Lila Reihe Ernährung in der Onkologie

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Lila Reihe
Ernährung in der Onkologie
Gudrun Zürcher
© Nutricia
2. Auflage Mai 2012
Ernährung in der Onkologie
Verantwortliche Autorin:
Dr. med. Gudrun Zürcher
Medizinische Universitätsklinik
Abteilung Innere Medizin I
Schwerpunkt Hämatologie / Onkologie
Sektion Ernährungsmedizin und Diätetik
Hugstetterstraße 55
79106 Freiburg
[email protected]
Unter Mitarbeit von:
Prof. Dr. rer. nat. Dorothee Volkert
Institut für Biomedizin des Alterns
Universität Erlangen-Nürnberg
Heimerichstraße 58
90419 Nürnberg
[email protected]
3 ___
___ 4
Inhalt
1
Einleitung
6
2
Grundlagen der Onkologie
7
2.1
Epidemiologie von Krebserkrankungen
7
2.2
Tumorentstehung und Tumorwachstum 8
2.3
Rolle der Ernährung bei der Tumorentstehung 12
2.4
Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Krebsrisikos 18
3
Mangelernährung bei Tumorpatienten
20
3.1
Definition 20
3.2
Häufigkeit von Mangelernährung bei Tumorpatienten
21
3.3
Folgen von Mangelernährung bei Tumorpatienten
22
3.4
Ursachen von Mangelernährung bei Tumorpatienten
23
3.4.1 Unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme
23
3.4.2 Stoffwechselstörungen 32
3.5
Erfassung und Diagnose von Mangelernährung
33
4
Ernährung bei Tumorerkrankungen
35
4.1
Empfehlungen zur Ernährung bei Tumorerkrankungen
35
4.1.1 Allgemeines
35
4.1.2 Empfehlungen zur Energie- und Nährstoffzufuhr
37
4.1.3 Bedeutung der Ernährungsberatung
39
4.1.4 Die sogenannten „Krebsdiäten“
39
4.2
41
Grundlagen der Ernährungstherapie
4.2.1 Allgemeines
41
4.2.2 Ziele
41
Inhalt
4.2.3 Indikationen
42
4.2.4 Formen der Ernährungstherapie
42
4.2.5 Refeeding-Syndrom
44
4.2.6 Förderung des Tumorwachstums durch Ernährungstherapie?
45
4.3
45
Ernährung bei Operationen
4.3.1 Indikationen
45
4.3.2 Art der Nahrung
47
4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien
48
4.4
Ernährung bei Chemotherapie 58
4.5
Ernährung bei Radio- und Radio-/Chemotherapie
61
4.6
Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation:
Knochenmarktrans­plantation (KMT), autologe und allogene
hämatopoetische Zelltransplantation (HZT)
62
4.7
Ernährung mit speziellen Substraten
64
4.8
Medikamentöse Therapie zur Stoffwechselmodulation
64
5
Ernährung nach der Tumortherapie
65
6
Ernährung in der Palliativsituation
66
6.1
Enterale und parenterale Ernährung außerhalb antitumoraler Therapie
66
6.2
Ernährung in der Sterbephase
67
Weiterführende Literatur
68
5 ___
___ 6
1
Einleitung
Tumorerkrankungen sind mit 26 % nach
den Herz-Kreislauf-Erkrankungen (45 %)
die zweithäufigste Todesursache in
Deutschland. Bei vielen Krebserkrankungen ist die Ernährung in allen Phasen
der Erkrankung von Bedeutung: bei der
Entstehung, als unterstützende Maßnahme bei den Behandlungen und in der
Erholungsphase, bei Langzeitproblemen
mit der Ernährung und bei einem Teil der
Tumore, um das erneute Auftreten der
Erkrankung zu verzögern oder zu ver­
hindern.
Ziel unseres Leitfadens ist es, den Patienten zu ihren möglichen Problemen
­Lösungen aufzuzeigen und häufig ge­
stellte Fragen zu beantworten. Wir möchten aber auch den Angehörigen und den
Betreuenden aus allen Fachgebieten das
Thema „Ernährung und Onkologie“ nahe
bringen. Aus langjähriger Erfahrung wis­sen wir, wie wichtig die Ernährung für an
Krebs erkrankte Patienten ist.
Wissenschaftliche Grundlage der Aus­
führungen zur Prävention von Krebserkrankungen ist die Dokumentation des
World Cancer Research Funds und des
American Institute for Cancer Research
„Nahrung, Ernährung, Bewegung und
die Prävention von Krebs: eine globale
Perspektive“ („Food, Nutrition, Physical
Activity and the Prevention of Cancer:
a Global Perspective“), die im November
2007 zum zweiten Mal erschienen ist.
Von besonderem Interesse sind auch die
Ergebnisse der seit 1992 in 23 Zentren in
10 europäischen Ländern durchgeführten
EPIC-Studie („European Prospective In­
vestigation into Cancer and Nutrition“),
an der aus Deutschland über 50.000 Per­
sonen aus zwei Zentren (Heidelberg und
Potsdam) teilnehmen.
Die Erkenntnisse zur Ernährung während
und nach der Tumortherapie basieren
überwiegend auf den evidenzbasierten
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für Ernährungsmedizin (DGEM) und der
Europäischen Gesellschaft für Klinische
Ernährung und Stoffwechsel (ESPEN),
ergänzt durch aktuelle Fachliteratur. In
die Empfehlungen eingeflossen ist aber
auch die Erfahrung aus der jahrelangen
ernährungsmedizinischen Betreuung von
Tumorpatienten.
2
Grundlagen der Onkologie
2.1 Epidemiologie von
Krebserkrankungen
Nachsorge nach einer Tumorbehandlung
zur Früherkennung eines Rezidivs, aber
auch zur Minderung eines Rezidivrisikos.
Die Epidemiologie in der Onkologie gibt
Auskunft über die Häufigkeit des Auftretens und die geographische Verteilung
von Krebserkrankungen und untersucht
mögliche Zusammenhänge zwischen
dem Auftreten einzelner Erkrankungen
und Risikofaktoren. Aus den gewonnenen
Erkenntnissen werden Vorsorgemaßnahmen abgeleitet. Unterschieden werden
die primäre Prävention, die eine Tumor­
entstehung verhindern soll, die sekun­
däre Prävention, die Tumorfrüherkennung, und die tertiäre Prävention, die
Was ist Krebs?
Krebs ist eine Gruppe von mehr als 100
Krankheiten, die als Folge von Veränderungen der genetischen Information der
Zellen durch ein unkontrolliertes Wachstum gekennzeichnet ist. Krebs greift viele
verschiedene Gewebe und Zellarten an.
Wenn er bösartig ist, wächst er in das
umgebende Gewebe ein und kann in
einem vom Ort der Entstehung entfernten
Gewebe weitere Tumore, so genannte
Metastasen, bilden.
Männer Frauen
Prostata
25,4
27,8
16,2
Darm
14,3
Lunge
9,3
Harnblase*
4,8
Magen
4,7
Niere
Mundhöhle und Rachen 3,3
Non-Hodgkin-Lymphome 2,9
M. Malanom der Haut 2,8
Bauchspeicheldrüse 2,7
Leukämien 2,1
Hoden 2,1
Speiseröhre 1,7
Kehlkopf
n = 230 500
Schilddrüse
2002: n = 218 250
Morbus Hodgkin
17,5
Schätzung der Dachdokumentation Krebs
im Robert-Koch-Institut
25
20
15
10
5
Brustdrüse
Darm
Lunge
Gebärmutterkörper
4,7
Eierstöcke
4,1
M. Malanom der Haut
3,8
Magen
3,6
Harnblase*
3,2
Bauchspeicheldrüse
3,2 Niere
3,0 Gebärmutterhals
2,9 Non-Hodgkin-Lymphome
2,1 Leukämien
1,7 Schilddrüse
n = 206 000
Mundhöhle und Rachen
2002: n = 206 000
Speiseröhre
Morbus Hodgkin
Kehlkopf
* ohne nicht melanotischen Hautkrebs
6,4
5,7
0 0
5
10
15
20
25
30
RKI 2008
 Abbildung 1: Prozentualer Anteil ausgewählter Tumorlokalisationen
an allen Krebsneuerkrankungen* in Deutschland 2004
7 ___
___ 8
Nach Schätzung der Dachdokumentation
Krebs im Robert-Koch-Institut von 2008
sind in Deutschland 2004 insgesamt
436.500 Krebsneuerkrankungen aufgetreten, 230.500 bei Männern und 206.000
bei Frauen. Gegenüber der Schätzung
von 2002 waren das bei den Männern
12.250 Neuerkrankungen mehr. Bei den
Frauen war die Anzahl der Neuerkran­
kungen gegenüber 2002 unverändert
(Abbildung 1).
Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit bei den Männern an zehnter
und bei den Frauen an elfter Stelle der
Häufigkeit von Neuerkrankungen. An Krebs
verstorben sind 2004 110.745 Männer,
1.114 mehr als 2002. Von den an Krebs
erkrankten Frauen verstarben 2004 dagegen 1.866 Frauen weniger als 2002
(98.079 versus 99.945 Frauen).
Bei den Tumorneuerkrankungen steht an
erster Stelle bei den Männern der Prostatakrebs, bei den Frauen der Brustkrebs,
bei beiden Geschlechtern gefolgt von den
Darmtumoren an zweiter und dem Lungenkrebs an dritter Stelle (Abbildung 1).
Betrachtet man die Krebssterbefälle, so
versterben die Männer am häufigsten an
Lungenkrebs, die Frauen an Brustkrebs.
Zweithäufigste Krebstodesursache ist der
Darmkrebs, und erst an dritter Stelle bei
den Männern der Prostatakrebs und bei
den Frauen der Lungenkrebs.
2.2 T
umorentstehung und
Tumorwachstum
Die Zellen jedes Lebewesens befinden
sich in einem genau geregelten Gleichgewicht von Wachstum (Proliferation),
zellulärer Spezialisierung (Differenzierung)
und Zelltod (Apoptose beziehungsweise
Nekrose). Diesen Erscheinungsformen
einer Zelle liegen genau festgelegte
genetische Anleitungen zugrunde, die
das Wachstumsverhalten und den Ablauf
der Zellteilung (Zellzyklus) steuern. Diese
genetischen Programme werden wesentlich durch Signale außerhalb der Zelle
beeinflusst. Sie bestimmen die Aktivität
der Gene einer Zelle. Eine Fehlregulation
der Genaktivität, bedingt durch Veränderungen (Mutationen) von Struktur und
Funktion des im Zellkern enthaltenen DNS
(Desoxyribonukleinsäure)-Erbmaterials
kann zu einem unkontrollierten Zellwachstum führen. Zudem unterstützt jeder
Mechanismus, der das Überleben DNSgeschädigter Zellen erhöht, zum Beispiel
durch Verhindern des apoptotischen
Todes solcher Zellen, den Prozess der
Krebsentstehung, der Kanzerogenese.
Bösartige (maligne) Tumoren entstehen
in mehreren Schritten, sogenannte Mehr­
schritt-Theorie der Krebsentstehung
(Abbildung 2). Diese Schritte entsprechen jeweils dem Auftreten zusätzlicher
Zellschädigungen. Substanzen, die schon
in sehr geringen Mengen bleibende DNSVeränderungen hervorrufen, werden als
Initiatoren oder Karzinogene bezeichnet.
Vorstufen von Karzinogenen, sogenannte Pro-Karzinogene, rufen selbst keine
Schäden hervor, können aber im Organismus durch enzymatische Umsetzung
Normale Zelle
Prä
neoplastische
Zelle
Dysplasie
Maligne Zelle
Neoplasie
Generalisierung
Initiation
Promotion
Transformation
Progression
Invasion
Metastase
Genetische
Veränderung
• erblich
• Chemikalien
• Strahlen
• Bakterien,
Viren, Pilze
Klonale
Expansion
• endokrin
• Entzündung
• Ernährung
Genetische
Veränderung
• Telomerase
• Onkogene
• Suppressorgene
• Apoptosestörung
Genetische
Veränderung
• Wachstumsfaktoren
• Heterogenität
Genetische
Veränderung
• Angiogenese
• Proteinasen
• Matrixproteine
Berger, Martens 2008
 Abbildung 2: Modell der Mehrschrittkarzinogenese
in Karzinogene umgewandelt werden und
außerdem die krebserzeugende Wirkung
anderer Substanzen verstärken.
Am Anfang einer Tumorentwicklung steht
die Initiation, die irreversible Veränderung
der molekularen Struktur der DNS einer
einzelnen normalen, differenzierten und
teilungskontrollierten Zelle durch chemische, physikalische und/oder biologische
Karzinogene.
Chemische Karzinogene sind zum Beispiel reaktive Sauerstoffspezies, auch als
„Sauerstoffradikale“ bezeichnet. Diese
entstehen normalerweise im Organismus
in den Mitochondrien als Nebenprodukt
der Zellatmung, aber auch in Lymphozyten zur Keimabwehr. Weitere chemische
Karzinogene sind Nitrosamine, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe,
Mykotoxine (to­xische Stoffwechselprodukte von Schimmelpilzen), Formaldehyd,
Asbest und Medikamente. Eine bedeutende
Quelle für reaktive Sauerstoffspezies ist
der Zigarettenrauch. Physikalische Kanzerogene sind ionisierende, radioaktive
und UV-Strahlung.
Biologische Karzinogene sind Bakterien,
Viren und Pilze, insbesondere bei chronischen Infekten. Beispiele hierfür sind
Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus
als Ursache für das Burkitt-Lymphom,
mit Helicobacter pylori als Ursache für
Magenkarzinome und MALT-Lymphome
des Magens, mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) für Lymphome und mit
humanen Papillomviren als Ursache für
das Gebärmutterhalskarzinom.
Wird die initiierte Zelle nicht repariert oder
zerstört, kommt es durch die Zellteilung
zu einer Vermehrung des neu gebildeten
veränderten Zellklons.
9 ___
___ 10
Im Mittelpunkt der Krebsentstehung
stehen vier Klassen von Genen: Protoonkogene, Tumorsuppressorgene,
Apoptose-regulierende Gene und DNSReparaturgene.
Protoonkogene sind normale Gene, die
physiologische Vorgänge wie das Wachstum und die Spezialisierung der Zellen
regulieren. Durch Mutationen entstehen
Onkogene, wodurch veränderte Proteine,
sogenannte Onkoproteine, gebildet werden. Die Folge sind vielfältige Störungen
der normalen Regulationsmechanismen
und Signalwege.
Tumorsuppressorgene oder Anti-Onko­
gene haben in normalen Zellen eine
wachs­tumshemmende Wirkung. Kommt
es zu einem Funktionsverlust, entsteht
ein Verlust der Wachstumskontrolle.
Apoptose-regulierende Gene sorgen für
den programmierten Zelltod, die „Apoptose“. Eine gestörte Apoptose und damit
eine unvollständige Beseitigung veränderter Zellen ist eine wesentliche Ursache
einer Tumorentstehung.
DNS-Reparaturgene sind für die Repa­ratur der auch in einem gesunden Organismus aufgrund von Fehlern bei der Vervielfältigung der DNS oder durch mutagene Effekte (zum Beispiel durch chemische
oder physikalische Karzinogene) immer
wieder entstehenden genetischen Defekte
verantwortlich.
Entsprechende Reparaturenzyme entfer­
nen die fehlerhaften Abschnitte aus der
DNS und ersetzen sie durch die richtigen
Folgen. Ist die Funktion dieser Repara­
turenzyme vermindert, häufen sich
Basenfehlpaarungen, es kommt zu einer
genetischen Instabilität, einem sogenannten „Mutatorphänotyp“. Damit steigt die
Wahrscheinlichkeit für Mutationen an Onkogenen und Tumor-Suppressor-Genen
und auch das Risiko für Zellentartungen.
Um eine Krebserkrankung entstehen
zu lassen, reicht die Initiation nicht aus.
Bleibt eine initiierte Zelle erhalten, ist der
nächste Schritt zur Krebsentwicklung die
klonale Expansion einer zunächst noch
homogenen Zellpopulation während der
Promotion. Je größer die Anzahl initiierter
Zellen ist, umso größer ist das Risiko
einer Tumorprogression. Promotoren wie
Hormone, Wachstumsfaktoren, in dieser
Phase besonders auch Ernährungsfaktoren und nicht genotoxische Karzinogene,
die keine gezielte Mutation im Genom
auslösen, aber das Wachstum stimulieren, wirken als Wachstumsförderer für die
entarteten Zellen. Promotoren stören die
metabolische Zellkooperation initiierter
Zellen mit Nachbarzellen, indem sie die
physiologische interzelluläre Kommunikation über die Kanalverbindungen
zwischen den Zellen, die „gap junctions“,
unterbrechen. Gap junctions ermöglichen
ein konstantes Milieu und eine geordnete
Stoffwechselkoordination.
Der Informationsfluss dient als Kontrolle
für das Wachstum initiierter Zellen. Da
er durch den Einfluss von Promotoren
unterbrochen wird, können die Zellen
im proliferativen Stadium bleiben. Damit
regen die Promotoren das Wachstum
entarteter Zellen an. Oft entstehen dabei
zunächst präkanzeröse Veränderungen,
zum Beispiel intraepitheliale Neubildungen,
Fehlbildungen oder Adenome (gutartige
von Drüsen oder Schleimhäuten ausgehende Tumore). Bricht der Kontakt einer
Zelle mit dem Promotor ab, bevor sie
sich vermehren kann, unterbleibt die
Tumorzellbildung. Somit müssen Promotoren vom Initiationsereignis an bis
zur klinischen Manifestation des Tumors
andauernd vorhanden sein. Während
der Vorgang der Initiation ein einmaliges
Ereignis ist und nur eine kurze Zeitspanne
umfasst, kann die Promotion über Jahre
bis Jahrzehnte dauern.
Infolge weiterer Veränderungen der DNS
kommt es schließlich zur Konversion in
maligne Zellen mit dem Erwerb tumorbiologischer Eigenschaften (Transforma­
tion). Zu diesen Eigenschaften gehören
eigene Wachstumssignale, Unempfindlichkeit gegenüber Antiwachstumssignalen, eine unbegrenzte Möglichkeit zur Vervielfältigung (Replikation), das Umgehen
des programmierten Zelltodes (Apoptose),
eine ununterbrochene Neubildung von
Gefäßen (Angiogenese) und das Einwachsen (Invasion) in das umgebende Gewebe. Aus dieser Transformation entwickelt
sich letztlich eine weitere Progression
mit Ausbildung von Tochtergeschwülsten
(Metastasen) und Ausbreitung im ganzen
Körper (Abbildung 2).
und Nährstoffen versorgen, sie brauchen
die Fähigkeit zur Bildung von Blutgefäßen.
Die Bildung tumoreigener Blutgefäße wird
teilweise von den Tumorzellen selbst, teilweise aber auch von Entzündungszellen
in der Umgebung des Tumors beeinflusst.
Der Vorgang des Einwachsens eines Tumors in das umgebende Gewebe (Invasi­
on, Infiltration) erfolgt in vielen Schritten
und führt schließlich zu einer Zerstörung
des Normalgewebes. Tumorzellen bilden
Enzyme, die die Gewebematrix auflösen
und ihnen erlauben, in das angrenzende
Gewebe einzudringen. Dazu haben sie
die Fähigkeit zum Einwandern erworben.
Die Metastasenbildung schließlich erfolgt
durch Einbrechen in Lymph- und/oder
Blutgefäße (lymphogene bzw. hämatogene Aussaat), teilweise auch über Körperhöhlen (kavitäre Aussaat).
Die Bildung von Blutgefäßen bei Erwachsenen ist ziemlich konstant und eng
durch ein Gleichgewicht zwischen die
Gefäßbildung fördernden und hemmenden Faktoren kontrolliert. Ab einer Größe
von 1 bis 2 mm können sich Tumore zur
Weiterentwicklung nicht mehr aus der
Umgebung durch Diffusion mit Sauerstoff
11 ___
___ 12
2.3 Rolle der Ernährung bei
der Tumorentstehung
Unter den Risikofaktoren für eine Tumor­
entstehung werden innere (endogene)
und äußere (exogene) Ursachen unterschieden. Zu den inneren Ursachen
gehören beispielsweise das Alter, eine
ererbte genetische Disposition, Erkrankungen mit einem erhöhten Krebsrisiko
(zum Beispiel die Colitis ulcerosa oder
Dickdarmpolypen), oxidativer Stress
oder eine chronische Entzündung. Unter
den äußeren oder Umwelt-Faktoren sind
Ernährung und Bewegung sowie Rauchen
für die Krebsentstehung von besonderer Bedeutung. Der Einfluss einzelner
Ernährungsfaktoren für die Entstehung
der verschiedenen Tumore ist dabei
sehr unterschiedlich. Überschätzt für die
Krebsentstehung wird die Bedeutung von
Lebensmittelzusatzstoffen, Arzneimitteln,
ionisierenden Strahlen, Industrieabfällen
und der Umweltverschmutzung.
Über die Zusammenhänge zwischen der
Ernährung und dem Krebsgeschehen gibt
es eine Vielzahl von Untersuchungen, die
zeigen, dass Nährstoffe und Nahrungsinhaltstoffe die grundlegenden zellulären
Vorgänge in allen Stadien einer Tumorentwicklung fördernd und hemmend
beeinflussen.
Bereits zweimal, 1997 und 2007, haben
der World Cancer Research Fund (WCRF)
und das American Institute for Cancer
­ esearch auf der Grundlage wissenR
schaftlicher Veröffentlichungen einen
umfangreichen Bericht über den Zusammenhang zwischen Ernährung, Bewegung
und Krebsprävention veröffentlicht und
auch daraus abgeleitete Ernährungsempfehlungen ausgesprochen. Dabei wird
deutlich, dass eine „gute“ Ernährung –
definiert als angemessene Versorgung
mit Nahrung und Nährstoffen des gesam­
ten Körpers bis hin zur zellulären und
intrazellulären Ebene – für einen normalen
Aufbau und eine normale Funktion bereits
vor der Geburt notwendig ist. Ist eine
Person nicht geeignet ernährt, entweder
durch Unter- oder Überernährung, hat das
Auswirkungen auf die Mikroumgebung
des Gewebes durch Beeinträchtigung von
Struktur und Funktion.
