Lila Reihe Ernährung in der Onkologie

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Lila Reihe
Ernährung in der Onkologie
Gudrun Zürcher
© Nutricia
6. Auflage Juni 2016
Ernährung in der Onkologie
Verantwortliche Autorin:
Dr. med. Gudrun Zürcher
Medizinische Universitätsklinik
Abteilung Innere Medizin I
Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie
Sektion Ernährungsmedizin und Diätetik
Hugstetterstraße 55
79106 Freiburg
[email protected]
Unter Mitarbeit von:
Prof. Dr. rer. nat. Dorothee Volkert
Institut für Biomedizin des Alterns
Universität Erlangen-Nürnberg
Kobergerstraße 60
90408 Nürnberg
[email protected]
Inhalt
1Einleitung
6
2
Grundlagen der Onkologie
7
2.1
Epidemiologie von Krebserkrankungen
7
2.2
Tumorentstehung und Tumorwachstum 8
2.3
Rolle der Ernährung bei der Tumorentstehung 12
2.4
Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos 18
3
Mangelernährung bei Tumorpatienten
20
3.1
Definition 20
3.2
Häufigkeit von Mangelernährung bei Tumorpatienten
21
3.3
Folgen von Mangelernährung bei Tumorpatienten
22
3.4
Ursachen von Mangelernährung bei Tumorpatienten
23
3.4.1 Unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme
23
3.4.2 Stoffwechselstörungen 32
3.5
Erfassung und Diagnose von Mangelernährung
33
4
Ernährung bei Tumorerkrankungen
35
4.1
Empfehlungen zur Ernährung bei Tumorerkrankungen
35
4.1.1 Allgemeines
35
4.1.2 Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffzufuhr
37
4.1.3 Bedeutung der Ernährungsberatung
39
4.1.4 Die sogenannten „Krebsdiäten“
39
4.2
41
Grundlagen der Ernährungstherapie
4.2.1 Allgemeines
41
4.2.2 Ziele
41
Inhalt
4.2.3 Indikationen
42
4.2.4 Formen der Ernährungstherapie
42
4.2.5 Refeeding-Syndrom
44
4.2.6 Förderung des Tumorwachstums durch Ernährungstherapie?
45
4.3
45
Ernährung bei Operationen
4.3.1 Indikationen
45
4.3.2 Art der Nahrung
47
4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien
48
4.4
Ernährung bei Chemotherapie 58
4.5
Ernährung bei Radio- und Radio-/Chemotherapie
61
4.6
Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation:
Knochenmarktrans­plantation (KMT), autologe und allogene
hämatopoetische Zelltransplantation (HZT)
62
4.7
Ernährung mit speziellen Substraten
64
4.8
Medikamentöse Therapie zur Stoffwechselmodulation
64
5
Ernährung nach der Tumortherapie
65
6
Ernährung in der Palliativsituation
66
6.1
Enterale und parenterale Ernährung außerhalb antitumoraler Therapie
66
6.2
Ernährung in der Sterbephase
67
Weiterführende Literatur
68
Seite
6
1Einleitung
Tumorerkrankungen sind mit 26 % nach den
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (45 %) die
zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Bei vielen Krebserkrankungen ist die
Ernährung in allen Phasen der Erkrankung
von Bedeutung: bei der Entstehung, als
unterstützende Maßnahme bei den Behandlungen und in der Erholungsphase, bei
Langzeitproblemen mit der Ernährung und
bei einem Teil der Tumore, um das erneute
Auftreten der Erkrankung zu ver­zögern oder
zu ver­hindern.
Ziel unseres Leitfadens ist es, den Patienten
zu ihren möglichen Problemen ­Lösungen
aufzuzeigen und häufig ge­stellte Fragen zu
beantworten. Wir möchten aber auch den
Angehörigen und den Betreuenden aus
allen Fachgebieten das Thema „Ernährung
und Onkologie“ nahe bringen. Aus lang­
jähriger Erfahrung wis­sen wir, wie wichtig
die Ernährung für an Krebs erkrankte
Patienten ist.
Wissenschaftliche Grundlage der Aus­
führungen zur Prävention von Krebserkrankungen ist die Dokumentation des
World Cancer Research Funds und des
American Institute for Cancer Research
„Nahrung, Ernährung, Bewegung und
die Prävention von Krebs: eine globale
Perspektive“ („Food, Nutrition, Physical
Activity and the Prevention of Cancer:
a Global Perspective“), die im November
2007 zum zweiten Mal erschienen ist.
Von besonderem Interesse sind auch die
Ergebnisse der seit 1992 in 23 Zentren in
10 europäischen Ländern durchgeführten
EPIC-Studie („European Prospective
Investigation into Cancer and Nutrition“),
an der aus Deutschland über 50.000
Personen aus zwei Zentren (Heidelberg
und Potsdam) teilnehmen.
Die Erkenntnisse zur Ernährung während
und nach der Tumortherapie basieren
überwiegend auf den evidenzbasierten
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für Ernährungsmedizin (DGEM) und der
Europäischen Gesellschaft für Klinische
Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN),
ergänzt durch aktuelle Fachliteratur. In
die Empfehlungen eingeflossen ist aber
auch die Erfahrung aus der jahrelangen
ernährungsmedizinischen Betreuung von
Tumorpatienten.
Seite
7
2 Grundlagen der Onkologie
2.1 E
pidemiologie von
Krebserkrankungen
lung zur Früherkennung eines Rezidivs, aber
auch zur Minderung eines Rezidivrisikos.
Was ist Krebs?
Die Epidemiologie in der Onkologie gibt
Auskunft über die Häufigkeit des Auftretens
und die geographische Verteilung von Krebserkrankungen und untersucht mögliche
Zusammenhänge zwischen dem Auftreten
einzelner Erkrankungen und Risikofaktoren.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden
Vorsorgemaßnahmen abgeleitet. Unterschieden werden die primäre Prävention,
die eine Tumor­entstehung verhindern soll,
die sekun­däre Prävention, die Tumorfrüherkennung, und die tertiäre Prävention,
die Nachsorge nach einer Tumorbehand-
Krebs ist eine Gruppe von mehr als 100
Krankheiten, die als Folge von Veränderungen der genetischen Information der Zellen
durch ein unkontrolliertes Wachstum
gekennzeichnet ist. Krebs greift viele verschiedene Gewebe und Zellarten an. Wenn
er bösartig ist, wächst er in das umgebende Gewebe ein und kann in einem vom
Ort der Entstehung entfernten Gewebe
weitere Tumore, so genannte Metastasen,
bilden.
Männer Frauen
Prostata
25,4
27,8
16,2
Darm
14,3
Lunge
9,3
Harnblase*
4,8
Magen
4,7
Niere
Mundhöhle und Rachen 3,3
Non-Hodgkin-Lymphome 2,9
M. Malanom der Haut 2,8
Bauchspeicheldrüse 2,7
Leukämien 2,1
Hoden 2,1
Speiseröhre 1,7
Kehlkopf
n = 230 500
Schilddrüse
2002: n = 218 250
Morbus Hodgkin
17,5
Schätzung der Dachdokumentation Krebs
im Robert-Koch-Institut
25
20
15
10
5
Brustdrüse
Darm
Lunge
Gebärmutterkörper
4,7
Eierstöcke
4,1
M. Malanom der Haut
3,8
Magen
3,6
Harnblase*
3,2
Bauchspeicheldrüse
3,2 Niere
3,0 Gebärmutterhals
2,9 Non-Hodgkin-Lymphome
2,1 Leukämien
1,7 Schilddrüse
n = 206 000
Mundhöhle und Rachen
2002: n = 206 000
Speiseröhre
Morbus Hodgkin
Kehlkopf
* ohne nicht melanotischen Hautkrebs
6,4
5,7
0 0
5
10
15
20
25
30
RKI 2008
 Abbildung 1: Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen
an allen Krebsneuerkrankungen* in Deutschland 2004
Seite
8
Nach Schätzung der Dachdokumentation
Krebs im Robert-Koch-Institut von 2008
sind in Deutschland 2004 insgesamt
436.500 Krebsneuerkrankungen aufgetreten, 230.500 bei Männern und 206.000
bei Frauen. Gegenüber der Schätzung von
2002 waren das bei den Männern 12.250
Neuerkrankungen mehr. Bei den Frauen
war die Anzahl der Neuerkran­kungen gegenüber 2002 unverändert (Abbildung 1).
Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit bei den Männern an zehnter
und bei den Frauen an elfter Stelle der
Häufigkeit von Neuerkrankungen. An Krebs
verstorben sind 2004 110.745 Männer,
1.114 mehr als 2002. Von den an Krebs
erkrankten Frauen verstarben 2004
dagegen 1.866 Frauen weniger als 2002
(98.079 versus 99.945 Frauen).
Bei den Tumorneuerkrankungen steht an
erster Stelle bei den Männern der Prostata­
krebs, bei den Frauen der Brustkrebs, bei
beiden Geschlechtern gefolgt von den
Darmtumoren an zweiter und dem Lungen­
krebs an dritter Stelle (Abbildung 1).
Betrachtet man die Krebssterbefälle, so
versterben die Männer am häufigsten an
Lungenkrebs, die Frauen an Brustkrebs.
Zweithäufigste Krebstodesursache ist der
Darmkrebs, und erst an dritter Stelle bei
den Männern der Prostatakrebs und bei
den Frauen der Lungenkrebs.
2.2 Tumorentstehung und
Tumorwachstum
Die Zellen jedes Lebewesens befinden
sich in einem genau geregelten Gleichgewicht von Wachstum (Proliferation),
zellulärer Spezialisierung (Differenzierung)
und Zelltod (Apoptose beziehungsweise
Nekrose). Diesen Erscheinungsformen
einer Zelle liegen genau festgelegte
genetische Anleitungen zugrunde, die
das Wachstumsverhalten und den Ablauf
der Zellteilung (Zellzyklus) steuern. Diese
genetischen Programme werden wesentlich durch Signale außerhalb der Zelle
beeinflusst. Sie bestimmen die Aktivität
der Gene einer Zelle. Eine Fehlregulation
der Genaktivität, bedingt durch Veränderungen (Mutationen) von Struktur und
Funktion des im Zellkern enthaltenen DNS
(Desoxyribonukleinsäure)-Erbmaterials
kann zu einem unkontrollierten Zellwachstum führen. Zudem unterstützt jeder
Mechanismus, der das Überleben DNSgeschädigter Zellen erhöht, zum Beispiel
durch Verhindern des apoptotischen
Todes solcher Zellen, den Prozess der
Krebsentstehung, der Kanzerogenese.
Bösartige (maligne) Tumoren entstehen
in mehreren Schritten, sogenannte Mehr­
schritt-Theorie der Krebsentstehung
(Abbildung 2). Diese Schritte entsprechen
jeweils dem Auftreten zusätzlicher Zellschädigungen. Substanzen, die schon in
sehr geringen Mengen bleibende DNSVeränderungen hervorrufen, werden als
Initiatoren oder Karzinogene bezeichnet.
Vorstufen von Karzinogenen, sogenannte
Pro-Karzinogene, rufen selbst keine Schäden
hervor, können aber im Organismus durch
enzymatische Umsetzung in Karzinogene
Seite
9
Normale Zelle
Prä
neoplastische
Zelle
Dysplasie
Maligne Zelle
Neoplasie
Generalisierung
Initiation
Promotion
Transformation
Progression
Invasion
Metastase
Genetische
Veränderung
• erblich
• Chemikalien
• Strahlen
• Bakterien,
Viren, Pilze
Klonale
Expansion
• endokrin
• Entzündung
• Ernährung
Genetische
Veränderung
• Telomerase
• Onkogene
• Suppressorgene
• Apoptosestörung
Genetische
Veränderung
• Wachstumsfaktoren
• Heterogenität
Genetische
Veränderung
• Angiogenese
• Proteinasen
• Matrixproteine
Berger, Martens 2008
 Abbildung 2: Modell der Mehrschrittkarzinogenese
umgewandelt werden und außerdem die
krebserzeugende Wirkung anderer Substanzen verstärken.
Am Anfang einer Tumorentwicklung steht
die Initiation, die irreversible Veränderung
der molekularen Struktur der DNS einer
einzelnen normalen, differenzierten und
teilungskontrollierten Zelle durch chemische, physikalische und/oder biologische
Karzinogene.
Chemische Karzinogene sind zum Beispiel reaktive Sauerstoffspezies, auch als
„Sauerstoffradikale“ bezeichnet. Diese
entstehen normalerweise im Organismus
in den Mitochondrien als Nebenprodukt
der Zellatmung, aber auch in Lymphozyten
zur Keimabwehr. Weitere chemische Karzinogene sind Nitrosamine, polyzyklische
aromatische Kohlenwasserstoffe, Mykotoxine (to­xische Stoffwechselprodukte
von Schimmelpilzen), Formaldehyd, Asbest
und Medikamente. Eine bedeutende Quelle
für reaktive Sauerstoffspezies ist der
Zigarettenrauch. Physikalische Kanzerogene sind ionisierende, radioaktive und
UV-Strahlung.
Biologische Karzinogene sind Bakterien,
Viren und Pilze, insbesondere bei chronischen Infekten. Beispiele hierfür sind
Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus
als Ursache für das Burkitt-Lymphom,
mit Helicobacter pylori als Ursache für
Magenkarzinome und MALT-Lymphome
des Magens, mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) für Lymphome und mit
humanen Papillomviren als Ursache für
das Gebärmutterhalskarzinom.
Wird die initiierte Zelle nicht repariert
oder zerstört, kommt es durch die Zell­
teilung zu einer Vermehrung des neu
gebildeten veränderten Zellklons.
Seite
10
Im Mittelpunkt der Krebsentstehung stehen
vier Klassen von Genen: Protoonkogene,
Tumorsuppressorgene, Apoptose-regulierende Gene und DNS-Reparaturgene.
Protoonkogene sind normale Gene, die
physiologische Vorgänge wie das Wachstum und die Spezialisierung der Zellen
regulieren. Durch Mutationen entstehen
Onkogene, wodurch veränderte Proteine,
sogenannte Onkoproteine, gebildet werden.
Die Folge sind vielfältige Störungen der
normalen Regulationsmechanismen und
Signalwege.
Tumorsuppressorgene oder Anti-Onko­gene
haben in normalen Zellen eine wachs­tums­
hemmende Wirkung. Kommt es zu einem
Funktionsverlust, entsteht ein Verlust der
Wachstumskontrolle.
Apoptose-regulierende Gene sorgen für den
programmierten Zelltod, die „Apoptose“.
Eine gestörte Apoptose und damit eine
unvollständige Beseitigung veränderter
Zellen ist eine wesentliche Ursache einer
Tumorentstehung.
DNS-Reparaturgene sind für die Repa­ratur
der auch in einem gesunden Organismus
aufgrund von Fehlern bei der Vervielfältigung der DNS oder durch mutagene
Effekte (zum Beispiel durch chemische oder
physikalische Karzinogene) immer wieder
entstehenden genetischen Defekte verantwortlich.
Entsprechende Reparaturenzyme entfer­nen
die fehlerhaften Abschnitte aus der DNS
und ersetzen sie durch die richtigen Folgen.
Ist die Funktion dieser Repara­turenzyme vermindert, häufen sich Basenfehlpaarungen,
es kommt zu einer genetischen Instabilität,
einem sogenannten „Mutatorphänotyp“.
Damit steigt die Wahrscheinlichkeit für
Mutationen an Onkogenen und TumorSuppressor-Genen und auch das Risiko für
Zellentartungen.
Um eine Krebserkrankung entstehen zu
lassen, reicht die Initiation nicht aus.
Bleibt eine initiierte Zelle erhalten, ist der
nächste Schritt zur Krebsentwicklung die
klonale Expansion einer zunächst noch
homogenen Zellpopulation während der
Promotion. Je größer die Anzahl initiierter
Zellen ist, umso größer ist das Risiko einer
Tumorprogression. Promotoren wie Hormone, Wachstumsfaktoren, in dieser Phase
besonders auch Ernährungsfaktoren und
nicht genotoxische Karzinogene, die keine
gezielte Mutation im Genom auslösen,
aber das Wachstum stimulieren, wirken
als Wachstumsförderer für die entarteten
Zellen. Promotoren stören die metabolische
Zellkooperation initiierter Zellen mit
Nachbarzellen, indem sie die physiologische interzelluläre Kommunikation über
die Kanalverbindungen zwischen den
Zellen, die „gap junctions“, unterbrechen.
Gap junctions ermöglichen ein konstantes
Milieu und eine geordnete Stoffwechsel­
koordination.
Der Informationsfluss dient als Kontrolle
für das Wachstum initiierter Zellen. Da er
durch den Einfluss von Promotoren unterbrochen wird, können die Zellen im proliferativen Stadium bleiben. Damit regen
die Promotoren das Wachstum entarteter
Zellen an. Oft entstehen dabei zunächst
präkanzeröse Veränderungen, zum Beispiel
intraepitheliale Neubildungen, Fehlbildungen oder Adenome (gutartige von Drüsen
Seite
11
oder Schleimhäuten ausgehende Tumore).
Bricht der Kontakt einer Zelle mit dem Promotor ab, bevor sie sich vermehren kann,
unterbleibt die Tumorzellbildung. Somit
müssen Promotoren vom Initiationsereignis an bis zur klinischen Manifestation
des Tumors andauernd vorhanden sein.
Während der Vorgang der Initiation ein
einmaliges Ereignis ist und nur eine kurze
Zeitspanne umfasst, kann die Promotion
über Jahre bis Jahrzehnte dauern.
Infolge weiterer Veränderungen der DNS
kommt es schließlich zur Konversion in
maligne Zellen mit dem Erwerb tumorbiologischer Eigenschaften (Transformation).
Zu diesen Eigenschaften gehören eigene
Wachstumssignale, Unempfindlichkeit
gegenüber Antiwachstumssignalen, eine
unbegrenzte Möglichkeit zur Vervielfältigung
(Replikation), das Umgehen des program­
mierten Zelltodes (Apoptose), eine ununter­
brochene Neubildung von Gefäßen (Angiogenese) und das Einwachsen (Invasion)
in das umgebende Gewebe. Aus dieser
Transformation entwickelt sich letztlich eine
weitere Progression mit Ausbildung von
Tochtergeschwülsten (Metastasen) und Ausbreitung im ganzen Körper (Abbildung 2).
Die Bildung von Blutgefäßen bei Erwach­
senen ist ziemlich konstant und eng durch
ein Gleichgewicht zwischen die Gefäß­
bildung fördernden und hemmenden
Faktoren kontrolliert. Ab einer Größe von
1 bis 2 mm können sich Tumore zur Weiter­entwicklung nicht mehr aus der Umgebung durch Diffusion mit Sauerstoff und
Nährstoffen versorgen, sie brauchen die
Fähigkeit zur Bildung von Blutgefäßen.
Die Bildung tumoreigener Blutgefäße wird
teilweise von den Tumorzellen selbst, teilweise aber auch von Entzündungszellen in
der Umgebung des Tumors beeinflusst.
Der Vorgang des Einwachsens eines Tumors
in das umgebende Gewebe (Invasion,
Infiltration) erfolgt in vielen Schritten
und führt schließlich zu einer Zerstörung
des Normalgewebes. Tumorzellen bilden
Enzyme, die die Gewebematrix auflösen
und ihnen erlauben, in das angrenzende
Gewebe einzudringen. Dazu haben sie
die Fähigkeit zum Einwandern erworben.
Die Metastasenbildung schließlich erfolgt
durch Einbrechen in Lymph- und/oder
Blutgefäße (lymphogene bzw. hämatogene
Aussaat), teilweise auch über Körperhöhlen
(kavitäre Aussaat).
Seite
12
2.3 Rolle der Ernährung bei
der Tumorentstehung
Unter den Risikofaktoren für eine Tumor­
entstehung werden innere (endogene) und
äußere (exogene) Ursachen unterschieden.
Zu den inneren Ursachen gehören beispiels­
weise das Alter, eine ererbte genetische
Disposition, Erkrankungen mit einem
erhöhten Krebsrisiko (zum Beispiel die
Colitis ulcerosa oder Dickdarmpolypen),
oxidativer Stress oder eine chronische Entzündung. Unter den äußeren oder UmweltFaktoren sind Ernährung und Bewegung
sowie Rauchen für die Krebsentstehung
von besonderer Bedeutung. Der Einfluss
einzelner Ernährungsfaktoren für die
Entstehung der verschiedenen Tumore ist
dabei sehr unterschiedlich. Überschätzt für
die Krebsentstehung wird die Bedeutung
von Lebensmittelzusatzstoffen, Arzneimitteln, ionisierenden Strahlen, Industrie­
abfällen und der Umweltverschmutzung.
Über die Zusammenhänge zwischen der
Ernährung und dem Krebsgeschehen gibt
es eine Vielzahl von Untersuchungen, die
zeigen, dass Nährstoffe und Nahrungs­
inhaltstoffe die grundlegenden zellulären
Vorgänge in allen Stadien einer Tumor­
entwicklung fördernd und hemmend
beeinflussen.
Bereits zweimal, 1997 und 2007, haben
der World Cancer Research Fund (WCRF)
und das American Institute for Cancer
­Research auf der Grundlage wissen-
schaftlicher Veröffentlichungen einen
umfangreichen Bericht über den Zusammenhang zwischen Ernährung, Bewegung
und Krebsprävention veröffentlicht und
auch daraus abgeleitete Ernährungsempfehlungen ausgesprochen. Dabei wird
deutlich, dass eine „gute“ Ernährung –
definiert als angemessene Versorgung mit
Nahrung und Nährstoffen des gesam­ten
Körpers bis hin zur zellulären und intrazellulären Ebene – für einen normalen Aufbau
und eine normale Funktion bereits vor der
Geburt notwendig ist. Ist eine Person nicht
geeignet ernährt, entweder durch Unteroder Überernährung, hat das Auswirkungen
auf die Mikroumgebung des Gewebes
durch Beeinträchtigung von Struktur und
Funktion.
