Oliver Müller, Jens Clausen, Giovanni Maio (Hrsg.) Das technisierte Gehirn Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie mentis PADERBORN Einbandabbildung: © Andrea Danti, fotolia.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706 © 2009 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN: 978-3-89785-629-5 Oliver Müller, Jens Clausen, Giovanni Maio DER TECHNISCHE ZUGRIFF AUF DAS MENSCHLICHE GEHIRN Methoden – Herausforderungen– Reflexionen Mit immer weiter verfeinerten und elaborierten Methoden scheinen die modernen Neurowissenschaften nicht nur das Gehirn des Menschen, sondern auch seine Funktionen Schritt für Schritt zu entzaubern. Die wachsende Präzision im Verständnis des menschlichen Zentralorgans und die gleichzeitig zu beobachtenden Fortschritte in der Miniaturisierung technischer Bauteile ermöglichen einen immer weiter reichenden technischen Zugriff auf das menschliche Gehirn und damit eine gewisse Kontrolle neurophysiologischer Prozesse, die gezielt zur »Modulation« von emotionalen und kognitiven Zuständen und Leistungen eingesetzt werden kann. Damit ist eine technisch-mechanistische Deutung des Menschen und seines Gehirns verbunden: Neuronale Prozesse werden auf ihre bioelektrischen Aspekte reduziert. Auch wenn ein solcher Reduktionismus technisch für die Konstruktion von Schnittstellen zwischen dem Gehirn und technischen Apparaten nötig ist, kann in solchen wissenschaftlich-technischen Paradigmen aber nur ein kleiner Ausschnitt der kognitiven und emotionalen Funktionen des menschlichen Gehirns erfasst werden. Armin Grunwald fordert daher in diesem Kontext: »Es muss weiterhin möglich sein, den Menschen als ›trans-technisches‹ Wesen zu thematisieren, als ein Wesen, das von der Technik in und an seinem Körper profitiert, aber in dieser Technik nicht aufgeht.« 1 Die Technik soll also auch in ihrer Anwendung in und am menschlichen Gehirn zuallererst im Dienste des Menschen stehen – doch was heißt »im Dienste des Menschen«? Welche Heilungserfolge oder Selbstgestaltungsmöglichkeiten erhofft man sich von der Technik? Welche Kriterien für das Wohl oder den Schaden müssen wir an die Neurotechnologien anlegen? Inwiefern verändert sich durch die Möglichkeiten der »Verschmelzungen« von Gehirn und Neurotechnologie unser Bild von uns selbst? Vor einem Aufriss der ethischen und anthropologischen Herausforderungen, die sich durch die Neurotechnologien ergeben, muss 1 Grunwald (2008), 302. 12 Oliver Müller, Jens Clausen, Giovanni Maio geklärt werden, um welche Technologie es überhaupt geht, wenn von Schnittstellen zwischen technischen Apparaturen und dem menschlichen Gehirn, mithin vom technischen Zugriff auf das Gehirn gesprochen wird. 2 1. »Technisierung des Gehirns«: Von welchen Technologien ist hier die Rede? Geräte, die das menschliche Gehirn mit einem Computer oder einer anderen Maschine verbinden sollen, werden als Gehirn-Computer-Schnittstellen (BrainComputer-Interface, BCI) oder Brain-Machine-Interface (BMI) bezeichnet. 3 Bei diesen Schnittstellen handelt es sich jeweils um Verbindungen zwischen Elektroden und dem menschlichen Gehirn, die dem Austausch von bioelektrischen Signalen dienen. Gehirn-Computer-Schnittstellen werden in der Regel in ableitende und stimulierende Systeme unterteilt. 4 Während ableitende Systeme bioelektrische Signale des Gehirns erfassen und decodieren, dienen stimulierende Systeme dazu, einzelne Hirnregionen über elektrische Impulse zu stimulieren. 5 Integrierte Systeme sollen künftig sogar beide Funktionen miteinander kombinieren. 6 Das Einsatzspektrum unterschiedlicher Gehirn-Maschine-Schnittstellen ist sehr breit. Es gibt ableitende Systeme zur Ansteuerung externer Effektoren, die bereits bei Patienten eingesetzt werden. Ein nicht-invasives Verfahren verwendet zur Ansteuerung eines Computercursors Informationen, die mittels Elektroenzephalogramm (EEG) gewonnen wurden. Gelähmte Patienten können lernen, mit Hilfe dieser Cursorsteuerung ein Buchstabierungsprogramm zu bedienen. 7 In der Erforschung befinden sich ähnlich aufgebaute Geräte zur Ansteuerung eines Roboterarms. Für diese motorischen Neuroprothesen müssen die neuronalen Informationen durch invasive Verfahren abgeleitet werden. 8 Durch die fortschreitende Miniaturisierung technischer Mikrosysteme konnte die Entwicklung der erforderlichen implantierbaren Elektroden realisiert werden. 9 Auf Gehirn-Computer-Schnittstellen gestützte motorische Neuroprothesen werden derzeit zwar vorwiegend tierexperimentell erforscht, 10 erste Studien werden allerdings auch 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einen detaillierten Überblick über verschiedene Neurotechnologien bieten Merkel et al. (2007). Friehs et al. (2004), Pfurtscheller et al. (2005). Donoghue (2002). Gharabaghi et al. (2005). Abbott (2006). Birbaumer et al. (1999). Nicolelis (2001). Ball et al. (2004), Chapin (2004). Chapin et al. (1999), Schwartz (2004), Velliste et al. (2008). Der technische Zugriff auf das menschliche Gehirn 13 schon am Menschen durchgeführt. 11 Als Fernziel dieses Ansatzes wird diskutiert, auf den externen Effektor zu verzichten und stattdessen den eigenen natürlichen Arm über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle anzusteuern. 