Von besonderem Interesse sind die
Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen im Bezug auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung einzelner
Tumore und Ernährungsfaktoren, vor allem
auch einzelner Lebensmittel, Lebensmittelgruppen und Nahrungsinhaltstoffe.
Dazu ist in den letzten Jahren eine Fülle
von Arbeiten verschiedener Arbeitsgruppen erschienen, u. a. auch von den
beiden an der EPIC-Studie (European
Prospective into Cancer and NutritionStudie) beteiligten deutschen Zentren.
Die bis Ende 2005 vorliegenden Studien
sind im o. g. Bericht des WCRF zusammengefasst.
In Deutschland wurden in den Ernährungsberichten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) 2004 und
2008 die Beziehungen zwischen ausgewählten Lebensmittelgruppen und
Nährstoffen sowie der Entstehung von
Organtumoren auf der Grundlage von
Veröffentlichungen bis 2007 dargestellt
und bewertet. In allen Berichten erfolgt
die Bewertung der Studienergebnisse
auf der Basis der Einteilung des Grades
der Beweise (Evidenz) nach den Kriterien
der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Danach werden die Beweise folgen­
dermaßen eingeteilt:
• überzeugende Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung,
• wahrscheinliche Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung,
• mögliche Beweise für eine risiko­
beeinflussende Wirkung und
• unzureichende Beweise für eine
risikobeeinflussende Wirkung.
Die risikobeeinflussende Wirkung kann
dabei risikosteigernd oder risikosenkend
sein. Empfehlungen zur Verminderung der
Krebsinzidenz werden nur aufgrund überzeugender und wahrscheinlicher Beweise
für eine Beeinflussung des Krebsrisikos
gegeben. Tabelle 1 gibt die verschiedenen Evidenzgrade zwischen Ernährungsfaktoren und der Entstehung bösartiger
Tumore in verschiedenen Organen auf der
Grundlage des WCRF-Berichtes 2007 und
des Ernährungsberichtes 2008 wieder.
13 ___
___ 14
Steigerung des
Krebsrisikos
Betroffenes Organ
Senkung des Krebsrisikos
Bauchspeicheldrüse
Bewegung Obst Lebensmittel mit Folat Blase
Obst Brust
Bewegung (postmenopausal)
Bewegung (prämenopausal)
Dickdarm
Bewegung Obst- und Gemüse Knoblauch Milch, Milchprodukte Ballaststoffe Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren ▼▼▼
▼▼
▼▼
▼▼
▼▼
▼
▼
allgemeines und abdominelles Übergewicht
Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren Enddarm
Bewegung (weniger stark als Dickdarm)
Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Knoblauch Fisch langkettige ω-3-Fettsäuren Ballaststoffe ▼▼▼
allgemeines und abdominelles Übergewicht
Alkohol Fleisch (rot) Fleischwaren ▼
▼
▼▼
allgemeines Übergewicht abdominelles Übergewicht Fleisch (rot)
▼
▼▼
▼
▼▼
▼
▼▼
▼
▼
▼
allgemeines Übergewicht (postmenopausal)
Alkohol Abdominelles Übergewicht (postmenopausal)
Fleisch (rot) Fleischwaren Eier Fett gesättigte Fettsäuren
(postmenopausal)
Eierstöcke
Gebärmutter (Hals und
Schleimhaut)
Bewegung ▼▼
Allgemeines Übergewicht Abdominelles Übergewicht  Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko
für einzelne Krebsarten
Keine Beziehung
zu einem Krebsrisiko
▲▲▲
▲▲
▲
Fett gesättigte Fettsäuren Unzureichende Hinweise
auf Beeinflussung des Krebsrisikos
◆◆
◆◆
Alkohol, Gemüse, Fleischwaren, Fisch,
Geflügel, Eier, langkettige ω-3-Fettsäuren,
Milch, Milchprodukte, Ballaststoffe,
Glykämischer Index
Alkohol, Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch, Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index,
Alkohol
▲▲▲
▲▲▲
▲▲
Obst- und Gemüse Fischverzehr Ballaststoffe (postmenopausal) ◆
◆
◆
Geflügel, langkettige ω-3-Fettsäuren, Milch,
Milchprodukte, Glykämischer Index
▲
▲
▲
▲
▲
▲▲▲
▲▲▲
▲▲
▲▲
▲▲▲
▲▲▲
▲▲
▲▲
▲▲▲
▲▲
Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index
◆◆
◆◆
◆
Geflügel, Eier
Fett gesättigte Fettsäuren Glykämischer Index
◆◆
◆◆
◆
Geflügel, Eier
Fett gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol ◆◆
◆◆
◆
◆
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier,
Ballaststoffe, Glykämischer Index
Fett (Schleimhaut)
gesättigte Fettsäuren (Schleimhaut)
◆◆
◆◆
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren, Ballaststoffe, Fisch, Geflügel, Milch und
Milchprodukte, Eier, Fett (Hals), gesättigte
Fettsäuren (Hals), langkettige ω-3-Fettsäuren,
Alkohol, Glykämischer Index
15 ___
___ 16
Betroffenes Organ
Steigerung des
Krebsrisikos
Senkung des Krebsrisikos
Leber
Alkohol Lunge
Bewegung Obst Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden ▼
▼▼
▼
▼▼
Magen
Ballaststoffe Grünes Gemüse Zwiebelgemüse ▼
▼▼
▼▼
Alkohol Salz Fleischwaren Mund und Rachen
Obst- und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Carotinoiden
▼▼
▼▼
▼▼
Alkohol Niere
Obst und Gemüseverzehr
Prostata
Speiseröhre
▼
Allgemeines Übergewicht
Lebensmittel mit Lycopen Lebensmittel mit Selen
▼▼
▼▼
Milch und Milchprodukte Obst und Gemüse Grünes Gemüse Lebensmittel mit Beta-Carotin Lebensmittel mit Vitamin C
▼▼
▼▼
▼▼
▼▼
Alkohol Allgemeines Übergewicht Fleisch (rot) Fleischwaren
 Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten und dem Erkrankungsrisiko
für einzelne Krebsarten
▲▲▲(▼▼▼)
▲▲(▼▼)
▲(▼)
◆(◆◆)
überzeugende Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
wahrscheinliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
mögliche Evidenz für einen risikoerhöhenden (-senkenden) Effekt
mögliche (wahrscheinliche) Evidenz für keine Veränderung des Krebsrisikos
Keine Beziehung
zu einem Krebsrisiko
Unzureichende Hinweise
auf ein Krebsrisiko
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer Index
▲▲▲
Fett gesättigte Fettsäuren Alkohol
▲▲
▲▲
▲
Glykämischer Index ◆◆
◆◆
◆
◆
▲
▲▲▲
▲▲▲
▲
▲
Fleisch (rot), Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren,
langkettige ω-3-Fettsäuren
Fisch, Geflügel, Milch und Milchprodukte,
Eier, Fett, gesättigte Fettsäuren, langkettige
ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer
Index
▲▲▲
▲▲▲
Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel,
Milch und Milchprodukte, Eier, langkettige
ω-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Glykämischer
Index
Alkohol
◆◆
Fleisch (rot), Fleischwaren, Fisch, Geflügel,
Milch und Milchprodukte, Eier, Fett, gesättigte
Fettsäuren, langkettige ω-3-Fettsäuren,
Ballaststoffe, Glykämischer Index
Fisch Fett Gesättigte Fettsäuren langkettige ω-3-Fettsäuren Alkohol
◆
◆◆
◆◆
◆
◆
Obst und Gemüse, Fleisch (rot), Fleischwaren,
Geflügel, Eier, Ballaststoffe, Glykämischer
Index
Fisch, Geflügel, Milch- und Milchprodukte, Eier,
Fett, gesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe, langkettige ω-3-Fettsäuren, Glykämischer Index
WCRF 2007, Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung 2008
17 ___
___ 18
2.4 Ernährungsempfehlungen zur
Minderung des Krebsrisikos
Der World Cancer Research Fund (WCRF)
und das American Institute for Cancer
Research (AICR) haben in ihrem zweiten, im November 2007 veröffentlichten
Bericht zur Krebsprävention die folgenden
persönlichen Ernährungsempfehlungen
zur Minderung des Krebsrisikos zusammengestellt:
1. Bleiben Sie so schlank wie möglich!
2. Beziehen Sie körperliche
Aktivität in Ihren Alltag ein!
3. Begrenzen Sie den Verzehr
energiedichter Lebensmittel
(> 225 kcal/100 g). Meiden
Sie zuckerhaltige Getränke!
4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs!
5. Schränken Sie den Verzehr von
rotem Fleisch ein und meiden
Sie verarbeitetes Fleisch!
6. Begrenzen Sie den Konsum
alkoholischer Getränke!
7. Begrenzen Sie den Salzkonsum
und meiden Sie den Konsum
von verschimmeltem Getreide,
Getreide­produkten und Hülsen­
früchten!
8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die
normale Ernährung zu decken!
9. Sonderempfehlungen
1. Bleiben Sie so schlank wie möglich!
Die Energiezufuhr soll so gestaltet wer­
den, dass Übergewichtige ihr Gewicht
allmählich dauerhaft vermindern, nor­
malgewichtige Patienten ihr Gewicht
halten, und untergewichtige Patienten
ihr „persönliches Normalgewicht“ wieder
erreichen.
Bei Übergewicht empfiehlt es sich, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um
einseitige und Crash-Diäten zu vermeiden, da diese nicht dauerhaft eingehalten
werden können und es regelmäßig erneut
zu einer Gewichtszunahme kommt.
2. Beziehen Sie körperliche
Aktivität in Ihren Alltag ein!
•M
indestens 30 Min./Tag moderate körperliche Aktivität (z.B. schnelles Gehen)
•Z
iel bei verbesserter Leistungsfähigkeit:
mindestens 60 Min./Tag moderate oder
mindestens 30 Min./Tag intensive
körperliche Aktivität
3. B
egrenzen Sie den Verzehr
energiedichter Lebensmittel
(> 225 kcal/100 g). Meiden
Sie zuckerhaltige Getränke!
•S
eltener Verzehr energiedichter
Lebensmittel
• Meiden zuckerhaltiger Getränke
•S
eltener Verzehr von Fast Food,
wenn überhaupt
4. Essen Sie überwiegend Lebensmittel
pflanzlichen Ursprungs!
• Täglicher Verzehr von mind. 5 Portionen
mit mind. insgesamt 400 g Gemüse
und Obst
• Verzehr von mind. 25 g Ballastoffen/
Tag bei einer Zufuhr von relativ unver­
arbeitetem Getreideprodukten und/oder
Hülsenfrüchten zu jeder Mahlzeit
5. Schränken Sie den Verzehr von
rotem Fleisch ein und meiden
Sie verarbeitetes Fleisch!
• Pro Woche nicht mehr als 500 g Verzehr
von Fleisch und Fleischwaren, davon
wenig, wenn überhaupt, verarbeitet
(geräuchert, gepökelt)
8. Bemühen Sie sich, den Nährstoffbedarf ausschließlich über die
normale Ernährung zu decken!
•K
eine Empfehlung von Nahrungsergänzungsmitteln
9. Sonderempfehlungen
•S
äuglinge sollten sechs Monate ausschließlich gestillt werden, auch um
das spätere Krebsrisiko von Mutter
und Kind zu verringern
•K
rebskranke sollten, wenn es keine
andersartigen Empfehlungen gibt, die
genannten Empfehlungen für Ernährung, Körpergewicht und körperliche
Aktivität ebenfalls einhalten.
6. Begrenzen Sie den Konsum
alkoholischer Getränke!
• Konsum für Männer: nicht mehr
als zwei Gläser/Tag
• Konsum für Frauen: nicht mehr als ein
Glas/Tag (1 Glas Wein = ca. 10-15 g
reiner Alkohol)
• Kinder und Schwangere sollen Alkohol
meiden
7. Begrenzen Sie den Salzkonsum
und meiden Sie den Konsum von
verschimmeltem Getreide-/Getreide­
produkten und Hülsenfrüchten!
• Salzaufnahme von max. 6 g/Tag
• Vermeiden gepökelter, gesalzener oder
salziger Lebensmittel
• Lebensmittel ohne Salz haltbar machen
19 ___
___ 20
3
Mangelernährung bei Tumorpatienten
3.1 D
efinition
Als Mangelernährung wird ein anhaltendes Defizit an Energie und/oder Nährstoffen im Sinne einer negativen Bilanz
zwischen Aufnahme und Bedarf mit
negativen Auswirkungen auf Ernährungszustand, physiologische Funktionen und
Gesundheitszustand verstanden.
Neben einem geringen Körpergewicht ist
ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust ein
zentrales Kriterium für Mangelernährung.
Nach einer Definition der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM)
besteht bei Tumorpatienten eine Mangel­
ernährung (engl.: malnutrition) in Form
eines „krankheitsassoziierten Gewichtsverlustes“, „eines ungewollten, signifikanten
Gewichtsverlustes mit Zeichen der Krankheitsaktivität“ („unintended weight loss
wasting“). Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust über 10 % in den vergangenen
6 Monaten gilt als schwere Mangelernährung.
Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust
selbst kann Ausdruck der Krankheitsaktivität beziehungsweise erstes Symp­tom einer gravierenden Erkrankung sein.
Auch Personen mit einem normalen oder
erhöhten BMI können in Zusammenhang
mit einem Gewichtsverlust einen klinisch
bedeutsamen Verlust an Magermasse
haben. Da der BMI das Ausmaß einer
Mangelernährung nur unzureichend
wiedergibt, ist er für Tumorpatienten kein
guter Parameter zur Bestimmung der
Mangelernährung (vergleiche Kap. 3.5
Diagnose von Mangelernährung). Ein
Gewichtsverlust ist auch bei adipösen
Tumorpatienten prognostisch ungünstig.
Ein Gewichtsverlust von 40 % der fettfreien
Körpermasse ist mit dem Leben nicht
mehr vereinbar.
Ein schwerer Gewichtsverlust bei Tumorpatienten wird häufig als „Kachexie“
(griechisch: „schlechter Zustand“) bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings unscharf und wird uneinheitlich verwendet.
Einer neueren Definition zufolge besteht
eine Kachexie beim Vorliegen eines ödemfreien Gewichtsverlustes von mindestens
5 % in 12 Monaten oder weniger (bei
Tumorpatienten 3-6 Monate!) bei einer
zugrunde liegenden Erkrankung sowie
dem Vorhandensein von mindestens
drei der folgenden Kriterien:
• eine verminderte Muskelkraft
• „Fatigue“ (anhaltende Erschöpfung
und Müdigkeit)
• „Anorexie“ (Gesamtenergieaufnahme
unter 20 kcal/kg Körpergewicht und Tag,
< 70 % der üblichen Nahrungsaufnahme oder ein schlechter Appetit)
• eine geringe fettfreie Körpermasse
• erhöhte inflammatorische Marker
(CrP > 5,0 mg/dl, IL-6 > 4,0 pg/ml), Anämie (Hb < 12 g/dl) oder erniedrigtes Serum-Albumin (< 3,2 g/dl)
3.2 Häufigkeit von
Mangelernährung bei
Tumorpatienten
Die Angaben zur Häufigkeit einer Mangelernährung bei Tumorpatienten liegen zwischen 30 und 90 %, in Abhängigkeit von der
Art, der Lokalisation und dem Stadium der
Tumorerkrankung und der Tumortherapie.
Ein ungewollter Gewichtsverlust ist oft der
erste Hinweis auf eine Krebserkrankung.
In der größten europäischen Untersuchung
zum Gewichtsverlust in den sechs Monaten vor der Diagnosestellung hatten je
nach Tumorart 32 bis 87 % von über 3400
Tumorpatienten an Gewicht verloren. Am
seltensten an Gewicht verloren hatten die
Patienten mit einer Blutkrebs-Erkrankung,
Brustkrebs und Sarkomen, während von
den Patienten mit Tumoren des MagenDarm-Traktes (Bauchspeicheldrüsen-,
Magenkarzinome) bis 87 % Gewichtsverluste zeigten. Patienten mit Dickdarm-,
Prostata- und Lungentumoren lagen mit
einer Häufigkeit von 54 bis 61 % dazwischen. Mit einem Gewichtsverlust von
über 10 % vom gesunden Ausgangsgewicht waren 16 % der Patienten bereits
zum Zeitpunkt der Diagnosestellung
schwer mangelernährt.
Vorläufige Ergebnisse einer prospektiven
italienischen Untersuchung ambulanter
Tumorpatienten – bisher 1000 Patienten
aus 12 Zentren – ergaben eine schwere
Mangelernährung mit einem Gewichtsverlust von über 10 % bei 40 % der Patienten. Bei Anwendung des „Nutritional
Risk Scores“ (NRS ≥ 3 – siehe Kap. 3.5
Erfassung und Diagnose von Mangelernährung) hatten 34 % der Patienten ein
Ernährungsrisiko.
Der Gewichtsverlust war größer bei Tumoren im oberen Magen-Darm-Trakt, im
fortgeschrittenen Tumorstadium und bei
Patienten mit einem schlechten „Performance Status“ (Skala zur Beurteilung des
Allgemeinzustandes von Tumorpatienten).
Der Bedarf an Ernährungsinterventionen
war besonders hoch bei Speiseröhrenund Bauchspeicheldrüsentumoren und
wieder bei Patienten mit schlechtem
„Performance Status“. Das Ausmaß des
Gewichtsverlustes korrelierte gut mit der
Schwere der Appetitlosigkeit (Anorexie)
der Patienten. Die meisten Patienten mit
keinem oder einem Gewichtsverlust unter
10 % waren nicht appetitlos.
In einer großen, multizentrischen deutschen
Erhebung zur Häufigkeit der Mangelernährung im Krankenhaus nahmen nach
den geriatrischen Patienten mit 56 % die
Tumorpatienten mit 38 % den zweiten
Rang ein. Eine weitere Untersuchung zum
Vorliegen einer Mangelernährung in einem
deutschen Krankenhaus der Maximalversorgung ergab bei 24 % der 1308 untersuchten internistischen Patienten Zeichen
einer Mangelernährung. Bei den Patienten
mit gutartiger Erkrankung lag diese Rate
bei 16 %, während 53 % der Tumorpatienten mangelernährt waren.
Im Verlauf ihres Krankenhausaufenthaltes
verlieren etwa 45 % der Tumorpatienten
über 10 % ihres Gewichtes.
In einer Untersuchung von ambulanten
und stätionären Patienten mit fortgeschrittenem metastasiertem Tumorleiden war
das häufigste Symptom ein Gewichtsverlust bei 85 % der Patienten. 71 % dieser
Patienten hatten über 10 % ihres Gewichts
vor der Diagnose der Erkrankung verloren.
21 ___
___ 22
Obwohl bei fortgeschrittener Tumorerkrankung die Mehrzahl der Erkrankten
mangelernährt ist, besteht kein eindeutiger
Zusammenhang zwischen dem Ernährungszustand und der Größe, der Ausbreitung und dem Differenzierungsgrad des
Tumors sowie der Erkrankungsdauer. Somit
ist das Auftreten einer Mangelernährung
in jedem Stadium der Erkrankung möglich
und im Einzelfall nicht vorhersehbar.
3.3 Folgen von Mangelernährung
bei Tumorpatienten
Mangelernährung hat einen ungünstigen
Einfluss auf die Körperzusammensetzung,
Krankheitshäufigkeit, Sterblichkeit und
Lebensqualität von Tumorpatienten.
Die bei onkologischen Patienten auftretenden Änderungen der Körperzusammensetzung unterscheiden sich von den
Veränderungen im Hungerzustand. Im
Hungerzustand wird vorwiegend Körperfett
abgebaut und die Muskelmasse bewahrt.
Tumorpatienten verlieren dagegen Körperfett- und Körpermagermasse, primär
Skelettmuskelmasse. Organgewebe, vor
allem das Lebergewebe, bleibt erhalten.
Die intrazelluläre Flüssigkeit nimmt ab, eine
kompensatorische Zunahme der extrazellulären Flüssigkeit kann das tatsächliche Ausmaß einer Gewichtsabnahme
verschleiern, ebenso wie Wassereinlagerungen im Rahmen einer Krebsbehandlung
oder Änderungen des Hydratationsstatus,
zum Beispiel bei Herz-, Leber- und Niereninsuffizienz oder bei schwer Kranken.
Der Verlust an Körperzellmasse führt zu
körperlicher Schwäche, Abnahme der respiratorischen Muskelfunktion und langfristig zu Immobilität.
Bei mangelernährten Patienten ist die
humorale und zelluläre Immunantwort vermindert, die Infektneigung erhöht und die
Wundheilung vermindert, was zu vermehrten Komplikationen durch Wundheilungsstörungen, Infektionen und Sepsis sowie
häufigeren und längeren Krankenhausaufenthalten und zu höheren Kosten führt.
Mangelernährung führt zu einem schlechteren Ansprechen auf Chemotherapien, zu
mangelnder Compliance, Therapieunterbrechungen und dadurch unzureichenden
Gesamttherapien, wodurch die Sterblichkeit steigt und die Prognose der Patienten
sich verschlechtert. Die Überlebenszeit ist
signifikant verkürzt.
Gewichtsverlust ist ein eigenständiger
Prognosefaktor für die Sterblichkeit bei
Non-Hodgkin-Lymphom, Bronchialkarzinom, Mammakarzinom, Kolon- und
Prostatakarzinom.
Mangelernährung ist darüber hinaus mit
Depressionen sowie einer signifikanten
Minderung von Leistungsfähigkeit und
Lebensqualität assoziiert. Mangelernährung ist für den Patienten und seine
Familie auch eine Ursache psychischer
Probleme. Bereits ein Gewichtsverlust
von nur 5 % bei unzureichender Energieund Eiweißaufnahme korrelierte in einer
Studie signifikant mit einer Minderung der
Lebensqualität. Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren, die zu den Erfahrungen
mit ihrer Ernährungssituation und zum
Grund für die Entscheidung zu einer
heimparenteralen Ernährung (HPN) befragt
wurden, bezeichneten ihre Ernährungssituation vor der HPN als eine Quelle von
„Quälerei und häufiger Verzweiflung“.