Von besonderem Interesse sind die Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen im
Bezug auf den Zusammenhang zwischen
der Entstehung einzelner Tumore und Ernährungsfaktoren, vor allem auch einzelner
Lebensmittel, Lebensmittelgruppen und
Nahrungsinhaltstoffe.
Dazu ist in den letzten Jahren eine Fülle
von Arbeiten verschiedener Arbeitsgruppen
erschienen, u. a. auch von den beiden an
der EPIC-Studie (European Prospective
into Cancer and Nutrition-Studie) beteiligten
deutschen Zentren.
Die bis Ende 2005 vorliegenden Studien
sind im o. g. Bericht des WCRF zusammengefasst.
Seite
13
In Deutschland wurden in den Ernährungsberichten der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung (DGE) 2004 und 2008 die
Beziehungen zwischen ausgewählten Lebensmittelgruppen und Nährstoffen sowie
der Entstehung von Organtumoren auf der
Grundlage von Veröffentlichungen bis 2007
dargestellt und bewertet. In allen Berichten
erfolgt die Bewertung der Studienergebnisse auf der Basis der Einteilung des Grades
der Beweise (Evidenz) nach den Kriterien
der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Danach werden die Beweise folgen­
dermaßen eingeteilt:
• überzeugende Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung,
• wahrscheinliche Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung,
• mögliche Beweise für eine risiko­
beeinflussende Wirkung und
• unzureichende Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung.
Die risikobeeinflussende Wirkung kann
dabei risikosteigernd oder risikosenkend
sein. Empfehlungen zur Verminderung der
Krebsinzidenz werden nur aufgrund überzeugender und wahrscheinlicher Beweise
für eine Beeinflussung des Krebsrisikos
gegeben. Tabelle 1 gibt die verschiedenen
Evidenzgrade zwischen Ernährungsfaktoren und der Entstehung bösartiger Tumore
in verschiedenen Organen auf der Grundlage des WCRF-Berichtes 2007 und des
Ernährungsberichtes 2008 wieder.
Seite
14
Steigerung des
Krebsrisikos
Betroffenes Organ
Senkung des Krebsrisikos
Bauchspeicheldrüse
Bewegung Obst Lebensmittel mit Folat Blase
Obst Brust
Bewegung (postmenopausal)
Bewegung (prämenopausal)
Dickdarm
Bewegung Obst und Gemüse Knoblauch Milch und Milchprodukte Ballaststoffe Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren ��
�
�
�
�
�
�
�
�
�
�
�
allgemeines und abdominelles Übergewicht
Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren Enddarm
Bewegung (weniger stark als Dickdarm)
Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Knoblauch Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren Ballaststoffe ���
allgemeines und abdominelles Übergewicht
Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren �
�
��
allgemeines Übergewicht abdominelles Übergewicht Fleisch (rot)
�
��
�
��
��
��
�
�
�
allgemeines Übergewicht (postmenopausal)
Alkohol abdominelles Übergewicht (postmenopausal)
Fleisch (rot) Fleischwaren Eier Fett gesättigte Fettsäuren
(postmenopausal)
Eierstöcke
Gebärmutter (Hals und
Schleimhaut)
Bewegung ��
allgemeines Übergewicht abdominelles Übergewicht  Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko
für einzelne Krebsarten
Seite
15
Keine Beziehung
zu einem Krebsrisiko
���
��
�
Fett gesättigte Fettsäuren Unzureichende Hinweise
auf Beeinflussung des Krebsrisikos
��
��
Alkohol, Gemüse, Fleischwaren, Fisch,
Geflügel, Eier, langkettige ω-3-Fettsäuren, Milch,
Milchprodukte, Ballaststoffe,
Glykämischer Index
Alkohol, Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch, Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index,
Alkohol
���
���
��
Obst und Gemüse Fischverzehr Ballaststoffe (postmenopausal) �
�
�
Geflügel, langkettige ω-3-Fettsäuren, Milch,
Milchprodukte, Glykämischer Index
�
�
�
�
�
���
���
��
��
���
���
��
��
���
��
Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index
��
��
�
Geflügel, Eier
Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index
��
��
�
Geflügel, Eier
Fett gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol ��
��
�
�
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier,
Ballaststoffe, Glykämischer Index
Fett (Schleimhaut)
gesättigte Fettsäuren (Schleimhaut)
��
��
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Ballaststoffe, Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett (Hals), gesättigte Fettsäuren
(Hals), langkettige ω-3-Fettsäuren, Alkohol,
Glykämischer Index
Seite
16
Betroffenes Organ
Steigerung des
Krebsrisikos
Senkung des Krebsrisikos
Leber
Alkohol Lunge
Bewegung Obst Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden �
��
�
��
Magen
Ballaststoffe Grünes Gemüse Zwiebelgemüse �
��
��
Alkohol Salz Fleischwaren Mund und Rachen
Obst und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden
��
��
��
Alkohol Niere
Obst und Gemüse
Prostata
Speiseröhre
�
Allgemeines Übergewicht
Lebensmittel mit Lycopen Lebensmittel mit Selen
��
��
Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Beta-Carotin Lebensmittel mit Vitamin C
�
�
�
�
Alkohol Allgemeines Übergewicht Fleisch (rot) Fleischwaren
�
�
�
�
Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko
 für einzelne Krebsarten
� � � (� � �) überzeugende Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
� � (� �)
wahrscheinliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
�(�)
mögliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
�(� �)
mögliche (wahrscheinliche) Evidenz für keine Veränderung des Krebsrisikos
Seite
17
Keine Beziehung
zu einem Krebsrisiko
Unzureichende Hinweise
auf ein Krebsrisiko
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index
���
Fett gesättigte Fettsäuren Alkohol
��
��
�
Glykämischer Index ��
��
�
�
�
���
���
�
�
Fleisch (rot), Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren,
langkettige ω-3-Fettsäuren
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte,
Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index
���
���
Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch
und Milchprodukte, Eier, langkettige
ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer
Index
Alkohol
��
Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel, Milch
und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe,
Glykämischer Index
Fisch Fett gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol
�
��
��
�
�
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Geflügel, Eier, Ballaststoffe, Glykämischer Index
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe, langkettige ω-3-Fettsäuren, Glykämischer Index
WCRF 2007, Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 2008
Seite
18
2.4 Ernährungsempfehlungen
zur Minderung des
Krebsrisikos
Der World Cancer Research Fund (WCRF)
und das American Institute for Cancer
Research (AICR) haben in ihrem zweiten,
im November 2007 veröffentlichten Bericht
zur Krebsprävention die folgenden persön­
lichen Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos zusammengestellt:
1. Bleiben Sie so schlank wie möglich!
2. Beziehen Sie körperliche
Aktivität in Ihren Alltag ein!
3. Begrenzen Sie den Verzehr
energiedichter Lebensmittel
(> 225 kcal/100 g). Meiden
Sie zuckerhaltige Getränke!
4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs!
5. Schränken Sie den Verzehr von
rotem Fleisch ein und meiden
Sie verarbeitetes Fleisch!
6. Begrenzen Sie den Konsum
alkoholischer Getränke!
7. Begrenzen Sie den Salzkonsum
und meiden Sie den Konsum von
verschimmeltem Getreide, Getreide­
produkten und Hülsenfrüchten!
8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die
normale Ernährung zu decken!
9. Sonderempfehlungen
1. Bleiben Sie so schlank wie möglich!
Die Energiezufuhr soll so gestaltet wer­den,
dass Übergewichtige ihr Gewicht allmäh­lich
dauerhaft vermindern, nor­malgewichtige
Patienten ihr Gewicht halten, und unter­
gewichtige Patienten ihr „persönliches
Normalgewicht“ wieder erreichen.
Bei Übergewicht empfiehlt es sich, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um
einseitige und Crash-Diäten zu vermeiden, da diese nicht dauerhaft eingehalten
werden können und es regelmäßig erneut
zu einer Gewichtszunahme kommt.
2. Beziehen Sie körperliche
Aktivität in Ihren Alltag ein!
• Mindestens 30 Min./Tag moderate körperliche Aktivität (z.B. schnelles Gehen)
• Ziel bei verbesserter Leistungsfähigkeit:
mindestens 60 Min./Tag moderate oder
mindestens 30 Min./Tag intensive
körperliche Aktivität
3. Begrenzen Sie den Verzehr
energiedichter Lebensmittel
(> 225 kcal/100 g). Meiden
Sie zuckerhaltige Getränke!
• Seltener Verzehr energiedichter
Lebensmittel
• Meiden zuckerhaltiger Getränke
• Seltener Verzehr von Fast Food,
wenn überhaupt
Seite
19
4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel
pflanzlichen Ursprungs!
• Täglicher Verzehr von mind. 5 Portionen
mit mind. insgesamt 400 g Gemüse
und Obst
• Verzehr von mind. 25 g Ballastoffen/
Tag bei einer Zufuhr von relativ unver­
arbeiteten Getreideprodukten und/oder
Hülsenfrüchten zu jeder Mahlzeit
5. Schränken Sie den Verzehr von
rotem Fleisch ein und meiden
Sie verarbeitetes Fleisch!
• Pro Woche nicht mehr als ein Verzehr
von 500 g Fleisch und Fleischwaren,
davon wenig, wenn überhaupt, verarbeitet (geräuchert, gepökelt)
6. Begrenzen Sie den Konsum
alkoholischer Getränke!
• Konsum für Männer: nicht mehr
als zwei Gläser/Tag
• Konsum für Frauen: nicht mehr als ein
Glas/Tag (1 Glas Wein = ca. 10-15 g
reiner Alkohol)
• Kinder und Schwangere sollen Alkohol
meiden
7. Begrenzen Sie den Salzkonsum
und meiden Sie den Konsum von verschimmeltem Getreide-/Getreideprodukten und Hülsenfrüchten!
• Salzaufnahme von max. 6 g/Tag
• Vermeiden gepökelter, gesalzener oder
salziger Lebensmittel
• Lebensmittel ohne Salz haltbar machen
8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die
normale Ernährung zu decken!
• Keine Empfehlung von Nahrungsergänzungsmitteln
9. Sonderempfehlungen
• Säuglinge sollten sechs Monate ausschließlich gestillt werden, auch um
das spätere Krebsrisiko von Mutter
und Kind zu verringern
• Krebskranke sollten, wenn es keine
andersartigen Empfehlungen gibt, die
genannten Empfehlungen für Ernährung,
Körpergewicht und körperliche Aktivität
ebenfalls einhalten.
Seite
20
3 Mangelernährung bei Tumorpatienten
3.1 Definition
Als Mangelernährung wird ein anhaltendes
Defizit an Energie und/oder Nährstoffen
im Sinne einer negativen Bilanz zwischen
Aufnahme und Bedarf mit negativen
Auswirkungen auf Ernährungszustand,
physiologische Funktionen und Gesundheitszustand verstanden.
Neben einem geringen Körpergewicht ist
ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust ein
zentrales Kriterium für Mangelernährung.
Nach einer Definition der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM)
besteht bei Tumorpatienten eine Mangel­
ernährung (engl.: malnutrition) in Form
eines „krankheitsassoziierten Gewichtsverlustes“, „eines ungewollten, signifikanten
Gewichtsverlustes mit Zeichen der Krankheitsaktivität“ („unintended weight loss
wasting“). Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust über 10 % in den vergangenen
6 Monaten gilt als schwere Mangel­ernährung.
Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust selbst
kann Ausdruck der Krankheitsaktivität
beziehungsweise erstes Symp­tom einer
gravierenden Erkrankung sein.
Auch Personen mit einem normalen oder
erhöhten BMI können in Zusammenhang
mit einem Gewichtsverlust einen klinisch
bedeutsamen Verlust an Magermasse
haben. Da der BMI das Ausmaß einer Mangel­
ernährung nur unzureichend wiedergibt, ist
er für Tumorpatienten kein guter Parameter
zur Bestimmung der Mangelernährung
(vergleiche Kap. 3.5 Diagnose von Mangel­
ernährung). Ein Gewichtsverlust ist auch
bei adipösen Tumorpatienten prognostisch
ungünstig. Ein Gewichtsverlust von 40 % der
fettfreien Körpermasse ist mit dem Leben
nicht mehr vereinbar.
Ein schwerer Gewichtsverlust bei Tumor­
patienten wird häufig als „Kachexie“
(griechisch: „schlechter Zustand“) bezeichnet.
Dieser Begriff ist allerdings unscharf und
wird uneinheitlich verwendet. Einer neueren
Definition zufolge besteht eine Kachexie
beim Vorliegen eines ödemfreien Gewichtsverlustes von mindestens 5 % in 12 Monaten
oder weniger (bei Tumorpatienten 3-6
Monate!) bei einer zugrunde liegenden
Erkrankung sowie dem Vorhandensein von
mindestens drei der folgenden Kriterien:
• eine verminderte Muskelkraft
• „Fatigue“ (anhaltende Erschöpfung
und Müdigkeit)
• „Anorexie“ (Gesamtenergieaufnahme
unter 20 kcal/kg Körpergewicht und Tag,
< 70 % der üblichen Nahrungsaufnahme oder ein schlechter Appetit)
• eine geringe fettfreie Körpermasse
• erhöhte inflammatorische Marker
(CrP > 5,0 mg/dl, IL-6 > 4,0 pg/ml), Anämie (Hb < 12 g/dl) oder erniedrigtes Serum-Albumin (< 3,2 g/dl)
Seite
21
3.2 Häufigkeit von
Mangelernährung bei
Tumorpatienten
Die Angaben zur Häufigkeit einer Mangelernährung bei Tumorpatienten liegen zwischen 30 und 90 %, in Abhängigkeit von der
Art, der Lokalisation und dem Stadium der
Tumorerkrankung und der Tumortherapie.
Ein ungewollter Gewichtsverlust ist oft der
erste Hinweis auf eine Krebserkrankung.
In der größten europäischen Untersuchung
zum Gewichtsverlust in den sechs Monaten
vor der Diagnosestellung hatten je nach
Tumorart 32 bis 87 % von über 3400
Tumor­patienten an Gewicht verloren. Am
seltensten an Gewicht verloren hatten die
Patienten mit einer Blutkrebs-Erkrankung,
Brustkrebs und Sarkomen, während von
den Patienten mit Tumoren des MagenDarm-Traktes (Bauchspeicheldrüsen-,
Magenkarzinome) bis 87 % Gewichtsverluste zeigten. Patienten mit Dickdarm-,
Prostata- und Lungentumoren lagen mit
einer Häufigkeit von 54 bis 61 % dazwischen. Mit einem Gewichtsverlust von
über 10 % vom gesunden Ausgangsgewicht
waren 16 % der Patienten bereits zum
Zeitpunkt der Diagnosestellung schwer
mangelernährt.
Vorläufige Ergebnisse einer prospektiven
italienischen Untersuchung ambulanter
Tumorpatienten – bisher 1000 Patienten
aus 12 Zentren – ergaben eine schwere
Mangelernährung mit einem Gewichtsverlust von über 10 % bei 40 % der Patienten.
Bei Anwendung des „Nutritional Risk Scores“
(NRS ≥ 3 – siehe Kap. 3.5 Erfassung und
Diagnose von Mangelernährung) hatten
34 % der Patienten ein Ernährungsrisiko.
Der Gewichtsverlust war größer bei
Tumoren im oberen Magen-Darm-Trakt, im
fortgeschrittenen Tumorstadium und bei
Patienten mit einem schlechten „Performance Status“ (Skala zur Beurteilung des
Allgemeinzustandes von Tumorpatienten).
Der Bedarf an Ernährungsinterventionen
war besonders hoch bei Speiseröhrenund Bauchspeicheldrüsentumoren und
wieder bei Patienten mit schlechtem
„Performance Status“. Das Ausmaß des
Gewichtsverlustes korrelierte gut mit der
Schwere der Appetitlosigkeit (Anorexie)
der Patienten. Die meisten Patienten mit
keinem oder einem Gewichtsverlust unter
10 % waren nicht appetitlos.
In einer großen, multizentrischen deutschen
Erhebung zur Häufigkeit der Mangelernährung im Krankenhaus nahmen nach
den geriatrischen Patienten mit 56 % die
Tumorpatienten mit 38 % den zweiten
Rang ein. Eine weitere Untersuchung zum
Vorliegen einer Mangelernährung in einem
deutschen Krankenhaus der Maximalversorgung ergab bei 24 % der 1308 untersuchten internistischen Patienten Zeichen
einer Mangelernährung. Bei den Patienten
mit gutartiger Erkrankung lag diese Rate bei
16 %, während 53 % der Tumorpatienten
mangelernährt waren.
Im Verlauf ihres Krankenhausaufenthaltes
verlieren etwa 45 % der Tumorpatienten
über 10 % ihres Gewichtes.
In einer Untersuchung von ambulanten und
stätionären Patienten mit fortgeschrittenem
metastasiertem Tumorleiden war das
häufigste Symptom ein Gewichtsverlust bei
85 % der Patienten. 71 % dieser Patienten
hatten über 10 % ihres Gewichts vor der
Diagnose der Erkrankung verloren.
Seite
22
Obwohl bei fortgeschrittener Tumorerkrankung die Mehrzahl der Erkrankten
mangelernährt ist, besteht kein eindeutiger
Zusammenhang zwischen dem Ernährungs­
zustand und der Größe, der Ausbreitung
und dem Differenzierungsgrad des Tumors
sowie der Erkrankungsdauer. Somit ist das
Auftreten einer Mangelernährung in jedem
Stadium der Erkrankung möglich und im
Einzelfall nicht vorhersehbar.
3.3 Folgen von Mangelernährung bei Tumorpatienten
Mangelernährung hat einen ungünstigen
Einfluss auf die Körperzusammensetzung,
Krankheitshäufigkeit, Sterblichkeit und
Lebensqualität von Tumorpatienten.
Die bei onkologischen Patienten auftretenden Änderungen der Körperzusammensetzung unterscheiden sich von den
Veränderungen im Hungerzustand. Im
Hungerzustand wird vorwiegend Körperfett
abgebaut und die Muskelmasse bewahrt.
Tumorpatienten verlieren dagegen Körper­
fett- und Körpermagermasse, primär
Skelettmuskelmasse. Organgewebe, vor
allem das Lebergewebe, bleibt erhalten.
Die intrazelluläre Flüssigkeit nimmt ab, eine
kompensatorische Zunahme der extra­
zellulären Flüssigkeit kann das tatsächliche
Ausmaß einer Gewichtsabnahme verschleiern, ebenso wie Wassereinlagerungen
im Rahmen einer Krebsbehandlung oder
Änderungen des Hydratationsstatus, zum
Beispiel bei Herz-, Leber- und Nieren­
insuffizienz oder bei schwer Kranken.
Der Verlust an Körperzellmasse führt zu
körperlicher Schwäche, Abnahme der respiratorischen Muskelfunktion und langfristig
zu Immobilität.
Bei mangelernährten Patienten ist die
humorale und zelluläre Immunantwort vermindert, die Infektneigung erhöht und die
Wundheilung vermindert, was zu vermehrten Komplikationen durch Wundheilungsstörungen, Infektionen und Sepsis sowie
häufigeren und längeren Krankenhausaufenthalten und zu höheren Kosten führt.
Mangelernährung führt zu einem schlechteren Ansprechen auf Chemotherapien, zu
mangelnder Compliance, Therapieunterbrechungen und dadurch unzureichenden
Gesamttherapien, wodurch die Sterblichkeit
steigt und die Prognose der Patienten sich
verschlechtert. Die Überlebenszeit ist signifikant verkürzt.
Gewichtsverlust ist ein eigenständiger
Prognosefaktor für die Sterblichkeit bei
Non-Hodgkin-Lymphom, Bronchialkarzinom,
Mammakarzinom, Kolon- und Prostatakarzinom.
Mangelernährung ist darüber hinaus mit
Depressionen sowie einer signifikanten
Minderung von Leistungsfähigkeit und
Lebens­qualität assoziiert. Mangelernährung
ist für den Patienten und seine Familie auch
eine Ursache psychischer Probleme. Bereits
ein Gewichtsverlust von nur 5 % bei unzu­
reichender Energie- und Eiweißaufnahme
korrelierte in einer Studie signifikant mit
einer Minderung der Lebensqualität. Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren, die
zu den Erfahrungen mit ihrer Ernährungs­­situation und zum Grund für die Entscheidung
zu einer heimparenteralen Ernährung (HPN)
befragt wurden, bezeichneten ihre Ernährungssituation vor der HPN als eine Quelle
von „Quälerei und häufiger Verzweiflung“.
Seite
23
Sie wollten und versuchten zu essen, waren
dazu aber nicht fähig. Die Familie erlebte
Machtlosigkeit und Frustration dadurch,
dass sie ihren Angehörigen das Essen
nicht ermöglichen konnte. Das positivste
Merkmal der HPN war das Gefühl von
Erleichterung und Sicherheit befriedigter
Ernährungsbedürfnisse, was einen direkten
positiven Einfluss auf die Lebensqualität,
Gewicht, Energie, Kraft und Aktivität hatte.
Diese positiven Effekte der HPN glichen die
negativen in Form von Einschränkungen im
Familienleben und den sozialen Kontakten
für die gesamte Familie aus.
3.4 Ursachen von
Mangel­­er­nährung
bei Tumorpatienten
Die Mangelernährung onkologischer
Pat­i­enten hat viele Ursachen. Hauptsächlich beteiligt sind eine unzureichende
Energie- und Nährstoffaufnahme sowie
Stoffwechselstörungen auf der Grundlage
von humoralen und entzündungsartigen
(inflammatorischen) Reaktionen.
3.4.1 Unzureichende Energieund Nährstoffaufnahme
Eine unzureichende Nahrungsaufnahme
ist bei onkologischen Patienten gut belegt.
