NIELSEN KOCH MAHLER 1. SINFONIEKONZERT 14/15 Wir machen darauf aufmerksam, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen durch jede Art elektronischer Geräte strikt untersagt sind. Nielsen koch mahler 1. SINFONIEKONZERT Carl Nielsen (1865 – 1931) Jesper Koch (*1967) Ouvertüre zur Oper Maskerade Dreamscapes Konzert für Violoncello und Orchester 5‘ 27‘ I. Daydreams – Tagträume II. Lullaby-interrupted – Unterbrochenes Wiegenlied III. Hungarian Dream – Ungarischer Traum – Pause – Gustav Mahler (1906 – 1975) Sinfonie Nr. 1 D-Dur I. II. III. IV. Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen Stürmisch bewegt Michaela Fukačová Violoncello Justin Brown Dirigent BADISCHE STAATSKAPELLE 28.9.14 11.00 GROSSES HAUS 29.9.14 20.00 GROSSES HAUS Dauer ca. 2 ¼ Stunden, Einführung 45 Minuten vor Konzertbeginn 55’ Doppelbödige Welten Wenn das heutige Konzert ein geografisches Zentrum hat, dann ist das trotz zweier dänischer Komponisten nicht Kopenhagen. Gustav Mahler und Carl Nielsen hätten sich nämlich beinahe in Leipzig kennengelernt, wo der Kapellmeister Mahler 1888 seine Erste Sinfonie vollendete, Nielsen aber erst 1890 zur Vervollkommnung seiner Studien am Konservatorium eintraf, als Mahler schon in Budapest war. Seit Schumann und Mendelssohn war das Leipziger Konservatorium die angesehenste Ausbildungsstätte, an der sich auch internationale Musiker wie Sullivan, Grieg, Delius, Janáček oder Albéniz den letzten Schliff holten. Edvard Grieg hatte 1888 die Freude, bei einem Gastspiel mit dessen Erstem Klavierkonzert Peter Tschaikowsky kennenzulernen, mit dem er sich sogleich befreundete – Leipzig war damals der Nabel von Deutschlands Musikleben. Carl Nielsen Maskerade-Overtüre (1906) Der Titel Maskerade lässt gleich an Nielsens und Mahlers belgischen Altersgenossen 2 James Ensor denken, dessen fantastische Gemälde von Masken wimmeln. Sie wirken nur auf den ersten Blick lustig: Jeder trägt eine Maske, jeder spielt eine Rolle – doch wer sind diese Menschen wirklich? Sind es überhaupt Menschen oder nicht vielmehr Dämonen? Das Scherzo aus Mahlers Zweiter Sinfonie zeichnet eine ebenso gespenstische Gesellschaft, deren ritualisierte Bewegungen von außen nicht zu verstehen sind. Genauso doppelbödig ist Carl Nielsens zweite Oper Maskerade. Das zeigt schon die Tatsache, dass sie 1723 spielt und auf eine Komödie des dänisch-norwegischen Barockdichters Ludvig Holberg zurückgeht, dem Grieg mit seiner Suite Aus Holbergs Zeit ein musikalisches Denkmal setzte. Holberg machte sich über den Pietismus lustig, der 1730 beim Regierungsantritt Christians IV. sogar zur Schließung des Theaters führen sollte. Man warf Nielsen eine rückwärtsgewandte Haltung vor und machte es seiner geistreichen, tänzerisch-schwebenden Komödie damit nicht leicht; andere störten Carl Nielsen 3 sich an der Entweihung „ihres“ Holberg durch einen modernen Komponisten. Auch ist der Stil dieser federleichten Musik nicht einfach zu treffen – Nielsen hat da sicherlich beim Sommernachtstraum des Gewandhaus-Kapellmeisters Mendelssohn einiges gelernt. Da er außerdem raffinierte Barockzitate verwendet, zeigt sich der Komponist hier bereits als früher Neoklassizist à la Strawinsky. Die Vorurteile führten leider dazu, dass die Oper noch immer nicht den verdienten Erfolg auf den europäischen Bühnen hat. Aufführungen sind noch immer etwas Besonderes – und erweisen stets wieder die hohe Qualität dieser Komödie. Nielsens fünf Sinfonien haben sich dank ihrer Originalität inzwischen in den Konzertplänen etabliert – warum sollte das nicht auch mit seiner Maskerade geschehen? Holberg wusste genau, auf welche Widerstände Maskerade stoßen würde und schrieb daher einen Prolog dazu (der dann niemals aufgeführt wurde): „Ich glaube, bei unserer schwerblütigen Nation ist nichts so gut als Rekreation, der beste Ratschlag gegen alle Melancholie heißt Tanzen und Singen, Musik und Poesie; item: unter all den Dingen, welche die Stadt zieren, wurde nie ein größerer Zierrat erblickt, als – pro primo – die Komödien in der Grønnegade, und – pro secundo – als „Die musikalische Societät“. Item: nicht drinnen bei den Maskenfesten, sondern draußen, wo die Leute Affen-Posen machen, ist das Leben, das uns verhöhnt und verdummt; ganz wir selbst sind wir erst, wenn wir uns vermummen. Ich liebe allen unschuldigen Zeitvertreib, der uns aus diesem sauren Leben herausreißt; wir haben schon genug dicke, träge Leute, was wir vor allem brauchen, sind junge, wendige.