Sie wollten und versuchten zu essen,
waren dazu aber nicht fähig. Die Familie
erlebte Machtlosigkeit und Frustration
dadurch, dass sie ihren Angehörigen das
Essen nicht ermöglichen konnte. Das
positivste Merkmal der HPN war das
Gefühl von Erleichterung und Sicherheit
befriedigter Ernährungsbedürfnisse, was
einen direkten positiven Einfluss auf die
Lebensqualität, Gewicht, Energie, Kraft
und Aktivität hatte. Diese positiven Effekte
der HPN glichen die negativen in Form von
Einschränkungen im Familienleben und
den sozialen Kontakten für die gesamte
Familie aus.
3.4 Ursachen von Mangeler­nährung bei Tumorpatienten
Die Mangelernährung onkologischer
Pat­i­enten hat viele Ursachen. Hauptsächlich beteiligt sind eine unzureichende
Energie- und Nährstoffaufnahme sowie
Stoffwechselstörungen auf der Grundlage
von humoralen und entzündungsartigen
(inflammatorischen) Reaktionen.
3.4.1 Unzureichende Energieund Nährstoffaufnahme
Eine unzureichende Nahrungsaufnahme
ist bei onkologischen Patienten gut belegt.
So ergab eine Bestimmung der Energie­
zufuhr onkologischer Patienten eine
mittlere tägliche Energieaufnahme von
26 ± 10 kcal/kg und Tag (wünschenswerte Energiezufuhr bei Tumorpatienten:
30-35 kcal/kg und Tag), ohne Unterschied
zwischen normometabolischen und hyper­
metabolischen Patienten. Patienten mit
Kopf- und Halstumoren sowie Tumoren
des Magen-Darm-Traktes nahmen in
frühen Tumorstadien (Stadium I und II der
Erkrankung) lediglich zwischen 20 und 64
kcal/Tag weniger auf als vor der Erkrankung, in fortgeschrittenen Stadien (III bzw.
IV) jedoch zwischen 491 und 1095 kcal/
Tag weniger. Die Eiweißzufuhr (wünschenswerte Eiweißzufuhr bei Tumorpatienten:
1,2-1,5 g/kg Körpergewicht und Tag) war
im Stadium I und II nur minimal zwischen
0,2 und 1,0 g/Tag vermindert, im Stadium III
und IV allerdings zwischen 64 und 94 g/Tag.
Dass auch das Ernährungsmuster von
Tumorpatienten die Energie- und Nährstoffzufuhr und folglich das Körpergewicht beeinflusst, konnte eine kanadische
Arbeitsgruppe zeigen. Sie untersuchten
Patienten mit fortgeschrittenen soliden
Tumoren (80 % der Teilnehmer litten an
Tumoren der Lunge, des Magen-DarmTraktes, der Brust oder der Prostata), die
nicht mehr mit Bestrahlung oder Chemotherapie behandelt wurden, zuhause
lebten und dort ihre Speisen auswählten.
Die Auswertung der über jeweils drei Tage
ausgefüllten Essprotokolle ergab drei
unterschiedliche, aber typische Muster für
die Kombination der verzehrten Nahrungsmittel: ein normales Muster, „Fleisch
und Kartoffel“-Typ, einen „Früchte-Weiß­
brot“-Typ mit bevorzugt weicher Kost
und einen „Milch und Suppe“-Typ mit
bevorzugt flüssiger Kost. Die aufgenommene Energiemenge variierte von 4
bis 53 kcal/kg Körpergewicht und Tag.
Zwischen den Ernährungsmustern ergab
sich vom Typ der normalen über die
weiche zur flüssigen Kost eine Abnahme
der Energieaufnahme von 27 vs. 24 vs. 20
kcal/kg und Tag und eine Zunahme des
Gewichtsverlustes von 11 vs.16 vs. 21 %.
Besonders beachtenswert war, dass der
23 ___
___ 24
mittlere Body Mass Index (BMI) in den 3
Gruppen vergleichbar war (23,5 vs. 23,8
vs. 22,8 kg/m2), der mittlere Gewichtsverlust in den letzten 6 Monaten jedoch
deutlich unterschiedlich (11 vs. 12 vs.
21 %). Die Untersuchung unterstreicht
die Unzulänglichkeit des BMIs zur Bestimmung des Ausmaßes einer Mangel­
ernährung bei Tumorpatienten.
Viele Faktoren tragen dazu bei, dass onkologische Patienten sehr häufig ungenügende Nahrungsmengen zu sich nehmen.
So kann eine verminderte Nahrungsauf-
nahme zum einen durch die Erkrankung
selbst verursacht sein, z.B. als Folge einer
direkten Beeinträchtigung durch Obstruktionen im Mund- und Halsbereich oder im
oberen Magen-Darm-Trakt oder infolge
einer durch den Tumor ausgelösten Appetitlosigkeit.
In vielen Fällen führt die Therapie der Tumorerkrankung zu einer unzureichenden
Nahrungsaufnahme. So können Opera­
tionen im Bereich von Kopf-, Hals- und
Magen-Darm-Trakt in Abhängigkeit vom
Ort und der Ausdehnung des Eingriffs zu
Operation
Effekte
Mundhöhle/Hals
• Kau- und Schluckstörungen
• Geschmacksstörungen
Speiseröhre
• Appetitlosigkeit
• Angst vor dem Essen
• Empfindlichkeit gegen Scharfes und Saures
• Motilitätsstörungen des Magens, Völlegefühl
Magen
• Störung von Appetit- und Sättigungsregulation
• Nahrungsmittelaversionen
• Reflux-Ösophagitis
• Dumpingsyndrom
• Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz)
• Fettstühle (durch unzureichende Mischung des
Speisebreies mit den Pankreasfermenten)
• Malabsorption: Eisen, Calcium, Zink, Folsäure,
Vitamine B12, C, A, D, E, K, Carotinoide
Bauchspeicheldrüse
• Diabetes mellitus
• Maldigestion: Fett
• Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide
Dünndarm
• In Abhängigkeit vom Ort und Ausmaß der Resektion:
bei Resektion von > 50 %: generalisierte Malabsorption
• chologene Diarrhö
• Malabsorption: Vit. B12, A, D, E, K, Carotinoide
• enterale Hyperoxalurie mit Gefahr der Nierensteinbildung
• Blähungen bei unzureichendem Kauen
Dickdarm
• Lebensmittelintoleranzen, Diarrhoe
• Wasser- und Elektrolytverluste
 Tabelle 2: Ernährungsrelevante Folgen von Operationen
• Anorexie (praktisch alle Zytostatika)
• Geschmacks- und Geruchsstörungen
• Übelkeit, Erbrechen
• Nahrungsmittelaversionen
• Sodbrennen, Blähungen, Völlegefühl
• Schleimhautentzündungen/
-ulzerationen
• Abdominalschmerzen
• Durchfall, Verstopfung, Ileus
• Organschäden: Lunge, Herz,
Leber, Niere
• Sekundär bei Infektionen,
Sepsis, Atemnot
 Tabelle 3: Ernährungsrelevante
Neben­wirkungen einer Chemotherapie
einer Vielzahl von Beeinträchtigungen der
Nährstoffaufnahme und Nährstoffverwertung führen (Tabelle 2). Ebenso können
Chemo- und/oder Strahlentherapie von
ernährungsrelevanten Nebenwirkungen
begleitet sein (Tabelle 3, Tabelle 4).
Nebenwirkungen einer Strahlentherapie
treten in der Regel lokal organbezogen
auf (Tabelle 4). Gleichzeitig kann eine
Bestrahlung Ursache für allgemeine
Symptome wie Anorexie, Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Fatigue-Syndrom oder
Mangelernährung sein. Dabei besteht eine
ausgeprägte Dosis-Wirkungs-Beziehung
für das Auftreten von Nebenwirkungen.
Von Bedeutung sind neben der Gesamtdosis die Einzeldosis, die Fraktionierung,
Art und Anteil mitbestrahlter Organe
und Gewebe sowie das Bestrahlungsvolumen. Gleichzeitig beeinflussen Alter
und Begleiterkrankungen des Patienten,
vorangegangene Therapien, gleichzeitig
stattfindende Behandlungen (kombinierte
Radiochemotherapie) und zusätzliche Noxen (Alkohol und Nikotin) Art und Ausmaß
der Nebenwirkungen.
Bei den Strahlenreaktionen des Normalgewebes unterscheidet man in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf akute und
späte, chronische Nebenwirkungen
(Tabelle 4). Akute Nebenwirkungen
treten innerhalb von 90 Tagen nach
Bestrahlungsbeginn auf, chronische
nach mehr als 90 Tagen. Die Ursachen
der akuten und späten Nebenwirkungen
sind unterschiedlich. Akutreaktionen sind
die direkte Folge der Verminderung der
Zahl funktionsfähiger Parenchymzellen
in rasch wachsenden Geweben (Epithelgewebe, Knochenmark). Typische
Akutsymptome nach Strahleneinwirkung
sind Entzündungsreaktionen, Ödembildung, Haut- und Schleimhautreaktionen
sowie spezifische Veränderungen an
strahlensensiblen Geweben wie Knochenmark, Dünndarmepithel und Keimdrüsen.
Chronische Strahlennebenwirkungen sind
die Folge einer irreversiblen Schädigung
gewebstypischer Parenchym-, Endothel- oder Bindegewebszellen. Ursächlich
angesehen werden Veränderungen am
Gefäßbindegewebe und der Durchblutung. Letztere können auch noch nach
Jahren auftreten und zeigen häufig einen
fortschreitenden Verlauf.
Schon vor Beginn der Tumortherapie kann
auch die Lebensführung eines Patienten
mit einer zu geringen Nahrungszufuhr,
einseitiger Ernährung und einem erhöhten
Nährstoffbedarf Ursache einer Mangelernährung sein. Besonders gefährdet sind
Patienten mit chronischem Nikotin- und Alkoholkonsum. Schließlich können Schmerzen, lange Nüchternphasen im Rahmen
25 ___
___ 26
Akuteffekte
Späteffekte
ZNS
• Hirndrucksteigerung, Übelkeit,
Erbrechen
• Hirnnekrose
HNO
• Schleimhautentzündungen
• Speichelveränderungen
• Mundtrockenheit
• Anorexie
•G
eschmacks- / Geruchsstörungen
• Schluckstörungen
• Laryngitis
• Oesophagitis
• Mundtrockenheit (Xerostomie)
• Karies
• vermindertes / fehlendes
Geschmacksempfinden
Thorax
• Oesophagitis
• Pneumonitis
• Oesophagitis
• Fibrose
• Stenose
• Fisteln
• Lungenfibrose
Abdomen/
Becken
• Übelkeit
• Erbrechen
• Diarrhoe
• Meteorismus
• Tenesmen
• Enteritis
• Zystitis
• Ulzera
• Diarrhoe, Malabsorption
• chronische Enteritis
• Strikturen
• Obstruktion
• Fisteln
Endokrinum
• Funktionelle Insuffizienz
• Endokrine Insuffizienz:
thyreoidal, adrenokortikal,
gonadal
 Tabelle 4: Ernährungsrelevante Nebenwirkungen einer Strahlentherapie
der Diagnostik, psychische Faktoren
(Angst, Depressionen) und Bewegungsmangel Grund für eine unzureichende
Energie- und Nährstoffaufnahme sein.
Viele Faktoren, die die Nahrungsaufnahme negativ beeinflussen, sind bereits bei
der Diagnosestellung vorhanden. 40 %
der Patienten leiden bereits unter einer
Anorexie, 61 % unter einem Völlegefühl,
46 % unter Geschmacksveränderungen,
41 % unter Verstopfung, 40 % unter
Mundtrockenheit, 39 % unter Übelkeit
und 27 % unter Erbrechen.
In einer neueren Untersuchung zur Symp­
tomhäufigkeit bei Patienten mit Tumoren
in der Lunge und im Magen-Darm-Trakt
ohne Chemo- und Radiotherapie fand
sich als häufigstes Symptom Appetitlosigkeit bei 38 % der Patienten, gefolgt von
vorzeitigem Sättigungsgefühl (27 %),
Schmerzen (23 %), Geschmacksveränderungen (20 %), Übelkeit (18 %), Mund­
trockenheit (17 %), Verstopfung (14 %),
Erbrechen und Durchfall (jeweils 11 %),
Schluckproblemen (9 %), Geruchsstörungen (7 %), sowie Mundsoor (1 %).
62 % der Patienten hatten ein oder mehrere
Symptome. Von Symptomen betroffen
waren alle Patienten mit einem Pankreaskarzinom, 75 % der Patienten mit einem
Tumor im oberen Gastrointestinaltrakt,
66 % der Patienten mit einem Lungentumor und 41 % der Patienten mit kolorektalen Tumoren. An Gewicht verloren 48 %
der Patienten mit gastrointestinalen und
19 % mit Lungen-Tumoren. Die meisten
appetitlosen Patienten (fast 60 %) waren
Patienten mit Lungentumoren.
Anorexie
Ein besonderes Problem stellt bei Tumorpatienten die Anorexie oder Appetitlosigkeit dar, meist verbunden mit vorzeitigem
Sättigungsgefühl, Nahrungsmittelaversionen sowie Geschmacks- und Geruchs­
störungen, die ebenfalls eng miteinander
in Wechselbeziehung stehen.
In einer Untersuchung bestand bei 40 %
der Patienten bereits zum Zeitpunkt der
Erstdiagnose eine Anorexie. Das Auftreten war abhängig vom Typ und der Lage
des Tumors sowie dem Stadium der
Tumorerkrankung. Von 186 nacheinander
aufgenommenen Patienten waren 1/3 der
Patienten mit Lungen- oder Dickdarmkarzinom oder einem Lymphom und alle
Patienten mit einem Tumor im Bereich von
Speiseröhre, Magen oder Leber betroffen.
Die höchste Prävalenz bestand im Spätstadium der Tumorerkrankung, zu 80 % bei
Patienten mit Speiseröhren- und Magenkarzinomen sowie Lymphomen, zu 30 %
bei Patienten mit Tumoren, die nicht den
oberen Magen-Darm-Trakt betrafen. Besonders im fortgeschrittenen Stadium einer Tumorerkrankung ist die Anorexie signifikant
mit dem Ernährungsstatus verbunden.
Nach neuen Vorstellungen zur Entstehung der Anorexie bei Tumorpatienten
ist sie das Ergebnis eines durch Zytokine
und Serotonin (einem Neurotransmitter)
vermittelten Ungleichgewichts zwischen
zentralen Signalen von Neuropeptid Y
(appetitfördernd) und Pro-Opiomelanocortin (appetithemmend) zu Gunsten von
Pro-Opiomelanocortin.
Weitere mögliche Ursachen einer Anorexie sind Nebenwirkungen der Tumortherapien, Infekte, Fieber, Schmerzen,
Elektrolytstörungen (Hyperkaliämie,
­Hyperkalzämie), Störungen des SäureBasen-Haushalt, zerebrale Störungen
(toxisch, entzündlich, tumorbedingtes
Hirnödem, Hirnmetastasen), Magen-,
Darm-, Nieren-, Nebennieren-, Leberund Lungenerkrankungen sowie endo­
krinologische Erkrankungen.
Geschmacks- und
Geruchsveränderungen
Unter Chemotherapie klagen 36 bis 75 %
der Patienten über Geschmacksverän­
derungen in allen Formen. Dabei ist eine
Hypogeusie (partieller Geschmacksverlust) häufig mit einer Dysgeusie (Missempfinden des Geschmacks) verbunden.
Zu Geschmacksveränderungen führen
hauptsächlich folgende Zytostatika:
Carboplatin, Cisplatin, Cyclophosphamid,
Doxorubicin, 5-Fluorouracil, Methotrexat
und Paclitaxel. Am häufigsten wird unter
Cisplatin und Doxorubucin über schwere
Geschmacksveränderungen berichtet.
Bei autologer Stammzelltransplantation
ist unter Hochdosistherapie ein völliger
Geschmacksverlust beschrieben.
Die Geschmacksveränderungen können
während der Zytostatikagabe auftreten
und von wenigen Stunden bis zu mehreren Tagen, Wochen oder sogar Monaten
27 ___
___ 28
andauern. So empfinden 77 % der Patienten unter einer Cisplatintherapie (allein
oder in Kombination mit Cyclophosphamid, Doxorubicin und 5-Fluorouracil)
einen metallischen Geschmack für wenige
Stunden bis zu drei Wochen.
Patienten berichten über eine große
Vielfalt an Geschmacksveränderungen,
auch im Bezug auf Lebensmittel. Diese
schmecken nach Pappe oder Sandpapier,
ranzig, sind zu salzig, süß, sauer oder
bitter.
Oft ist die Geschmacksschwelle für eine
bestimmte Geschmacksempfindung erhöht bzw. erniedrigt. Etwa 1/3 der Patienten hat eine erhöhte Geschmacksschwelle für süß, während die für bitter erniedrigt
ist. Letzteres ist der Grund, warum viele
Tumorpatienten eine Abneigung gegen
den Verzehr von Fleisch haben.
Bei einer Strahlentherapie treten Geschmacksstörungen meist innerhalb der
ersten drei Wochen nach Bestrahlungsbeginn auf, oft kommt es zum völligen
Geschmacksverlust. Eine Besserung tritt
ohne Therapie innerhalb einiger Wochen
ein. Leichtere Geschmacksveränderungen
halten oft über lange Zeit an.
Zudem haben viele Patienten ein gesteigertes Geruchsempfinden, vor allem
gegenüber Nahrungsmittel- und Essensgerüchen. 82 % der Patienten unter Chemotherapie lehnen deshalb den Verzehr
von einem oder mehreren Lebensmitteln
oder ganzen Mahlzeiten ab. Meist betroffen sind Kaffee, Tee, Zitrusfrüchte, Fleisch
und Schokolade. Manche Patienten
berichten über einen bitteren Geschmack
im Mund während der Applikation der
Chemotherapie und lernen, diesen
unangenehmen Geschmack mit den vor
der Therapie verzehrten Lebensmitteln
in Verbindung zu bringen. Wesentliche
Ursache von Geschmacks- und Geruchsstörungen unter Zytostatikatherapie sind
Schädigungen der sich schnell teilenden
Geschmacks- und Geruchsrezeptoren
(mittlere Lebensdauer eines Geschmacksrezeptors 10 Tage, eines Geruchsrezeptors 30 Tage). Es sollte aber auch daran
gedacht werden, dass Geschmacks- und
Geruchsstörungen Folge einer Mangel­
ernährung (Mangel an Vitamin B12, Zink,
Kupfer) oder einer schlechten Mundhygiene sein können.
Mundtrockenheit (Xerostomie)
Bei Kopf- und Halstumoren kann es
infolge einer Strahlentherapie zu lang
anhaltenden Veränderungen im Mundbereich mit gestörter Speicheldrüsenfunktion und nachfolgender Mundtrockenheit
(Xerostomie) kommen.
Bereits ein unstimulierter Speichelfluss
wird durch viele Faktoren beeinflusst
wie den Hydratationszustand, Kauen,
Geschmack und Geruch. Ein Gewichtsverlust durch Entwässerung von 2 % vermindert den Speichelfluss um 60 %, ein
Verlust von 8 % Körperwasser stoppt den
Speichelfluss ganz. Unter Bestrahlung
vermindert sich der Speichelfluss in den
ersten 2 Wochen schnell. Nach zwei Wochen Therapie mit einer Dosis von 20 Gy
sezernieren alle Speicheldrüsen nur noch
20 % ihrer üblichen Speichelproduktion.
Betroffen ist zuerst die seröse und etwas
zeitversetzt die visköse Komponente. Der
Speichel wird zuerst zäh, dann verringert
sich der Speichelfluss insgesamt. Die Pa­rotis verliert mehr Funktion (nahezu 0 %
Speichelfluss) als die submandibularen
und sublingualen Speicheldrüsen (Sta-
bilisierung bei 20 % Speichelfluss). Nach
einer Hochdosis-Strahlentherapie sind seröse und muzinöse Acini fast vollständig
verschlossen. Der genaue Mechanismus
der strahleninduzierten Speicheldrüsenschädigung ist unbekannt. Angenommen
werden eine direkte Schädigung der DNA
der Speicheldrüse durch strahlentherapiebedingte freie Radikale, eine Schädigung
der Zellen durch von den Zellen selbst
gebildetes toxisches Material und das
Auslösen einer Apoptose durch einen
intrazellulären Mechanismus.
Die gestörte Speichelproduktion und
Mundtrockenheit geht mit Schluckstörungen einher. Die veränderte Mundhöhlenökologie führt bei unzureichender
Prophylaxe und Pflege auch zu einer
zunehmenden Schädigung der Zähne.
Übelkeit und Erbrechen
Übelkeit und Erbrechen sind die am
meisten belastenden und von Patienten
gefürchteten Nebenwirkungen der Chemotherapie. Bei Palliativpatienten liegt die
Opioidtherapie-unabhängige Häufigkeit
von Übelkeit und Erbrechen bei 40-70 %.
Es gibt hierfür viele Ursachen. Ausgelöst
und vermittelt werden tumor- und nicht
tumorbedingte Übelkeit und Erbrechen
peripher von Chemo- und/oder Mechanorezeptoren der Leber und des MagenDarm-Traktes und Mechanorezeptoren
im Kopf-, Hals-Bereich, Brustkorb, Bauch
und Becken und zentral vom Vestibularisapparat, der zerebralen Kortex und im
Hirnstamm von der Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ) und vom Brechzentrum.
Durch eine Chemotherapie ausgelöstes
Erbrechen kann in drei Formen auftreten:
akut, verzögert und antizipatorisch. Das
akute Erbrechen beginnt meist 1 bis 6
Stunden nach Gabe des Zytostatikums
und kann 6 bis 24 Stunden anhalten.
Das verzögerte Erbrechen tritt mit einer
Verzögerung von 24 Stunden nach dem
akuten Erbrechen auf. Antizipatorisches
Erbrechen ist ein erlerntes, psychisch
bedingtes Erbrechen, das vor, während
und nach der Chemotherapie auftreten
kann. Haupt­ursache ist eine unzureichende Vorbeugung gegen Erbrechen
bei vorangegangenen Therapiezyklen.
Antizipatorisches Erbrechen lässt sich
daher weitgehend vermeiden, wenn bei
der ersten Chemotherapie Erbrechen verhindert wird. Die Ausprägung von Übelkeit
und Erbrechen bei Chemotherapien wird
hauptsächlich durch die Brechreiz erregende Stärke des verabreichten Medikamentes bestimmt, außerdem durch die
Dosis und die Darreichungsform.