So ergab eine Bestimmung der Energie­
zufuhr onkologischer Patienten eine mittlere tägliche Energieaufnahme von
26 ± 10 kcal/kg und Tag (wünschenswerte Energiezufuhr bei Tumorpatienten:
30-35 kcal/kg und Tag), ohne Unterschied
zwischen normometabolischen und hyper­
metabolischen Patienten. Patienten mit
Kopf- und Halstumoren sowie Tumoren
des Magen-Darm-Traktes nahmen in
frühen Tumorstadien (Stadium I und II der
Erkrankung) lediglich zwischen 20 und 64
kcal/Tag weniger auf als vor der Erkrankung, in fortgeschrittenen Stadien (III bzw.
IV) jedoch zwischen 491 und 1095 kcal/
Tag weniger. Die Eiweißzufuhr (wünschenswerte Eiweißzufuhr bei Tumorpatienten:
1,2-1,5 g/kg Körpergewicht und Tag) war
im Stadium I und II nur minimal zwischen
0,2 und 1,0 g/Tag vermindert, im Stadium III
und IV allerdings zwischen 64 und 94 g/Tag.
Dass auch das Ernährungsmuster von
Tumorpatienten die Energie- und Nährstoffzufuhr und folglich das Körpergewicht beeinflusst, konnte eine kanadische
Arbeitsgruppe zeigen. Sie untersuchten
Patienten mit fortgeschrittenen soliden
Tumoren (80 % der Teilnehmer litten an
Tumoren der Lunge, des Magen-DarmTraktes, der Brust oder der Prostata), die
nicht mehr mit Bestrahlung oder Chemo­
therapie behandelt wurden, zuhause
lebten und dort ihre Speisen auswählten.
Die Auswertung der über jeweils drei
Tage ausgefüllten Essprotokolle ergab drei
unterschiedliche, aber typische Muster für
die Kombination der verzehrten Nahrungs­
mittel: ein normales Muster, „Fleisch-undKartoffel“-Typ, einen „Früchte-Weiß­brot“Typ mit bevorzugt weicher Kost und einen
„Milch-und-Suppe“-Typ mit bevorzugt
flüssiger Kost. Die aufgenommene Energie­
menge variierte von 4 bis 53 kcal/kg
Körpergewicht und Tag. Zwischen den
Ernährungsmustern ergab sich vom Typ
der normalen über die weiche zur flüssigen
Kost eine Abnahme der Energieaufnahme
von 27 vs. 24 vs. 20 kcal/kg und Tag und
eine Zunahme des Gewichtsverlustes von
11 vs. 16 vs. 21 %. Besonders beachtenswert
Seite
24
war, dass der mittlere Body Mass Index
(BMI) in den 3 Gruppen vergleichbar war
(23,5 vs. 23,8 vs. 22,8 kg/m2), der mittlere
Gewichtsverlust in den letzten 6 Monaten
jedoch deutlich unterschiedlich (11 vs. 12
vs. 21 %). Die Untersuchung unterstreicht
die Unzulänglichkeit des BMI zur Bestimmung des Ausmaßes einer Mangel­
ernährung bei Tumorpatienten.
Viele Faktoren tragen dazu bei, dass onkologische Patienten sehr häufig ungenügende Nahrungsmengen zu sich nehmen. So
kann eine verminderte Nahrungsaufnahme
zum einen durch die Erkrankung selbst verursacht sein, z.B. als Folge einer direkten
Beeinträchtigung durch Obstruktionen im
Mund- und Halsbereich oder im oberen
Magen-Darm-Trakt oder infolge einer durch
den Tumor ausgelösten Appetitlosigkeit.
In vielen Fällen führt die Therapie der Tumor­
erkrankung zu einer unzureichenden
Nahrungs­aufnahme. So können Operationen im Bereich von Kopf-, Hals- und
Magen-Darm-Trakt in Abhängigkeit vom
Ort und der Ausdehnung des Eingriffs zu
einer Vielzahl von Beeinträchtigungen der
Operation
Effekte
Mundhöhle/Hals
• Kau- und Schluckstörungen
• Geschmacksstörungen
Speiseröhre
• Appetitlosigkeit
• Angst vor dem Essen
• Empfindlichkeit gegen Scharfes und Saures
• Motilitätsstörungen des Magens, Völlegefühl
Magen
• Störung von Appetit- und Sättigungsregulation
• Nahrungsmittelaversionen
• Reflux-Ösophagitis
• Dumpingsyndrom
• Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz)
•F
ettstühle (durch unzureichende Mischung des
Speisebreies mit den Pankreasfermenten)
•M
alabsorption: Eisen, Calcium, Zink, Folsäure,
Vitamine B12, C, A, D, E, K, Carotinoide
Bauchspeicheldrüse
• Diabetes mellitus
• Maldigestion: Fett
• Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide
Dünndarm
• In Abhängigkeit vom Ort und Ausmaß der Resektion:
bei Resektion von > 50 %: generalisierte Malabsorption
• chologene Diarrhö
• Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide
• enterale Hyperoxalurie mit Gefahr der Nierensteinbildung
• Blähungen bei unzureichendem Kauen
Dickdarm
• Lebensmittelintoleranzen, Diarrhoe
• Wasser- und Elektrolytverluste
 Tabelle 2: Ernährungsrelevante Folgen von Operationen
Seite
25
• Anorexie (praktisch alle Zytostatika)
• Geschmacks- und Geruchsstörungen
• Übelkeit, Erbrechen
• Nahrungsmittelaversionen
• Sodbrennen, Blähungen, Völlegefühl
• Schleimhautentzündungen/
-ulzerationen
• Abdominalschmerzen
• Durchfall, Verstopfung, Ileus
• Organschäden: Lunge, Herz,
Leber, Niere
• Sekundär bei Infektionen,
Sepsis, Atemnot
 Tabelle 3: Ernährungsrelevante
Neben­wirkungen einer Chemotherapie
Nährstoffaufnahme und Nährstoffverwertung führen (Tabelle 2). Ebenso können
Chemo- und/oder Strahlentherapie von
ernährungsrelevanten Nebenwirkungen
begleitet sein (Tabelle 3, Tabelle 4).
Nebenwirkungen einer Strahlentherapie
treten in der Regel lokal organbezogen auf
(Tabelle 4). Gleichzeitig kann eine Bestrahlung Ursache für allgemeine Symptome
wie Anorexie, Übelkeit, Erbrechen, Fieber,
Fatigue-Syndrom oder Mangelernährung
sein. Dabei besteht eine ausgeprägte
Dosis-Wirkungs-Beziehung für das Auftreten von Nebenwirkungen. Von Bedeutung
sind neben der Gesamtdosis die Einzeldosis, die Fraktionierung, Art und Anteil
mitbestrahlter Organe und Gewebe sowie
das Bestrahlungsvolumen. Gleichzeitig beeinflussen Alter und Begleiterkrankungen
des Patienten, vorangegangene Therapien,
gleichzeitig stattfindende Behandlungen
(kombinierte Radiochemotherapie) und
zusätzliche Noxen (Alkohol und Nikotin)
Art und Ausmaß der Nebenwirkungen.
Bei den Strahlenreaktionen des Normalgewebes unterscheidet man in Abhängigkeit
vom zeitlichen Verlauf akute und späte,
chronische Nebenwirkungen (Tabelle 4).
Akute Nebenwirkungen treten innerhalb
von 90 Tagen nach Bestrahlungsbeginn
auf, chronische nach mehr als 90 Tagen.
Die Ursachen der akuten und späten
Nebenwirkungen sind unterschiedlich.
Akutreaktionen sind die direkte Folge der
Verminderung der Zahl funktionsfähiger
Parenchymzellen in rasch wachsenden
Geweben (Epithelgewebe, Knochenmark).
Typische Akutsymptome nach Strahleneinwirkung sind Entzündungsreaktionen,
Ödembildung, Haut- und Schleimhautreaktionen sowie spezifische Veränderungen an strahlensensiblen Geweben
wie Knochenmark, Dünndarmepithel und
Keimdrüsen. Chronische Strahlennebenwirkungen sind die Folge einer irreversiblen
Schädigung gewebstypischer Parenchym-,
Endothel- oder Bindegewebszellen.
Ursächlich angesehen werden Veränderungen am Gefäßbindegewebe und der
Durchblutung. Letztere können auch noch
nach Jahren auftreten und zeigen häufig
einen fortschreitenden Verlauf.
Schon vor Beginn der Tumortherapie kann
auch die Lebensführung eines Patienten mit
einer zu geringen Nahrungszufuhr, einseitiger Ernährung und einem erhöhten Nährstoffbedarf Ursache einer Mangelernährung
sein. Besonders gefährdet sind Patienten mit
chro­nischem Nikotin- und Alkoholkonsum.
Schließ­lich können Schmerzen, lange
Nüch­tern­phasen im Rahmen der Diagnostik,
psy­chische Faktoren (Angst, Depressionen)
und Bewegungsmangel Grund für eine
unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme sein.
Seite
26
Akuteffekte
Späteffekte
ZNS
• Hirndrucksteigerung, Übelkeit,
Erbrechen
• Hirnnekrose
HNO
• Schleimhautentzündungen
• Speichelveränderungen
• Mundtrockenheit
• Anorexie
•G
eschmacks- / Geruchsstörungen
• Schluckstörungen
• Laryngitis
• Oesophagitis
• Mundtrockenheit (Xerostomie)
• Karies
• vermindertes / fehlendes
Geschmacksempfinden
Thorax
• Oesophagitis
• Pneumonitis
• Oesophagitis
• Fibrose
• Stenose
• Fisteln
• Lungenfibrose
Abdomen/
Becken
• Übelkeit
• Erbrechen
• Diarrhoe
• Meteorismus
• Tenesmen
• Enteritis
• Zystitis
• Ulzera
• Diarrhoe, Malabsorption
• chronische Enteritis
• Strikturen
• Obstruktion
• Fisteln
Endokrinum
• Funktionelle Insuffizienz
• Endokrine Insuffizienz:
thyreoidal, adrenokortikal,
gonadal
 Tabelle 4: Ernährungsrelevante Nebenwirkungen einer Strahlentherapie
Viele Faktoren, die die Nahrungsaufnahme
negativ beeinflussen, sind bereits bei der
Diagnosestellung vorhanden. 40 % der Patienten leiden bereits unter einer Anorexie,
61 % unter einem Völlegefühl, 46 % unter
Geschmacksveränderungen, 41 % unter
Verstopfung, 40 % unter Mundtrockenheit, 39 % unter Übelkeit und 27 % unter
Erbrechen.
In einer neueren Untersuchung zur Symp­
tomhäufigkeit bei Patienten mit Tumoren
in der Lunge und im Magen-Darm-Trakt
ohne Chemo- und Radiotherapie fand sich
als häufigstes Symptom Appetitlosigkeit
bei 38 % der Patienten, gefolgt von vorzeitigem Sättigungsgefühl (27 %), Schmerzen
(23 %), Geschmacksveränderungen (20 %),
Übelkeit (18 %), Mund­trockenheit (17 %),
Verstopfung (14 %), Erbrechen und Durchfall (jeweils 11 %), Schluckproblemen (9 %),
Geruchsstörungen (7 %) sowie Mundsoor
(1 %). 62 % der Patienten hatten ein oder
mehrere Symptome. Von Symptomen
betroffen waren alle Patienten mit einem
Pankreaskarzinom, 75 % der Patienten
mit einem Tumor im oberen Gastrointestinaltrakt, 66 % der Patienten mit einem
Lungentumor und 41 % der Patienten mit
Seite
27
kolorektalen Tumoren. An Gewicht verloren 48 % der Patienten mit gastrointestinalen und 19 % mit Lungen-Tumoren. Die
meisten appetitlosen Patienten (fast 60 %)
waren Patienten mit Lungentumoren.
Anorexie
Ein besonderes Problem stellt bei Tumorpatienten die Anorexie oder Appetitlosigkeit dar, meist verbunden mit vorzeitigem
Sättigungsgefühl, Nahrungsmittelaversionen sowie Geschmacks- und Geruchs­
störungen, die ebenfalls eng miteinander in
Wechselbeziehung stehen.
In einer Untersuchung bestand bei 40 %
der Patienten bereits zum Zeitpunkt der
Erstdiagnose eine Anorexie. Das Auftreten
war abhängig vom Typ und der Lage des Tumors sowie dem Stadium der Tumorerkrankung. Von 186 nacheinander aufgenommenen Patienten waren 1/3 der Patienten mit
Lungen- oder Dickdarmkarzinom oder einem
Lymphom und alle Patienten mit einem Tumor im Bereich von Speiseröhre, Magen oder
Leber betroffen. Die höchste Prävalenz bestand im Spätstadium der Tumorerkrankung,
zu 80 % bei Patienten mit Speiseröhren- und
Magenkarzinomen sowie Lymphomen, zu
30 % bei Patienten mit Tumoren, die nicht
den oberen Magen-Darm-Trakt betrafen. Besonders im fortgeschrittenen Stadium einer
Tumorerkrankung ist die Anorexie signifikant
mit dem Ernährungsstatus verbunden.
Nach neuen Vorstellungen zur Entstehung
der Anorexie bei Tumorpatienten ist sie
das Ergebnis eines durch Zytokine und
Serotonin (einem Neurotransmitter)
vermittelten Ungleichgewichts zwischen
zentralen Signalen von Neuropeptid Y (appetitfördernd) und Pro-Opiomelanocortin
(appetithemmend) zu Gunsten von ProOpiomelanocortin.
Weitere mögliche Ursachen einer Anorexie
sind Nebenwirkungen der Tumortherapien,
Infekte, Fieber, Schmerzen, Elektrolytstörungen (Hyperkaliämie, ­Hyperkalzämie),
Störungen des Säure-Basen-Haushalt,
zerebrale Störungen (toxisch, entzündlich,
tumorbedingtes Hirnödem, Hirnmetastasen), Magen-, Darm-, Nieren-, Nebennieren-, Leber- und Lungenerkrankungen
sowie endo­krinologische Erkrankungen.
Geschmacks- und
Geruchsveränderungen
Unter Chemotherapie klagen 36 bis 75 %
der Patienten über Geschmacksveränderungen in allen Formen. Dabei ist eine
Hypogeusie (partieller Geschmacksverlust)
häufig mit einer Dysgeusie (Missempfinden
des Geschmacks) verbunden. Zu Geschmacksveränderungen führen hauptsächlich folgende Zytostatika: Carboplatin, Cisplatin,
Cyclophosphamid, Doxorubicin, 5-Fluorouracil, Methotrexat und Paclitaxel.
Am häufigsten wird unter Cisplatin und
Doxorubucin über schwere Geschmacksveränderungen berichtet. Bei autologer
Stammzelltransplantation ist unter Hochdosistherapie ein völliger Geschmacksverlust beschrieben.
Die Geschmacksveränderungen können
während der Zytostatikagabe auftreten
und von wenigen Stunden bis zu mehreren
Tagen, Wochen oder sogar Monaten andauern. So empfinden 77 % der Patienten
unter einer Cisplatintherapie (allein oder
in Kombination mit Cyclophosphamid,
Doxorubicin und 5-Fluorouracil) einen metallischen Geschmack für wenige Stunden
bis zu drei Wochen.
Patienten berichten über eine große Vielfalt an Geschmacksveränderungen, auch
Seite
28
im Bezug auf Lebensmittel. Diese schmecken nach Pappe oder Sandpapier, ranzig,
sind zu salzig, süß, sauer oder bitter.
Oft ist die Geschmacksschwelle für eine
bestimmte Geschmacksempfindung erhöht
bzw. erniedrigt. Etwa 1/3 der Patienten
hat eine erhöhte Geschmacksschwelle
für süß, während die für bitter erniedrigt
ist. Letzteres ist der Grund, warum viele
Tumorpatienten eine Abneigung gegen den
Verzehr von Fleisch haben.
Bei einer Strahlentherapie treten Geschmacksstörungen meist innerhalb der
ersten drei Wochen nach Bestrahlungsbeginn auf, oft kommt es zum völligen
Geschmacksverlust. Eine Besserung tritt
ohne Therapie innerhalb einiger Wochen
ein. Leichtere Geschmacksveränderungen
halten oft über lange Zeit an.
Zudem haben viele Patienten ein gesteigertes Geruchsempfinden, vor allem
gegenüber Nahrungsmittel- und Essensgerüchen. 82 % der Patienten unter Chemotherapie lehnen deshalb den Verzehr von
einem oder mehreren Lebensmitteln oder
ganzen Mahlzeiten ab. Meist betroffen
sind Kaffee, Tee, Zitrusfrüchte, Fleisch und
Schokolade. Manche Patienten berichten
über einen bitteren Geschmack im Mund
während der Applikation der Chemotherapie und lernen, diesen unangenehmen
Geschmack mit den vor der Therapie
verzehrten Lebensmitteln in Verbindung
zu bringen. Wesentliche Ursache von
Geschmacks- und Geruchsstörungen unter
Zytostatikatherapie sind Schädigungen der
sich schnell teilenden Geschmacks- und
Geruchsrezeptoren (mittlere Lebensdauer
eines Geschmacksrezeptors 10 Tage,
eines Geruchsrezeptors 30 Tage). Es sollte
aber auch daran gedacht werden, dass
Geschmacks- und Geruchsstörungen Folge
einer Mangel­ernährung (Mangel an Vitamin B12, Zink, Kupfer) oder einer schlechten Mundhygiene sein können.
Mundtrockenheit (Xerostomie)
Bei Kopf- und Halstumoren kann es infolge
einer Strahlentherapie zu lang anhaltenden
Veränderungen im Mundbereich mit ge­störter Speicheldrüsenfunktion und nachfolgender Mundtrockenheit (Xerostomie)
kommen.
Bereits ein unstimulierter Speichelfluss wird
durch viele Faktoren beeinflusst wie den
Hydratationszustand, Kauen, Geschmack
und Geruch. Ein Gewichtsverlust durch
Entwässerung von 2 % vermindert den
Speichelfluss um 60 %, ein Verlust von 8 %
Körperwasser stoppt den Speichelfluss
ganz. Unter Bestrahlung vermindert sich
der Speichelfluss in den ersten 2 Wochen
schnell. Nach zwei Wochen Therapie mit
einer Dosis von 20 Gy sezernieren alle
Speichel­drüsen nur noch 20 % ihrer übli­
chen Speichelproduktion. Betroffen ist
zuerst die seröse und etwas zeitversetzt
die visköse Komponente. Der Speichel
wird zuerst zäh, dann verringert sich der
Speichelfluss insgesamt. Die Pa­rotis ver­liert mehr Funktion (nahezu 0 % Speichelfluss) als die submandibularen und sublingualen Speicheldrüsen (Stabilisierung bei
20 % Speichelfluss). Nach einer HochdosisStrahlentherapie sind seröse und muzinöse
Acini fast vollständig verschlossen. Der genaue Mechanismus der strahleninduzierten
Speicheldrüsenschädigung ist unbekannt.
Angenommen werden eine direkte Schädi­
gung der DNA der Speicheldrüse durch
strahlentherapiebedingte freie Radikale,
eine Schädigung der Zellen durch von den
Zellen selbst gebildetes toxisches Material
Seite
29
und das Auslösen einer Apoptose durch
einen intrazellulären Mechanismus.
Die gestörte Speichelproduktion und
Mundtrockenheit geht mit Schluckstörungen einher. Die veränderte Mundhöhlenökologie führt bei unzureichender
Prophylaxe und Pflege auch zu einer
zunehmenden Schädigung der Zähne.
Übelkeit und Erbrechen
Übelkeit und Erbrechen sind die am meisten
belastenden und von Patienten gefürchteten Nebenwirkungen der Chemotherapie.
Bei Palliativpatienten liegt die Opioidtherapie-unabhängige Häufigkeit von Übelkeit
und Erbrechen bei 40-70 %. Es gibt hierfür
viele Ursachen. Ausgelöst und vermittelt
werden tumor- und nicht tumorbedingte
Übelkeit und Erbrechen peripher von
Chemo- und/oder Mechanorezeptoren
der Leber und des Magen-Darm-Traktes
und Mechanorezeptoren im Kopf-, HalsBereich, Brustkorb, Bauch und Becken
und zentral vom Vestibularisapparat, der
zerebralen Kortex und im Hirnstamm von
der Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ) und
vom Brechzentrum.
Durch eine Chemotherapie ausgelöstes
Erbrechen kann in drei Formen auftreten:
akut, verzögert und antizipatorisch. Das
akute Erbrechen beginnt meist 1 bis 6
Stunden nach Gabe des Zytostatikums
und kann 6 bis 24 Stunden anhalten. Das
verzögerte Erbrechen tritt mit einer Verzögerung von 24 Stunden nach dem akuten
Erbrechen auf. Antizipatorisches Erbrechen
ist ein erlerntes, psychisch bedingtes
Erbrechen, das vor, während und nach der
Chemotherapie auftreten kann. Haupt­
ursache ist eine unzureichende Vorbeugung
gegen Erbrechen bei vorangegangenen
Therapiezyklen. Antizipatorisches Erbrechen lässt sich daher weitgehend vermeiden, wenn bei der ersten Chemotherapie
Erbrechen verhindert wird. Die Ausprägung
von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapien wird hauptsächlich durch die
Brechreiz erregende Stärke des verabreichten Medikamentes bestimmt, außerdem
durch die Dosis und die Darreichungsform.
Während einer Strahlentherapie leiden
40 bis 80 % der Patienten unter Übelkeit
und/oder Erbrechen. Die Ursache und die
Formen des Erbrechens entsprechen den
Ausführungen bei der Chemotherapie.
Zum Risiko des Auftretens von Übelkeit
und Erbrechen im Rahmen einer Strahlentherapie siehe Tabelle 5. Weitere Risikofaktoren sind hochmaligne Tumore, spätes
Tumorstadium und Metastasierung, bei der
Strahlentherapie hohe Einzeldosis, großes
Bestrahlungsvolumen und ein kurzes
Fraktionierungsintervall, zudem ein hohes
individuelles Risiko (Tabelle 6).
Die Kombination von Chemo- und Strah­len­
therapie verstärkt das Risiko von Übelkeit
und Erbrechen.