12 Mit dem Einsatz stimulierender Systeme im menschlichen Gehirn werden unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt. Eine erste Zielsetzung betrifft die Wiederherstellung motorischer Funktionen. Zur Behandlung motorischer Symptome bei Patienten, die an Morbus Parkinson oder essentiellem Tremor erkrankt sind, werden Gehirn-Computer-Schnittstellen in Form von Tiefenhirnstimulatoren eingesetzt. Dazu werden Elektroden mittels funktioneller Neurochirurgie in tiefe Hirnstrukturen (wie den Globus pallidus oder den Nucleus subthalamicus) implantiert. 13 Dieses Verfahren – 1991 erstmals erfolgreich beim Menschen eingesetzt 14 – ist inzwischen eine etablierte Behandlungsoption im Endstadium des idiopathischen Parkinsonsyndroms. Wegen der überzeugenden Unterdrückung anderweitig nicht mehr behandelbarer Symptome und der damit verbundenen gesteigerten Lebensqualität der Patienten wird eine Ausweitung der Indikation erforscht. Die Studien richten sich entweder auf den Einsatz der Tiefenhirnstimulation bei Patienten in früheren Stadien der Parkinsonerkrankung oder auf die Behandlung anderer Erkrankungen wie therapierefraktäre Depressionen oder Zwangsstörungen. 15 Stimulierende Eingriffe ins Gehirn werden zweitens mit dem Ziel erforscht, sensorische Funktionen durch Neuroprothesen wiederherzustellen. Während eine Stimulation im Nucleus cochlearis Höreindrücke direkt im Gehirn evozieren soll,16 wird für die Herbeiführung von Seheindrücken ein Implantat im visuellen Cortex erforscht. 17 Eine dritte Anwendungsform von stimulierenden Gehirn-Computer-Schnittstellen ist ihr Einsatz zur Verhaltensbeeinflussung. Tierexperimentell ist es gelungen, das Verhalten von Versuchstieren durch elektrische Stimulation zu kontrollieren 18 und die Bewegungen von Ratten über das Implantat zu steuern. 19 Bereits jetzt ist eine künftige Erforschung integrierter Systeme abzusehen, die sowohl ableitend als auch stimulierend wirken. Motorische Neuroprothesen sollen zukünftig mit einem Feedback-System zur Imitation der Propriozeption ausgestattet werden, das dem Patienten mittels stimulierender Impulse dann auch Auskunft über die jeweilige Position der artifiziellen Extremität geben soll.20 Während diese Gehirn-Computer-Schnittstelle eine Ableitung in motorischen Arealen mit 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Hochberg et al. (2006). Nicolelis (2003). Nikkhah (2008). Benabid et al. (1991). Mayberg et al. (2005), Sturm et al. (2003). Rauschecker & Shannon (2002). Dobelle (2000). Delgado (1965). Talwar et al. (2002). Abbott (2006). 14 Oliver Müller, Jens Clausen, Giovanni Maio einer Stimulation in sensorischen Arealen kombiniert, wird der technische Zugriff auf das menschliche Gehirn allerdings nicht auf diese Hirnregionen beschränkt bleiben. So wird die Erforschung von integrierten Systemen beispielsweise als möglicher künftiger Therapieansatz für Epilepsiepatienten diskutiert. 21 Dazu soll aus den abgeleiteten Informationen die Entstehung eines Anfalls im Vorfeld detektiert werden, um dann durch entsprechend ausgelöste Stimuli den Ausbruch des Anfalls verhindern zu können. 22 Ein weiterer Ansatzpunkt für mikrotechnische Gehirnimplantate ist der Hippocampus, der eine zentrale Rolle für Gedächtnisfunktionen hat. Es ist allerdings noch zu klären, ob diese als »Memory-Chips« zur Behandlung von Gedächtnisstörungen eingesetzt werden können. Denn die Hippocampus-Chips befinden sich gegenwärtig noch in der Grundlagenforschung an Gewebeschnitten der Ratte. 23 2. Ethische und anthropologische Herausforderungen durch die Technisierung des Gehirns Die »klassischen« ethischen Fragen nach Autonomie, Identität, Individualität und nach einem akzeptablen Nutzen-Risiko-Verhältnis stellen sich im Kontext von Gehirn-Computer-Schnittstellen in einer spezifischen Weise. 24 Denn durch die neurotechnologischen Eingriffe in die kognitiven Fähigkeiten und durch die »Ersetzung« kognitiver Funktionen durch technische Komponenten könnten Autonomie und Selbstbestimmung als elementare kognitive Vermögen ihre »biologische« Basis verlieren. Darüber hinaus ist die Frage zu diskutieren, ob eine Art »Abhängigkeitsverhältnis« zu den technischen Implantaten entstehen kann, ob also die Integration technischer Komponenten in die neuronale Substanz nachhaltige Veränderungen der Gehirnleistungen zur Folge haben kann. Könnte es sein, dass sich nicht nur die Patienten lebensweltlich an die Technologien gewöhnen, sondern dass sich das Gehirn selbst – in seiner Plastizität – an das technische Implantat gewöhnt – in dem Sinne, dass es sich irreversibel an das Implantat anpasst und damit auf dieses angewiesen bleibt? Ändert sich der personale Status eines Patienten bei einer bestimmten »Abhängigkeit« von der Technik? Die Frage nach der Autonomie stellt sich aber auch in anderer Hinsicht: Unter dem Aspekt der Einwilligungsfähigkeit ist die besondere Vulnerabilität der in Frage kommenden Patienten zu berücksichtigen. So sind Patienten mit Locked-in21 22 23 24 Fountas et al. (2005). Worell et al. (2005). Berger et al. (2005). Clausen (2009a).