Während einer Strahlentherapie leiden
40 bis 80 % der Patienten unter Übelkeit
und/oder Erbrechen. Die Ursache und die
Formen des Erbrechens entsprechen den
Ausführungen bei der Chemotherapie.
Zum Risiko des Auftretens von Übelkeit
und Erbrechen im Rahmen einer Strahlentherapie siehe Tabelle 5. Weitere Risikofaktoren sind hochmaligne Tumore, spätes Tumorstadium und Metastasierung,
bei der Strahlentherapie hohe Einzeldosis,
großes Bestrahlungsvolumen und ein
kurzes Fraktionierungsintervall, zudem ein
hohes individuelles Risiko (Tabelle 6).
Die Kombination von Chemo- und
Strah­lentherapie verstärkt das Risiko
von Übelkeit und Erbrechen.
Nicht tumorbedingte Ursachen von Übelkeit und Erbrechen können Infektionen,
Arzneimittel wie Opioide und Antiphlo-
29 ___
___ 30
> 90 %
Ganzkörperbestrahlung
Total nodale Bestrahlung
60 - 90 %
Obere Halbkörperbestrahlung
Oberes Abdomen
Gesamtes Abdomen
30 - 60 %
Untere Halbkörperbestrahlung
Becken
Untere Thoraxregion
< 30 %
Kopf, Hals
Extremitäten
Extraabdominelle Felder
 Tabelle 5: Risiko des Auftretens von
Übelkeit/Erbrechen bei Strahlentherapie
(modifiziert nach Riesenbeck 2003)
gistika (entzündungshemmende Medikamente), Stoffwechselstörungen (zum
Beispiel eine Hyperkalzämie), Schmerzen
und psychische Ursachen (zum Beispiel
Angst) sein. Dazu kommen individuelle
Risikofaktoren des Patienten (Tabelle 6).
Schleimhautschädigungen
Chemotherapiebedingte Schleim­
hautschädigungen (Mukositiden) bis
zu Ulzerationen können im Mund, der
Speiseröhre und dem gesamten MagenDarm-Trakt auftreten. Die Häufigkeit bei
allen systemisch verabreichten Chemo­
therapien wird mit 40 % angegeben.
Erste Mukositissymptome treten in der
Regel zwischen Tag 5 und 7 nach der
ersten Chemotherapieapplikation auf.
Ein schlechter oraler Gesundheitsstatus, reduziertes Allgemeinbefinden und
junges Alter sind Risikofaktoren für orale
Komplikationen. Ursache sind DNA-Schädigungen des Epithels durch zytostatikabedingte Sauerstoffradikale. Zusätzliche
Schädigungen der Schleimhäute können
in der Phase der Neutropenie (Verminde-
rung der weißen Blutkörperchen) durch
bakterielle und pilzbedingte Infektionen
auftreten (indirekte Toxizität). Folge der
Schleimhautschädigungen sind Schmerzen, Abnahme der Speicheldrüsenfunktion, Geschmacksstörungen, Anorexie,
Bewegungsstörungen und Durchfall. Die
Schleimhautschädigung heilt im Allgemeinen 10 bis 14 Tage nach der Therapie ab.
Folgen einer Chemotherapie-induzierten
Schleimhautschädigung sind auch
Störungen der Flüssigkeitsresorption im
gesamten Darmtrakt, in schweren Fällen
eine „sekretorische“ Diarrhoe. Diese
sistiert nicht bei Nahrungskarenz im
­Gegensatz zur „osmotischen“ Diarrhoe.
Als Folge der Schleimhautschädigung kann
es zu einer Intoleranz von Milchzucker (Laktose) und anderen Nährstoffen (Fruchtzucker,
Fett, Ballaststoffe) kommen. Bei Patienten
mit Dickdarmkarzinom wurde unter einer
Therapie mit 5-Fluorouracil ein Anstieg
des Mangels an Milchzucker spaltendem
Enzym (Laktase) von 24 auf 35 % beRisikoscore
Risikofaktor
Alter
> 55 Jahre
< 55 Jahre
0
1
Geschlecht
männlich
weiblich
1
2
Alkoholkonsum
ja (> 100 g/Tag)
nein
0
1
Vorerfahrungen
mit Übelkeit/
Erbrechen
ja
nein
1
0
Angst
ja
nein
1
0
Risikoscore: ≤ 4
5 – 6
Normales Risiko
Hohes Risiko
 Tabelle 6: Ermittlung des individuellen Eme­
sisrisikos eines Patienten (Feyer et al. 2005)
obachtet. Bei 94 % der Patienten bestand
eine Milchzuckerunverträglichkeit.
Strahlenbehandlungen können Ursache
für ausgeprägte Haut- und Schleimhautschädigungen sein. Klinisch kommt es
zu einer Schleimhautentzündung mit
Rötung und umschriebenen und flächigen
Läsionen bis zu Nekrosen. Ähnliche Veränderungen wie an der Mundschleimhaut
(siehe Mundtrockenheit) zeigen sich
unter der Bestrahlung auch an der Darmschleimhaut. Hier wird das Zottenepithel
geschädigt. Durchfall tritt zwischen
der 2. und 3. Bestrahlungswoche auf.
Ursache ist ein komplexer Prozess mit
Bewegungsstörungen, Enzyminsuffizienz,
verminderter Resorption von Gallensalzen
mit Wasserretention und Veränderung
der Darmflora. Nach Bestrahlungsende kommt es in der Regel innerhalb
­eines Monats zur Wiederherstellung der
Schleimhaut. Wesentliche Ursache für die
Spätreaktionen sind endotheliale Veränderungen.
Durchfall und Verstopfung
Ursachen für Durchfall können neben
Chemotherapie-induzierten Schleimhautschädigungen (siehe oben) auch vorangegangene Operationen im Magen-DarmTrakt sein, Magen-Darm-Infektionen,
Verdauungs- und Absorptionsstörungen,
Allergien, eine mechanische Obstruktion
oder eine Begleitmedikation wie Antibiotika. Verbunden ist Durchfall häufig mit
Blähungen, Völlegefühl und Schmerzen.
Auch eine Verstopfung kann durch Chemotherapeutika ausgelöst werden. Weitere
mögliche Ursachen für Verstopfung sind
unter anderem Stoffwechselstörungen
(z.B. Hyperkalzämie), endokrine Erkran-
kungen (z.B. Hypothyreose), rektoanale
Erkrankungen (Entzündungen, Störungen
der Stuhlentleerung), neurogene Störungen
(bei Diabetes mellitus), Flüssigkeitsmangel, Abnahme der oralen Nahrungszufuhr,
ballaststoffarme Kost, Bewegungsarmut
sowie Begleitmedikationen wie Opiate,
Opioide, trizyklische Antidepressiva, orale
Eisenpräparate, Diuretika.
Infektanfälligkeit
Chemo- und Strahlentherapie führen bei
Leuko- und Lymphopenie durch eine
Verminderung der Immunabwehr zu
erhöhter Infektanfälligkeit. Diese besteht
sowohl systemisch als auch lokal im
gesamten Magen-Darm-Trakt. Die lokalen
Infektionen im Sinne einer Stomatitis,
Mukositis und Kolitis können zu einer
Reduktion der Nahrungsaufnahme und
ausgeprägter Malabsorption führen. In
der Speiseröhre führen die Entzündungen
zu einer deutlichen, schmerzbedingten
Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme
bis hin zur kompletten Unfähigkeit, selbst
den Speichel zu schlucken. Im Magen ist
bedingt durch die Magensäure die lokale
Infektgefahr geringer. Trotz einer möglichen, ausgedehnten Gastritis gibt es keine
schweren Infektionen, die den Magen
betreffen, wenn nicht medikamentös durch
Senkung des Magen-pHs die Bakterienabtötung vermindert wird. Die Schädigung
der Mukosa-Barriere des Darmes (Kolitis)
durch Chemo- und Strahlentherapie ist ein
Risiko für das Durchwandern von Infektionserregern mit nachfolgenden Bakteriä­
mien. Neben der verminderten Flüssigkeits- und Nährstoffaufnahme führen diese
Enterocolitiden auch zu einem deutlichen
Verlust an Flüssigkeit und Nährstoffen, vor
allem auch von Eiweiß.
31 ___
___ 32
3.4.2 Stoffwechselstörungen
Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung
von Mangelernährung und bei der Veränderung der Körperzusammensetzung
von Tumorpatienten sind Stoffwechselveränderungen, die sich von den Stoffwechselveränderungen im Hungerzustand
(z.B. beim Fasten) unterscheiden. Sie sind
bedingt durch eine Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse. Bei vielen
Patienten findet sich diese Akut-PhaseReaktion bereits bei der Diagnosestellung, zum Beispiel bei 50 % der Patienten
mit einem Tumor der Bauchspeicheldrüse.
Eiweißstoffwechsel
Ganzkörpereiweißumsatz
erhöht
Eiweißoxidation
unverändert
Eiweißabbau im Muskel
erhöht
Eiweißaufbau im Muskel
vermindert
Eiweißaufbau in der Leber
(Akut-Phase-Proteine)
erhöht
Stickstoffbilanz
negativ
Aminosäurenimbalance:
Alanin, Leucin, Threonin
Glutamat, Phenylalanin
vermindert
erhöht
Im Gegensatz zum Hungerzustand können Tumorpatienten ihren Grundumsatz
bei unzureichender Energiezufuhr nicht
reduzieren. Während der Energiestoffwechsel onkologischer Patienten nicht
generell erhöht ist (1/3 der Patienten ist
hypometabol, 1/4 hypermetabol), zeigen
Eiweiß-, Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel charakteristische Veränderungen
(Tabelle 7). Der Abbau von Muskeleiweiß
ist erhöht, ebenso die Neubildung von
Glukose aus Aminosäuren und Laktat, was zu einem Eiweißverlust beim
Patienten führt. Zusätzlich tragen ein
unökonomischer Glukosestoffwechsel
und eine Insulinresistenz, ein gesteigerter
Fettabbau und verminderter Fettaufbau
zum Gewebeverlust bei. Es kommt zum
zunehmenden Gewichtsverlust und zu
Mangelernährung. Typische biochemische
Veränderungen sind eine Hypalbuminämie, Anämie und Hyperlaktatämie.
Kohlenhydratstoffwechsel
Als Mediatoren dieser Stoffwechselveränderungen gelten verschiedene
Faktoren: vom Patienten aus Zellen des
Glucoseumsatz
erhöht
Glucoseoxidation
vermindert
Gluconeogenese
erhöht
Glykogenolyse
erhöht
Anaerobe Glykolyse und
Laktatbildung
erhöht
Insulinresistenz
vermindert
Fettstoffwechsel
Fettabbau
erhöht
Lipoprotein-Lipase-Aktivität
(Serum)
vermindert
Fettaufbau
vermindert
Blutfettwerte
erhöht
Umsatz an freien Fettsäuren
erhöht
De Novo Fettsäurensynthese
erhöht
 Tabelle 7: Stoffwechselveränderungen
beim Tumorpatienten
Immunsystems (Makrophagen, T-Zellen)
und auch aus Zellen des ZNS freigesetzte
Zytokine (Tumornekrosefaktor-(TNF)-α,
Interleukin-1β, Interleukin-6, Interleukin-8
und Interferon-γ), außerdem von Tumoren
ausgeschüttete (Glyko-)Proteine wie der
Proteolysis-Inducing-Faktor (PIF) und der
Lipid-Mobilizing-Faktor (LMF). Während
die Zytokine an verschiedenen Zielorten,
wie Knochenmark, Skelettmuskelzellen,
Hepatozyten, Adipozyten und Endothelzellen, aber auch zentral wirken, wo
sie die zur Mangelernährung führenden
Stoffwechselveränderungen veranlassen, mobilisieren die tumorspezifischen
Produkte PIF und LMF Aminosäuren und
Fettsäuren direkt im Muskel- und Fettgewebe. PIF findet sich nur bei Tumorpatienten und wirkt über eine Steigerung des
Ubiquitin-proteasomalen Proteinabbaus.
LMF führt im Adipozyten über einen
cAMP-gekoppelten Prozess zur Lipolyse.
Durch die Entzündungsprozesse ebenfalls
vermehrt ausgeschüttet werden katabole
Hormone, Kortikosteroide, Glukagon und
Katecholamine sowie inflammatorische
Eikosanoide.
Die Stoffwechselstörungen sind auch
Ursache für die Schwierigkeiten, eine bestehende Mangelernährung zu beheben
und einen Aufbau von Körpersubstanz
und eine Gewichtszunahme zu erreichen.
3.5 E
rfassung und Diagnose
von Mangelernährung
Die Folgen der Mangelernährung und die
Ernährungsprobleme von Tumorpatienten
verdeutlichen die Notwendigkeit einer
Ernährungsintervention. Bevor die Indikation zu einer Ernährungstherapie gestellt
werden kann, ist eine Untersuchung des
Ernährungszustandes notwendig. Diese
sollte bei Behandlungsbeginn und während des gesamten Krankheitsverlaufs in
Abhängigkeit vom Zustand des Patienten
in individuell festzulegenden Abständen
sowohl in der Klinik als auch im ambulanten Bereich durchgeführt werden.
Weit verbreitet zur Erfassung des Ernährungszustands ist der Body-Mass-Index
(BMI). Dieser gibt das Ausmaß einer Mangelernährung bei Tumorpatienten jedoch
nur unzureichend wieder. Vorrangig sollte
deshalb immer der Gewichtsverlauf
beachtet werden. Hierzu sind regelmäßige
standardisierte Messungen des Körpergewichts notwendig.
Die Gewichtsänderung sollte in Prozent
des gesunden Ausgangsgewichtes angegeben werden.
Weiterhin sind Veränderungen der üblichen Nahrungsmengen von Bedeutung.
Die Energie- und Nährstoffaufnahme kann
in prozentualen Anteilen der üblichen
Nahrungsmenge abgeschätzt oder mit
quantitativen und möglichst auch qualitativen Essprotokollen ermittelt werden.
Grundlage dafür ist eine mündliche
Ernährungsanamnese beim Patienten
oder der betreuenden Person. Ein Ernährungsprotokoll sollte mindestens 3 Tage,
maximal 7 Tage unter Einschluss eines
33 ___
___ 34
Wochenendes geführt werden und kann
mittels PC ausgewertet werden. Das Erfassen der Nahrungsaufnahme gibt auch
Aufschluss über individuelle Ernährungsgewohnheiten und Ernährungsbedürfnisse eines Patienten und ist somit die Basis
jeder notwendigen Ernährungsberatung.
Als einfache und schnelle Methode zum
Ernährungsscreening, das heißt zur
schnellen und einfachen Identifikation von
gefährdeten oder bereits betroffenen Patienten, haben sich in den letzten Jahren
verschiedene Fragebögen bewährt, die
die oben genannten Aspekte kombinieren.
Von der Europäischen Gesellschaft für
Klinische Ernährung und Stoffwechsel
(ESPEN) empfohlen werden für Erwachsene im ambulanten Bereich das „Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)“
und im Krankenhaus das „Nutritional Risk
Screening (NRS)“.
Beide Instrumente erfassen mit einfachen
Fragen BMI, Gewichtsverlust, Essmenge
und Vorhandensein bzw. Schweregrad
der Erkrankung und berechnen einen
Punktescore, der je nach Höhe auf Mangelernährung bzw. auf ein bestehendes
Risiko hinweist.
Ein weiteres Instrument, der „SGA (Subjective Global Assessment)“, klassifiziert
den Ernährungszustand des Patienten als
A = gut ernährt, B = mäßig mangelernährt
bzw. Verdacht auf Mangelernährung oder
C = schwer mangelernährt. Die Einschätzung wird anhand vorgegebener Kriterien
vom geschulten Untersucher subjektiv
vorgenommen. Der SGA ist auch modifiziert für Tumorpatienten als „Scored
Patient-Generated Subjective Global
Assessment (PG-SGA)“ verfügbar.
MUST, NRS und SGA sind auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für
Ernährungsmedizin (DGEM) unter
www.dgem.de verfügbar, der SGA mit
einer ausführlichen Erklärung zur Anwendung. Dort finden sich auch Richtlinien
und Tabellen zur differenzierten Bestimmung des Ernährungszustandes (Leitlinie
Enterale Ernährung: Ernährungsstatus).
Zum frühzeitigen Erkennen einer Aktivierung systemischer Entzündungsprozesse
sollte darüber hinaus das Ausmaß einer
eventuell bestehenden Akut-PhaseReaktion abgeschätzt werden. Dies kann
unter anderem durch Bestimmung des
C-reaktiven Proteins (CrP) erfolgen.
4
Ernährung bei Tumorerkrankungen
4.1 Empfehlungen zur
Ernährung bei Tumor erkrankungen
4.1.1 Allgemeines
Da viele Ernährungsprobleme und Mangelernährung bereits früh im Krankheitsverlauf und nicht erst im Zusammenhang
mit einer Tumortherapie auftreten können,
ist es sinnvoll, auch Ernährungsmaßnahmen frühzeitig, das heißt bei Diagnosestellung, in den Therapieplan eines
Patienten mit einzubeziehen.
Häufig unterschätzen auch die Patienten
selbst das Ausmaß ihrer bereits vorhandenen Ernährungsstörungen. Bei bestehendem Übergewicht ist eine Gewichtsabnahme aus Sicht des Patienten sogar
oft willkommen, doch verschlechtert ein
Gewichtsverlust auch bei übergewichtigen Patienten die Prognose.
Tumorpatienten und ihre betreuenden Angehörigen sind an Ernährung generell sehr
interessiert. Ernährung ist etwas, womit
Patienten aktiv selbst etwas tun können,
um ihre Gesundung zu unterstützen.
Ziel der Ernährungstherapie onkologischer Patienten während der Tumor­
therapie ist es, eine ausreichende
Energie- und Nährstoffzufuhr zu gewährleisten, um zumindest das Gewicht des
Patienten konstant zu halten.
Hierzu benötigt der Patient nicht grundsätzlich eine spezielle Ernährung. Bestehen keine Ernährungsprobleme, kann er
sich mit einer Vollkost oder leichten Vollkost in Form einer abwechslungsreichen
Mischkost ernähren, die unter Berücksichtigung individueller Unverträglichkeiten und Wünsche des Patienten als eine
„gesteuerte Wunschkost“ zusammengestellt ist. Die leichte Vollkost enthält
im Unterschied zur Vollkost keine Lebensmittel oder Speisen, die erfahrungsgemäß
häufig, das heißt bei mehr als 5 % der
Patienten, Unverträglichkeiten auslösen
(Tabelle 8).
Unspezifische Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind bei Krebspatienten häufig.
Vielfach anzutreffen ist eine Abneigung
gegen tierisches Eiweiß. Meist werden
zunächst Schweine- und Rindfleisch,
später Geflügel und Fisch und zuletzt
Eier und Milchprodukte abgelehnt. Auch
die Zubereitungs- und Darreichungsform spielen eine Rolle. So wird Fleisch
als Scheibe oder Steak angeboten eher
abgelehnt als in Stücken in einem Eintopf.
Auch Streichwurst wird eher akzeptiert als
Schnittwurst.
Einseitige Ernährungsformen sollten ver­
mieden werden, da sie die Gefahr von
Nährstoffdefiziten beinhalten.
35 ___
___ 36
a) Prinzip
• Mehrere kleine Mahlzeiten
• Fettreduzierte abwechslungsreiche Kost
• Individuelle Unverträglichkeiten beachten
• Blähende Lebensmittel und Speisen meiden
• Wenig Süßes
• Hell-/mittelbraune Bräunung beim Braten
• Gut kauen und langsam essen
• Alkohol in Maßen
b) Schlechter vertragene Lebensmittel und Zubereitungsarten,
die bei der leichten Vollkost gemieden werden sollten
• Fette Brühen, Suppen, Saucen
• Große Mengen Streich- und Kochfett
• Frisches Brot oder frische und sehr fette Backwaren, sehr grobe Vollkornbrote,
ganze oder grob gemahlene Vollkornprodukte
• Vollfette Milchprodukte (z.B. Sahneprodukte, Käsesorten mit
Rahm- oder Doppelrahmstufe)
• Stark oder mit Speck angebratene, geröstete und frittierte Lebensmittel
• Fette oder frittierte Kartoffelprodukte
• Fette und geräucherte Fleisch-, Wurst- und Fischwaren
• Hart gekochte Eier, fette Eierspeisen, Mayonnaisen
• Schwer verdauliche oder blähende Gemüse (Grün-, Rot-, Weiß-, Rosenkohl,
Wirsing, Sauerkraut, Lauch, Schwarzwurzeln, Zwiebeln, Knoblauch, Pilze,
Paprika, Oliven, Gurken- und Rettichsalat, Erbsen und Bohnen, die nicht
sehr fein sind, getrocknete Hülsenfrüchte), sehr fettreiche Zubereitungen
• Unreifes Obst, Steinobst, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Avocados
• Fette Süßigkeiten
• Alkohol in jeder Form, kohlensäurehaltige Mineralwässer oder Limonaden,
eisgekühlte Getränke
• Große Mengen an scharfen Gewürzen, Zwiebel- oder Knoblauchpulver
 Tabelle 8: Leichte Vollkost
Klagt ein Patient dennoch über Beschwerden oder gibt er über diese Tabelle
hinausgehende Intoleranzen an, so ist dies zu berücksichtigen.
4.1.2 Empfehlungen zur Energieund Nährstoffzufuhr
Der Energie- und Nährstoffbedarf von
Tumorpatienten wird vom Ernährungszustand, der Art der Erkrankung, Begleit­
erkrankungen, der Tumortherapie sowie
dem klinischen Zustand und der Prognose des Tumorleidens bestimmt. Für die
optimale Energie- und Nährstoffzufuhr
onkologischer Patienten gibt es daher
keine allgemein gültigen Standards.
Energie
Bei jeweils etwa 25 % der Patienten mit
aktiver Tumorerkrankung liegt der mit
indirekter Kalorimetrie gemessene Ruheenergieumsatz (REE) um mehr als 10 %
über oder unter dem Erwartungswert. Eine
Voraussage zur Richtung und dem Ausmaß
der Abweichung ist derzeit nicht möglich.