Nicht tumorbedingte Ursachen von Übelkeit und Erbrechen können Infektionen,
Arzneimittel wie Opioide und Antiphlogistika (entzündungshemmende Medikamente), Stoffwechselstörungen (zum Beispiel
eine Hyperkalzämie), Schmerzen und
psychische Ursachen (zum Beispiel Angst)
sein. Dazu kommen individuelle Risikofaktoren des Patienten (Tabelle 6).
Schleimhautschädigungen
Chemotherapiebedingte Schleimhautschädigungen (Mukositiden) bis zu Ulzerationen können im Mund, der Speiseröhre
Seite
30
> 90 %
Ganzkörperbestrahlung
Total nodale Bestrahlung
60 - 90 %
Obere Halbkörperbestrahlung
Oberes Abdomen
Gesamtes Abdomen
30 - 60 %
Untere Halbkörperbestrahlung
Becken
Untere Thoraxregion
< 30 %
Kopf, Hals
Extremitäten
Extraabdominelle Felder
 Tabelle 5: Risiko des Auftretens von
Übelkeit/Erbrechen bei Strahlentherapie
(modifiziert nach Riesenbeck 2003)
und dem gesamten Magen-Darm-Trakt
auftreten. Die Häufigkeit bei allen systemisch verabreichten Chemo­therapien
wird mit 40 % angegeben. Erste Mukositissymptome treten in der Regel zwischen
Tag 5 und 7 nach der ersten Chemotherapieapplikation auf. Ein schlechter oraler
Gesundheitsstatus, reduziertes Allgemeinbefinden und junges Alter sind Risikofaktoren für orale Komplikationen. Ursache sind
DNA-Schädigungen des Epithels durch
zytostatikabedingte Sauerstoffradikale.
Zusätzliche Schädigungen der Schleimhäute können in der Phase der Neutropenie
(Verminderung der weißen Blutkörperchen) durch bakterielle und pilzbedingte
Infektionen auftreten (indirekte Toxizität).
Folge der Schleimhautschädigungen sind
Schmerzen, Abnahme der Speicheldrüsenfunktion, Geschmacksstörungen, Anorexie,
Bewegungsstörungen und Durchfall. Die
Schleimhautschädigung heilt im Allgemeinen 10 bis 14 Tage nach der Therapie ab.
Folgen einer Chemotherapie-induzierten
Schleimhautschädigung sind auch Störungen der Flüssigkeitsresorption im gesamten Darmtrakt, in schweren Fällen eine
„sekretorische“ Diarrhoe. Diese sistiert
nicht bei Nahrungskarenz im ­Gegensatz
zur „osmotischen“ Diarrhoe.
Als Folge der Schleimhautschädigung kann
es zu einer Intoleranz von Milchzucker (Laktose) und anderen Nährstoffen (Fruchtzucker,
Fett, Ballaststoffe) kommen. Bei Patienten
mit Dickdarmkarzinom wurde unter einer
Therapie mit 5-Fluorouracil ein Anstieg des
Mangels an Milchzucker spaltendem Enzym
(Laktase) von 24 auf 35 % beobachtet. Bei
94 % der Patienten bestand eine Milchzuckerunverträglichkeit.
Strahlenbehandlungen können Ursache
für ausgeprägte Haut- und Schleimhautschädigungen sein. Klinisch kommt es zu
einer Schleimhautentzündung mit Rötung
und umschriebenen und flächigen Läsionen
bis zu Nekrosen. Ähnliche Veränderungen
wie an der Mundschleimhaut (siehe
Mundtrockenheit) zeigen sich unter der
Bestrahlung auch an der Darmschleimhaut.
Hier wird das Zottenepithel geschädigt.
Risikoscore
Risikofaktor
Alter
> 55 Jahre
< 55 Jahre
0
1
Geschlecht
männlich
weiblich
1
2
Alkoholkonsum
ja (> 100 g/Tag)
nein
0
1
Vorerfahrungen
mit Übelkeit/
Erbrechen
ja
nein
1
0
Angst
ja
nein
1
0
Risikoscore: ≤ 4
5 – 6
Normales Risiko
Hohes Risiko
 Tabelle 6: Ermittlung des individuellen Emesisrisikos eines Patienten (Feyer et al. 2005)
Seite
31
Durchfall tritt zwischen der 2. und 3.
Bestrahlungswoche auf. Ursache ist ein
komplexer Prozess mit Bewegungsstörungen, Enzyminsuffizienz, verminderter
Resorption von Gallensalzen mit Wasserretention und Veränderung der Darmflora.
Nach Bestrahlungsende kommt es in der
Regel innerhalb ­eines Monats zur Wiederherstellung der Schleimhaut. Wesentliche
Ursache für die Spätreaktionen sind endotheliale Veränderungen.
Durchfall und Verstopfung
Ursachen für Durchfall können neben Chemotherapie-induzierten Schleimhautschädigungen (siehe oben) auch vorangegangene
Operationen im Magen-Darm-Trakt sein,
Magen-Darm-Infektionen, Verdauungsund Absorptionsstörungen, Allergien,
eine mechanische Obstruktion oder eine
Begleitmedikation wie Antibiotika. Verbunden ist Durchfall häufig mit Blähungen,
Völlegefühl und Schmerzen.
Auch eine Verstopfung kann durch Chemotherapeutika ausgelöst werden. Weitere
mögliche Ursachen für Verstopfung sind
unter anderem Stoffwechselstörungen
(z.B. Hyperkalzämie), endokrine Erkrankungen (z.B. Hypothyreose), rektoanale
Erkrankungen (Entzündungen, Störungen
der Stuhlentleerung), neurogene Störungen
(bei Diabetes mellitus), Flüssigkeitsmangel,
Abnahme der oralen Nahrungszufuhr, ballaststoffarme Kost, Bewegungsarmut sowie
Begleitmedikationen wie Opiate, Opioide,
trizyklische Antidepressiva, orale Eisenpräparate, Diuretika.
Infektanfälligkeit
Chemo- und Strahlentherapie führen bei
Leuko- und Lymphopenie durch eine
Verminderung der Immunabwehr zu
erhöhter Infektanfälligkeit. Diese besteht
sowohl systemisch als auch lokal im
gesamten Magen-Darm-Trakt. Die lokalen
Infektionen im Sinne einer Stomatitis,
Mukositis und Kolitis können zu einer
Reduktion der Nahrungsaufnahme und
ausgeprägter Malabsorption führen. In
der Speiseröhre führen die Entzündungen
zu einer deutlichen, schmerzbedingten
Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme
bis hin zur kompletten Unfähigkeit, selbst
den Speichel zu schlucken. Im Magen ist
bedingt durch die Magensäure die lokale
Infektgefahr geringer. Trotz einer möglichen, ausgedehnten Gastritis gibt es keine
schweren Infektionen, die den Magen
betreffen, wenn nicht medikamentös durch
Senkung des Magen-pHs die Bakterienabtötung vermindert wird. Die Schädigung der
Mukosa-Barriere des Darmes (Kolitis) durch
Chemo- und Strahlentherapie ist ein Risiko
für das Durchwandern von Infektionserregern mit nachfolgenden Bakteriä­mien.
Neben der verminderten Flüssigkeits- und
Nährstoffaufnahme führen diese Enterocolitiden auch zu einem deutlichen Verlust an
Flüssigkeit und Nährstoffen, vor allem auch
von Eiweiß.
Seite
32
3.4.2 Stoffwechselstörungen
Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung
von Mangelernährung und bei der Veränderung der Körperzusammensetzung von
Tumorpatienten sind Stoffwechselveränderungen, die sich von den Stoffwechselveränderungen im Hungerzustand (z.B. beim
Fasten) unterscheiden. Sie sind bedingt
durch eine Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse. Bei vielen Patienten
findet sich diese Akut-Phase-Reaktion bereits bei der Diagnosestellung, zum Beispiel
bei 50 % der Patienten mit einem Tumor der
Bauchspeicheldrüse.
Eiweißstoffwechsel
Ganzkörpereiweißumsatz
erhöht
Eiweißoxidation
unverändert
Eiweißabbau im Muskel
erhöht
Eiweißaufbau im Muskel
vermindert
Eiweißaufbau in der Leber
(Akut-Phase-Proteine)
erhöht
Stickstoffbilanz
negativ
Aminosäurenimbalance:
Alanin, Leucin, Threonin
Glutamat, Phenylalanin
vermindert
erhöht
Im Gegensatz zum Hungerzustand können
Tumorpatienten ihren Grundumsatz bei
unzureichender Energiezufuhr nicht reduzieren. Während der Energiestoffwechsel
onkologischer Patienten nicht generell
erhöht ist (1/3 der Patienten ist hypometabol, 1/4 hypermetabol), zeigen Eiweiß-,
Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel charakteristische Veränderungen (Tabelle 7).
Der Abbau von Muskeleiweiß ist erhöht,
ebenso die Neubildung von Glukose aus
Aminosäuren und Laktat, was zu einem
Eiweißverlust beim Patienten führt.
Zusätzlich tragen ein unökonomischer
Glukosestoffwechsel und eine Insulinresistenz, ein gesteigerter Fettabbau und
verminderter Fettaufbau zum Gewebeverlust bei. Es kommt zum zunehmenden
Gewichtsverlust und zu Mangelernährung.
Typische biochemische Veränderungen
sind eine Hypalbuminämie, Anämie und
Hyperlaktatämie.
Kohlenhydratstoffwechsel
Als Mediatoren dieser Stoffwechselveränderungen gelten verschiedene
Faktoren: vom Patienten aus Zellen des
Glucoseumsatz
erhöht
Glucoseoxidation
vermindert
Gluconeogenese
erhöht
Glykogenolyse
erhöht
Anaerobe Glykolyse und
Laktatbildung
erhöht
Insulinresistenz
vermindert
Fettstoffwechsel
Fettabbau
erhöht
Lipoprotein-Lipase-Aktivität
(Serum)
vermindert
Fettaufbau
vermindert
Blutfettwerte
erhöht
Umsatz an freien Fettsäuren
erhöht
De Novo Fettsäurensynthese
erhöht
 Tabelle 7: Stoffwechselveränderungen
beim Tumorpatienten
Seite
33
Immunsystems (Makrophagen, T-Zellen)
und auch aus Zellen des ZNS freigesetzte
Zytokine (Tumornekrosefaktor-(TNF)-α,
Interleukin-1β, Interleukin-6, Interleukin-8
und Interferon-γ), außerdem von Tumoren
ausgeschüttete (Glyko-)Proteine wie der
Proteolysis-Inducing-Faktor (PIF) und der
Lipid-Mobilizing-Faktor (LMF). Während
die Zytokine an verschiedenen Zielorten
wie Knochenmark, Skelettmuskelzellen,
Hepatozyten, Adipozyten und Endothelzellen, aber auch zentral wirken, wo sie die
zur Mangelernährung führenden Stoffwechselveränderungen veranlassen, mobilisieren die tumorspezifischen Produkte
PIF und LMF Aminosäuren und Fettsäuren
direkt im Muskel- und Fettgewebe. PIF
findet sich nur bei Tumorpatienten und
wirkt über eine Steigerung des Ubiquitinproteasomalen Proteinabbaus. LMF führt
im Adipozyten über einen cAMP-gekoppelten Prozess zur Lipolyse. Durch die
Entzündungsprozesse ebenfalls vermehrt
ausgeschüttet werden katabole Hormone,
Kortikosteroide, Glukagon und Katecholamine sowie inflammatorische Eikosanoide.
3.5 E
rfassung und Diagnose
von Mangelernährung
Die Stoffwechselstörungen sind auch
Ursache für die Schwierigkeiten, eine
bestehende Mangelernährung zu beheben
und einen Aufbau von Körpersubstanz und
eine Gewichtszunahme zu erreichen.
Die Gewichtsänderung sollte in Prozent
des gesunden Ausgangsgewichtes angegeben werden.
Die Folgen der Mangelernährung und die
Ernährungsprobleme von Tumorpatienten
verdeutlichen die Notwendigkeit einer
Ernährungsintervention. Bevor die Indikation zu einer Ernährungstherapie gestellt
werden kann, ist eine Untersuchung des
Ernährungszustandes notwendig. Diese
sollte bei Behandlungsbeginn und während des gesamten Krankheitsverlaufs in
Abhängigkeit vom Zustand des Patienten
in individuell festzulegenden Abständen
sowohl in der Klinik als auch im ambulanten Bereich durchgeführt werden.
Weit verbreitet zur Erfassung des Ernährungszustands ist der Body-Mass-Index
(BMI). Dieser gibt das Ausmaß einer
Mangelernährung bei Tumorpatienten
jedoch nur unzureichend wieder. Vorrangig
sollte deshalb immer der Gewichtsverlauf
beachtet werden. Hierzu sind regelmäßige
standardisierte Messungen des Körpergewichts notwendig.
Weiterhin sind Veränderungen der üblichen Nahrungsmengen von Bedeutung.
Die Energie- und Nährstoffaufnahme kann
in prozentualen Anteilen der üblichen
Nahrungsmenge abgeschätzt oder mit
quantitativen und möglichst auch qualitativen Essprotokollen ermittelt werden.
Grundlage dafür ist eine mündliche Ernährungsanamnese beim Patienten oder der
betreuenden Person. Ein Ernährungsprotokoll sollte mindestens 3 Tage, maximal 7
Tage unter Einschluss eines Wochenendes
Seite
34
geführt werden und kann mittels PC ausgewertet werden. Das Erfassen der Nahrungsaufnahme gibt auch Aufschluss über
individuelle Ernährungsgewohnheiten und
Ernährungsbedürfnisse eines Patienten
und ist somit die Basis jeder notwendigen
Ernährungsberatung.
Als einfache und schnelle Methode zum
Ernährungsscreening, das heißt zur
schnellen und einfachen Identifikation von
gefährdeten oder bereits betroffenen
Patienten, haben sich in den letzten Jahren
verschiedene Fragebögen bewährt, die die
oben genannten Aspekte kombinieren.
Von der Europäischen Gesellschaft für
Klinische Ernährung und Stoffwechsel
(ESPEN) empfohlen werden für Erwachsene im ambulanten Bereich das „Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)“
und im Krankenhaus das „Nutritional Risk
Screening (NRS)“.
Beide Instrumente erfassen mit einfachen
Fragen BMI, Gewichtsverlust, Essmenge
und Vorhandensein bzw. Schweregrad der
Erkrankung und berechnen einen Punktescore, der je nach Höhe auf Mangelernährung bzw. auf ein bestehendes Risiko
hinweist.
Ein weiteres Instrument, der „SGA (Subjective Global Assessment)“, klassifiziert den
Ernährungszustand des Patienten als A =
gut ernährt, B = mäßig mangelernährt bzw.
Verdacht auf Mangelernährung oder C =
schwer mangelernährt. Die Einschätzung
wird anhand vorgegebener Kriterien vom
geschulten Untersucher subjektiv vorgenommen. Der SGA ist auch modifiziert
für Tumorpatienten als „Scored PatientGenerated Subjective Global Assessment
(PG-SGA)“ verfügbar.
MUST, NRS und SGA sind auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für
Ernährungsmedizin (DGEM) unter
www.dgem.de verfügbar, der SGA mit
einer ausführlichen Erklärung zur Anwendung. Dort finden sich auch Richtlinien
und Tabellen zur differenzierten Bestimmung des Ernährungszustandes (Leitlinie
Enterale Ernährung: Ernährungsstatus).
Zum frühzeitigen Erkennen einer Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse
sollte darüber hinaus das Ausmaß einer
eventuell bestehenden Akut-PhaseReaktion abgeschätzt werden. Dies kann
unter anderem durch Bestimmung des
C-reaktiven Proteins (CrP) erfolgen.
Seite
4 Ernährung bei Tumorerkrankungen
4.1 Empfehlungen
zur Ernährung bei
Tumorerkrankungen
4.1.1 Allgemeines
Da viele Ernährungsprobleme und Mangel­
ernährung bereits früh im Krankheitsverlauf und nicht erst im Zusammenhang mit
einer Tumortherapie auftreten können, ist
es sinnvoll, auch Ernährungsmaßnahmen
frühzeitig, das heißt bei Diagnosestellung,
in den Therapieplan eines Patienten mit
einzubeziehen.
Häufig unterschätzen auch die Patienten
selbst das Ausmaß ihrer bereits vorhandenen Ernährungsstörungen. Bei bestehendem Übergewicht ist eine Gewichtsabnahme aus Sicht des Patienten sogar
oft willkommen, doch verschlechtert ein
Gewichtsverlust auch bei übergewichtigen
Patienten die Prognose.
Tumorpatienten und ihre betreuenden Angehörigen sind an Ernährung generell sehr
interessiert. Ernährung ist etwas, womit
Patienten aktiv selbst etwas tun können,
um ihre Gesundung zu unterstützen.
Ziel der Ernährungstherapie onkologischer
Patienten während der Tumor­therapie ist
es, eine ausreichende Energie- und Nährstoffzufuhr zu gewährleisten, um zumindest
das Gewicht des Patienten konstant zu
halten.
Hierzu benötigt der Patient nicht grundsätzlich eine spezielle Ernährung. Bestehen
keine Ernährungsprobleme, kann er sich
mit einer Vollkost oder leichten Vollkost in
Form einer abwechslungsreichen Mischkost ernähren, die unter Berücksichtigung
individueller Unverträglichkeiten und Wünsche des Patienten als eine „gesteuerte
Wunschkost“ zusammengestellt ist. Die
leichte Vollkost enthält im Unterschied zur
Vollkost keine Lebensmittel oder Speisen,
die erfahrungsgemäß häufig, das heißt bei
mehr als 5 % der Patienten, Unverträglichkeiten auslösen (Tabelle 8).
Unspezifische Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind bei Krebspatienten häufig.
Vielfach anzutreffen ist eine Abneigung
gegen tierisches Eiweiß. Meist werden zunächst Schweine- und Rindfleisch, später
Geflügel und Fisch und zuletzt Eier und
Milchprodukte abgelehnt. Auch die Zubereitungs- und Darreichungsform spielen
eine Rolle. So wird Fleisch als Scheibe oder
Steak angeboten eher abgelehnt als in
Stücken in einem Eintopf. Auch Streichwurst wird eher akzeptiert als Schnittwurst.
Einseitige Ernährungsformen sollten
ver­mieden werden, da sie die Gefahr von
Nährstoffdefiziten beinhalten.
35
Seite
36
a) Prinzip
• Mehrere kleine Mahlzeiten
• Fettreduzierte abwechslungsreiche Kost
• Individuelle Unverträglichkeiten beachten
• Blähende Lebensmittel und Speisen meiden
• Wenig Süßes
• Hell-/mittelbraune Bräunung beim Braten
• Gut kauen und langsam essen
• Alkohol in Maßen
b) Schlechter vertragene Lebensmittel und Zubereitungsarten,
die bei der leichten Vollkost gemieden werden sollten
• Fette Brühen, Suppen, Saucen
• Große Mengen Streich- und Kochfett
• Frisches Brot oder frische und sehr fette Backwaren, sehr grobe Vollkornbrote,
ganze oder grob gemahlene Vollkornprodukte
• Vollfette Milchprodukte (z.B. Sahneprodukte, Käsesorten mit
Rahm- oder Doppelrahmstufe)
• Stark oder mit Speck angebratene, geröstete und frittierte Lebensmittel
• Fette oder frittierte Kartoffelprodukte
• Fette und geräucherte Fleisch-, Wurst- und Fischwaren
• Hart gekochte Eier, fette Eierspeisen, Mayonnaisen
• Schwer verdauliche oder blähende Gemüse (Grün-, Rot-, Weiß-, Rosenkohl,
Wirsing, Sauerkraut, Lauch, Schwarzwurzeln, Zwiebeln, Knoblauch, Pilze,
Paprika, Oliven, Gurken- und Rettichsalat, Erbsen und Bohnen, die nicht
sehr fein sind, getrocknete Hülsenfrüchte), sehr fettreiche Zubereitungen
• Unreifes Obst, Steinobst, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Avocados
• Fette Süßigkeiten
• Alkohol in jeder Form, kohlensäurehaltige Mineralwässer oder Limonaden,
eisgekühlte Getränke
• Große Mengen an scharfen Gewürzen, Zwiebel- oder Knoblauchpulver
 Tabelle 8: Leichte Vollkost
Klagt ein Patient dennoch über Beschwerden oder gibt er über diese Tabelle
hinausgehende Intoleranzen an, so ist dies zu berücksichtigen.
Seite
37
4.1.2 Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffzufuhr
Der Energie- und Nährstoffbedarf von
Tumorpatienten wird vom Ernährungszustand, der Art der Erkrankung, Begleit­
erkrankungen, der Tumortherapie sowie
dem klinischen Zustand und der Prognose
des Tumorleidens bestimmt. Für die optimale Energie- und Nährstoffzufuhr onkologischer Patienten gibt es daher keine
allgemein gültigen Standards.
Energie
Bei jeweils etwa 25 % der Patienten
mit aktiver Tumorerkrankung liegt der
mit indirekter Kalorimetrie gemessene
Ruheenergieumsatz (REE) um mehr als 10 %
über oder unter dem Erwartungswert. Eine
Voraussage zur Richtung und dem Ausmaß
der Abweichung ist derzeit nicht möglich.
Der Mittelwert des REEs für eine Gruppe
von Tumorpatienten entspricht in etwa
dem Mittelwert eines gesunden Kollektivs. Untersuchungen bei Patienten mit
unterschiedlichen Tumorarten ergaben einen
normalen REE bei Patienten mit Magenoder Dickdarm- und Enddarm-Krebs und
einen erhöhten REE bei Patienten mit
Bauchspeicheldrüsen- und Lungenkrebs.
Ein gesteigerter Energiebedarf wird auch
beim Eierstockkrebs beschrieben. Genauere
Untersuchungen bei Patienten mit fortgeschrittenem Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkarzinom zeigten zwar einen gegenüber
Gesunden erhöhten REE, jedoch eine
verminderte körperliche Aktivität und einen
gering erniedrigten Gesamtenergieumsatz.
