, Kroesen AJ, Schulzke JD. Kurzdarmsyndrom – Welche Medikamente, welche Ernährung, welche Operationen? Dtsch Med Wochenschrift 2007; 132: 1763-1767. 2. Arends J, Hertz B, Bischoff SC et al. DGEM-Leitlinie Klinische Ernährung in der Onkologie. Aktuel Ernaehr Med 2015; 40 e1-e74 3. Arends J, Bodoky G, Bozetti F et al. ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition in non-chirurgical oncology. Clinical Nutrition 2006; 25: 245-259. 4. Arends J, Zürcher G, Dosset A et al. DGEM-Leitlinie Parenterale Ernährung: Nicht-chirugische Onkologie. Aktuel Ernaehr Med 2007; 32 (Suppl. 1): S124-S133. 8. DGEM-Leitlinien Enterale und Parenterale Ernährung Kurzfassung. Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM). 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Seite 70 Notizen Seite 71 Notizen Information für medizinisches Fachpersonal Wir beraten Sie gerne: Careline 00800 68874242 www.nutricia.de www.nutricia.at SP – Art.-Nr. 9765813 – 6 / 3.2 T. 06.16 – D/A/ CH www.nutricia.ch Deutschland: Österreich: Schweiz: Nutricia GmbH Postfach 2769 D-91015 Erlangen Telefon 09131 7782 0 Telefax 09131 7782 10 [email protected] Nutricia GmbH Technologiestraße 10 A-1120 Wien Telefon 01 6882626 0 Telefax 01 6882626 666 [email protected] Nutricia S.A. Leutschenbachstrasse 95 CH-8050 Zürich Telefon 044 543 70 96 Telefax 044 543 70 97 [email protected]