Der Mittelwert des REEs für eine Gruppe
von Tumorpatienten entspricht in etwa
dem Mittelwert eines gesunden Kollektivs.
Untersuchungen bei Patienten mit unterschiedlichen Tumorarten ergaben einen normalen REE bei Patienten mit Magen- oder
Dickdarm- und Enddarm-Krebs und einen
erhöhten REE bei Patienten mit Bauchspeicheldrüsen- und Lungenkrebs. Ein
gesteigerter Energiebedarf wird auch beim
Eierstockkrebs beschrieben. Genauere Untersuchungen bei Patienten mit fortgeschrittenem Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkarzinom zeigten zwar einen gegenüber
Gesunden erhöhten REE, jedoch eine
verminderte körperliche Aktivität und einen
gering erniedrigten Gesamtenergieumsatz.
Kann der tatsächliche Ruheenergieumsatz
im Einzelfall nicht gemessen werden, kann
daher für Erwachsene zunächst ein normaler Energieumsatz angenommen werden.
Bei der Berechnung der Gesamtenergiezufuhr müssen mögliche Steigerungen
des Energiebedarfs durch tumorbedingte
Entzündungsprozesse und auch die Intensität körperlicher Aktivität im Einzelfall
berücksichtigt werden.
Als Faustregel kann der Gesamtener­
giebedarf onkologischer Patienten mit
folgenden Formeln berechnet werden:
•b
ettlägeriger Patient
25 kcal/kg KG und Tag,
•m
obiler Patient
30 kcal/kg KG und Tag.
Eine Tagesenergiezufuhr von mehr als
35 kcal/kg KG ist selten notwendig.
Das Berechnungsgewicht ist bei untergewichtigen Patienten das Ist-Gewicht,
ebenso bei Patienten mit einem BMI bis
30 kg/m2. Da adipöse Patienten auch
an Magermasse zugenommen haben,
haben sie einen erhöhten Grundumsatz
und somit einen höheren Energiebedarf.
Verlieren adipöse Patienten an Gewicht,
verlieren auch sie zunächst Mager-, also
Skelettmuskelmasse, was besonders bei
Tumorpatienten nicht erwünscht ist. Man
kann zur Berechnung des Energiebedarfs
adipöser Tumorpatienten ein adaptiertes
Gewicht zugrunde legen. Zur Berechnungsformel siehe Tabelle 9.
Eiweiß
Die Eiweißzufuhr sollte für Tumorpatienten
bei 1,2 bis 1,5 g/kg KG und Tag liegen, höher
als bei Gesunden (0,8 g/kg KG und Tag).
Es gibt keinen Hinweis, dass eine darüber
liegende Eiweißzufuhr bei onkologischen
Patienten antikatabol wirkt. Für schwer
kranke adipöse Patienten werden allerdings
2 g/kg Idealgewicht und Tag angegeben.
37 ___
___ 38
• Adaptiertes Körpergewicht (kg)
= (Körpergewicht – Idealgewicht) x 0,4 + Idealgewicht
• Idealgewicht (kg)
Männer: 48 + (Größe – 152) x 1,06
Frauen: 45,4 + (Größe – 152) x 0,89
 Tabelle 9: Berechnung des Körpergewichtes adipöser Patienten als Basis zur Abschätzung
des Energiebedarfs
Fett
Tumorpatienten weisen eine erhöhte
Fettoxidation und eine gesteigerte Nutzung zugeführter Fette auf. Es wird daher
empfohlen, den Fettanteil in der Ernährung von Tumorpatienten auf über 35 %
der Gesamtenergiezufuhr zu erhöhen.
Ein derartiger Fettanteil entspricht dem in
der Ernährung der Gesamtbevölkerung
üblicherweise verzehrten Fettanteil.
Bei vorliegender Entzündung wird für
die parenterale Ernährung zunehmend
empfohlen, keine Fettlösungen mit ausschließlich langkettigen ω-6-Fettsäuren
(Sojaöl) anzuwenden, sondern diese mit
MCT (mittelkettigen Triglyzeriden), einfach
ungesättigten Fettsäuren („Olivenöl“) oder
ω-3-Fettsäuren („Fischöl“) zu kombinieren.
Mikronährstoffe
Die Zufuhr an Mikronährstoffen erfolgt
auf der Basis der DACH-Empfehlungen
für die Ernährung Gesunder (DACH =
Deutsche Gesellschaft für Ernährung,
Österreichische Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische Gesellschaft für
Ernährungsforschung, Schweizerische
Vereinigung für Ernährung).
Auf eine ausreichende Versorgung mit
Spurenelementen und Vitaminen ist zu
achten. Kontrovers diskutiert wird die
medikamentöse Zufuhr von Vitaminen
mit antioxidativer Wirkung, vor allem in
Megadosen, während Chemo- und/oder
Radiotherapie. Grund für die Warnungen
vor einer unkontrollierten bzw. hohen Zufuhr ist der Umstand, dass viele Chemotherapeutika (Alkylantien, Anthrazykline,
Mitomycin, Bleomycin, Etoposid) und
auch die Radiotherapie Tumorzellen durch
Schädigung mittels Radikalenbildung zer­stören, Tumorzellen die zugeführten Antioxidantien jedoch als Schutz gegen diese
Schädigung benutzen könnten. Unter
einer Therapie mit Velcade® (Bortezomib,
PS-341) sollen Patienten keine Vitamin CMedikation erhalten, da Vita­min C die
Wirkung des Chemotherapeutikums im
Zellversuch aufhebt. Denselben Effekt
hatten in einer aktuellen Untersuchung
verschiedene Polyphenole aus grünem
Tee. Auch bei der Einnahme von Multivitamin-/Multimineralstoffpräparaten
wird aus Sicherheitsgründen empfohlen, maximal die dreifache Menge der
Zufuhrempfehlun­gen der Fachgesellschaften an Spurenelementen und Vitaminen einzunehmen. Eine vitaminreiche
Ernährung ist ebenfalls sicher.
Bei enteraler Ernährung ist mit 1500 kcal
einer Standardnahrung im Normalfall der
Basisbedarf eines gesunden Erwachsenen an Spurenelementen und Vitaminen
gewährleistet.
Wird parenteral ernährt, müssen Spurenelemente und Vitamine immer zugegeben
werden, Elektrolyte können in den Nähr­
lösungen enthalten sein. Die DGEM-Leitlinie zur parenteralen Zufuhr von Wasser,
Elektrolyten, Spurenelementen und
Vitaminen orientiert sich bei ihren Empfehlungen zur Mikronährstoffzufuhr an
den Zufuhrempfehlungen amerikanischer
Fachgesellschaften. Auch diese basieren
auf Zufuhrempfehlungen für Gesunde.
4.1.3 Bedeutung
der Ernährungsberatung
4.1.4 D
ie sogenannten
„Krebsdiäten“
Ernährungsmaßnahmen sind eine wich­
tige unterstützende Behandlung, aber
keine Behandlung zur Heilung einer Krebs­erkrankung. Entgegen immer wieder
geäußerten Behauptungen gibt es bis
jetzt keine spezielle Ernährung im Sinne
einer „Krebsdiät“, die einen vorhandenen Tumor heilt und so eine spezifische
Tumortherapie ersetzen kann.
Angebliche Wirkmechanismen
von Krebsdiäten sind:
• die Aktivierung der Zellatmung,
Die „gesteuerte Wunschkost“ als Form
einer optimierten oralen Ernährung kann
am besten mit Hilfe der fachkundigen
Betreuung und Beratung durch eine Ernährungsfachkraft durchgeführt werden,
vor allem unter stationären Bedingungen. Diese Ernährungsfachkraft ist auch
der Ansprechpartner für Angehörige bei
Ernährungsfragen und Ansprechpartner
des Patienten zwischen und nach einer
onkologischen Therapie, wenn zu Hause
Ernährungsprobleme auftreten. Eine ver­mittelnde und damit sehr wichtige Stel­
lung in der Ernährungsbetreuung onkologischer Patienten haben Pflegekräfte. Sie
sollten besonders für die bestehenden
und auftretenden Ernährungsprobleme
und Ernährungsbedürfnisse von Patienten sensibilisiert sein, da sie im klinischen Alltag meist erster und wichtigster
Ansprechpartner des Patienten sind und
auch den intensivsten Kontakt zu ihm
haben.
• der Abbau von Tumorgiften,
• eine Steigerung der Verletzlichkeit
des Tumors,
• das Wiederherstellen des Stoffwechselgleichgewichtes,
• eine Entgiftung des Organismus sowie
• die Stimulation der Immunabwehr und
• eine Wachstumshemmung des Tumors
durch die gesteigerte Zufuhr einzelner
Nahrungsinhaltsstoffe.
Einige „Krebsdiäten“ haben eine Zusammensetzung, wie sie auch von den
Fachgesellschaften für eine gesunde und
krebspräventive Ernährung der Allgemeinheit empfohlen werden. So handelt es
sich oft um laktovegetabile Kostformen, in
denen der Eiweißbedarf durch Milch- und
Milchprodukte sowie pflanzliche Lebensmittel gedeckt wird bzw. um Ernährungsformen mit mäßigem Fleischverzehr,
bevorzugtem Verzehr von Vollkornprodukten, Obst und Gemüse sowie pflanzlicher
Fette. Zu meiden sind meist Zucker und
39 ___
___ 40
Weißmehlprodukte, Margarine, Salz, Koffein und Alkohol. Es gibt somit durchaus
„Krebsdiäten“, die nach Prüfung ihrer
Ausgewogenheit von einem Tumorpatienten bei Wunsch durchgeführt werden
können, allerdings nicht mit dem Ziel, das
Krebswachstum zu verhindern oder gar
die Krebserkrankung heilen zu können.
Häufig genannte „Krebsdiäten“ sind in
Tabelle 10 zusammengestellt. Von den fett
gedruckten Diäten ist abzuraten. Keinesfalls durchgeführt werden sollten Fastenkuren, mit denen der Tumor ausgehungert
werden soll oder einseitige, zu Mangelernährung führende Ernährungsformen.
Besonders beworben wird seit einiger
Zeit die sogenannte Transketolaselike-1 (TKL-1)-„Ketogene Diät“. Die
Diät stützt sich auf die Beobachtung,
dass fortgeschrittene Tumore gegenüber
gesunden Zellen eine höhere Glukoseaufnahme haben und mit zunehmender
Aggressivität auch stärker von Glukose
als Energiequelle abhängig sind. Der
Nachweis einer stärkeren Ausschüttung
des Enzyms Transketolase-like-1 im
Tumorgewebe soll ein Zeichen für das
Vorliegen einer dahin gehend im Tumorgewebe geänderten Stoffwechselsituation
sein. Diese Beobachtungen führten dazu,
• Annemüller und Ries: „Stoffwechselaktive Kost“
• Breuß: „Krebskur - total“
• Budwig: „Öl - Eiweiß - Kost“
• Burger: „Instinktotherapie“
• Gerson: „Diättherapie bösartiger Erkrankungen“
• Krebs: „Stoffwechseltherapie“
• Kuhl: „Milchsäurekost“
• Leupold: „Konservative Krebs-Therapie“ • Moermann: „Krebsdiät“
• Ohsawa (Kushi) Diät: „Makrobiotik“
• Reckeweg: „Homotoxinlehre“
• Schmidt: „Gesundheitskost“
• Seeger: „Rote Bete als Heilmittel“
• Transketolase-like1- „Ketogene Diät“ (nur unter ärztlicher Kontrolle und Betreuung
einer sachkundigen Ernährungsfachkraft!)
• Windstosser: „Heilkost“
• Zabel: „Ernährung des Krebskranken“
 Tabelle 10: Die wichtigsten sogenannten „Krebsdiäten“ *
* von den fett gedruckten „Krebsdiäten“ ist abzuraten!
eine strenge Begrenzung der Glukosezufuhr mit der Nahrung in Form einer
äußerst kohlenhydratarmen, eiweiß- und
energiebilanzierten und extrem fettreichen
„ketogenen Diät“ als Behandlungsansatz
bei bösartigen Tumoren zu erwägen. Die
Diät führt zu einem Stoffwechselzustand,
wie er beim Gesunden beim Fasten auftritt. Es gibt bisher keine veröffentlichten
wissenschaftlichen Untersuchungen, die
belegen, dass diese Art von Ernährung
einen günstigen Einfluss auf Tumore mit
Ausschüttung der TKL-1 hat. Zudem
muss vorher geklärt sein, ob der Tumor
des Patienten TKL-1 vermehrt ausschüttet. Eine ketogene Diät darf nur unter ärztlicher Aufsicht bei einer klaren Indikation
und dem Ausschluss von Kontraindikationen, nach einem ausführlichen Aufklärungsgespräch, einer Ernährungsanamnese und einer eingehenden internistischen
Untersuchung durchgeführt werden. Die
ketogene Diät erfordert eine Diätassistentin im Team, die stationäre Einleitung der
Diät sowie die regelmäßige ambulante
Weiterbetreuung des Patienten. Die für die
Diät angebotenen speziellen fettreichen
und mit Süßstoff gesüßten Nahrungsmittel sind nicht notwendig. Kritisch ist auch
anzumerken, dass es unklar ist, wie weit
Blutglukose- oder Insulinspiegel gesenkt
werden müssen, um negative Wirkungen
auf Tumorzellen zu erreichen.
Viele Studien belegen, dass Tumorzellen
Glukosetransporter überexprimieren, die
ihre halbmaximale Aktivität bereits im
niedrigen Glukosebereich um und unter
2mM (18 mg/dl) erreichen. Es ist deshalb
möglich, dass eine Glukoseabsenkung
unter physiologischen Bedingungen nicht
ausreicht, um die Glukoseversorgung
bösartiger Zellen zu gefährden.
4.2Grundlagen der
Ernährungstherapie
4.2.1Allgemeines
Die Ernährungstherapie wird individuell
in Abhängigkeit vom Ernährungszustand,
zusätzlich bestehenden Erkrankungen,
der Therapieform und dem klinischen
Zustand eines Patienten im Hinblick auf
die Applikationsart, die Kostform und
den Nährstoffbedarf festgelegt. In das
Gesamtkonzept mit einzubeziehen sind
die Wünsche und Lebensumstände des
Patienten sowie die Prognose des Tumorleidens.
4.2.2Ziele
Ziele einer Ernährungstherapie vor
und während der Tumortherapie sind:
• die Stabilisierung des Ernährungs­
zustandes, mindestens das Aufhalten
bzw. Mindern eines fortschreitenden
Gewichtsverlustes,
• eine Steigerung der Effektivität und
Reduktion von Nebenwirkungen der
Antitumortherapie,
• das Vermeiden von Therapieunter­
brechungen sowie
• der Erhalt oder eine Verbesserung der
Lebensqualität des Patienten.
Nach der Tumorbehandlung ist eine
Aufgabe der Ernährungstherapie, die
möglichen Langzeitfolgen der Tumortherapie zu lindern und die Lebensqualität zu
erhalten.
41 ___
___ 42
Weitere Ziele sind eine Verminderung des
Risikos von Komorbiditäten sowie die
Verhinderung eines Rezidivs und damit
letztlich die Steigerung der Wahrscheinlichkeit einer Überlebensverlängerung.
4.2.3 Indikationen
Eine Ernährungstherapie ist schon bei
drohender und generell bei bestehender
Mangelernährung indiziert. Merkmale
dafür sind ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust und eine anhaltend verminderte
Nahrungszufuhr. Spätestens bei einem
Gewichtsverlust von 5 % und mehr
vom gesunden Ausgangsgewicht wird
empfohlen, eine Ernährungsdiagnostik
durchzuführen, möglichst einschließlich
einer quantitativen und auch qualitativen
Erfassung der Energie- und Nährstoffzufuhr (siehe Kap. 3.5 Erfassung und
Diagnose von Mangelernährung).
Die Erfassung der Ernährungssituation
sollte so gestaltet sein, dass sich daraus
der Interventionsbedarf und geeignete
Maßnahmen ableiten. Bei Bedarf sollte
dann eine individuelle Ernährungs­
beratung erfolgen sowie Kontrolltermine
zur weiteren Ernährungsbetreuung ver­
einbart werden.
Jede Nahrungszufuhr sollte möglichst
physiologisch und komplikationsarm
sein. Daher ist so lange wie möglich eine
orale Ernährung anzustreben. Ist die orale
Ernährung mit üblichen Lebensmitteln unzureichend, kann die Ernährung zunächst
mit Trinknahrungen verbessert werden.
Ist die orale Ernährung auch dann noch
unzureichend oder ist eine orale Ernährung überhaupt nicht möglich, besteht die
Indikation zur Sondenernährung. Dies ist
bei einer zu erwartenden Nahrungskarenz
von mindestens 5 Tagen beziehungsweise
einer zu erwartenden unzureichenden
Ernährung des Patienten von mindestens
10 Tagen der Fall. Nahrungskarenz ist
definiert als orale Nahrungszufuhr unter
500 kcal/Tag, unzureichende Nahrungszufuhr als Nahrungszufuhr unter 60 %
des errechneten Bedarfs eines Patienten.
Nur wenn auch die enterale Ernährung
unzureichend oder unmöglich ist, sollten
Nährstoffe auf parenteralem Weg zugeführt werden.
Der Ernährungsbeginn erfolgt unmittelbar
nach Indikationsstellung, gegebenenfalls
mit einem Nahrungsaufbau über 2 bis 4
Tage. Dies ist besonders bei mangelernährten Patienten oder Patienten nach
längerer Nahrungskarenz von Bedeutung,
um ein potenziell tödliches „RefeedingSyndrom“ zu vermeiden (siehe Kap. 4.2.5).
Die Zufuhrmenge sollte generell den Fehlbedarf ersetzen. Bei weiterhin möglicher
oraler Ernährung ergeben sich kombinierte Ernährungsregimes aus oraler und enteraler und/oder parenteraler Ernährung.
4.2.4 F
ormen der
Ernährungstherapie
Orale Ernährung mit Trinknahrung
Die übliche orale Ernährung kann durch
Trinknahrungen optimiert werden, die
es in vielen Zusammensetzungen und
Geschmacksvarianten gibt, so dass jeder
Patient nach seinem individuellen Bedürfnis damit versorgt werden kann.
Eine Übersichtsarbeit über randomisierte,
kontrollierte Studien zum Effekt einer oralen
und enteralen Eiweiß-Energie-Supp­lementierung gegenüber keiner Supplementierung auf Gewicht, anthropometrische Daten
und Überleben erwachsener Patienten
ergab auch für Tumorpatienten positive
Effekte. In einer Untersuchung an Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die nicht mehr behandelt wurden,
trug vor allem die Zahl der Essperioden
und dabei die Zwischenmahlzeiten zu
einer Steigerung der Energie- und Nährstoffzufuhr bei. Eine aktuelle Erhebung an
Patienten mit oropharyngealen Tumoren
unter Radiotherapie allein oder unter
Radio-Chemotherapie zum Effekt einer
oralen Ernährungssupplementierung mit
zusätzlicher Trinknahrung ergab in der
supplementierten Gruppe einen signifikant niedrigeren Gewichtsverlust und in
der nur mit Radiotherapie behandelten
Gruppe eine geringere Zahl notwendiger
PEG-Anlagen (Perkutane Endoskopische
Gastrostomie).
Für Tumorpatienten besonders geeignet sind energie-, eiweiß- und fettreiche
Trinknahrungen. Die Erfahrung zeigt, dass
es wichtig ist, den Patienten selbst ausprobieren zu lassen, was ihm schmeckt.
Auch die Geschmacksrichtung der Trink­
nahrung sollte abwechslungsreich sein.
Diese Erfahrung bestätigt eine klinische
Erhebung zur Geschmackspräferenz
mangelernährter Patienten für verschiedene orale Trinknahrungen. Die Supplemente wurden insgesamt gut akzeptiert
und auch gut toleriert, allerdings gab es
unterschiedliche Präferenzen für verschiedene Produktarten (Milch- oder FruchtBasis) und Geschmacksrichtungen. Um
die Compliance zu verbessern, mussten
diese beiden Faktoren beachtet werden.
Enterale Ernährung
Voraussetzungen für eine enterale
Ernährung sind eine ungestörte MagenDarm-Passage, eine ungestörte Motilität
des Magen-Darm-Traktes sowie eine
weitgehend erhaltende beziehungsweise
ausreichende Verdauung und Resorption
der Nährstoffe.
Ein breites Produktangebot steht auch
hier zur Verfügung. Die verschiedenen
Produkte unterscheiden sich im Bezug
auf Eigenschaften wie Energiedichte
(0,75-2,4 kcal/ml), Art und Gehalt an
Pro­tein, Zusammensetzung der Fette, Ballaststoffgehalt, Osmolarität und
Viskosität. Sondennahrungen sind in der
Regel glutenfrei und enthalten Elektrolyte, Spurenelemente und Vitamine unter
Berücksichtigung der Referenzwerte der
Fachgesellschaften für Gesunde sowie
eines „Sicherheitszuschlages“. Zudem
müssen die gesetzlich vorgegebenen
Mindest- und Höchstmengen an Mikronährstoffen eingehalten werden.
Die Auswahl der Formuladiät zur enteralen Ernährung ist vom individuellen Bedarf
und den individuellen Anforderungen des
Patienten abhängig.
Im Vergleich zu selbst hergestellten Sondennahrungen bieten industriell hergestellte Produkte zahlreiche Vorteile: Sie
sind voll bilanziert, d.h. sie gewährleisten
bei alleiniger Gabe eine bedarfsgerechte
Versorgung mit allen lebensnotwendigen Nährstoffen und entsprechen den
ernährungsphysiologischen Kriterien
einer Normalkost. Aufgrund lebensmitteltechnischer Möglichkeiten kann bei der
industriellen Herstellung eine geringere
Viskosität (Zähflüssigkeit) als bei selbst
43 ___
___ 44
hergestellten Sondennahrungen erreicht
werden und damit das Risiko der Verstopfung auch kleinlumiger Sonden minimiert
werden. Industriell hergestellte Produkte
haben eine physiologische Osmolarität,
die bei selbst hergestellten Sondennahrungen schwer zu erreichen ist, und
gewährleisten damit eine deutlich bessere
Verträglichkeit. Durch die Herstellung unter sterilen Bedingungen sind sie zudem
hygienisch verlässlicher als eine selbst
gefertigte Sondenkost. Schließlich sind
industriell hergestellte Sondennahrungen
weniger zeitaufwändig und billiger. Selbst
hergestellte Sondennahrungen sollten
daher nicht verwendet werden.