Kann der tatsächliche Ruheenergieumsatz
im Einzelfall nicht gemessen werden, kann
daher für Erwachsene zunächst ein normaler Energieumsatz angenommen werden.
Bei der Berechnung der Gesamtenergiezufuhr müssen mögliche Steigerungen
des Energiebedarfs durch tumorbedingte
Entzündungsprozesse und auch die Intensität körperlicher Aktivität im Einzelfall
berücksichtigt werden.
Als Faustregel kann der Gesamtenergiebedarf onkologischer Patienten mit
folgenden Formeln berechnet werden:
• bettlägeriger Patient
25 kcal/kg KG und Tag,
• mobiler Patient
30 kcal/kg KG und Tag.
Eine Tagesenergiezufuhr von mehr als
35 kcal/kg KG ist selten notwendig.
Das Berechnungsgewicht ist bei untergewichtigen Patienten das Ist-Gewicht,
ebenso bei Patienten mit einem BMI bis
30 kg/m2. Da adipöse Patienten auch an
Magermasse zugenommen haben, haben
sie einen erhöhten Grundumsatz und somit einen höheren Energiebedarf. Verlieren
adipöse Patienten an Gewicht, verlieren
auch sie zunächst Mager-, also Skelettmuskelmasse, was besonders bei Tumorpatienten nicht erwünscht ist. Man kann zur
Berechnung des Energiebedarfs adipöser
Tumorpatienten ein adaptiertes Gewicht
zugrunde legen. Zur Berechnungsformel
siehe Tabelle 9.
Eiweiß
Die Eiweißzufuhr sollte für Tumorpatienten
bei 1,2 bis 1,5 g/kg KG und Tag liegen, höher
als bei Gesunden (0,8 g/kg KG und Tag).
Es gibt keinen Hinweis, dass eine darüber
liegende Eiweißzufuhr bei onkologischen
Patienten antikatabol wirkt. Für schwer
kranke adipöse Patienten werden allerdings
2 g/kg Idealgewicht und Tag angegeben.
Seite
38
• Adaptiertes Körpergewicht (kg)
= (Körpergewicht – Idealgewicht) x 0,4 + Idealgewicht
• Idealgewicht (kg)
Männer: 48 + (Größe – 152) x 1,06
Frauen: 45,4 + (Größe – 152) x 0,89
 Tabelle 9: Berechnung des Körpergewichtes adipöser Patienten als Basis zur Abschätzung
des Energiebedarfs
Fett
Tumorpatienten weisen eine erhöhte Fett­
oxidation und eine gesteigerte Nutzung
zugeführter Fette auf. Es wird daher empfohlen, den Fettanteil in der Ernährung von
Tumorpatienten auf über 35 % der Gesamtenergiezufuhr zu erhöhen. Ein derartiger
Fettanteil entspricht dem in der Ernährung
der Gesamtbevölkerung üblicherweise
verzehrten Fettanteil.
Bei vorliegender Entzündung wird für
die parenterale Ernährung zunehmend
empfohlen, keine Fettlösungen mit ausschließlich langkettigen ω-6-Fettsäuren
(Sojaöl) anzuwenden, sondern diese mit
MCT (mittelkettigen Triglyzeriden), einfach
ungesättigten Fettsäuren („Olivenöl“) oder
ω-3-Fettsäuren („Fischöl“) zu kombinieren.
Mikronährstoffe
Die Zufuhr an Mikronährstoffen erfolgt auf
der Basis der DACH-Empfehlungen für die
Ernährung Gesunder (DACH = Deutsche
Gesellschaft für Ernährung, Österreichische
Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische
Gesellschaft für Ernährungsforschung,
Schweizerische Vereinigung für Ernährung).
Auf eine ausreichende Versorgung mit
Spurenelementen und Vitaminen ist zu
achten. Kontrovers diskutiert wird die
medikamentöse Zufuhr von Vitaminen
mit antioxidativer Wirkung, vor allem in
Megadosen, während Chemo- und/oder
Radiotherapie. Grund für die Warnungen
vor einer unkontrollierten bzw. hohen
Zufuhr ist der Umstand, dass viele Chemotherapeutika (Alkylantien, Anthrazykline,
Mitomycin, Bleomycin, Etoposid) und auch
die Radiotherapie Tumorzellen durch Schädigung mittels Radikalenbildung zer­stören,
Tumorzellen die zugeführten Antioxidantien
jedoch als Schutz gegen diese Schädigung
benutzen könnten. Unter einer Therapie
mit Velcade® (Bortezomib, PS-341) sollen
Patienten keine Vitamin-C-Medikation
erhalten, da Vita­min C die Wirkung des
Chemotherapeutikums im Zellversuch
aufhebt. Denselben Effekt hatten in einer
aktuellen Untersuchung verschiedene
Polyphenole aus grünem Tee. Auch bei der
Einnahme von Multivitamin-/Multimineralstoffpräparaten wird aus Sicherheitsgründen empfohlen, maximal die dreifache Menge der Zufuhrempfehlun­gen der
Fachgesellschaften an Spurenelementen
und Vitaminen einzunehmen. Eine vitaminreiche Ernährung ist ebenfalls sicher.
Bei enteraler Ernährung ist mit 1500 kcal
einer Standardnahrung im Normalfall der
Basisbedarf eines gesunden Erwachsenen an Spurenelementen und Vitaminen
gewährleistet.
Seite
39
Wird parenteral ernährt, müssen Spuren­
elemente und Vitamine immer zugegeben
werden, Elektrolyte können in den Nähr­
lösungen enthalten sein. Die DGEM-Leitlinie zur parenteralen Zufuhr von Wasser,
Elektrolyten, Spurenelementen und
Vitaminen orientiert sich bei ihren Empfehlungen zur Mikronährstoffzufuhr an
den Zufuhrempfehlungen amerikanischer
Fachgesellschaften. Auch diese basieren auf
Zufuhrempfehlungen für Gesunde.
4.1.4 Die sogenannten
„Krebsdiäten“
4.1.3 Bedeutung
der Ernährungsberatung
Angebliche Wirkmechanismen
von Krebsdiäten sind:
Die „gesteuerte Wunschkost“ als Form
einer optimierten oralen Ernährung kann
am besten mit Hilfe der fachkundigen
Betreuung und Beratung durch eine
Ernährungsfachkraft durchgeführt werden,
vor allem unter stationären Bedingungen. Diese Ernährungsfachkraft ist auch
der Ansprechpartner für Angehörige bei
Ernährungsfragen und Ansprechpartner
des Patienten zwischen und nach einer
onkologischen Therapie, wenn zu Hause
Ernährungsprobleme auftreten. Eine ver­mittelnde und damit sehr wichtige Stel­lung
in der Ernährungsbetreuung onkologischer
Patienten haben Pflegekräfte. Sie sollten
besonders für die bestehenden und auftretenden Ernährungsprobleme und Ernährungsbedürfnisse von Patienten sensibilisiert sein, da sie im klinischen Alltag meist
erster und wichtigster Ansprechpartner
des Patienten sind und auch den intensivsten Kontakt zu ihm haben.
Ernährungsmaßnahmen sind eine wich­tige
unterstützende Behandlung, aber keine
Behandlung zur Heilung einer Krebs­
erkrankung. Entgegen immer wieder
geäußerten Behauptungen gibt es bis jetzt
keine spezielle Ernährung im Sinne einer
„Krebsdiät“, die einen vorhandenen Tumor
heilt und so eine spezifische Tumortherapie
ersetzen kann.
• die Aktivierung der Zellatmung,
• der Abbau von Tumorgiften,
• eine Steigerung der Verletzlichkeit
des Tumors,
• das Wiederherstellen des Stoffwechselgleichgewichtes,
• eine Entgiftung des Organismus sowie
• die Stimulation der Immunabwehr und
• eine Wachstumshemmung des Tumors
durch die gesteigerte Zufuhr einzelner
Nahrungsinhaltsstoffe.
Einige „Krebsdiäten“ haben eine Zusammensetzung, wie sie auch von den
Fachgesellschaften für eine gesunde und
krebspräventive Ernährung der Allgemeinheit empfohlen werden. So handelt es
sich oft um laktovegetabile Kostformen, in
denen der Eiweißbedarf durch Milch und
Milchprodukte sowie pflanzliche Lebensmittel gedeckt wird bzw. um Ernährungsformen mit mäßigem Fleischverzehr,
bevorzugtem Verzehr von Vollkornprodukten, Obst und Gemüse sowie pflanzlicher
Fette. Zu meiden sind meist Zucker und
Seite
40
Weißmehlprodukte, Margarine, Salz, Koffein und Alkohol. Es gibt somit durchaus
„Krebsdiäten“, die nach Prüfung ihrer
Ausgewogenheit von einem Tumorpatienten bei Wunsch durchgeführt werden
können, allerdings nicht mit dem Ziel, das
Krebswachstum zu verhindern oder gar die
Krebserkrankung heilen zu können.
Häufig genannte „Krebsdiäten“ sind in
Tabelle 10 zusammengestellt. Von den fett
gedruckten Diäten ist abzuraten. Keinesfalls durchgeführt werden sollten Fastenkuren, mit denen der Tumor ausgehungert
werden soll oder einseitige, zu Mangelernährung führende Ernährungsformen.
Besonders beworben wird seit einiger Zeit
die sogenannte Transketolase-like-1 (TKL1)-„Ketogene Diät“. Die Diät stützt sich
auf die Beobachtung, dass fortgeschrittene
Tumore gegenüber gesunden Zellen eine
höhere Glukoseaufnahme haben und mit
zunehmender Aggressivität auch stärker
von Glukose als Energiequelle abhängig
sind. Der Nachweis einer stärkeren Ausschüttung des Enzyms Transketolase-like-1
im Tumorgewebe soll ein Zeichen für das
Vorliegen einer dahingehend im Tumorgewebe geänderten Stoffwechselsituation
sein. Diese Beobachtungen führten dazu,
eine strenge Begrenzung der Glukosezu-
• Annemüller und Ries: „Stoffwechselaktive Kost“
• Breuß: „Krebskur - total“
• Budwig: „Öl-Eiweiß-Kost“
• Burger: „Instinktotherapie“
• Gerson: „Diättherapie bösartiger Erkrankungen“
• Krebs: „Stoffwechseltherapie“
• Kuhl: „Milchsäurekost“
• Leupold: „Konservative Krebs-Therapie“ • Moermann: „Krebsdiät“
• Ohsawa (Kushi) Diät: „Makrobiotik“
• Reckeweg: „Homotoxinlehre“
• Schmidt: „Gesundheitskost“
• Seeger: „Rote Bete als Heilmittel“
• Transketolase-like1- „Ketogene Diät“ (nur unter ärztlicher Kontrolle und Betreuung
einer sachkundigen Ernährungsfachkraft!)
• Windstosser: „Heilkost“
• Zabel: „Ernährung des Krebskranken“
 Tabelle 10: Die wichtigsten sogenannten „Krebsdiäten“ *
* von den fett gedruckten „Krebsdiäten“ ist abzuraten!
Seite
41
fuhr mit der Nahrung in Form einer äußerst
kohlenhydratarmen, eiweiß- und energiebilanzierten und extrem fettreichen „ketogenen Diät“ als Behandlungsansatz bei
bösartigen Tumoren zu erwägen. Die Diät
führt zu einem Stoffwechselzustand, wie
er beim Gesunden beim Fasten auftritt. Es
gibt bisher keine veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen, die belegen,
dass diese Art von Ernährung einen günstigen Einfluss auf Tumore mit Ausschüttung
der TKL-1 hat. Zudem muss vorher geklärt
sein, ob der Tumor des Patienten TKL-1
vermehrt ausschüttet. Eine ketogene Diät
darf nur unter ärztlicher Aufsicht bei einer
klaren Indikation und dem Ausschluss von
Kontraindikationen, nach einem ausführlichen Aufklärungsgespräch, einer Ernährungsanamnese und einer eingehenden
internistischen Untersuchung durchgeführt
werden. Die ketogene Diät erfordert eine
Diätassistentin im Team, die stationäre
Einleitung der Diät sowie die regelmäßige
ambulante Weiterbetreuung des Patienten.
Die für die Diät angebotenen speziellen
fettreichen und mit Süßstoff gesüßten
Nahrungsmittel sind nicht notwendig. Kritisch ist auch anzumerken, dass es unklar
ist, wie weit Blutglukose- oder Insulinspiegel gesenkt werden müssen, um negative
Wirkungen auf Tumorzellen zu erreichen.
Viele Studien belegen, dass Tumorzellen
Glukosetransporter überexprimieren, die
ihre halbmaximale Aktivität bereits im
niedrigen Glukosebereich um und unter
2 mM (18 mg/dl) erreichen. Es ist deshalb
möglich, dass eine Glukoseabsenkung
unter physiologischen Bedingungen nicht
ausreicht, um die Glukoseversorgung bösartiger Zellen zu gefährden.
4.2Grundlagen der
Ernährungstherapie
4.2.1Allgemeines
Die Ernährungstherapie wird individuell
in Abhängigkeit vom Ernährungszustand,
zusätzlich bestehenden Erkrankungen, der
Therapieform und dem klinischen Zustand
eines Patienten im Hinblick auf die Applikationsart, die Kostform und den Nährstoffbedarf festgelegt. In das Gesamtkonzept mit einzubeziehen sind die Wünsche
und Lebensumstände des Patienten sowie
die Prognose des Tumorleidens.
4.2.2Ziele
Ziele einer Ernährungstherapie vor
und während der Tumortherapie sind:
• die Stabilisierung des Ernährungs­
zustandes, mindestens das Aufhalten
bzw. Mindern eines fortschreitenden
Gewichtsverlustes,
• eine Steigerung der Effektivität und
Reduktion von Nebenwirkungen der
Antitumortherapie,
• das Vermeiden von Therapieunter­
brechungen sowie
• der Erhalt oder eine Verbesserung der
Lebensqualität des Patienten.
Nach der Tumorbehandlung ist eine Aufgabe der Ernährungstherapie, die möglichen Langzeitfolgen der Tumortherapie zu
lindern und die Lebensqualität zu erhalten.
Seite
42
Weitere Ziele sind eine Verminderung
des Risikos von Komorbiditäten sowie die
Verhinderung eines Rezidivs und damit
letztlich die Steigerung der Wahrscheinlichkeit einer Überlebensverlängerung.
4.2.3 Indikationen
Eine Ernährungstherapie ist schon bei
drohender und generell bei bestehender
Mangelernährung indiziert. Merkmale
dafür sind ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust und eine anhaltend verminderte
Nahrungszufuhr. Spätestens bei einem
Gewichtsverlust von 5 % und mehr vom
gesunden Ausgangsgewicht wird empfohlen, eine Ernährungsdiagnostik durchzuführen, möglichst einschließlich einer
quantitativen und auch qualitativen Erfassung der Energie- und Nährstoffzufuhr
(siehe Kap. 3.5 Erfassung und Diagnose
von Mangelernährung).
Die Erfassung der Ernährungssituation
sollte so gestaltet sein, dass sich daraus
der Interventionsbedarf und geeignete
Maßnahmen ableiten. Bei Bedarf sollte
dann eine individuelle Ernährungs­
beratung erfolgen sowie Kontrolltermine
zur weiteren Ernährungsbetreuung ver­
einbart werden.
Jede Nahrungszufuhr sollte möglichst
physiologisch und komplikationsarm
sein. Daher ist so lange wie möglich eine
orale Ernährung anzustreben. Ist die orale
Ernährung mit üblichen Lebensmitteln unzureichend, kann die Ernährung zunächst
mit Trinknahrungen verbessert werden.
Ist die orale Ernährung auch dann noch
unzureichend oder ist eine orale Ernährung
überhaupt nicht möglich, besteht die Indi-
kation zur Sondenernährung. Dies ist bei
einer zu erwartenden Nahrungskarenz von
mindestens 5 Tagen beziehungsweise einer
zu erwartenden unzureichenden Ernährung des Patienten von mindestens 10 Tagen der Fall. Nahrungskarenz ist definiert
als orale Nahrungszufuhr unter 500 kcal/
Tag, unzureichende Nahrungszufuhr als
Nahrungszufuhr unter 60 % des errechneten Bedarfs eines Patienten. Nur wenn
auch die enterale Ernährung unzureichend
oder unmöglich ist, sollten Nährstoffe auf
parenteralem Weg zugeführt werden.
Der Ernährungsbeginn erfolgt unmittelbar
nach Indikationsstellung, gegebenenfalls
mit einem Nahrungsaufbau über 2 bis 4
Tage. Dies ist besonders bei mangelernährten Patienten oder Patienten nach längerer
Nahrungskarenz von Bedeutung, um ein
potenziell tödliches „Refeeding-Syndrom“
zu vermeiden (siehe Kap. 4.2.5).
Die Zufuhrmenge sollte generell den Fehlbedarf ersetzen. Bei weiterhin möglicher
oraler Ernährung ergeben sich kombinierte
Ernährungsregimes aus oraler und enteraler und/oder parenteraler Ernährung.
4.2.4 F
ormen der
Ernährungstherapie
Orale Ernährung mit Trinknahrung
Die übliche orale Ernährung kann durch
Trinknahrungen optimiert werden, die
es in vielen Zusammensetzungen und
Geschmacksvarianten gibt, so dass jeder
Patient nach seinem individuellen Bedürfnis damit versorgt werden kann.
Eine Übersichtsarbeit über randomisierte,
kontrollierte Studien zum Effekt einer oralen
und enteralen Eiweiß-Energie-Supp­lemen-
Seite
43
tierung gegenüber keiner Supplementierung auf Gewicht, anthropometrische Daten
und Überleben erwachsener Patienten
ergab auch für Tumorpatienten positive
Effekte. In einer Untersuchung an Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die nicht mehr behandelt wurden,
trug vor allem die Zahl der Essperioden
und dabei die Zwischenmahlzeiten zu
einer Steigerung der Energie- und Nährstoffzufuhr bei. Eine aktuelle Erhebung an
Patienten mit oropharyngealen Tumoren
unter Radiotherapie allein oder unter
Radio-Chemotherapie zum Effekt einer
oralen Ernährungssupplementierung mit
zusätzlicher Trinknahrung ergab in der
supplementierten Gruppe einen signifikant niedrigeren Gewichtsverlust und in
der nur mit Radiotherapie behandelten
Gruppe eine geringere Zahl notwendiger
PEG-Anlagen (Perkutane Endoskopische
Gastrostomie).
Für Tumorpatienten besonders geeignet
sind energie-, eiweiß- und fettreiche Trinknahrungen. Die Erfahrung zeigt, dass es
wichtig ist, den Patienten selbst ausprobieren zu lassen, was ihm schmeckt. Auch
die Geschmacksrichtung der Trink­nahrung
sollte abwechslungsreich sein. Diese Erfahrung bestätigt eine klinische Erhebung
zur Geschmackspräferenz mangelernährter
Patienten für verschiedene orale Trinknahrungen. Die Supplemente wurden insgesamt gut akzeptiert und auch gut toleriert,
allerdings gab es unterschiedliche Präferenzen für verschiedene Produktarten (Milchoder Frucht-Basis) und Geschmacksrichtungen. Um die Compliance zu verbessern,
mussten diese beiden Faktoren beachtet
werden.
Enterale Ernährung
Voraussetzungen für eine enterale
Ernährung sind eine ungestörte MagenDarm-Passage, eine ungestörte Motilität
des Magen-Darm-Traktes sowie eine
weitgehend erhaltene beziehungsweise
ausreichende Verdauung und Resorption
der Nährstoffe.
Ein breites Produktangebot steht auch hier
zur Verfügung. Die verschiedenen Produkte unterscheiden sich im Bezug auf Eigenschaften wie Energiedichte (0,75-2,4 kcal/
ml), Art und Gehalt an Pro­tein, Zusammensetzung der Fette, Ballaststoffgehalt, Osmolarität und Viskosität. Sondennahrungen
sind in der Regel glutenfrei und enthalten
Elektrolyte, Spurenelemente und Vitamine
unter Berücksichtigung der Referenzwerte
der Fachgesellschaften für Gesunde sowie
eines „Sicherheitszuschlages“. Zudem müssen die gesetzlich vorgegebenen Mindestund Höchstmengen an Mikronährstoffen
eingehalten werden.
Die Auswahl der Formuladiät zur enteralen
Ernährung ist vom individuellen Bedarf
und den individuellen Anforderungen des
Patienten abhängig.
Im Vergleich zu selbst hergestellten Sondennahrungen bieten industriell hergestellte Produkte zahlreiche Vorteile: Sie
sind voll bilanziert, d.h. sie gewährleisten
bei alleiniger Gabe eine bedarfsgerechte
Versorgung mit allen lebensnotwendigen
Nährstoffen und entsprechen den ernährungsphysiologischen Kriterien einer
Normalkost. Aufgrund lebensmitteltechnischer Möglichkeiten kann bei der industriellen Herstellung eine geringere Viskosität
(Zähflüssigkeit) als bei selbst hergestellten
Sondennahrungen erreicht werden und
Seite
44
damit das Risiko der Verstopfung auch
kleinlumiger Sonden minimiert werden. Industriell hergestellte Produkte haben eine
physiologische Osmolarität, die bei selbst
hergestellten Sondennahrungen schwer
zu erreichen ist, und gewährleisten damit
eine deutlich bessere Verträglichkeit. Durch
die Herstellung unter sterilen Bedingungen
sind sie zudem hygienisch verlässlicher als
eine selbst gefertigte Sondenkost. Schließlich sind industriell hergestellte Sondennahrungen weniger zeitaufwändig und billiger.
Selbst hergestellte Sondennahrungen
sollten daher nicht verwendet werden.
Parenterale Ernährung
Ist auch eine enterale Ernährung unzureichend oder nicht möglich, besteht die
Indikation zur ergänzenden oder ausschließlichen parenteralen Ernährung.
In der Praxis ergänzen sich enterale
und parenterale Ernährung und sind zur
Verbesserung von Ernährungsparametern
und Immunstatus gleichwertig. Konzepte zur parenteralen Ernährung sind die
alleinige Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr,
eventuell mit einer basalen Kohlenhydratzufuhr, die hypokalorische, periphervenöse Basisernährung, die zentral-venöse
Ernährung mit Komplettlösungen, der nach
Möglichkeit der Vorzug zu geben ist, sowie
die individuelle zentral-venöse Ernährung
mit Einzelkomponenten.
Letztere kommt bevorzugt bei Leber- und
Niereninsuffzienz zur Anwendung, da hier
spezielle Aminosäurenlösungen empfohlen
werden, die in Komplettlösungen nicht
enthalten sind.
4.2.5 Refeeding-Syndrom
Eine leicht zu übersehende und unterschätzte Komplikation, besonders bei
langfristig mangelernährten Patienten, ist
das „Refeeding Syndrom“. Es tritt innerhalb von zwei bis vier Tagen nach Beginn
einer oralen, enteralen oder parenteralen
Ernährung auf und ist zunächst asymptomatisch.
Ursache ist eine Verminderung von SerumElektrolyten, besonders von Phosphat
(schwere Hypophosphatämie bei einem
Serum-Phosphat < 0,5 mmol/l), aber auch
von Kalium und Magnesium, eine Hyperglykämie sowie Flüssigkeits- und Natriumretention. Diese Veränderungen sind
Folge einer vermehrten Insulinsekretion
mit Beginn einer vor allem kohlenhydratreichen Ernährung oder intravenöser Glukosegaben und nachfolgender vermehrter
intrazellulärer Aufnahme von Phosphat.
Weitere Risikofaktoren sind zum Beispiel
lang anhaltendes Erbrechen und Diarrhoe,
chronischer Alkoholismus, ein unkontrollierter Diabetes mellitus, ein längerer
„nil per os“-Status in der Bauchchirurgie,
maligne intestinale Fisteln, nasogastrisches
Absaugen, Fieber, Sepsis sowie ein höheres Alter. Lebensbedrohliche Komplikationen sind unter anderem Atemstillstand
(Hypophosphatämie), Herzrhythmusstörungen (Hypokaliämie, Hypokalzämie,
Hypomagnesiämie), Laktazidose und
neuropsychiatrische Störungen (VitaminB1-Mangel) sowie Lungenödeme (Flüssigkeits- und Natriumretention). Die Gefahr
eines „Refeeding-Syndromes“ macht die
Notwendigkeit eines gut kontrollierten
Ernährungsaufbaus vor allem bei parenteraler Ernährung deutlich, gerade bei den
oft mangelernährten Tumorpatienten.
Seite
45
4.2.6 Förderung des Tumor­
wachstums durch
Ernährungstherapie?
Es wird immer wieder gefragt, inwieweit
Ernährung, vor allem enterale und parenterale Ernährung, das Tumorwachstum
fördert. Die Mehrheit der Studien, die
die Beziehung zwischen Tumorwachstum
und parenteraler Ernährung untersuchten,
sind Tierversuche. Allerdings können die
Wirkungen parenteraler Ernährung auf
experimentelle Tumore aus verschiedenen
Gründen nicht auf den Menschen übertragen werden. Gut kontrollierte klinische
Studien zur Beurteilung dieser Fragestellung
gibt es nicht. Es gibt jedoch eine Reihe
von Beobachtungen, alle an Patienten mit
Kopf- und Hals- oder gastrointestinalen
Tumoren, die enteral oder parenteral ernährt
wurden. Ein gesteigertes Tumorwachstum war bei Patienten, die ihre übliche
Ernährung erhielten, nicht nachweisbar.
Bei einem Teil der Untersuchungen unter
künstlicher Ernährung war eine Proliferation von Tumorzellen zu beobachten.
Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass
die Anregung des Tumorstoffwechsels im
Vergleich zur Stimulation der Körperzellen
unverhältnismäßig hoch war.
Sollten jedoch unter klinischen Bedingungen Tumore durch Ernährungsmaßnahmen
zu erhöhtem Wachstum stimuliert werden,
so könnte dies für eine gleichzeitige
Chemo- und Radiotherapie durchaus von
Vorteil sein, da eine verbesserte Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Tumors
sowie eine Steigerung der Teilungsrate die
Wirkung dieser beiden Therapieformen
erhöht.
Da gesicherte Daten zum Einfluss einer
Ernährung auf das Tumorwachstum fehlen,
sollte die Entscheidung zu jeder Art von
Ernährung eines Tumorpatienten von
diesen theoretischen Überlegungen nicht
beeinflusst werden.
4.3 Ernährung bei Operationen
4.3.1 Indikationen
Prä- und perioperative Ernährung
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für Ernährungsmedizin zur enteralen und
parenteralen Ernährung und die Leitlinien
der ESPEN (Europäische Gesellschaft für
Klinische Ernährung und Stoffwechsel)
zur enteralen Ernährung empfehlen, bei
hohem ernährungsmedizinischem Risiko
eine Operation zu verschieben, um präoperativ über 10 bis 14 Tage eine gezielte
Ernährungstherapie durchzuführen. Ziel
dieser Maßnahme ist, die Energie- und
Nährstoffspeicher aufzufüllen und dadurch das Risiko post-operativer (infektiöser) Komplikationen zu reduzieren.
Nach der Definition der ESPEN besteht
ein hohes ernährungsmedizinisches Risiko,
wenn mindestens eines der folgenden
Kriterien zutrifft:
1. Gewichtsverlust über 10-15 %
innerhalb der letzten 6 Monate
2. Body-Mass-Index < 18,5 kg/m2
3. Subjective Global Assessment (SGA)
Grad C oder Nutritional Risk Screening
(NRS) ≥ 3
4. S
erum-Albumin < 30 g/l
(bei fehlenden Anzeichen einer
hepatischen oder renalen Dysfunktion)
Seite
46
Besteht die Indikation zu einer präoperativen Ernährung, sollte diese zur Vermeidung nosokomialer Infektionen möglichst
prästationär ambulant durchgeführt
werden. Patienten, die ihren Energiebedarf präoperativ nicht mit normaler Kost
decken können, sollten zunächst zur
zusätzlichen Aufnahme von Trinknahrung
motiviert werden. Ist eine weitergehende
präoperative Ernährungstherapie notwendig, sollte diese nach Möglichkeit enteral
erfolgen und schon vor der Krankenhausaufnahme begonnen werden. Diese
Indikation besteht auch bei Patienten ohne
Zeichen der Mangelernährung, die perioperativ voraussichtlich länger als 7 Tage
keine Nahrung zu sich nehmen oder sich
voraussichtlich länger als 10 Tage oral nur
unzureichend (unter 60 % der empfohlenen
Energiezufuhr) ernähren können.
Die Indikation zu einer ausschließlichen
parenteralen Ernährung besteht perioperativ nur bei absoluten Kontraindikationen
für eine enterale Ernährung, wie bei ausgeprägtem Kurzdarm oder einer chronischen
Darmobstruktion mit relevanter Passagestörung, z.B. bei Peritonealkarzinose.
Kann der Energie- und Nährstoffbedarf
durch orale und enterale Ernährung allein
längerfristig nicht gedeckt werden, ist
eine kombinierte enterale und parenterale
Ernährung indiziert, besonders, wenn die
Energiezufuhr unter 60 % des Bedarfs
liegt und ein zentral-venöser Zugang zur
parenteralen Ernährung bereits vorhanden
ist. Muss ein zentral-venöser Zugang zum
Zweck der künstlichen Ernährung noch
gelegt werden, ist die Indikation in Abhängigkeit von der zu erwartenden Dauer der
parenteralen Ernährung zu stellen. Beträgt
diese < 4 Tage, ist eine kombinierte
Ernährung nicht erforderlich. Beträgt sie
4 bis 7 Tage, kann die Ernährung hypokalorisch mit 2 g Kohlenhydraten und 1 g
Aminosäuren/kg KG und Tag über einen
peripher-venösen Zugang erfolgen. Beträgt
die Zeitdauer > 7 bis 10 Tage, wird die
Anlage eines zentral-venösen Katheters
empfohlen.
Perioperative Ernährung
Unmittelbar vor einer Operation können
Patienten ohne spezifisches Aspirationsrisiko in der Regel bis 2 Stunden vor
Narkosebeginn klare Flüssigkeiten trinken.
Feste Nahrung ist bis zu 6 Stunden vorher
erlaubt. Vor großen chirurgischen Eingriffen werden für die meisten Patienten
(keine Störung der Magenentleerung, kein
Diabetes mellitus) kohlenhydrathaltige
Getränke am Vorabend und bis 2 Stunden
vor der Operation empfohlen. Enteral nicht
ernährbare Patienten erhalten innerhalb
der letzten 12 Stunden vor der Operation
intravenös 200 g Glukose.
Postoperative Ernährung
Postoperativ ist eine Unterbrechung der
Nahrungszufuhr bei den meisten Patienten
nicht erforderlich. Auch nach gastrointestinalen Eingriffen kann frühzeitig mit einem
normalen Kostaufbau oder einer enteralen
Ernährung begonnen werden. Bei den
meisten Patienten nach Kolonresektionen
ist der orale Kostaufbau postoperativ
mit der Gabe klarer Flüssigkeit innerhalb
weniger Stunden möglich. Die orale Nahrungsaufnahme ist jedoch an die Art der
Operation und an die individuelle Toleranz
des Patienten anzupassen (siehe Kap.
4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien).
Seite
47
Ist ein früher oraler Kostaufbau nicht
möglich, wird eine Sondenernährung
empfohlen, speziell bei Patienten nach
schweren Tumoroperationen im Hals-,
Kopf- oder Gastrointestinalbereich, bei
Patienten mit schwerer Mangelernährung
zum Zeitpunkt der Operation und bei
Patienten mit voraussichtlich unzureichender (unter 60 %) Nahrungsaufnahme über
mehr als 10 Tage postoperativ. Besteht die
Indikation zur Sondenernährung, soll bei
großen gastrointestinalen Eingriffen für
alle Patienten die Anlage einer Feinnadelkatheterjejunostomie (FKJ) oder einer
nasojejunalen Sonde erfolgen. Bei Anastomosen am oberen Gastrointestinaltrakt
soll die Sondenspitze distal der Anastomose liegen. Im Fall einer über 4 Wochen
notwendigen enteralen Ernährung besteht
die Indikation zur Anlage einer perkutanen
Sonde (z.B. PEG, FKJ).
Mit der Sondenernährung sollte innerhalb 24 Stunden nach dem chirurgischen
Eingriff begonnen werden. Aufgrund limitierter Toleranz wird eine Sondenernährung mit einer geringen Menge, z.B. 10
bis maximal 20 ml/h, empfohlen. Es kann
5 bis 7 Tage dauern, bis der Energiebedarf
auf enteralem Wege gedeckt werden kann,
was kein Nachteil ist.
Zur Sicherung einer effektiven Ernährungs­therapie in der Chirurgie wird empfohlen,
klinikinterne standardisierte Ernährungsschemata zu erstellen.
4.3.2 Art der Nahrung
Standardnahrung versus
Immunonutrition
Die meisten Patienten können mit hochmolekularen Standardnahrungen ernährt
werden. Perioperativ werden für Patienten
mit großen Tumoroperationen (Larynx-,
Pharynx-Oesophagusresektionen, Gastrektomie und Duodeno-Pankreatektomie)
unabhängig vom Ernährungszustand
bevorzugt immunmodulierende Nahrungen
mit Zusatz von Arginin, ω-3-Fettsäuren
und Nukleotiden empfohlen. Wenn möglich, sollte mit diesen Nahrungen 5 bis 7
Tage vor der Operation begonnen und die
Anwendung nach komplizierten Eingriffen
über 5 bis 7 Tage postoperativ fortgesetzt
werden.
Glutamin
Für schwer mangelernährte, enteral nicht
adäquat ernährbare und daher parenteral
ernährte Patienten besteht derzeit in
der elektiven Chirurgie postoperativ die
Indikation zur parenteralen Gabe von
Glutamin-Dipeptidlösungen.
Seite
48
4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien
Nachfolgend sind Folgeerkrankungen und
ernährungstherapeutische Maßnahmen
nach Ösophagektomie, Gastrektomie,
ausgedehnten Operationen im Bereich von
Dünn- und Dickdarm, Pankreatektomie
und nach Ileo- und Kolo-Stoma-Anlage
zusammengestellt. Auf medikamentöse,
möglicherweise endoskopisch durchführbare oder weiter notwendige operative
Maßnahmen wird nicht immer eingegangen. Es empfiehlt sich, in die Betreuung
und Beratung dieser Patienten ernährungsmedizinisch ausgebildete, erfahrene Ärzte
und Ernährungsfachkräfte einzubeziehen.
Besonders Patienten mit Kurzdarmsyndrom benötigen eine individuelle, langfristige Hilfe.
Ösophagektomie
Postoperativ empfiehlt sich für die ersten
Tage eine enterale Ernährung über eine distal der Anastomose liegende Sonde. Darf
der Patient essen, ist nach dem Kostaufbau
eine leichte Vollkost mit 4 bis 6 kleinen
Mahlzeiten unter Beachten individueller
Unverträglichkeiten indiziert. Vor allem
am Abend sollten keine voluminösen und
ballaststoffreichen Mahlzeiten gegeben
werden. Die meisten länger überlebenden
Patienten nach Operation eines Ösophaguskarzinoms haben eine zufriedenstellende Lebensqualität. Mögliche auftretende
Probleme sind eine multifaktorielle Inappetenz mit nachfolgender Mangelernährung,
eine Anastomosenstenose (in 10 bis 56 %)
mit Dysphagie, Refluxbeschwerden (in 21
bis 58 %) mit Ösophagitis, bei der häufig
durchgeführten hohen Vagotomie eine
chronische Magenentleerungsstörung
sowie als Komplikation der subtotalen
Ösophagektomie eine vorübergehende
oder dauernde Schädigung von Nerven mit
der Folge von Heiserkeit, Dysphagie und
Aspiration.
Bei Refluxbeschwerden und Ösophagitis
sind scharfe und saure Speisen und Getränke sowie Gewürze und Alkoholika
zu meiden. Alkoholika (Wein und Bier)
erhöhen den Säuregrad des Magensaftes
und begünstigen einen Reflux. Sie reizen
aber – ebenso wie saure Getränke und
scharfe Gewürze und Speisen – auch die
Schleimhaut. Im Liegen ist das Höherstellen
des Kopfendes hilfreich. Das Völlegefühl bei
chronischer Magenentleerungsstörung wird
durch voluminöse, ballaststoffreiche Mahlzeiten und hypertone Getränke gesteigert.
Gastrektomie
Nach Gastrektomie ist die Reservoirfunktion des Magens und damit die dosierte Abgabe des Speisebreies in das Duodenum
gestört bzw. aufgehoben. Dabei bereitet
eine teilweise oder subtotale Gastrektomie meist weniger Probleme als eine totale.
Unter den in Tabelle 11 aufgeführten
Problemen nach Gastrektomie sind das
Früh- und Spät-Dumpingsyndrom sowie
die Syndrome der zu- und abführenden
Schlinge mit den heutigen Operationstechniken selten geworden.
Das wesentliche ernährungsmedizinische
Problem ist eine unzureichende Deckung
des Energie- und Nährstoffbedarfs. Bei 10
bis 20 % der Patienten mit einer Magenteilresektion und bei 60 % der Patienten
mit totaler Gastrektomie liegt das Körper­
gewicht unter der Norm. Ursache sind
eine unzureichende Nahrungsaufnahme
infolge Inappetenz und eine Malassimila-
Seite
49
Syndrom
Klinik
Ursache
Diagnostik
„Frühdumping“
Nausea, Emesis, epigastrisches Druck- bzw.
Völlegefühl, Tenesmen,
Stuhldrang, vasomotorische Beschwerden wie
Schweißausbruch und
Schwindel bis zu 30 Min.
postprandial
rascher Übertritt von
­hypertonem Mageninhalt in den Dünndarm
mit nachfolgender Ver­schiebung von Plasmavolumen und Ausschüttung von Hormonen
(Serotonin, Bradykinin)
Magen-Darm-Passage,
Klinik
„Spätdumping“
reaktive Hypoglykämie
90 – 180 Minuten
postprandial
hohe Insulinausschüttung durch eine schnelle
Passage leicht resorbierbarer Kohlenhydrate
Glukosetoleranztest
Biliärer Reflux
(bei 50%)
Sodbrennen,
Ösophagitis
Gallereflux bzw. saurer
Reflux nach partieller
Gastrektomie
Endoskopie
Syndrom der zuführenden Schlinge
postprandiales Völlegefühl, dumpfe oder
kolikartige Schmerzen
oder plötzliches galliges
Erbrechen
Typ I: Passage von
Speisen in zuführende
Schlinge
Sonographie,
Magen-Darm-Passage,
MRT (Magnetresonanztomographie)
Syndrom der abführenden Schlinge
akut: Symptome des hohen mechanischen Ileus
chronisch: intermittierendes Erbrechen mit
Beimengungen von
Nahrungsbestandteilen
und Galle
Obstruktion der
abführenden Schlinge
Magen-Darm-Passage,
Endoskopie
Pankreatikozibale
Asynchronie
Steatorrhoe
(bei 16 – 43 %)
unzureichende
Durch­mischung des
Nahrungsbreies mit
Pankreassekret
Therapie mit
Pankreasfermenten
Typ II: gestörter Zufluss
von Pankreassekret und
Galle in den abführenden
Dünndarm
 Tabelle 11: Mögliche Komplikationen und deren Diagnostik nach Gastrektomie
tion. Ursächlich für die Malassimilation
werden eine verminderte Verdauung von
Nährstoffen als Folge einer unzureichenden Durchmischung des Speisebreies
mit Bauchspeicheldrüsensekret durch die
schnelle Passage des Speisebreies (sogenannte „pankreatikozibale Asynchronie“),
eine bakterielle Fehlbesiedelung des oberen
Gastrointestinaltraktes aufgrund der
fehlenden Säurebarriere im Magen, Stase
Seite
50
beim Syndrom der zuführenden Schlinge,
eine reduzierte Gallensäurekonzentration
in den proximalen postanastomotischen
Dünndarmabschnitten und das Fehlen des
Intrinsic Factors angesehen. Bei 50 % der
Patienten besteht auch eine Laktoseintoleranz. Die Angaben zur Häufigkeit von
Mängeln und Folgen der Malassimilation
nach Gastrektomie sind für die einzelnen
Nährstoffe unterschiedlich. Ein Eisenmangel
wird bei 40 bis 70 % der Patienten an­
gegeben, ein Vitamin B12-Mangel bei
36 bis 80 %, ein Folsäuremangel bei 33 bis
41 %, ein Vitamin D-Mangel bei bis zu 50 %,
ein Kalziummangel bei bis zu 30 % (und
folglich mehrere Jahre nach Gastrektomie
ein sekundärer Hyperparathyreoidismus)
und eine Störung der Knochenmineralisation („Postgastrektomie-Osteopathie“),
altersabhängig bei 15 bis 75 % der Patienten. 30 bis 75 % leiden unter einer Anämie.
Nach Gastrektomie ist eine frühzeitige
Ernährungsberatung des Patienten wichtig,
um eine Mangelernährung zu begrenzen
und Nährstoffdefizite rechtzeitig auszuglei-
• Basis „leichte Vollkost“ mit mehreren (zunächst bis zu 10, später 6-8), kleinen,
über den Tag verteilten Mahlzeiten
• Langsam essen
• Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten
• Zu den festen Speisen maximal 1/2 Tasse Flüssigkeit; 15 Min. vor und 30 Min. nach
einer Mahlzeit keine größeren Mengen trinken
• Beim „Früh-Dumping“ Verzehr eines Stückes Brot 15 Min. vor der Mahlzeit; natriumarm essen (Salz erhöht die Osmolarität!); Nahrungsaufnahme im Liegen, evtl. Anlegen
einer Bauchbinde
• Bei „Spätdumping“ schnell aufnehmbare Kohlenhydrate meiden, z.B. Lebensmittel und
Getränke mit Zucker, Honig und Sirup, Maltodextrin. Als Ersatz Süßstoffe verwenden.
Zusatz von Pektin, Guar zu den Mahlzeiten bzw. Einnahme von Acarbose. (Abnehmende Intensität der Symptome mit der Zeit (2/3 nach ca. 10 Jahren beschwerdefrei!)
• Bei Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) milchzuckerfreie Milch und
Milchprodukte oder Sojaprodukte (mit Kalzium angereichert) verwenden
• Bei Fettunverträglichkeit und höhergradiger Steatorrhoe Koch- und Streichfett durch
ein spezielles Fett mit mittelkettigen Fettsäuren (MCT) ersetzen (MCT-Basis plus
Margarine und Öl)
• Wenn verträglich, Bevorzugung ballaststoffhaltiger Lebensmittel
• Bei pankreatikozibaler Asynchronie Substitition von Pankreasfermenten
• Parenterale Vitamin-B12-Zufuhr (auch bei partieller Gastrektomie oder bakteriellem
Abbau nötig!). An weitere Vitamin-und Spurenelementdefizite ist zu denken!
 Tabelle 12: Ernährung nach Gastrektomie
Seite
51
chen. Die Grundlagen der Ernährungstherapie sind in Tabelle 12 zusammengefasst.
Eine Vitamin-B12-Substitution ist Standard,
auch bei partieller Gastrektomie, da eine
unzureichende Zufuhr mit der Nahrung,
ein Mangel an Intrinsic Faktor oder ein
Abbau durch Bakterien zum Vitamin B12Mangel führen kann. Da die Leber über
Vitamin-B12-Reserven von bis zu 2 Jahren
verfügt, kann ein Mangel erst nach Jahren
auftreten.
eine parenterale Ernährung notwendig.