Parenterale Ernährung
Ist auch eine enterale Ernährung unzureichend oder nicht möglich, besteht die
Indikation zur ergänzenden oder ausschließlichen parenteralen Ernährung.
In der Praxis ergänzen sich enterale
und parenterale Ernährung und sind zur
Verbesserung von Ernährungsparametern
und Immunstatus gleichwertig. Konzepte
zur parenteralen Ernährung sind die alleinige Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr,
eventuell mit einer basalen Kohlenhydratzufuhr, die hypokalorische, peripher-venöse Basisernährung, die zentral-venöse
Ernährung mit Komplettlösungen, der
nach Möglichkeit der Vorzug zu geben
ist, sowie die individuelle zentral-venöse
Ernährung mit Einzelkomponenten.
Letztere kommt bevorzugt bei Leber- und
Niereninsuffzienz zur Anwendung, da hier
spezielle Aminosäurenlösungen empfohlen werden, die in Komplettlösungen nicht
enthalten sind.
4.2.5 Refeeding-Syndrom
Eine leicht zu übersehende und unterschätzte Komplikation, besonders bei
langfristig mangelernährten Patienten, ist
das „Refeeding Syndrom“. Es tritt innerhalb von zwei bis vier Tagen nach Beginn
einer oralen, enteralen oder parenteralen
Ernährung auf und ist zunächst asymptomatisch.
Ursache ist eine Verminderung von SerumElektrolyten, besonders von Phosphat
(schwere Hypophosphatämie bei einem
Serum-Phosphat < 0,5 mmol/l), aber auch
von Kalium und Magnesium, eine Hyperglykämie sowie Flüssigkeits- und Natriumretention. Diese Veränderungen sind
Folge einer vermehrten Insulinsekretion
mit Beginn einer vor allem kohlenhydratreichen Ernährung oder intravenöser Glukosegaben und nachfolgender vermehrter
intrazellulärer Aufnahme von Phosphat.
Weitere Risikofaktoren sind zum Beispiel
lang anhaltendes Erbrechen und Diarrhoe,
chronischer Alkoholismus, ein unkontrollierter Diabetes mellitus, ein längerer „nil
per os“-Status in der Bauchchirurgie, maligne intestinale Fisteln, nasogastrisches
Absaugen, Fieber, Sepsis sowie ein höheres Alter. Lebensbedrohliche Komplikationen sind unter anderem Atemstillstand
(Hypophosphatämie), Herzrhythmusstörungen (Hypokaliämie, Hypokalzämie,
Hypomagnesiämie), Laktazidose und
neuropsychiatrische Störungen (Vitamin
B1-Mangel) sowie Lungenödeme (Flüssigkeits- und Natriumretention). Die Gefahr
eines „Refeeding-Syndromes“ macht die
Notwendigkeit eines gut kontrollierten Ernährungsaufbaus vor allem bei parenteraler Ernährung deutlich, gerade bei den oft
mangelernährten Tumorpatienten.
4.2.6 Förderung des Tumor­
wachstums durch
Ernährungstherapie?
Es wird immer wieder gefragt, inwieweit
Ernährung, vor allem enterale und parenterale Ernährung, das Tumorwachstum
fördert. Die Mehrheit der Studien, die die
Beziehung zwischen Tumorwachstum und
parenteraler Ernährung untersuchten, sind
Tierversuche. Allerdings können die Wirkungen parenteraler Ernährung auf experimentelle Tumore aus verschiedenen Gründen nicht auf den Menschen übertragen
werden. Gut kontrollierte klinische Studien
zur Beurteilung dieser Fragestellung gibt es
nicht. Es gibt jedoch eine Reihe von Beob­achtungen, alle an Patienten mit Kopfund Hals- oder gastrointestinalen Tumoren,
die enteral oder parenteral ernährt wurden.
Ein gesteigertes Tumorwachstum war
bei Patienten, die ihre übliche Ernährung
erhielten, nicht nachweisbar. Bei einem
Teil der Untersuchungen unter künstlicher
Ernährung war eine Proliferation von Tumorzellen zu beobachten. Es gibt jedoch
keine Belege dafür, dass die Anregung
des Tumorstoffwechsels im Vergleich zur
Stimulation der Körperzellen unverhältnismäßig hoch war.
Sollten jedoch unter klinischen Bedingungen Tumore durch Ernährungsmaßnahmen zu erhöhtem Wachstum stimuliert
werden, so könnte dies für eine gleichzeitige Chemo- und Radiotherapie durchaus
von Vorteil sein, da eine verbesserte
Durchblutung und Sauerstoffversorgung
des Tumors sowie eine Steigerung der
Teilungsrate die Wirkung dieser beiden
Therapieformen erhöht.
Da gesicherte Daten zum Einfluss einer
Ernährung auf das Tumorwachstum fehlen, sollte die Entscheidung zu jeder Art
von Ernährung eines Tumorpatienten von
diesen theoretischen Überlegungen nicht
beeinflusst werden.
4.3 E
rnährung bei Operationen
4.3.1 Indikationen
Prä- und perioperative Ernährung
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft
für Ernährungsmedizin zur enteralen und
parenteralen Ernährung und die Leitlinien
der ESPEN (Europäische Gesellschaft für
Klinische Ernährung und Stoffwechsel)
zur enteralen Ernährung empfehlen, bei
hohem ernährungsmedizinischem Risiko
eine Operation zu verschieben, um präoperativ über 10 bis 14 Tage eine gezielte
Ernährungstherapie durchzuführen. Ziel
dieser Maßnahme ist, die Energie- und
Nährstoffspeicher aufzufüllen und dadurch das Risiko post-operativer (infektiöser) Komplikationen zu reduzieren.
Nach der Definition der ESPEN besteht
ein hohes ernährungsmedizinisches
Risiko, wenn mindestens eines der
folgenden Kriterien zutrifft:
1. Gewichtsverlust über 10-15 %
innerhalb der letzten 6 Monate
2. Body-Mass-Index < 18,5 kg/m2
3. Subjective Global Assessment (SGA)
Grad C oder Nutritional Risk Screening
(NRS) ≥ 3
4. Serum-Albumin < 30 g/l
(bei fehlenden Anzeichen einer
hepatischen oder renalen Dysfunktion)
45 ___
___ 46
Besteht die Indikation zu einer präoperativen Ernährung, sollte diese zur Vermeidung nosokomialer Infektionen möglichst
prästationär ambulant durchgeführt
werden. Patienten, die ihren Energiebedarf präoperativ nicht mit normaler Kost
decken können, sollten zunächst zur
zusätzlichen Aufnahme von Trinknahrung
motiviert werden. Ist eine weiter gehende
präoperative Ernährungstherapie notwendig, sollte diese nach Möglichkeit enteral
erfolgen und schon vor der Krankenhausaufnahme begonnen werden. Diese
Indikation besteht auch bei Patienten
ohne Zeichen der Mangelernährung, die
perioperativ voraussichtlich länger als
7 Tage keine Nahrung zu sich nehmen
oder sich voraussichtlich länger als 10
Tage oral nur unzureichend (unter 60 %
der empfohlenen Energiezufuhr) ernähren
können.
Die Indikation zu einer ausschließlichen
parenteralen Ernährung besteht perioperativ nur bei absoluten Kontraindikationen
für eine enterale Ernährung, wie bei ausgeprägtem Kurzdarm oder einer chronischen Darmobstruktion mit relevanter
Passagestörung, z.B. bei Peritonealkarzinose. Kann der Energie- und Nährstoffbedarf durch orale und enterale Ernährung
allein längerfristig nicht gedeckt werden,
ist eine kombinierte enterale und parenterale Ernährung indiziert, besonders, wenn
die Energiezufuhr unter 60 % des Bedarfs
liegt und ein zentral-venöser Zugang zur
parenteralen Ernährung bereits vorhanden
ist. Muss ein zentral-venöser Zugang zum
Zweck der künstlichen Ernährung noch
gelegt werden, ist die Indikation in Abhängigkeit von der zu erwartenden Dauer der
parenteralen Ernährung zu stellen. Beträgt
diese < 4 Tage, ist eine kombinierte
Ernährung nicht erforderlich. Beträgt sie
4 bis 7 Tage, kann die Ernährung hypokalorisch mit 2 g Kohlenhydraten und
1 g Aminosäuren/kg KG und Tag über
einen peripher-venösen Zugang erfolgen.
Beträgt die Zeitdauer > 7 bis 10 Tage,
wird die Anlage eines zentral-venösen
Katheters empfohlen.
Perioperative Ernährung
Unmittelbar vor einer Operation können
Patienten ohne spezifisches Aspirationsrisiko in der Regel bis 2 Stunden vor Narkosebeginn klare Flüssigkeiten trinken.
Feste Nahrung ist bis zu 6 Stunden vorher
erlaubt. Vor großen chirurgischen Eingriffen werden für die meisten Patienten
(keine Störung der Magenentleerung, kein
Diabetes mellitus) kohlenhydrathaltige
Getränke am Vorabend und bis 2 Stunden
vor der Operation empfohlen. Enteral
nicht ernährbare Patienten erhalten
innerhalb der letzten 12 Stunden vor der
Operation intravenös 200 g Glukose.
Postoperative Ernährung
Postoperativ ist eine Unterbrechung der
Nahrungszufuhr bei den meisten Patienten nicht erforderlich. Auch nach gastrointestinalen Eingriffen kann frühzeitig mit
einem normalen Kostaufbau oder einer
enteralen Ernährung begonnen werden.
Bei den meisten Patienten nach Kolonresektionen ist der orale Kostaufbau postoperativ mit der Gabe klarer Flüssigkeit
innerhalb weniger Stunden möglich. Die
orale Nahrungsaufnahme ist jedoch an die
Art der Operation und an die individuelle
Toleranz des Patienten anzupassen (siehe
Kap. 4.3.3 Operationen mit speziellen
Ernährungsrichtlinien).
Ist ein früher oraler Kostaufbau nicht
möglich, wird eine Sondenernährung
empfohlen, speziell bei Patienten nach
schweren Tumoroperationen im Hals-,
Kopf- oder Gastrointestinalbereich, bei
Patienten mit schwerer Mangelernährung
zum Zeitpunkt der Operation und bei
Patienten mit voraussichtlich unzureichender (unter 60 %) Nahrungsaufnahme über
mehr als 10 Tage postoperativ. Besteht
die Indikation zur Sondenernährung, soll
bei großen gastrointestinalen Eingriffen für
alle Patienten die Anlage einer Feinnadelkatheterjejunostomie (FKJ) oder einer
nasojejunalen Sonde erfolgen. Bei Anastomosen am oberen Gastrointestinaltrakt
soll die Sondenspitze distal der Anastomose liegen. Im Fall einer über 4 Wochen
notwendigen enteralen Ernährung besteht
die Indikation zur Anlage einer perkutanen
Sonde (z.B. PEG, FKJ).
Mit der Sondenernährung sollte innerhalb 24 Stunden nach dem chirurgischen
Eingriff begonnen werden. Aufgrund limitierter Toleranz wird eine Sondenernährung mit einer geringen Menge, z.B. 10
bis maximal 20 ml/h, empfohlen. Es kann
5 bis 7 Tage dauern, bis der Energiebedarf auf enteralem Wege gedeckt werden
kann, was kein Nachteil ist.
4.3.2 Art der Nahrung
Standardnahrung versus
Immunonutrition
Die meisten Patienten können mit hochmolekularen Standardnahrungen ernährt
werden. Perioperativ werden für Patienten
mit großen Tumoroperationen (Larynx-,
Pharynx-Oesophagusresektionen, Gastrektomie und Duodeno-Pankreatektomie)
unabhängig vom Ernährungszustand bevorzugt immunmodulierende Nahrungen
mit Zusatz von Arginin, ω-3-Fettsäuren
und Nukleotiden empfohlen. Wenn möglich, sollte mit diesen Nahrungen 5 bis 7
Tage vor der Operation begonnen und die
Anwendung nach komplizierten Eingriffen
über 5 bis 7 Tage postoperativ fortgesetzt
werden.
Glutamin
Für schwer mangelernährte, enteral nicht
adäquat ernährbare und daher parenteral ernährte Patienten besteht derzeit in
der elektiven Chirurgie postoperativ die
Indikation zur parenteralen Gabe von
Glutamin-Dipeptidlösungen.
Zur Sicherung einer effektiven Ernährungs­therapie in der Chirurgie wird empfohlen,
klinikinterne standardisierte Ernährungsschemata zu erstellen.
47 ___
___ 48
4.3.3 Operationen mit speziellen Ernährungsrichtlinien
Nachfolgend sind Folgeerkrankungen und
ernährungstherapeutische Maßnahmen
nach Ösophagektomie, Gastrektomie,
ausgedehnten Operationen im Bereich
von Dünn- und Dickdarm, Pankreatektomie und nach Ileo- und Kolo-StomaAnlage zusammengestellt. Auf medikamentöse, möglicherweise endoskopisch
durchführbare oder weiter notwendige
operative Maßnahmen wird nicht immer
eingegangen. Es empfiehlt sich, in die
Betreuung und Beratung dieser Patienten
ernährungsmedizinisch ausgebildete,
erfahrene Ärzte und Ernährungsfachkräfte
einzubeziehen. Besonders Patienten mit
Kurzdarmsyndrom benötigen eine individuelle, langfristige Hilfe.
Ösophagektomie
Postoperativ empfiehlt sich für die ersten
Tage eine enterale Ernährung über eine distal der Anastomose liegende Sonde. Darf
der Patient essen, ist nach dem Kostaufbau eine leichte Vollkost mit 4 bis 6 kleinen
Mahlzeiten unter Beachten individueller
Unverträglichkeiten indiziert. Vor allem
am Abend sollten keine voluminösen und
ballaststoffreichen Mahlzeiten gegeben
werden. Die meisten länger überlebenden
Patienten nach Operation eines Ösophaguskarzinoms haben eine zufriedenstellende Lebensqualität. Mögliche auftretende
Probleme sind eine multifaktorielle Inappetenz mit nachfolgender Mangelernährung,
eine Anastomosenstenose (in 10 bis 56 %)
mit Dysphagie, Refluxbeschwerden (in 21
bis 58 %) mit Ösophagitis, bei der häufig
durchgeführten hohen Vagotomie eine
chronische Magenentleerungsstörung
sowie als Komplikation der subtotalen
Ösophagektomie eine vorübergehende
oder dauernde Schädigung von Nerven
mit der Folge von Heiserkeit, Dysphagie
und Aspiration.
Bei Refluxbeschwerden und Ösophagitis
sind scharfe und saure Speisen und Getränke sowie Gewürze und Alkoholika
zu meiden. Alkoholika (Wein und Bier) erhöhen den Säuregrad des Magensaftes und
begünstigen einen Reflux. Sie reizen aber
– ebenso wie saure Getränke und scharfe
Gewürze und Speisen – auch die Schleimhaut. Im Liegen ist das Höherstellen des
Kopfendes hilfreich. Das Völlegefühl bei
chronischer Magenentleerungsstörung wird
durch voluminöse, ballaststoffreiche Mahlzeiten und hypertone Getränke gesteigert.
Gastrektomie
Nach Gastrektomie ist die Reservoirfunktion des Magens und damit die dosierte
Abgabe des Speisebreies in das Duodenum gestört bzw. aufgehoben. Dabei
bereitet eine teilweise oder subtotale
Gastrektomie meist weniger Probleme als
eine totale. Unter den in Tabelle 11 aufgeführten Problemen nach Gastrektomie
sind das Früh- und Spät-Dumpingsyndrom sowie die Syndrome der zu- und
abführenden Schlinge mit den heutigen
Operationstechniken selten geworden.
Das wesentliche ernährungsmedizinische
Problem ist eine unzureichende Deckung
des Energie- und Nährstoffbedarfs. Bei 10
bis 20 % der Patienten mit einer Magenteilresektion und bei 60 % der Patienten
mit totaler Gastrektomie liegt das Körper­
gewicht unter der Norm. Ursache sind
eine unzureichende Nahrungsaufnahme
infolge Inappetenz und eine Malassimila-
Syndrom
Klinik
Ursache
Diagnostik
„Frühdumping“
Nausea, Emesis, epigastrisches Druck- bzw.
Völlegefühl, Tenesmen,
Stuhldrang, vasomotorische Beschwerden wie
Schweißausbruch und
Schwindel bis zu 30 Min.
postprandial
rascher Übertritt von
­hypertonem Mageninhalt in den Dünndarm
mit nachfolgender Ver­schiebung von Plasmavolumen und Ausschüttung von Hormonen
(Serotonin, Bradykinin)
Magen-Darm-Passage,
Klinik
„Spätdumping“
reaktive Hypoglykämie
90 – 180 Minuten
postprandial
hohe Insulinausschüttung durch eine schnelle
Passage leicht resorbierbarer Kohlenhydrate
Glukosetoleranztest
Biliärer Reflux
(bei 50%)
Sodbrennen,
Ösophagitis
Gallereflux bzw. saurer
Reflux nach partieller
Gastrektomie
Endoskopie
Syndrom der
zuführenden
Schlinge
postprandiales Völlegefühl, dumpfe oder
kolikartige Schmerzen
oder plötzliches galliges
Erbrechen
Typ I: Passage von
Speisen in zuführende
Schlinge
Sonographie,
Magen-Darm-Passage,
MRT (Magnetresonanztomographie)
Syndrom der
abführenden
Schlinge
akut: Symptome des
hohen mechanischen
Ileus
chronisch: intermittierendes Erbrechen mit
Beimengungen von
Nahrungsbestandteilen
und Galle
Obstruktion der
abführenden Schlinge
Magen-Darm-Passage,
Endoskopie
Pankreatikozibale
Asynchronie
Steatorrhoe
(bei 16 – 43 %)
unzureichende
Durch­mischung des
Nahrungsbreies mit
Pankreassekret
Therapie mit
Pankreasfermenten
Typ II: gestörter Zufluss
von Pankreassekret und
Galle in den abführenden Dünndarm
 Tabelle 11: Mögliche Komplikationen und deren Diagnostik nach Gastrektomie
tion. Ursächlich für die Malassimilation
werden eine verminderte Verdauung von
Nährstoffen als Folge einer unzureichenden Durchmischung des Speisebreies
mit Bauchspeicheldrüsensekret durch die
schnelle Passage des Speisebreies (sogenannte „pankreatikozibale Asynchronie“),
eine bakterielle Fehlbesiedelung des oberen Gastrointestinaltraktes aufgrund der
fehlenden Säurebarriere im Magen, Stase
49 ___
___ 50
beim Syndrom der zuführenden Schlinge,
eine reduzierte Gallensäurekonzentration
in den proximalen postanastomotischen
Dünndarmabschnitten und das Fehlen des
Intrinsic Factors angesehen. Bei 50 % der
Patienten besteht auch eine Laktoseintoleranz. Die Angaben zur Häufigkeit von
Mängeln und Folgen der Malassimilation
nach Gastrektomie sind für die einzelnen
Nährstoffe unterschiedlich. Ein Eisenmangel wird bei 40 bis 70 % der Patienten
an­gegeben, ein Vitamin B12-Mangel bei
36 bis 80 %, ein Folsäuremangel bei 33
bis 41 %, ein Vitamin D-Mangel bei bis
zu 50 %, ein Kalziummangel bei bis zu
30 % (und folglich mehrere Jahre nach
Gastrektomie ein sekundärer Hyperparathyreoidismus) und eine Störung der
Knochenmineralisation („Postgastrektomie-Osteopathie“) altersabhängig bei
15 bis 75 % der Patienten. 30 bis 75 %
leiden unter einer Anämie.
Nach Gastrektomie ist eine frühzeitige Ernährungsberatung des Patienten wichtig,
um eine Mangelernährung zu begrenzen
und Nährstoffdefizite rechtzeitig auszugleichen. Die Grundlagen der Ernährungs-
• Basis „leichte Vollkost“ mit mehreren (zunächst bis zu 10, später 6-8), kleinen,
über den Tag verteilten Mahlzeiten
• Langsam essen
• Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten
• Zu den festen Speisen maximal 1/2 Tasse Flüssigkeit; 15 Min. vor und 30 Min. nach
einer Mahlzeit keine größeren Mengen trinken
• Beim „Früh-Dumping“ Verzehr eines Stückes Brot 15 Min. vor der Mahlzeit; natriumarm essen (Salz erhöht die Osmolarität!); Nahrungsaufnahme im Liegen, evtl.
Anlegen einer Bauchbinde
• Bei „Spätdumping“ schnell aufnehmbare Kohlenhydrate meiden, z.B. Lebensmittel und Getränke mit Zucker, Honig und Sirup, Maltodextrin. Als Ersatz Süßstoffe
verwenden. Zusatz von Pektin, Guar zu den Mahlzeiten bzw. Einnahme von Acarbose. (Abnehmende Intensität der Symptome mit der Zeit (2/3 nach ca. 10 Jahren
beschwerdefrei!)
• Bei Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) milchzuckerfreie Milch und
Milchprodukte oder Sojaprodukte (mit Kalzium angereichert) verwenden
• Bei Fettunverträglichkeit und höhergradiger Steatorrhoe Koch- und Streichfett durch
ein spezielles Fett mit mittelkettigen Fettsäuren (MCT) ersetzen (MCT-Basis plus
Margarine und Öl)
• Wenn verträglich, Bevorzugung ballaststoffhaltiger Lebensmittel
• Bei pankreatikozibaler Asynchronie Substitition von Pankreasfermenten
• Parenterale Vitamin B12-Zufuhr (auch bei partieller Gastrektomie oder bakteriellem
Abbau nötig!). An weitere Vitamin-und Spurenelementdefizite ist zu denken!
 Tabelle 12: Ernährung nach Gastrektomie
therapie sind in Tabelle 12 zusammengefasst. Eine Vitamin B12-Substitution ist
Standard, auch bei partieller Gastrektomie, da eine unzureichende Zufuhr mit der
Nahrung, ein Mangel an Intrinsic Faktor
oder ein Abbau durch Bakterien zum
Vitamin B12-Mangel führen kann. Da die
Leber über Vitamin B12-Reserven von bis
zu 2 Jahren verfügt, kann ein Mangel erst
nach Jahren auftreten.