Kurzdarmsyndrom
Ernährungsrelevante Probleme nach einer
Ileumresektion hängen vom Ort und der
Ausdehnung der Resektion ab. Eine Resektion von 50-100 cm terminalen Ileums
führt zu einem kompensierten Gallensäureverlustsyndrom. Es tritt zwar eine chologene Diarrhoe mit wässerigen Durchfällen
auf, aber die Fettresorption ist noch erhalten. Da Gallensäuren ausschließlich im
terminalen Ileum rückresorbiert werden,
gehen bei einer Resektion von über 1 m
terminalen Ileums vermehrt Gallensäuren
verloren und ihr Pool verringert sich. Die
Abnahme der Gallensalzkonzentration in
der Galle führt zum Unterschreiten der
kritischen mizellären Konzentration mit
Fettmaldigestion und Fettmalabsorption
und damit zur Steatorrhoe (dekompensiertes Gallensäureverlustsyndrom). Damit
verbunden ist eine Resorptionsstörung der
fettlöslichen Vitamine A, D, E und K. Der
Gallensäureverlust ist auch Ursache einer
vermehrten Lithogenität der Galle und
Gallensteinbildung. Die durch die geringe Gallensäurekonzentration verzögert
resorbierten Fettsäuren bilden mit Kalzium
unlösliche Kalkseifen. Damit steht weniger
Kalzium zur Bildung von wasserunlöslichem Calciumoxalat zur Verfügung und es
wird mehr freie, mit der Nahrung aufgenommene Oxalsäure resorbiert. Zudem
Zentraler Pathomechanismus beim Kurz­
darmsyndrom ist die Reduktion der funktionellen Oberfläche des Dünndarmes mit
verkürzter Kontaktzeit des Darminhaltes
in Abhängigkeit von der Grunderkrankung,
dem Ausmaß der Resektion, den betroffenen Dünndarmabschnitten, dem Vorhandensein der Ileozökalklappe, dem Vorhandensein des Dickdarmes, der Funktion
und Physiologie des Restdarmes und vom
zeitlichen Abstand zur Operation.
Der Dünndarm ist etwa 3 m lang, die
Länge des Jejunums beträgt etwa 1,2 m,
die des Ileums etwa 1,5 m. Von besonderer
Bedeutung sind das terminale Ileum und
die Dickdarmklappe (Ileozökalklappe oder
Bauhin‘sche Klappe), der Übergang zum
Dickdarm, da ausschließlich dort die Rückresorption der Gallensäuren stattfindet.
Nach einer Resektion von bis zu 50 % des
Dünndarmes kann in der Regel der Verlust
an Resorptionskapazität durch Adaptation
des Restdarmes ausgeglichen werden, ab
einer Entfernung von über 75 % kommt
es in der Regel zu einer ausgeprägten
Malabsorption und Malnutrition. Ab einer
Restlänge von unter 100 cm ist häufig
Nach Jejunumresektion kommt es zu einer
beschleunigten Magenentleerung. Ursache
ist die abnehmende reflektorische Hemmung der Magenentleerung durch den
Speisebrei. Günstig ist, dass ein Großteil
der Resorptionskapazität des Jejunums
vom Ileum übernommen werden kann. Da
die stärkste Laktaseaktivität im proximalen
Dünndarm vorhanden ist, ist eine Laktoseintoleranz häufig.
Seite
52
gelangt mit den Gallensalzen mehr Glyzin
ins Kolon, das nach bakterieller Umwandlung in Glyoxalat in der Leber in Oxalsäure umgewandelt wird. Die gesteigerte
Oxalsäureresorption kann zur Bildung von
Oxalatharnsteinen führen. Auf oxalsäurereiche Lebensmittel sollte dann verzichtet
werden (siehe Tabelle 13).
Die Ileozökalklappe beeinflusst zusammen
mit dem terminalen Ileum den proximalen
intestinalen Transit (sogenannte Ileumbremse). Auch verhindert sie bei Bewegungs­
störungen des Dünndarmes ein Aufsteigen
von Dickdarmbakterien und eine nachfolgende bakterielle Fehlbesiedelung. Bei
Resektion der Ileozökalklappe ist die
Transitzeit verkürzt und die Kontaktzeit des
Darminhaltes mit der Darmwand vermindert. Die Keimaszension kann durch
Störung der Gallensäurerückresorption
infolge bakterieller Dekonjugation zu einer
Steatorrhoe führen.
Nach Dünndarmresektion wird auch eine
passagere Hyperazidität des Magens
beobachtet. Bei einem Verlust des Dünn­
darmes ist der zusätzliche Verlust des
Kolons besonders gravierend, da hier der
Stuhl konzentriert wird und Flüssigkeitsverluste begrenzt werden können. Ab
einer Dünndarmrestlänge von < 100 cm ist
bei fehlendem Kolon von einer negativen
Flüssigkeitsbilanz auszugehen und eine
parenterale Flüssigkeitssubstitution not­
wendig. Bei vorhandenem Kolon ist die
Flüssigkeitsresorption meist ausreichend
und die Adaptation des verbleibenden
Dünndarmes besser.
Die Resorptionsorte von Eiweiß und
Kohlenhydraten sowie von Elektrolyten,
Spurenelementen und Vitaminen sind zur
Diagnostik und Therapie möglicher Mängel
• Individuelle Ernährung in Abhängigkeit vom Ort und der Ausdehnung der Operation
• Kostumstellung allmählich beginnend mit 10 % des täglichen Energiebedarfs und einer
Steigerung um 10 % alle 3-7 Tage
• Basis: „leichte Vollkost“ mit 6-8 kleinen, ballaststoffarmen Mahlzeiten.
Essen und Trinken trennen. Zusatznahrung.
• Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten (Laktoseintoleranz!)
• Fettzufuhr bis zu 40 % der Gesamtenergiezufuhr mit je 50 % mittel(MCT-Basis plus Margarine und Öl) und langkettigen Fettsäuren
• Je geringer das Restjejunum, um so höher ist der Energiebedarf.
(bei < 100 cm Restjejunum Resorption von zunächst nur 50-60 % der
oral zugeführten Energie!)
• Oxalsäurereiche Lebensmittel vermeiden: Spinat, Mangold, Rhabarber,
Sauerampfer; größere Mengen Kakaopulver und dunkle Schokolade
• Substitution von Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen
• Eventuell zusätzlich parenterale Ernährung (Flüssigkeit!)
 Tabelle 13: Ernährung bei Kurzdarmsyndrom
Seite
53
Resorption von Kohlenhydraten und Proteinen
• in allen Dünndarmabschnitten möglich
• daher allein Ausmaß der Resektion bedeutsam
• „ruhende“ funktionelle Reserve bis zu 70 %
Resorption von Vitaminen und Spurenelementen
• Vitamin B12 nur im terminalen Ileum
(keine Übernahme durch andere Darmabschnitte)
• Folsäure und Vitamine des B-Komplexes im gesamten Dünndarm
• Eisen, Kalzium und Magnesium überwiegend duodenal
• Verlust von Kalzium und Magnesium auch durch Kalkseifenbildung
infolge Fettmalabsorption
• Verstärkung der gestörten Kalzium-Aufnahme durch Vitamin D-Mangel
• S
purenelemente entlang des gesamten Dünndarmes:
Mangel Folge der Ausdehnung der Resektion
 Tabelle 14: Resorptionsorte von Makro-und Mikronährstoffen im Dünndarm
in Tabelle 14 zusammengestellt.
Eine teilweise Dünndarmresektion führt
in den Restabschnitten zu Anpassungen
von Struktur und Funktion. Die Größe von
Zotten und Krypten nimmt zu und Partialfunktionen können gesteigert werden,
zum Beispiel die Expression des NatriumGlukose-Kotransportes. Zudem wächst der
Darm in Länge und Durchmesser, und ein
geändertes Motilitätsmuster führt zu einer
verlängerten Kontaktzeit.
Diese Anpassung läuft in drei Phasen ab
(Tabelle 15). In den ersten beiden Phasen
adaptiert sich der verbleibende Darm in­nerhalb von bis zu 2 Jahren. In der dritten,
der Erhaltungsphase, ist es Ziel der Thera­pie, anhaltende Funktionsstörungen zu be-
seitigen und Entwicklungen von Mängeln
zu verhindern.
Ab 60 bis 80 cm Restdarm wird postoperativ mit einer oralen Ernährungstherapie
so früh wie möglich begonnen, um schnell
eine maximale Anpassung des Restdarmes
zu erreichen. Die Grundprinzipien der
Ernährungstherapie sind in Tabelle 13 und
Tabelle 15 zusammengestellt.
Tabelle 16 gibt zudem eine Übersicht über
die Mikronährstoffsupplementierung. Die
über eine lange Zeit notwendige Betreuung von Patienten mit Kurzdarmsyndrom benötigt ein Team mit besonderen
Fachkenntnissen, wenn möglich in einer
Spezialambulanz.
Seite
54
Phase
Charakteristikum
Zeitraum
Ernährungstherapie
I
Stuhlvolumina
> 2,5 l
Hypersekretion
4-12 Wochen
TPN, Elektrolytersatz, frühe
enterale Ernährung
(„Zottenfütterung“)
II
Stuhlvolumina
< 2,5 l
Adaptation
4 Wochen
bis 2 Jahre
Ergänzung/Ersatz der TPN
durch enterale Ernährung,
vorsichtiger Kostaufbau
III
Maximale Adaptation
bis 2 J ahre
Nach 3 Monaten
normale Ernährung, ggf. mit
Supplementierung (Trinknahrung, Sondenkost, Vitamine,
Spurenelemente), ggf. zusätzlich parenterale Ernährung
 Tabelle 15: Adaptationsphasen des Kurzdarmsyndroms (Amasheh et al. 2007)
Fettlösliche Vitamine
Vitamin D
10 000 IE Cholecalciferol
Vitamin A
50 000–150 000 IE
Vitamin K
15 mg
Wasserlösliche Vitamine
Vitamin C
500 mg
Vitamin B12 1 mg i.m. alle 8 Wochen
Folsäure
5–15 mg
Mineralien/Spurenelemente
Kalzium
1–2 g
Magnesium
50–400 mg
Eisen
100–150 mg
Zink
300 mg
Phosphat
30–45 mmol
Selen
60–100 μg
 Tabelle 16: Tägliche Mikronährstoff­supplementierung bei Kurzdarmsyndrom (Amasheh et al. 2007)
Seite
55
Kolonresektionen
Das Kolon resorbiert einen großen Teil der
Ileumflüssigkeit sowie der darin enthaltenen Kohlenhydrate. Zudem werden dort
kurzkettige Fettsäuren resorbiert. Bei
Verlust des Kolons kann es zu erheblichen
Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten und
auch einem Verlust an Makronährstoffen
kommen. Dennoch gibt es nach Kolonresektionen keine spezifische Ernährung. Es
wird lediglich empfohlen, auf individuelle
Intoleranzen sowie Flüssigkeits- und Elektrolytverluste zu achten.
jede Zubereitungsform die individuelle
Toleranz zu ermitteln. In der Phase des
Kostaufbaus sollte höchstens ein neues
Lebensmittel pro Tag in nicht zu großer
Menge zugelegt werden.
Erst nach etwa 8 bis eventuell 12 Wochen
kommt es zu einer Stabilisierung der
Stuhlbeschaffenheit, die jedoch flüssig bis
breiig bleibt. Die Ernährungsrichtlinien bei
Ileostoma sind in Tabelle 17 zusammengestellt.
Dünndarmstoma (Ileostoma)
Ziel der Ernährungstherapie bei Ileostoma
ist, in Abhängigkeit vom Restdarm einen
Flüssigkeits- und Elektrolytverlust und
auch eine chemische Reizung des Stomas
durch Lebensmittel zu vermeiden.
Eine Einheitsdiät für Stomaträger gibt es
nicht. In Abhängigkeit von der Restdarmfunktion ist für jedes Lebensmittel und
• Basis: Prinzip der „leichten Vollkost“
• Langsam essen und trinken
• Ballaststoffe < 20–30 g/d
• Evtl. milchzuckerreduzierte Kost
• Säurearm, mild gewürzt
• Abdominelle Beschwerden bei 40–60 % durch: gebratenes Fleisch, Fisch,
Bohnen, Erbsen, Blattkohlgemüse und Rhabarber
• Ausreichende Trinkmenge wichtig: ca. 3 l pro Tag. Mindestens Produktion
von 1 l Urin pro Tag (Gefahr des prärenalen Nierenversagens).
Nicht überhastet trinken! (Steigerung des Stomavolumens!)
• Kochsalzaufnahme 6–9 g pro Tag
• Quellende Lebensmittel, flüssigkeitsbindende Präparate (Pektine),
industriell hergestellte Dickungsmittel (Guar)
 Tabelle 17: Ernährung bei Dünndarmstoma
Seite
56
Dickdarmstoma (Kolostoma)
Ziele der Ernährungstherapie sind, unter
einer bedarfsgerechten Ernährung eine
möglichst normale Stuhlfrequenz und
Stuhlkonsistenz zu erreichen, eine peristomale Hautreizung zu vermeiden sowie den
Windabgang und die Geruchsentwicklung
gering zu halten.
Die Stühle sind zu Beginn des Kostaufbaus
oft flüssig und weich. Bei funktionsfähigem
Dünndarm wird nach einer etwa zweiwöchigen Anpassungsphase eine normale
Stuhlbeschaffenheit erreicht. Grundlage
der Ernährungstherapie sind ein geregelter
Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten
und ein langsames Essen und gutes Kauen.
Ernährungsempfehlungen zu den verschiedenen Problemen bei vorhandenem
Kolostoma gibt Tabelle 18.
• Keine festgelegte Diät
• Bis zu 1 Jahr „leichte Vollkost“ empfehlenswert
• Regelmäßige Mahlzeiten
• Ausreichende Nährstoffzufuhr beachten
• Blähungsfördernd
kohlensäurehaltige Getränke (Sekt, Bier, Federweißer), koffeinhaltige Getränke,
frisches Obst, Birnen, Rhabarber, Hülsenfrüchte, Kohlgemüse, Paprika, Zwiebeln,
Knoblauch, Spargel, Schwarzwurzeln, Pilze, frisches Brot, Pumpernickel, Eier,
Eiprodukte, Mayonnaise
• Blähungshemmend
Kümmel, Fenchel, Anis (Gewürz, Öl, Tee), Heidelbeeren, Preiselbeeren, Joghurt
• Geruchsfördernd
Kohlgemüse, Bohnen, Spargel, Pilze, Zwiebeln, Knoblauch, Schnittlauch, Eier,
­Eiprodukte, Fleisch, Fleischerzeugnisse, v.a. Geräuchertes und Gebratenes, Fisch,
Fischerzeugnisse, Käse, v.a. vollreife und vollaromatische Hartkäse, scharfe Gewürze
• Geruchshemmend
Petersilie, Spinat, Heidelbeeren, Preiselbeeren, grüner Salat, Joghurt
• Abführende Wirkung
Milch und gesäuerte Milchprodukte, alkoholische, koffein- und kohlensäure­haltige Getränke, Säfte, Rohkost, frisches Obst, Feigen, Trockenpflaumen,
Vollkorn­produkte, fette und gebratene Speisen, scharfe Gewürze
• Stopfende Wirkung
Kakao, Schokolade, Schwarztee, Hafer- und Reisschleimsuppe, Weißmehlprodukte
(abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck), geriebener Apfel, Banane,
Heidelbeeren, gekochte Karotten, Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis,
trockener Käse, Kokosflocken
 Tabelle 18: Ernährung bei Dickdarmstoma
Seite
57
Operationen im Bereich des Pankreas
Die Bauchspeicheldrüse hat bei der
Verdauung und im Stoffwechsel in- und
exkretorische Funktionen. Endokrin wird in
den α-Zellen der über das ganze Pankreas
verteilten Langerhans‘schen Inseln Glukagon und in den β-Zellen Insulin gebildet.
Die exokrine Funktion besteht in der Produktion von Verdauungsenzymen zur Spaltung von Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten
sowie von Elektrolyten, vor allem Natrium,
Kalium und Chlorid sowie Hydrogenkarbonat. Der Ausfall der endokrinen Funktion
führt zu einem Diabetes mellitus, ein
Ausfall der exokrinen Pankreasfunktion zur
Beeinträchtigung der Nahrungsausnutzung
mit einer Fettmaldigestion und Steatorrhoe
als führendem Symptom. Aber auch bei totalem Ausfall des exokrinen Pankreas enthält der Stuhl nur ca. 60 % der zugeführten
Fettmenge. Eine Fettrestriktion wird daher
nicht als erste Maßnahme empfohlen. Die
Entferntes Organ
Aus­prägung der Symptome ist von der Art
und Ausdehnung des operativen Eingriffes abhängig (Operation nach KauschWhipple: Entfernung von Pankreaskopf,
2/3 des Magens, Duodenum, Gallenblase;
pyloruserhaltende Pankreaskopfresektion
nach Traverso-Longmire: Entfernung von
Pankreaskopf, Duodenum, Gallenblase)
(Tabelle 19).
Grundsätzlich erhalten alle Patienten eine
Enzymtherapie in beschwerdeadaptierter
Dosis. Auch bei totaler Pankreasentfernung
können damit 80 bis 100 g Fett meist bedarfsdeckend ausgenutzt werden. Dabei ist
eine Fettzufuhr in halbflüssiger Form günstiger als eine in fester Form. Bei erhaltener
Magensäuresekretion werden Pankreasenzyme in Form säuregeschützter Mikrotabletten oder Mikropellets (Durchmesser ≤ 2
mm) gegeben. Ein Mangel an fettlöslichen
Vitaminen, evtl. auch Vitamin B12 ist
auszugleichen. Nach Kausch-Whipplescher
Op-bedingte Folgen
Ernährungstherapie
Kopf
Verdauungsinsuffizienz,
evtl. Diabetes mellitus
energiereich,
fettmodifizierte Kost,
evtl. Diabetes-Prinzip
Schwanz
endokrine Insuffizienz,
evtl. exokrine Insuffizienz
Kost mit Diabetes-Diät-Prinzip,
evtl. fettmodifizierte Kost
Totalresektion
exokrine und endokrine
Insuffizienz
Fettmodifizierte Kost und
Diabetes-Diät-Prinzip
Magen (2/3 Resektion)
evtl. Dumping-Syndrom, Malassimilation, evtl. Laktoseintoleranz,
Mangelernährung
viele kleine Mahlzeiten,
fettmodifiziert, evtl. meiden
schnell aufnehmbarer
Zuckerstoffe, evtl. laktosearm,
Essen und Trinken trennen
Duodenum
Maldigestion, Malabsorption
wie oben
Pankreas Teilresektion
 Tabelle 19: Ernährungstherapie nach Operationen im Bereich des Pankreas
Seite
58
Operation liegt die Inzidenz eines Diabetes
mellitus bei 20-50 %. Er wird mit intensivierter Insulintherapie behandelt. Die
Hauptgefahr dieser Folgeerkrankung liegt
im Auftreten von Hypoglykämien, da der
Mangel auch an Glukagon zu keiner Gegen­regulation führt. Grundlage der Ernährung
ist eine eher leichte, vor allem gut verträgliche Vollkost.
Bei biliodigestiver Anastomose besteht
eine erhöhte Gefahr aufsteigender Infektionen (aszendierende Cholangitis) durch
Darmbakterien. Patienten sollten über die
Früherkennung von Symptomen (Fieber,
Oberbauchschmerzen) unterrichtet sein,
da eine rasche Antibiotikatherapie erforderlich ist.
4.4 E
rnährung bei
Chemotherapie
Grundlage der oralen Ernährung ist eine
Vollkost oder leichte Vollkost, die individuell als „gesteuerte Wunschkost“ unter
Berücksichtigung von Unverträglichkeiten
und Wünschen des Patienten zusammengestellt ist (siehe Kap. 4.1. Empfehlungen zur
Ernährung bei Tumorerkrankungen).
Hinweise zur Ernährung bei Beschwerden
und möglichen Nebenwirkungen unter der
Therapie geben die Tabellen 20 bis 23.
Leukopenie- und immunsupprimierte
Patienten erhalten zur Minderung des
Infektionsrisikos eine keimreduzierte Kost.
Dabei ist die Lebensmittelauswahl durch
den Verzicht auf rohes Obst und Gemüse
sowie rohe und halbgare Lebensmittel eingeschränkt, Speiseschimmelkulturen sind
verboten. Die Speisen werden frisch und
mit besonderer Sorgfalt von der Küche
• Kleine Portionen anbieten
• Nahrungszufuhr alle 2-3 Stunden, evtl. auch nachts
• Geschmackliche Akzeptanz der Nahrungsmittel berücksichtigen
(Geschmacksschwelle für Bitter ist herabgesetzt; nacheinander Wiederauftreten des
Geschmacksempfindens für Süßes, Bitteres, Saures, Salziges; häufig Dysgeusie: ranziger, bitterer, metallischer Geschmack, Geschmack nach Pappe)
• Starke Essensgerüche vermeiden
(gut belüftete Räume, Abdeckungen der Speisen vor dem Auftragen entfernen)
• Mahlzeiten appetitlich anrichten
• Gewürzarm kochen und selbst nachwürzen lassen
• Appetitanregend wirken auch Aperitifs, Wein oder Bier eine Stunde vor dem Essen
 Tabelle 20: Ernährung bei Appetitlosigkeit, Geschmacksveränderungen (Dysgeusie)
und ­Geschmacksverlust (Hypo-, Ageusie)
Seite
59
zubereitet, verpackt und zugedeckt auf
die Station geschickt. Leidet ein Patient zusätzlich an weiteren Krankheitsbildern, z.B.
Diabetes mellitus, Störungen der Leber-,
Bauchspeicheldrüsen- und/oder Nierenfunktion oder an Operationsfolgen, so sind
die für die jeweilige Erkrankung speziellen
Ernährungsrichtlinien zu berücksichtigen.
• Flüssige oder pürierte Kost bevorzugen
• Scharfe Gewürze und zu salzige Speisen vermeiden
• Zu säurehaltige Nahrungsmittel (Obst mit hohem Fruchtsäuregehalt wie z.B.