Kurzdarmsyndrom
Zentraler Pathomechanismus beim
Kurzdarmsyndrom ist die Reduktion der
funktionellen Oberfläche des Dünndarmes
mit verkürzter Kontaktzeit des Darminhaltes in Abhängigkeit von der Grunderkrankung, dem Ausmaß der Resektion,
den betroffenen Dünndarmabschnitten,
dem Vorhandensein der Ileozökalklappe,
dem Vorhandensein des Dickdarmes, der
Funktion und Physiologie des Restdarmes
und vom zeitlichen Abstand zur Operation.
Der Dünndarm ist etwa 3 m lang, die
Länge des Jejunums beträgt etwa 1,2 m,
die des Ileums etwa 1,5 m. Von besonderer Bedeutung sind das terminale Ileum
und die Dickdarmklappe (Ileozökalklappe
oder Bauhin‘sche Klappe), der Übergang
zum Dickdarm, da ausschließlich dort die
Rückresorption der Gallensäuren stattfindet. Nach einer Resektion von bis zu
50 % des Dünndarmes kann in der Regel
der Verlust an Resorptionskapazität durch
Adaptation des Restdarmes ausgeglichen
werden, ab einer Entfernung von über 75 % kommt es in der Regel zu einer ausgeprägten Malabsorption und Malnutrition.
Ab einer Restlänge von unter 100 cm
ist häufig eine parenterale Ernährung
notwendig.
Nach Jejunumresektion kommt es zu
einer beschleunigten Magenentleerung.
Ursache ist die abnehmende reflektorische Hemmung der Magenentleerung
durch den Speisebrei. Günstig ist, dass
ein Großteil der Resorptionskapazität des
Jejunums vom Ileum übernommen werden kann. Da die stärkste Laktaseaktivität
im proximalen Dünndarm vorhanden ist,
ist eine Laktoseintoleranz häufig.
Ernährungsrelevante Probleme nach einer
Ileumresektion hängen vom Ort und der
Ausdehnung der Resektion ab. Eine Resektion von 50-100 cm terminalen Ileums
führt zu einem kompensierten Gallensäureverlustsyndrom. Es tritt zwar eine chologene Diarrhoe mit wässerigen Durchfällen
auf, aber die Fettresorption ist noch erhalten. Da Gallensäuren ausschließlich im
terminalen Ileum rückresorbiert werden,
gehen bei einer Resektion von über 1 m
terminalen Ileums vermehrt Gallensäuren
verloren und ihr Pool verringert sich. Die
Abnahme der Gallensalzkonzentration in
der Galle führt zum Unterschreiten der
kritischen mizellären Konzentration mit
Fettmaldigestion und Fettmalabsorption
und damit zur Steatorrhoe (dekompensiertes Gallensäureverlustsyndrom). Damit
verbunden ist eine Resorptionsstörung
der fettlöslichen Vitamine A, D, E und K.
Der Gallensäureverlust ist auch Ursache
einer vermehrten Lithogenität der Galle
und Gallensteinbildung. Die durch die geringe Gallensäurekonzentration verzögert
resorbierten Fettsäuren bilden mit Kalzium
unlösliche Kalkseifen. Damit steht weniger
Kalzium zur Bildung von wasserunlöslichem Calciumoxalat zur Verfügung und
es wird mehr freie, mit der Nahrung aufgenommene Oxalsäure resorbiert. Zudem
gelangt mit den Gallensalzen mehr Glyzin
51 ___
___ 52
ins Kolon, das nach bakterieller Umwandlung in Glyoxalat in der Leber in Oxalsäure umgewandelt wird. Die gesteigerte
Oxalsäureresorption kann zur Bildung von
Oxalatharnsteinen führen. Auf oxalsäurereiche Lebensmittel sollte dann verzichtet
werden (siehe Tabelle 13).
Die Ileozökalklappe beeinflusst zusammen mit dem terminalen Ileum den
proximalen intestinalen Transit (sogenannte Ileumbremse). Auch verhindert sie bei
Bewegungsstörungen des Dünndarmes
ein Aufsteigen von Dickdarmbakterien
und eine nachfolgende bakterielle Fehlbesiedelung. Bei Resektion der Ileozö­
kalklappe ist die Transitzeit verkürzt und
die Kontaktzeit des Darminhaltes mit der
Darmwand vermindert. Die Keimaszension kann durch Störung der Gallensäurerückresorption infolge bakterieller Dekonjugation zu einer Steatorrhoe führen.
Nach Dünndarmresektion wird auch eine
passagere Hyperazidität des Magens beobachtet. Bei einem Verlust des Dünndarmes ist der zusätzliche Verlust des Kolons
besonders gravierend, da hier der Stuhl
konzentriert wird und Flüssigkeitsverluste begrenzt werden können. Ab einer
Dünndarmrestlänge von < 100 cm ist bei
fehlendem Kolon von einer negativen
Flüssigkeitsbilanz auszugehen und eine
parenterale Flüssigkeitssubstitution notwendig. Bei vorhandenem Kolon ist die
Flüssigkeitsresorption meist ausreichend
und die Adaptation des verbleibenden
Dünndarmes besser.
Die Resorptionsorte von Eiweiß und
Kohlenhydraten sowie von Elektrolyten,
Spurenelementen und Vitaminen sind zur
Diagnostik und Therapie möglicher Mängel in Tabelle 14 zusammengestellt.
• Individuelle Ernährung in Abhängigkeit vom Ort und der Ausdehnung der Operation
• Kostumstellung allmählich beginnend mit 10 % des täglichen Energiebedarfs und
einer Steigerung um 10 % alle 3-7 Tage
• Basis: „leichte Vollkost“ mit 6-8 kleinen, ballaststoffarmen Mahlzeiten.
Essen und Trinken trennen. Zusatznahrung.
• Individuelle Lebensmittelunverträglichkeiten beachten (Laktoseintoleranz!)
• Fettzufuhr bis zu 40 % der Gesamtenergiezufuhr mit je 50 % mittel(MCT-Basis plus Margarine und Öl) und langkettigen Fettsäuren
• Je geringer das Restjejunum, um so höher ist der Energiebedarf.
(bei < 100 cm Restjejunum Resorption von zunächst nur 50-60 % der
oral zugeführten Energie!)
• Oxalsäurereiche Lebensmittel vermeiden: Spinat, Mangold, Rhabarber,
Sauerampfer; größere Mengen Kakaopulver und dunkle Schokolade
• Substitution von Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen
• Eventuell zusätzlich parenterale Ernährung (Flüssigkeit!)
 Tabelle 13: Ernährung bei Kurzdarmsyndrom
Resorption von Kohlenhydraten und Proteinen
• in allen Dünndarmabschnitten möglich
• daher allein Ausmaß der Resektion bedeutsam
• „ruhende“ funktionelle Reserve bis zu 70 %
Resorption von Vitaminen und Spurenelementen
• Vitamin B12 nur im terminalen Ileum
(keine Übernahme durch andere Darmabschnitte)
• Folsäure und Vitamine des B-Komplexes im gesamten Dünndarm
• Eisen, Kalzium und Magnesium überwiegend duodenal
• Verlust von Kalzium und Magnesium auch durch Kalkseifenbildung
infolge Fettmalabsorption
• Verstärkung der gestörten Kalzium-Aufnahme durch Vitamin D-Mangel
• S
purenelemente entlang des gesamten Dünndarmes:
Mangel Folge der Ausdehnung der Resektion
 Tabelle 14: Resorptionsorte von Makro-und Mikronährstoffen im Dünndarm
Eine teilweise Dünndarmresektion führt
in den Restabschnitten zu Anpassungen
von Struktur und Funktion. Die Größe von
Zotten und Krypten nimmt zu und Partialfunktionen können gesteigert werden,
zum Beispiel die Expression des NatriumGlukose-Kotransportes. Zudem wächst
der Darm in Länge und Durchmesser, und
ein geändertes Motilitätsmuster führt zu
einer verlängerten Kontaktzeit.
Diese Anpassung läuft in drei Phasen ab
(Tabelle 15). In den ersten beiden Phasen
adaptiert sich der verbleibende Darm in­nerhalb von bis zu 2 Jahren. In der dritten,
der Erhaltungsphase, ist es Ziel der Thera­pie, anhaltende Funktionsstörungen zu
beseitigen und Entwicklungen von Mängeln zu verhindern.
Ab 60 bis 80 cm Restdarm wird postoperativ mit einer oralen Ernährungstherapie
so früh wie möglich begonnen, um schnell
eine maximale Anpassung des Restdarmes zu erreichen. Die Grundprinzipien
der Ernährungstherapie sind in Tabelle 13
und Tabelle 15 zusammengestellt.
Tabelle 16 gibt zudem eine Übersicht
über die Mikronährstoffsupplementierung.
Die über eine lange Zeit notwendige Betreuung von Patienten mit Kurzdarmsyndrom benötigt ein Team mit besonderen
Fachkenntnissen, wenn möglich in einer
Spezialambulanz.
53 ___
___ 54
Phase
Charakteristikum
Zeitraum
Ernährungstherapie
I
Stuhlvolumina
> 2,5 l
Hypersekretion
4-12 Wochen
TPN, Elektrolytersatz, frühe
enterale Ernährung
(„Zottenfütterung“)
II
Stuhlvolumina
< 2,5 l
Adaptation
4 Wochen
bis 2 Jahre
Ergänzung/Ersatz der TPN
durch enterale Ernährung,
vorsichtiger Kostaufbau
III
Maximale Adaptation
bis 2 J ahre
Nach 3 Monaten
normale Ernährung, ggf.
mit Supplementierung
(Trinknahrung, Sondenkost,
Vitamine, Spurenelemente),
ggf. zusätzlich parenterale
Ernährung
 Tabelle 15: Adaptationsphasen des Kurzdarmsyndroms (Amasheh et al. 2007)
Fettlösliche Vitamine
Vitamin D
10 000 IE Cholecalciferol
Vitamin A
50 000–150 000 IE
Vitamin K
15 mg
Wasserlösliche Vitamine
Vitamin C
500 mg
Vitamin B12 1 mg i.m. alle 8 Wochen
Folsäure
5–15 mg
Mineralien/Spurenelemente
Kalzium
1–2 g
Magnesium
50–400 mg
Eisen
100–150 mg
Zink
300 mg
Phosphat
30–45 mmol
Selen
60–100 μg
 Tabelle 16: Tägliche Mikronährstoff­supplementierung bei Kurzdarmsyndrom (Amasheh et al. 2007)
Kolonresektionen
Das Kolon resorbiert einen großen Teil der
Ileumflüssigkeit sowie der darin enthaltenen Kohlenhydrate. Zudem werden dort
kurzkettige Fettsäuren resorbiert. Bei
Verlust des Kolons kann es zu erheblichen
Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten und
auch einem Verlust an Makronährstoffen
kommen. Dennoch gibt es nach Kolonresektionen keine spezifische Ernährung.
Es wird lediglich empfohlen, auf individuelle Intoleranzen sowie Flüssigkeits- und
Elektrolytverluste zu achten.
jede Zubereitungsform die individuelle
Toleranz zu ermitteln. In der Phase des
Kostaufbaus sollte höchstens ein neues
Lebensmittel pro Tag in nicht zu großer
Menge zugelegt werden.
Erst nach etwa 8 bis eventuell 12 Wochen
kommt es zu einer Stabilisierung der
Stuhlbeschaffenheit, die jedoch flüssig bis
breiig bleibt. Die Ernährungsrichtlinien bei
Ileostoma sind in Tabelle 17 zusammengestellt.
Dünndarmstoma (Ileostoma)
Ziel der Ernährungstherapie bei Ileostoma
ist, in Abhängigkeit vom Restdarm einen
Flüssigkeits- und Elektrolytverlust und
auch eine chemische Reizung des Stomas durch Lebensmittel zu vermeiden.
Eine Einheitsdiät für Stomaträger gibt es
nicht. In Abhängigkeit von der Restdarmfunktion ist für jedes Lebensmittel und
• Basis: Prinzip der „leichten Vollkost“
• Langsam essen und trinken
• Ballaststoffe < 20–30 g/d
• Evtl. milchzuckerreduzierte Kost
• Säurearm, mild gewürzt
• Abdominelle Beschwerden bei 40–60 % durch: gebratenes Fleisch, Fisch,
Bohnen, Erbsen, Blattkohlgemüse und Rhabarber
• Ausreichende Trinkmenge wichtig: ca. 3 l pro Tag. Mindestens Produktion
von 1 l Urin pro Tag (Gefahr des prärenalen Nierenversagens).
Nicht überhastet trinken! (Steigerung des Stomavolumens!)
• Kochsalzaufnahme 6–9 g pro Tag
• Quellende Lebensmittel, flüssigkeitsbindende Präparate (Pektine),
industriell hergestellte Dickungsmittel (Guar)
 Tabelle 17: Ernährung bei Dünndarmstoma
55 ___
___ 56
Dickdarmstoma (Kolostoma)
Ziele der Ernährungstherapie sind, unter
einer bedarfsgerechten Ernährung eine
möglichst normale Stuhlfrequenz und
Stuhlkonsistenz zu erreichen, eine peristomale Hautreizung zu vermeiden sowie
den Windabgang und die Geruchsentwicklung gering zu halten.
Die Stühle sind zu Beginn des Kostaufbaus oft flüssig und weich. Bei funktionsfähigem Dünndarm wird nach einer etwa
zweiwöchigen Anpassungsphase eine
normale Stuhlbeschaffenheit erreicht.
Grundlage der Ernährungstherapie sind
ein geregelter Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten und ein langsames Essen
und gutes Kauen. Ernährungsempfehlungen zu den verschiedenen Problemen bei
vorhandenem Kolostoma gibt Tabelle 18.
• Keine festgelegte Diät
• Bis zu 1 Jahr „leichte Vollkost“ empfehlenswert
• Regelmäßige Mahlzeiten
• Ausreichende Nährstoffzufuhr beachten
• Blähungsfördernd
kohlensäurehaltige Getränke (Sekt, Bier, Federweißer), koffeinhaltige Getränke,
frisches Obst, Birnen, Rhabarber, Hülsenfrüchte, Kohlgemüse, Paprika, Zwiebeln,
Knoblauch, Spargel, Schwarzwurzeln, Pilze, frisches Brot, Pumpernickel, Eier,
Eiprodukte, Mayonnaise
• Blähungshemmend
Kümmel, Fenchel, Anis (Gewürz, Öl, Tee), Heidelbeeren, Preiselbeeren, Joghurt
• Geruchsfördernd
Kohlgemüse, Bohnen, Spargel, Pilze, Zwiebeln, Knoblauch, Schnittlauch, Eier,
­Eiprodukte, Fleisch, Fleischerzeugnisse, v.a. Geräuchertes und Gebratenes, Fisch,
Fischerzeugnisse, Käse, v.a. vollreife und vollaromatische Hartkäse, scharfe Gewürze
• Geruchshemmend
Petersilie, Spinat, Heidelbeeren, Preiselbeeren, grüner Salat, Joghurt
• Abführende Wirkung
Milch und gesäuerte Milchprodukte, alkoholische, koffein- und kohlensäure­haltige Getränke, Säfte, Rohkost, frisches Obst, Feigen, Trockenpflaumen,
Vollkorn­produkte, fette und gebratene Speisen, scharfe Gewürze
• Stopfende Wirkung
Kakao, Schokolade, Schwarztee, Hafer- und Reisschleimsuppe, Weißmehlprodukte
(abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck), geriebener Apfel, Banane,
Heidelbeeren, gekochte Karotten, Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis,
trockener Käse, Kokosflocken
 Tabelle 18: Ernährung bei Dickdarmstoma
Operationen im Bereich des Pankreas
Die Bauchspeicheldrüse hat bei der
Verdauung und im Stoffwechsel in- und
exkretorische Funktionen. Endokrin wird
in den α-Zellen der über das ganze Pankreas verteilten Langerhans‘schen Inseln
Glukagon und in den β-Zellen Insulin
gebildet. Die exokrine Funktion besteht in
der Produktion von Verdauungsenzymen
zur Spaltung von Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten sowie von Elektrolyten, vor
allem Natrium, Kalium und Chlorid sowie
Hydrogenkarbonat. Der Ausfall der endokrinen Funktion führt zu einem Diabetes
mellitus, ein Ausfall der exokrinen Pankreasfunktion zur Beeinträchtigung der
Nahrungsausnutzung mit einer Fettmaldigestion und Steatorrhoe als führendem
Symptom. Aber auch bei totalem Ausfall
des exokrinen Pankreas enthält der Stuhl
nur ca. 60 % der zugeführten Fettmenge.
Eine Fettrestriktion wird daher nicht als
Entferntes Organ
erste Maßnahme empfohlen. Die Aus­
prägung der Symptome ist von der Art
und Ausdehnung des operativen Eingriffes abhängig (Operation nach KauschWhipple: Entfernung von Pankreaskopf,
2/3 des Magens, Duodenum, Gallenblase;
pyloruserhaltende Pankreaskopfresektion
nach Traverso-Longmire: Entfernung von
Pankreaskopf, Duodenum, Gallenblase)
(Tabelle 19).
Grundsätzlich erhalten alle Patienten
eine Enzymtherapie in beschwerdeadaptierter Dosis. Auch bei totaler Pankreasentfernung können damit 80 bis 100 g
Fett meist bedarfsdeckend ausgenutzt
werden. Dabei ist eine Fettzufuhr in
halbflüssiger Form günstiger als eine in
fester Form. Bei erhaltener Magensäuresekretion werden Pankreasenzyme in
Form säuregeschützter Mikrotabletten
oder Mikropellets (Durchmesser ≤ 2 mm)
gegeben. Ein Mangel an fettlöslichen
Op-bedingte Folgen
Ernährungstherapie
Kopf
Verdauungsinsuffizienz,
evtl. Diabetes mellitus
energiereich,
fettmodifizierte Kost,
evtl. Diabetes-Prinzip
Schwanz
endokrine Insuffizienz,
evtl. exokrine Insuffizienz
Kost mit Diabetes-Diät-Prinzip,
evtl. fettmodifizierte Kost
Totalresektion
exokrine und endokrine
Insuffizienz
Fettmodifizierte Kost und
Diabetes-Diät-Prinzip
Magen (2/3 Resektion)
evtl. Dumping-Syndrom, Malassimilation, evtl. Laktoseintoleranz,
Mangelernährung
viele kleine Mahlzeiten,
fettmodifiziert, evtl. meiden
schnell aufnehmbarer
Zuckerstoffe, evtl. laktosearm,
Essen und Trinken trennen
Duodenum
Maldigestion, Malabsporption
wie oben
Pankreas Teilresektion
 Tabelle 19: Ernährungstherapie nach Operationen im Bereich des Pankreas
57 ___
___ 58
Vitaminen, evtl. auch Vitamin B12 ist
auszugleichen. Nach Kausch-Whipplescher Operation liegt die Inzidenz eines
Diabetes mellitus bei 20-50 %. Er wird
mit intensivierter Insulintherapie behandelt. Die Hauptgefahr dieser Folgeerkrankung liegt im Auftreten von Hypoglykämien, da der Mangel auch an Glukagon zu
keiner Gegenregulation führt. Grundlage
der Ernährung ist eine eher leichte, vor
allem gut verträgliche Vollkost.
Bei biliodigestiver Anastomose besteht
eine erhöhte Gefahr aufsteigender Infektionen (aszendierende Cholangitis) durch
Darmbakterien. Patienten sollten über die
Früherkennung von Symptomen (Fieber,
Oberbauchschmerzen) unterrichtet sein,
da eine rasche Antibiotikatherapie erforderlich ist.
4.4 E
rnährung bei
Chemotherapie
Grundlage der oralen Ernährung ist eine
Vollkost oder leichte Vollkost, die individuell als „gesteuerte Wunschkost“ unter
Berücksichtigung von Unverträglichkeiten
und Wünschen des Patienten zusammengestellt ist (siehe Kap. 4.1. Empfehlungen
zur Ernährung bei Tumorerkrankungen).
Hinweise zur Ernährung bei Beschwerden
und möglichen Nebenwirkungen unter der
Therapie geben die Tabellen 20 bis 23.
Leukopenie- und immunsupprimierte
Patienten erhalten zur Minderung des
Infektionsrisikos eine keimreduzierte
Kost. Dabei ist die Lebensmittelauswahl durch den Verzicht auf rohes Obst
und Gemüse sowie rohe und halbgare
Lebensmittel eingeschränkt, Speiseschimmelkulturen sind verboten. Die
Speisen werden frisch und mit beson-
• Kleine Portionen anbieten
• Nahrungszufuhr alle 2-3 Stunden, evtl. auch nachts
• Geschmackliche Akzeptanz der Nahrungsmittel berücksichtigen
(Geschmacksschwelle für Bitter ist herabgesetzt; nacheinander Wiederauftreten des
Geschmacksempfindens für Süßes, Bitteres, Saures, Salziges; häufig Dysgeusie:
ranziger, bitterer, metallischer Geschmack, Geschmack nach Pappe)
• Starke Essensgerüche vermeiden
(gut belüftete Räume, Abdeckungen der Speisen vor dem Auftragen entfernen)
• Mahlzeiten appetitlich anrichten
• Gewürzarm kochen und selbst nachwürzen lassen
• Appetitanregend wirken auch Aperitifs, Wein oder Bier eine Stunde vor dem Essen
 Tabelle 20: Ernährung bei Appetitlosigkeit, Geschmacksveränderungen (Dysgeusie)
und ­Geschmacksverlust (Hypo-, Ageusie)
derer Sorgfalt von der Küche zubereitet,
verpackt und zugedeckt auf die Station
geschickt. Leidet ein Patient zusätzlich an
weiteren Krankheitsbildern, z.B. Diabetes
mellitus, Störungen der Leber-, Bauchspeicheldrüsen- und/oder Nierenfunktion
oder an Operationsfolgen, so sind die
für die jeweilige Erkrankung speziellen
• Flüssige oder pürierte Kost bevorzugen
• Scharfe Gewürze und zu salzige Speisen vermeiden
• Zu säurehaltige Nahrungsmittel (Obst mit hohem Fruchtsäuregehalt wie z.B.
Johannisbeeren, Orangen, Grapefruit und Obstsäfte sowie Tomaten) vermeiden
• Evtl. industriell gefertigte Säuglingsnahrung anbieten
(meist säure- und salzarm sowie passiert)
• Nicht zu kalt und nicht zu heiß essen
• Kohlensäurehaltige Getränke vermeiden; besser sind stille Wasser oder Tee
(Kamillen-, Fenchel-, Salbeitee)
• Der Speichelfluss kann durch häufiges Trinken kleiner Flüssigkeitsmengen,
Kaugummi, Pfefferminztee, zuckerfreie Drops angeregt werden
• Verträglichkeit von Frischmilch im Hinblick auf Verschleimung testen.
Geeignet sind: Sauermilch, Sauermilchprodukte, Kefir, Sojadrinks
• Zur Kariesprävention auf eine besonders gute Zahnhygiene achten!
 Tabelle 21: Ernährung bei Schluckbeschwerden, Entzündungen der Mundhöhle,
Mundtrockenheit (Xerostomie)
• Leichte Kost in vielen kleinen Mahlzeiten anbieten
• Rasches Essen und Trinken vermeiden
• Keine besonders süße, fetthaltige, blähende oder stark riechende Speisen anbieten
• Keine gebundenen Suppen oder Saucen anbieten
• Lieblingsspeisen nicht anbieten, um eine „erlernte Aversion“ gegen diese Speisen
zu verhindern
• Kühle, leicht gewürzte Speisen bevorzugen
• Trockene, stärkehaltige Nahrungsmittel (Cracker, Zwieback, Toast)
verhindern Erbrechen
• Günstig sind auch kalte Getränke wie Cola
 Tabelle 22: Ernährung bei Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen
59 ___
___ 60
Bei starken Durchfällen ist eine leichte, fett-, laktose- und ballaststoffarme Kost empfehlenswert
Vermeiden:
• Saure Säfte aus Orangen, Grapefruits, Johannisbeeren, Tomaten, Sauerkraut; Brottrunk
• Alkohol und alkoholhaltige Getränke
• Kaffee (Coffein motilitätssteigernd)
• Kohlensäurehaltige Getränke, sulfatreiche Mineralwässer (Sulfatgehalt > 200 mg/l),
•S
äurehaltige Obstsorten wie Zitrusfrüchte, rohes Steinobst, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Weintrauben
• Frisches Obst; laxierende Obstsorten wie Aprikosen, Erdbeeren, Pfirsiche,
Pflaumen (enthalten Diphenylisatin = laxierende Substanz)
• Trockenobst (Datteln, Feigen, Rosinen, Pflaumen)
• Rohkost
• Gemüsesorten wie Bohnen, Kohl, Wirsing, Sauerkraut, Hülsenfrüchte, Lauch, Knoblauch, Zwiebeln
• Nüsse, Mandeln
• Grob geschrotete Vollkornprodukte, Vollkornbrot mit ganzen und grob geschroteten Körnern,
Vollkorngerichte
• Milch, Molke, gesäuerte Milchprodukte wie Butter-, Dickmilch, Kefir, Joghurt
• Fettreiche Gerichte und Lebensmittel: frittierte, panierte Speisen; fette Fleisch-, Fisch- und Wurstwaren; fettreiches Gebäck (Sahne- und Cremetorten, Berliner, Blätterteiggebäck)
• Röstprodukte: stark gebratene, geröstete und gegrillte Speisen
• Scharfe Gewürze
• Fruktose, Sorbit
Bevorzugen:
• Fencheltee, Gerbsäure-haltige Teesorten (Schwarztee), Kakao, Schokolade
• Banane, geriebener ungeschälter Apfel (enthält viskositätssteigerndes Pektin, bindet Gallensäure),
gekochte Karotten, Heidelbeeren
• Hafer- und Reisschleimsuppe
• Weißmehlprodukte: abgelagertes Weißbrot, Haferflocken, Trockengebäck
• Kartoffeln, Nudeln, geschälter Reis
• Trockener Käse
• Zugabe von Guar, Johannisbrotkernmehl (lösliche Ballastoffe, viskositätssteigernde Quellstoffe,
binden toxische Substanzen)
 Tabelle 23: Ernährung bei Durchfall, Blähungen und Völlegefühl
Ernährungsrichtlinien zu berücksichtigen.
Bei der Kostzusammenstellung ist auch
auf Substratverwertungsstörungen (z.B.
Milchzuckerunverträglichkeit (Laktoseintoleranz) und Nährstoffmängel zu achten
(z.B. Kalziummangel bei Laktoseintoleranz,
Vitamin B12-Mangel nach Gastrektomie
und Entfernung des terminalen Ileums,
Mangel an fettlöslichen Vitaminen bei
Fettmalabsorption). Auch hier werden zur
Verbesserung der Energie- und Nährstoffzufuhr bilanzierte Trinknahrungen
empfohlen, zum Beispiel als Zwischenmahlzeit. Eine weitere Möglichkeit zur
Energieanreicherung sind KohlenhydratKonzentrate wie Maltodextrin, die geschmacksneutral sind und in Speisen und
Getränke eingerührt werden. Das gleiche
gilt für fetthaltige Emulsionen.
Eine routinemäßige enterale oder parenterale Ernährung ist unter einer Chemotherapie nicht indiziert. In zwei Untersuchungen konnte allerdings gezeigt werden, dass
Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung, die bei unzureichender oraler
und enteraler Ernährung zusätzlich parenteral ernährt wurden, länger überlebten.
Eine Untersuchung belegt auch die lebensverlängernde Wirkung einer zusätzlichen
Insulingabe.
4.5 E
rnährung bei Radio- und
Radio-/Chemotherapie
Auch während einer Radio- und einer
Radio-/Chemotherapie erhalten die Patienten eine Vollkost oder leichte Vollkost als
„gesteuerte Wunschkost“, bei Nebenwirkungen modifiziert nach den Empfehlungen der Tabellen 20-23. Besonders
Patienten mit Kopf-, Hals- und gastrointestinalen Tumoren profitieren von einer
regelmäßigen intensiven Ernährungsberatung und dem Einsatz von Trinknahrung.
Bei Patienten mit obstruierenden Kopf-,
Hals- oder Ösophagustumoren oder bei
zu erwartender schwerer strahleninduzierter oraler oder ösophagealer Mukositis besteht die Indikation zur enteralen
Ernährung, bevorzugt über eine perkutane
endoskopische Gastrostomie (PEG). Bei
unzureichender oraler und/oder enteraler
Ernährung wird parenteral ernährt, z.B.
bei chronischer, schwerer, radiogener
Enteritis.
61 ___
___ 62
4.6 Ernährung bei hämatopoetischer Zelltransplantation:
Knochenmarktransplantation (KMT), autologe und
allogene hämatopoetische
Zelltransplantation (HZT)
Die hämatologische Zelltransplantation
wird unter anderem zur Heilung von bösartigen lymphatischen Erkrankungen des
Knochenmarks eingesetzt. Man unterscheidet die autologe und die allogene
Transplantation. Bei der autologen Transplantation werden dem Patienten die vor
der Chemo-/Radiotherapie entnommenen
eigenen hämatopoetischen Stammzellen
wieder zurückgegeben, bei der allogenen erhält er Zellen eines Familien- oder
Fremdspenders. Jeder Patient benötigt
bei der Aufnahme, unter der Transplantation und bei der Entlassung eine
individuelle, auf die Besonderheiten der
Zelltransplantation abgestimmte Ernährungsbetreuung und Ernährungstherapie.
Bei der allogenen Transplantation gibt
es 5 Phasen für eine unterschiedliche
Ernährungstherapie:
1. der Ernährungsstatus bei der Aufnahme,
2. die Ernährung unter Chemo-/Radio-
therapie-Konditionierungstherapie,
3.die Aplasiephase (Phase der starken Zellverminderung)
4. das Anwachsen des Transplantates mit
der Möglichkeit einer akuten Abstoßungsreaktion (GvHD = Graft versus
Host Disease) und
5. die frühe Phase der Entlassung.
Bei der autologen Transplantation gibt
es nur die Phasen 1 bis 3. In den verschiedenen Phasen einer Transplantation
treten individuell unterschiedlich starke,
multiple und auch ernährungsrelevante
Probleme wie Übelkeit und Erbrechen,
eine Schleimhautentzündung im Mund
und dem gesamten Magen-Darm-Trakt
mit unzureichender Energie- und Nährstoffaufnahme, Maldigestion und Malabsorption und eine hohe Infektanfälligkeit
auf. Eine besondere Herausforderung ist
die akute oder chronische Graft versus
Host Disease (GvHD), eine Inflammation
des gesamten Magen-Darm-Traktes mit
Diarrhoe, Maldigestion und Malabsorption
und dadurch bedingten Flüssigkeits- und
Nährstoffverlusten.
Die ernährungsmedizinische Betreuung
transplantierter Patienten benötigt ein
erfahrenes Ernährungsteam. Hier werden
daher nur die Grundlagen der Ernährungstherapie besprochen. Für spezifische Fragen, die vor allem die allogene
Transplantation betreffen, sei auf die
Fachliteratur verwiesen.
Die orale Ernährung entspricht den
Grundsätzen der Ernährung unter einer
Chemotherapie. Die keimarme Zubereitung der Speisen muss aufgrund der
erhöhten Infektionsgefahr streng beachtet
werden. Probiotische Joghurts, Malzbier,
Limonaden, Mineralwasser und Tomatensaft sollten den Patienten erst bei einer
Granulozytenzahl über 500/μl und einer
Leukozytenzahl über 1000/μl angeboten
werden. Allogen transplantierte Patienten
müssen die keimarme Kost ca. 100 Tage
einhalten. Eine Übersicht über Lebensmittel, bei denen auch für Gesunde ein
erhöhtes Infektionsrisiko besteht und die
von Patienten unter Immunsuppression
auch in der Nachsorgephase vermieden
werden sollen, gibt Tabelle 24. Nach langen Phasen einer Nahrungskarenz ist die
Ernährung aufzubauen. Bei bestehender
GvHD können besondere Ernährungsverordnungen notwendig sein, z.B. eine
glutenfreie, laktose- und ballaststoffarme
Kost. Zur Optimierung der oralen Ernährung werden Trinknahrungen empfohlen. Eine routinemäßige enterale oder
parenterale Ernährung ist nicht indiziert.
Wird enteral ernährt, können Standardnahrungen eingesetzt werden. Nach allogener Transplantation allerdings ist eine
parenterale Ernährung häufig für längere
Zeit erforderlich. Regelmäßige Kontrollen
des Ernährungszustandes sind besonders
wichtig, vor allem auch nach der Entlassung, um Energie- und Nährstoffdefizite
rechtzeitig auszugleichen, eventuell mit
einem kombinierten Ernährungsregime.
Milch
Rohmilch ist oft stark keimbelastet ➔ Milch kochen oder pasteurisierte Milch kaufen
Käse
Rohmilchkäse kann gesundheitsbedenkliche Bakterien (Listerien) enthalten
➔ Käsesorten, die aus pasteurisierter Milch hergestellt wurden
Fleisch
Rohes Fleisch wie Tatar, Mett oder Carpaccio können Krankheitserreger übertragen
➔ Fleisch immer gut durchgaren
Geflügel
Salmonellengefahr ➔ immer gut durchgaren; im Kühlschrank auftauen und
das Auftauwasser sorgfältig beseitigen
Eier
Bei rohen oder weichgekochten Eiern besteht weiterhin ein erhöhtes Risiko für eine
Salmonellenvergiftung ➔ kein Unterschied bezüglich Freiland- oder Massenhaltung
Fisch
Rohen Fisch (z.B. Sushi) meiden; Schalen- und Krustentiere u.a. nicht roh verspeisen.
Es ist nicht kontrollierbar, ob diese aus verschmutzten Gewässern kommen.
Getreide
Nicht erhitztes Getreide meiden; Keimlinge und Sprossen sind oft mit Pilzen
kontaminiert; keine Sojasaucen (Impfung mit Aspergillus)
Gemüse
Gut waschen! Keine abgepackten Mischsalate essen.
Obst
Waldbeeren können Überträger des Fuchsbandwurmes sein ➔ kochen oder garen;
rohe Beeren können gegessen werden, wenn sie aus dem Gartenanbau kommen.
Nüsse
In der Schale sind sie oft mit Schimmelpilzen behaftet; verarbeitete Nüsse sind möglich:
geröstet oder z.B. im Kuchen mitgebacken.
Eis
Kein Softeis vom Stand oder Automaten ➔ abgepacktes Eis aus der Tiefkühltruhe
 Tabelle 24: Ernährungsmedizinisch bedenkliche Lebensmittel nach hämatopoetischer
Zelltransplantation (Medizinische Universitätsklinik Freiburg, Sektion Ernährungsmedizin
und Diätetik, 2008)
Immer: faule, schimmelige, übel riechende und farbveränderte Lebensmittel wegwerfen!
63 ___
___ 64
4.7 Ernährung mit speziellen
Substraten
4.8 Medikamentöse Therapie
zur Stoffwechselmodulation
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin wird derzeit
keine Empfehlung zur routinemäßigen
Anwendung spezieller Substrate wie
Glutamin, ω-3-Fettsäuren oder verzweigtkettige Aminosäuren während einer
Chemo-, Radio-/Radiochemotherapie
oder einer hämatopoetischen Zelltransplantation gegeben. Empfohlen werden
kann die Anwendung dieser Substanzen
aufgrund einer individuellen Entscheidung
in Abhängigkeit vom klinischen Befund
des Patienten. So gibt es neue Untersuchungen zur Therapie mit topisch bzw.
intravenös angewandtem Glutamin und
positiven Effekten in der Behandlung einer
Chemo- und Radiotherapie – induzierten
Mukositis, auch unter autologer Stammzelltransplantation. Eine Studie berichtet
über eine signifikante Minderung des Grades einer Oxaliplatin-induzierten peripheren Neuropathie unter oraler Therapie mit
30 g Glutamin/Tag über 7 Tage mit Beginn
der Oxaliplatintherapie. Die Daten zum Effekt von ω-3-Fettsäuren sind unterschiedlich, doch gibt es auch positive Ergebnisse im Bezug auf die antiinflammatorische
Wirkung, den Gewichtserhalt und die
Lebensqualität. Zwei Veröffentlichungen
belegen unter einer Therapie mit 4 g bzw.
6 g L-Carnitin einen positiven Effekt auf
das Fatigue-Syndrom.
Beim Vorliegen einer systemischen tumorassoziierten Inflammationsreaktion wird
in den Leitlinien empfohlen, zusätzlich
zur Ernährungstherapie entzündungsmodulierende Medikamente zu verordnen. Wirksam sind Steroide (z.B. 20 mg
Prednisolon) und Gestagene (500 mg
Medroxyprogesteronacetat bzw. 160 mg
Megestrolacetat) zur Besserung von Appetit, Körpergewicht und Lebensqualität.
Zur Wirksamkeit von Gestagenen gibt es
zwei Metaanalysen, die die Anwendung
empfehlen. Steroide sollten nur für kurze
Zeitintervalle und unter Abwägen von
Nutzen und Nebenwirkungen, Gestagene
unter Beachten des gesteigerten Thromboserisikos eingesetzt werden, zumal
Tumorpatienten krankheitsbedingt häufig
ein gesteigertes Thromboserisiko haben.
5
Ernährung nach der Tumortherapie
Durch die Fortschritte in der Krebstherapie in den letzten Jahrzehnten kann ein
meist tumorfreies Überleben bei 60 % der
Erwachsenen erreicht werden. Geheilten
Patienten sowie Patienten in Remission
wird empfohlen, sofern möglich einen
präventiven, gesunden Lebensstil einzuhalten. Dieser besteht aus einer gesunden
Ernährung, Rauchverzicht und körperlicher Aktivität. Zu den Ernährungsempfehlungen des World Cancer Research
Fund (WCRF) und des American Institute
for Cancer Research (AICR) im Einzelnen
­siehe Kap. 2.4. Ernährungsempfehlun­
gen zur Minderung des Krebsrisikos.
65 ___
___ 66
6
Ernährung in der Palliativsituation
6.1 Enterale und parenterale
Ernährung außerhalb
antitumoraler Therapie
Patienten mit unheilbarer, fortgeschrittener Tumorerkrankung können heute
trotz fehlender Antitumorherapie durch
unterstützende medizinische Maßnahmen
eine Lebenserwartung von mehreren
Wochen oder Monaten haben und bis
zu einem Punkt überleben, an dem eine
Unterernährung die Länge der weiteren
Überlebenszeit wesentlich mitbestimmt.
Randomisierte Untersuchungen zum
Wert einer künstlichen, auch parenteralen
Ernährung, sind in diesen Situationen
unethisch, wenn ein Vorteil der künstlichen Ernährung angenommen wird, aber
auch, wenn der Untersucher die Vergeblichkeit einer künstlichen Ernährung
nachweisen will.
Falls die aufgrund der fortschreitenden
Tumorerkrankung erwartete Überlebenszeit 2 bis 3 Monate, das heißt die Überlebenszeit bei vollständigem Hungern,
übersteigt, kann begründet angenommen
werden, dass eine künstliche, in dieser
Situation meist parenterale Ernährung das
Überleben eines Patienten verlängert, der
keine orale Nahrung toleriert. In dieser
Situation ähnelt eine künstliche Ernährung eher einer Basisbetreuung als einer
medizinischen Therapie. Erfahrungen
spezialisierter Zentren mit langfristiger
parenteraler Ernährung bei Patienten mit
fortgeschrittener Tumorerkrankung zeigen
mittlere Überlebenszeiten von 2 bis 5 Monaten. Dies bedeutet, dass ein erheblicher
Anteil der so betreuten Patienten länger
überlebte, als für die Bedingungen kompletten Hungerns angenommen werden
muss.
Da ein Vorteil einer künstlichen Ernährung
nur dann besteht, wenn die Lebenserwartung mehr durch die unzureichende Nahrungszufuhr eingeschränkt ist als durch
die Tumorerkrankung selbst, empfehlen
unterschiedliche Expertengruppen den
Einsatz einer künstlichen Ernährung dann
zu erwägen, wenn die erwartete tumorabhängige Lebenserwartung zumindest
4 Wochen oder 2 bis 3 Monate beträgt.
Bei einer kürzeren Lebenserwartung ist
kein wesentlicher Vorteil einer künstlichen
Ernährung zu erwarten.
Auch die DGEM-Leitlinie zur parenteralen
Ernährung sieht bei unzureichender oraler
Ernährung mit dadurch eingeschränkter
Prognose eine Indikation zur künstlichen
Ernährung, so lange der Patient zustimmt
und die Sterbephase nicht eingesetzt hat,
zumal vor allem mit parenteraler Ernährung bei der Mehrzahl der Patienten eine
Gewichtsstabilisierung sowie eine Stabilisierung von Parametern der Lebensqualität möglich ist.
Voraussetzung für eine längerfristige
künstliche Ernährung sind das Vorlie­
gen folgender vier Kriterien:
1. eine unzureichende orale bzw.
enterale Ernährung,
2. eine erwartete Überlebenszeit
von mehr als 4 Wochen,
3. eine mögliche Stabilisierung oder
Verbesserung des Allgemeinzustandes
oder Parameter der Lebensqualität des
Patienten und
4. der Wunsch des Patienten.
6.2 Ernährung in der
Sterbephase
In der Sterbephase stehen neben der
Linderung quälender Beschwerden das
Stillen des subjektiven Durst- und Hungergefühls im Vordergrund. Flüssigkeit und
Nahrung gehören zur Basispflege, wozu
allerdings die Zustimmung des Betroffenen Voraussetzung ist. Die meisten Patienten empfinden in der terminalen Lebensphase keinen Hunger und kommen mit
minimalen Flüssigkeitsmengen aus. Eine
ohne Berücksichtigung der veränderten
Bedürfnisse fortgeführte Nahrungs- und
Flüssigkeitszufuhr kann daher den Sterbenden und seine Angehörigen unzumutbar belasten und ist deshalb zu vermeiden.
Die Regulation des Flüssigkeitshaushalts
verdient jedoch Beachtung, da eine Dehydratation, induziert durch Diuretika oder
eingeschränktes Trinken, aber auch eine
durch Infusionen verursachte Überwässerung das Befinden erheblich beeinträchtigen können. Der „trockene Mund”
ist zwar ein Zentralsymptom Sterbender,
Durst und „trockener Mund” korrelieren
jedoch nicht mit dem Ausmaß der Hydratation oder der intravenösen Flüssigkeitszufuhr. Sterbende Patienten scheinen oft
zu viel Flüssigkeit zu erhalten, wodurch
sich das Risiko für periphere Ödeme, Aszites, Pleuraergüsse und die Entwicklung
eines Lungenödems erhöht. Eine Dehydratation allerdings kann zur Austrocknung
der Schleimhäute mit Verletzungen und
Infektionen führen, mindert die Vigilanz
und begünstigt das Auftreten von Unruheund Verwirrtheitszuständen, die den Patienten und die Angehörigen ebenfalls stark
belasten können.
Retrospektive Untersuchungen geben Hinweise, dass neuropsychiatrische Symptome wie Sedierung, Halluzinationen,
Myoklonie und Erregung durch Flüssigkeitszufuhr vermindert werden können.
In einer randomisierten Studie konnte
gezeigt werden, dass bei exsikkierten
Patienten mit terminaler Tumorerkrankung
bei einer Flüssigkeitszufuhr um 1000 ml/Tag
der Verlauf für bestehende Symptome und
Beschwerden signifikant günstiger war als
die Behandlung in der Kontrollgruppe mit
einer minimalen Flüssigkeitszufuhr um
100 ml/Tag. Empfehlungen zur Betreuung
Sterbender betonen daher, die Flüssigkeitszufuhr individuell zu gestalten und
primär auf die Vermeidung belastender
Symptome zu achten.
Bei symptomatischer Exsikkose werden
Flüssigkeitsmengen um 1000 ml/Tag
empfohlen. Eine parenterale Ernährung ist
nicht erforderlich. Im Krankenhaus oder
zuhause kann Flüssigkeit subkutan infundiert werden und außerdem als Träger
für die Gabe von Medikamenten dienen,
obwohl die dazu verwendeten isotonen
Elektrolytlösungen streng genommen
dafür nicht zugelassen sind.
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Notizen
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