Johannisbeeren, Orangen, Grapefruit und Obstsäfte sowie Tomaten) vermeiden
• Evtl. industriell gefertigte Säuglingsnahrung anbieten
(meist säure- und salzarm sowie passiert)
• Nicht zu kalt und nicht zu heiß essen
• Kohlensäurehaltige Getränke vermeiden; besser sind stille Wasser oder Tee
(Kamillen-, Fenchel-, Salbeitee)
• Der Speichelfluss kann durch häufiges Trinken kleiner Flüssigkeitsmengen,
Kaugummi, Pfefferminztee, zuckerfreie Drops angeregt werden
• Verträglichkeit von Frischmilch im Hinblick auf Verschleimung testen.
Geeignet sind: Sauermilch, Sauermilchprodukte, Kefir, Sojadrinks
• Zur Kariesprävention auf eine besonders gute Zahnhygiene achten!
 Tabelle 21: Ernährung bei Schluckbeschwerden, Entzündungen der Mundhöhle,
Mundtrockenheit (Xerostomie)
• Leichte Kost in vielen kleinen Mahlzeiten anbieten
• Rasches Essen und Trinken vermeiden
• Keine besonders süßen, fetthaltigen, blähenden oder stark riechenden Speisen anbieten
• Keine gebundenen Suppen oder Saucen anbieten
• Lieblingsspeisen nicht anbieten, um eine „erlernte Aversion“ gegen diese Speisen zu
verhindern
• Kühle, leicht gewürzte Speisen bevorzugen
• Trockene, stärkehaltige Nahrungsmittel (Cracker, Zwieback, Toast)
verhindern Erbrechen
• Günstig sind auch kalte Getränke wie Cola
 Tabelle 22: Ernährung bei Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen
Seite
60
Bei starken Durchfällen ist eine leichte, fett-, laktose- und ballaststoffarme Kost empfehlenswert
Vermeiden:
•S
aure Säfte aus Orangen, Grapefruits, Johannisbeeren, Tomaten, Sauerkraut; Brottrunk
• Alkohol und alkoholhaltige Getränke
• Kaffee (Coffein motilitätssteigernd)
• Kohlensäurehaltige Getränke, sulfatreiche Mineralwässer (Sulfatgehalt > 200 mg/l),
• Säurehaltige Obstsorten wie Zitrusfrüchte, rohes Steinobst, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Weintrauben
•F
risches Obst; laxierende Obstsorten wie Aprikosen, Erdbeeren, Pfirsiche,
Pflaumen (enthalten Diphenylisatin = laxierende Substanz)
• Trockenobst (Datteln, Feigen, Rosinen, Pflaumen)
• Rohkost
• Gemüsesorten wie Bohnen, Kohl, Wirsing, Sauerkraut, Hülsenfrüchte, Lauch, Knoblauch, Zwiebeln
• Nüsse, Mandeln
•G
rob geschrotete Vollkornprodukte, Vollkornbrot mit ganzen und grob geschroteten Körnern,
Vollkorngerichte
• Milch, Molke, gesäuerte Milchprodukte wie Butter-, Dickmilch, Kefir, Joghurt
•F
ettreiche Gerichte und Lebensmittel: frittierte, panierte Speisen; fette Fleisch-, Fisch- und Wurstwaren;
fettreiches Gebäck (Sahne- und Cremetorten, Berliner, Blätterteiggebäck)
• Röstprodukte: stark gebratene, geröstete und gegrillte Speisen
• Scharfe Gewürze
• Fruktose, Sorbit
Bevorzugen:
• Fencheltee, Gerbsäure-haltige Teesorten (Schwarztee), Kakao, Schokolade
•B
anane, geriebener ungeschälter Apfel (enthält viskositätssteigerndes Pektin, bindet Gallensäure),
gekochte Karotten, Heidelbeeren
• Hafer- und Reisschleimsuppe
• Weißmehlprodukte: abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck
• Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis
• Trockener Käse
•Z
ugabe von Guar, Johannisbrotkernmehl (lösliche Ballastoffe, viskositätssteigernde Quellstoffe,
binden toxische Substanzen)
 Tabelle 23: Ernährung bei Durchfall, Blähungen und Völlegefühl
Seite
61
Bei der Kostzusammenstellung ist auch
auf Substratverwertungsstörungen (z.B.
Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) und Nährstoffmängel zu achten (z.B.
Kalziummangel bei Laktoseintoleranz,
Vitamin-B12-Mangel nach Gastrektomie
und Entfernung des terminalen Ileums,
Mangel an fettlöslichen Vitaminen bei
Fettmalabsorption). Auch hier werden zur
Verbesserung der Energie- und Nährstoffzufuhr bilanzierte Trinknahrungen
empfohlen, zum Beispiel als Zwischenmahlzeit. Eine weitere Möglichkeit zur
Energieanreicherung sind KohlenhydratKonzentrate wie Maltodextrin, die geschmacksneutral sind und in Speisen und
Getränke eingerührt werden. Das gleiche
gilt für fetthaltige Emulsionen.
Eine routinemäßige enterale oder parenterale Ernährung ist unter einer Chemotherapie nicht indiziert. In zwei Untersuchungen
konnte allerdings gezeigt werden, dass
Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die bei unzureichender oraler
und enteraler Ernährung zusätzlich parenteral ernährt wurden, länger überlebten.
Eine Untersuchung belegt auch die lebensverlängernde Wirkung einer zusätzlichen
Insulingabe.
4.5 E
rnährung bei Radio- und
Radio-/Chemotherapie
Auch während einer Radio- und einer
Radio-/Chemotherapie erhalten die Patienten eine Vollkost oder leichte Vollkost als
„gesteuerte Wunschkost“, bei Nebenwirkungen modifiziert nach den Empfehlungen der Tabellen 20-23. Besonders
Patienten mit Kopf-, Hals- und gastrointestinalen Tumoren profitieren von einer
regelmäßigen intensiven Ernährungsberatung und dem Einsatz von Trinknahrung.
Bei Patienten mit obstruierenden Kopf-,
Hals- oder Ösophagustumoren oder bei
zu erwartender schwerer strahleninduzierter oraler oder ösophagealer Mukositis besteht die Indikation zur enteralen
Ernährung, bevorzugt über eine perkutane
endoskopische Gastrostomie (PEG). Bei
unzureichender oraler und/oder enteraler
Ernährung wird parenteral ernährt, z.B. bei
chronischer, schwerer, radiogener Enteritis.
Seite
62
4.6 Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation:
Knochenmarktransplantation (KMT), autologe und
allogene hämatopoetische
Zelltransplantation (HZT)
Die hämatologische Zelltransplantation
wird unter anderem zur Heilung von bösartigen lymphatischen Erkrankungen des
Knochenmarks eingesetzt. Man unterscheidet die autologe und die allogene
Transplantation. Bei der autologen Transplantation werden dem Patienten die vor
der Chemo-/Radiotherapie entnommenen
eigenen hämatopoetischen Stammzellen
wieder zurückgegeben, bei der allogenen erhält er Zellen eines Familien- oder
Fremdspenders. Jeder Patient benötigt bei
der Aufnahme, unter der Transplantation
und bei der Entlassung eine individuelle,
auf die Besonderheiten der Zelltransplantation abgestimmte Ernährungsbetreuung
und Ernährungstherapie.
Bei der allogenen Transplantation gibt es
5 Phasen für eine unterschiedliche Ernährungstherapie:
1. der Ernährungsstatus bei der Aufnahme,
2. die Ernährung unter Chemo-/Radio-
therapie-Konditionierungstherapie,
3.die Aplasiephase (Phase der starken Zellverminderung)
4. das Anwachsen des Transplantates mit
der Möglichkeit einer akuten Abstoßungsreaktion (GvHD = Graft versus
Host Disease) und
5. die frühe Phase der Entlassung.
Bei der autologen Transplantation gibt
es nur die Phasen 1 bis 3. In den verschiedenen Phasen einer Transplantation
treten individuell unterschiedlich starke,
multiple und auch ernährungsrelevante
Probleme wie Übelkeit und Erbrechen,
eine Schleimhautentzündung im Mund
und dem gesamten Magen-Darm-Trakt
mit unzureichender Energie- und Nährstoffaufnahme, Maldigestion und Malabsorption und eine hohe Infektanfälligkeit
auf. Eine besondere Herausforderung ist
die akute oder chronische Graft versus
Host Disease (GvHD), eine Inflammation
des gesamten Magen-Darm-Traktes mit
Diarrhoe, Maldigestion und Malabsorption
und dadurch bedingten Flüssigkeits- und
Nährstoffverlusten.
Die ernährungsmedizinische Betreuung
transplantierter Patienten benötigt ein
erfahrenes Ernährungsteam. Hier werden
daher nur die Grundlagen der Ernährungstherapie besprochen. Für spezifische
Fragen, die vor allem die allogene Transplantation betreffen, sei auf die Fachliteratur verwiesen.
Die orale Ernährung entspricht den Grundsätzen der Ernährung unter einer Chemotherapie. Die keimarme Zubereitung der
Speisen muss aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr streng beachtet werden. Probiotische Joghurts, Malzbier, Limonaden,
Mineralwasser und Tomatensaft sollten
den Patienten erst bei einer Granulozytenzahl über 500/μl und einer Leukozytenzahl
über 1000/μl angeboten werden. Allogen
transplantierte Patienten müssen die keimarme Kost ca. 100 Tage einhalten. Eine
Übersicht über Lebensmittel, bei denen
auch für Gesunde ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht und die von Patienten unter
Immunsuppression auch in der Nachsor-
Seite
63
gephase vermieden werden sollen, gibt
Tabelle 24. Nach langen Phasen einer Nahrungskarenz ist die Ernährung aufzubauen.
Bei bestehender GvHD können besondere
Ernährungsverordnungen notwendig sein,
z.B. eine glutenfreie, laktose- und ballaststoffarme Kost. Zur Optimierung der
oralen Ernährung werden Trinknahrungen
empfohlen. Eine routinemäßige enterale oder parenterale Ernährung ist nicht
indiziert. Wird enteral ernährt, können
Standardnahrungen eingesetzt werden.
Nach allogener Transplantation allerdings
ist eine parenterale Ernährung häufig für
längere Zeit erforderlich. Regelmäßige
Kontrollen des Ernährungszustandes sind
besonders wichtig, vor allem auch nach der
Entlassung, um Energie- und Nährstoffdefizite rechtzeitig auszugleichen, eventuell
mit einem kombinierten Ernährungsregime.
Milch
Rohmilch ist oft stark keimbelastet � Milch kochen oder pasteurisierte Milch kaufen
Käse
Rohmilchkäse kann gesundheitsbedenkliche Bakterien (Listerien) enthalten
� Käsesorten, die aus pasteurisierter Milch hergestellt wurden
Fleisch
Rohes Fleisch wie Tatar, Mett oder Carpaccio können Krankheitserreger übertragen
� Fleisch immer gut durchgaren
Geflügel
Salmonellengefahr � immer gut durchgaren; im Kühlschrank auftauen und
das Auftauwasser sorgfältig beseitigen
Eier
Bei rohen oder weichgekochten Eiern besteht weiterhin ein erhöhtes Risiko für eine
Salmonellenvergiftung � kein Unterschied bezüglich Freiland- oder Massenhaltung
Fisch
Rohen Fisch (z.B. Sushi) meiden; Schalen- und Krustentiere u.a. nicht roh verspeisen.
Es ist nicht kontrollierbar, ob diese aus verschmutzten Gewässern kommen.
Getreide
Nicht erhitztes Getreide meiden; Keimlinge und Sprossen sind oft mit Pilzen
kontaminiert; keine Sojasaucen (Impfung mit Aspergillus)
Gemüse
Gut waschen! Keine abgepackten Mischsalate essen.
Obst
Waldbeeren können Überträger des Fuchsbandwurmes sein � kochen oder garen; rohe
Beeren können gegessen werden, wenn sie aus dem Gartenanbau kommen.
Nüsse
In der Schale sind sie oft mit Schimmelpilzen behaftet; verarbeitete Nüsse sind möglich:
geröstet oder z.B. im Kuchen mitgebacken.
Eis
Kein Softeis vom Stand oder Automaten � abgepacktes Eis aus der Tiefkühltruhe
 Tabelle 24: Ernährungsmedizinisch bedenkliche Lebensmittel nach hämatopoetischer
Zelltransplantation (Medizinische Universitätsklinik Freiburg, Sektion Ernährungsmedizin
und Diätetik, 2008)
Immer: faule, schimmelige, übel riechende und farbveränderte Lebensmittel wegwerfen!
Seite
64
4.7 Ernährung mit speziellen
Substraten
4.8 M
edikamentöse Therapie
zur Stoffwechselmodulation
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin wird derzeit
keine Empfehlung zur routinemäßigen
Anwendung spezieller Substrate wie
Glutamin, ω-3-Fettsäuren oder verzweigtkettige Aminosäuren während einer
Chemo-, Radio-/Radiochemotherapie
oder einer hämatopoetischen Zelltransplantation gegeben. Empfohlen werden
kann die Anwendung dieser Substanzen
aufgrund einer individuellen Entscheidung
in Abhängigkeit vom klinischen Befund des
Patienten. So gibt es neue Untersuchungen zur Therapie mit topisch bzw. intravenös angewandtem Glutamin und positiven
Effekten in der Behandlung einer Chemound Radiotherapie-induzierten Mukositis,
auch unter autologer Stammzelltransplantation. Eine Studie berichtet über
eine signifikante Minderung des Grades
einer Oxaliplatin-induzierten peripheren
Neuropathie unter oraler Therapie mit 30 g
Glutamin/Tag über 7 Tage mit Beginn der
Oxaliplatintherapie. Die Daten zum Effekt
von ω-3-Fettsäuren sind unterschiedlich,
doch gibt es auch positive Ergebnisse
im Bezug auf die antiinflammatorische
Wirkung, den Gewichtserhalt und die
Lebensqualität. Zwei Veröffentlichungen
belegen unter einer Therapie mit 4 g bzw.
6 g L-Carnitin einen positiven Effekt auf
das Fatigue-Syndrom.
Beim Vorliegen einer systemischen tumorassoziierten Inflammationsreaktion wird
in den Leitlinien empfohlen, zusätzlich zur
Ernährungstherapie entzündungsmodulierende Medikamente zu verordnen. Wirksam sind Steroide (z.B. 20 mg Prednisolon)
und Gestagene (500 mg Medroxyprogesteronacetat bzw. 160 mg Megestrolacetat)
zur Besserung von Appetit, Körpergewicht
und Lebensqualität. Zur Wirksamkeit von
Gestagenen gibt es zwei Metaanalysen,
die die Anwendung empfehlen. Steroide
sollten nur für kurze Zeitintervalle und
unter Abwägen von Nutzen und Nebenwirkungen, Gestagene unter Beachten des
gesteigerten Thromboserisikos eingesetzt
werden, zumal Tumorpatienten krankheitsbedingt häufig ein gesteigertes Thromboserisiko haben.
Seite
65
5 Ernährung nach der Tumortherapie
Durch die Fortschritte in der Krebstherapie in den letzten Jahrzehnten kann ein
meist tumorfreies Überleben bei 60 % der
Erwachsenen erreicht werden. Geheilten
Patienten sowie Patienten in Remission
wird empfohlen, sofern möglich einen
präventiven, gesunden Lebensstil einzuhalten. Dieser besteht aus einer gesunden
Ernährung, Rauchverzicht und körperlicher
Aktivität. Zu den Ernährungsempfehlungen
des World Cancer Research Fund (WCRF)
und des American Institute for Cancer Research (AICR) im Einzelnen ­siehe Kap. 2.4.
Ernährungsempfehlungen zur Minderung
des Krebsrisikos.
Seite
66
6 Ernährung in der Palliativsituation
6.1 Enterale und parenterale
Ernährung außerhalb
antitumoraler Therapie
Patienten mit unheilbarer, fortgeschrittener Tumorerkrankung können heute
trotz fehlender Antitumortherapie durch
unterstützende medizinische Maßnahmen eine Lebenserwartung von mehreren
Wochen oder Monaten haben und bis
zu einem Punkt überleben, an dem eine
Unterernährung die Länge der weiteren
Überlebenszeit wesentlich mitbestimmt.
Randomisierte Untersuchungen zum Wert
einer künstlichen, auch parenteralen Ernährung, sind in diesen Situationen unethisch,
wenn ein Vorteil der künstlichen Ernährung angenommen wird, aber auch, wenn
der Untersucher die Vergeblichkeit einer
künstlichen Ernährung nachweisen will.
Falls die aufgrund der fortschreitenden Tumorerkrankung erwartete Überlebenszeit
2 bis 3 Monate, das heißt die Überlebenszeit bei vollständigem Hungern, übersteigt,
kann begründet angenommen werden,
dass eine künstliche, in dieser Situation
meist parenterale Ernährung das Überleben eines Patienten verlängert, der keine
orale Nahrung toleriert. In dieser Situation
ähnelt eine künstliche Ernährung eher
einer Basisbetreuung als einer medizinischen Therapie. Erfahrungen spezialisierter
Zentren mit langfristiger parenteraler
Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung zeigen mittlere
Überlebenszeiten von 2 bis 5 Monaten.
Dies bedeutet, dass ein erheblicher Anteil
der so betreuten Patienten länger überlebte, als für die Bedingungen kompletten
Hungerns angenommen werden muss.
Da ein Vorteil einer künstlichen Ernährung
nur dann besteht, wenn die Lebenserwartung mehr durch die unzureichende Nahrungszufuhr eingeschränkt ist als durch
die Tumorerkrankung selbst, empfehlen
unterschiedliche Expertengruppen den
Einsatz einer künstlichen Ernährung dann
zu erwägen, wenn die erwartete tumorabhängige Lebenserwartung zumindest
4 Wochen oder 2 bis 3 Monate beträgt.
Bei einer kürzeren Lebenserwartung ist
kein wesentlicher Vorteil einer künstlichen
Ernährung zu erwarten.
Auch die DGEM-Leitlinie zur parenteralen
Ernährung sieht bei unzureichender oraler
Ernährung mit dadurch eingeschränkter
Prognose eine Indikation zur künstlichen
Ernährung, so lange der Patient zustimmt
und die Sterbephase nicht eingesetzt hat,
zumal vor allem mit parenteraler Ernährung
bei der Mehrzahl der Patienten eine Gewichtsstabilisierung sowie eine Stabilisierung von Parametern der Lebensqualität
möglich ist.
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Voraussetzung für eine längerfristige
künstliche Ernährung sind das Vorliegen
folgender vier Kriterien:
1. eine unzureichende orale bzw.
enterale Ernährung,
2. e
ine erwartete Überlebenszeit
von mehr als 4 Wochen,
3. e
ine mögliche Stabilisierung oder
Verbesserung des Allgemeinzustandes
oder Parameter der Lebensqualität des
Patienten und
4. der Wunsch des Patienten.
6.2 Ernährung in der
Sterbephase
In der Sterbephase stehen neben der Linderung quälender Beschwerden das
Stillen des subjektiven Durst- und Hungergefühls im Vordergrund. Flüssigkeit und
Nahrung gehören zur Basispflege, wozu
allerdings die Zustimmung des Betroffenen
Voraussetzung ist. Die meisten Patienten empfinden in der terminalen Lebensphase keinen Hunger und kommen mit
minimalen Flüssigkeitsmengen aus. Eine
ohne Berücksichtigung der veränderten
Bedürfnisse fortgeführte Nahrungs- und
Flüssigkeitszufuhr kann daher den Sterbenden und seine Angehörigen unzumutbar belasten und ist deshalb zu vermeiden.
Die Regulation des Flüssigkeitshaushalts
verdient jedoch Beachtung, da eine Dehydratation, induziert durch Diuretika oder
eingeschränktes Trinken, aber auch eine
durch Infusionen verursachte Überwässerung das Befinden erheblich beeinträchtigen können. Der „trockene Mund” ist zwar
ein Zentralsymptom Sterbender, Durst und
„trockener Mund” korrelieren jedoch nicht
mit dem Ausmaß der Hydratation oder der
intravenösen Flüssigkeitszufuhr. Sterbende
Patienten scheinen oft zu viel Flüssigkeit
zu erhalten, wodurch sich das Risiko für
periphere Ödeme, Aszites, Pleuraergüsse
und die Entwicklung eines Lungenödems
erhöht. Eine Dehydratation allerdings kann
zur Austrocknung der Schleimhäute mit
Verletzungen und Infektionen führen,
mindert die Vigilanz und begünstigt das
Auftreten von Unruhe- und Verwirrtheitszuständen, die den Patienten und die Angehörigen ebenfalls stark belasten können.
Retrospektive Untersuchungen geben Hinweise, dass neuropsychiatrische Symptome wie Sedierung, Halluzinationen,
Myoklonie und Erregung durch Flüssigkeitszufuhr vermindert werden können.
In einer randomisierten Studie konnte
gezeigt werden, dass bei exsikkierten
Patienten mit terminaler Tumorerkrankung
bei einer Flüssigkeitszufuhr um 1000 ml/Tag
der Verlauf für bestehende Symptome und
Beschwerden signifikant günstiger war als
die Behandlung in der Kontrollgruppe mit
einer minimalen Flüssigkeitszufuhr um
100 ml/Tag. Empfehlungen zur Betreuung
Sterbender betonen daher, die Flüssigkeitszufuhr individuell zu gestalten und
primär auf die Vermeidung belastender
Symptome zu achten.
Bei symptomatischer Exsikkose werden
Flüssigkeitsmengen um 1000 ml/Tag
empfohlen. Eine parenterale Ernährung
ist nicht erforderlich. Im Krankenhaus
oder zuhause kann Flüssigkeit subkutan
infundiert werden und außerdem als Träger
für die Gabe von Medikamenten dienen,
obwohl die dazu verwendeten isotonen
Elektrolytlösungen streng genommen
dafür nicht zugelassen sind.
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Notizen
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