“ Die Ouvertüre spiegelt die Vorfreude auf den Maskenball wider, den die jungen Leute besu4 chen wollen, während ihre Väter gegen die „Vergnügungssucht“ wettern, in der sie eine moralische Gefahr sehen. Aber wie das immer so ist: Hinter der moralischen Entrüstung steckt ein ökonomisches Interesse. Die Nachbarn Jeronimus und Leonhard haben nämlich beschlossen, ihre Kinder miteinander zu verheiraten und dadurch ihre Vermögen zu vereinen. Dabei käme ihnen jeder andere Bewerber in die Quere. Doch die jungen Leute sind schlauer und finden ihren Weg zu der verbotenen Maskerade. Als der wutschnaubende Pietist Jeronimus sein Haus am Abend leer findet, schleicht auch er verkleidet zur Maskerade – um dort seine eigene Frau mit dem Nachbarn turteln zu sehen. Da dies jedoch ein Stück nach Art der Commedia dell’arte ist, verlieben sich dann aber doch die Richtigen ineinander und man einigt sich am Ende darauf, das Leben zu genießen, denn kurz genug ist es ja! In der Ouvertüre herrscht schierer musikalischer Witz vor. Homerisches Gelächter erklingt und verdichtet sich in einem Fugato, wie schon am Ende von Verdis Falstaff. Zugleich bedeutet das Fugato aber ja auch protestantisches Arbeitsethos und unterstreicht so die Doppelbödigkeit dieser Musik. Die Arbeit schlägt wieder um in den Witz – sie wird im Hegel’schen Sinne aufgehoben im Lachen über die Torheiten der Menschen. Bevor wir alle Gefoppte sind in diesem Leben, sollten wir seine schönen Seiten genießen, statt es durch enge Ideologien ungenießbar zu machen! Jesper Koch Dreamscapes (2007) Genauso wichtig wie das Lachen ist die Ruhe. Der dänische Komponist Jesper Koch hat eine ausgesprochene Begabung für meditative und träumerische Musik – nicht von ungefähr sind zahlreiche seiner Stücke von Lewis Carroll und Federico Garcia Lorca inspiriert. Schon als Kind begann er, sich in Klänge hineinzu- träumen, und schrieb mit elf Jahren sein erstes Stück. Kompositionsunterricht an der Königlich Dänischen Musikakademie in Kopenhagen war für ihn folgerichtig. Seine Lehrer waren darüber hinaus so renommierte Komponisten wie Andy Pape, Karl Aage Rasmussen oder Colin Mathews. Schon mit 25 gewann er mit Ice-Breaking für zwei Akkordeons und Schlagzeug in Paris den Ersten Preis beim Rostrum-Wettbewerb 1992 in der Kategorie für Junge Komponisten. Sein Debüt-Konzert bei der Musikakademie in Aarhus 1997 enthielt ein Programm, dessen sprechende Titel charakteristisch sind für diesen Komponisten: Images of Lorca (Lorca-Bilder) für Klavier solo, Dreamchild (Traumkind) für Flöte, Bratsche und Harfe, Down The Rabbit-Hole (Runter ins Kaninchenloch) für Bläserquintett, Three portraits with shadows (Drei Porträts mit Schatten) für Mezzosopran und Kammerensemble nach Garcia Lorca und Jabberwocky nach dem Nonsens-Gedicht von Carroll für Akkordeon solo. Kritiker bescheinigten Koch das Talent zum humorbegabten Geschichtenerzähler. Obwohl Koch vor allem vom Klang ausgeht und sowohl zu poetischen Formulierungen als auch zu minimalistischen Strukturen neigt, ist seiner Musik doch immer ein klares Formbewusstsein eigen. Das hat ihm die Konzertsäle nicht nur der nordischen Länder geöffnet, sondern ihn auch in Österreich, Holland, Frankreich und Kanada bekannt gemacht. Seine Fähigkeit, musikalische Strukturen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten, und das farbige Zusammenspiel von Harmonie und Instrumentierung weisen auf eine Kompositionsweise von zwingender innerer Logik. Seine Werke sind mit sicherem Gespür für Form und Struktur entworfen und verzichten auf überflüssigen Zierrat, so dass die zugrundeliegende Idee als der Faktor hervortritt, der alles zusammenhält. Den Titel von Kochs Cellokonzert Dreamscapes könnte man mit Traumlandschaften übersetzen. Uraufgeführt wurde es im Jahr 2007 durch Michaela Fukačová, die Solistin auch des heutigen Konzerts. Fukačová war damals Solocellistin in einem dänischen Orchester, für das Koch ein Auftragswerk schrieb. Er war begeistert von ihrem klaren, durchsetzungsfähigem Ton, der von der östlichen Schule geprägt ist, und schrieb einige solistische Stellen für sie in das Werk hinein. Daraufhin fragte Fukačová ihn, ob er nicht einmal ein Cellokonzert schreiben wolle. Dreamscapes ist das Ergebnis. Und nachdem Fukačová die virtuosen Passagen des ersten Cellokonzert so bravourös gemeistert hat, wird wohl bald ein zweites Cellokonzert für sie folgen. Das dreisätzige, überaus klangschöne Werk beginnt mit einem Tagtraum. Aus dem Pianissimo entspinnt sich ein melodischer Verlauf, in dem das Cello klar die Führung übernimmt. Die Klarinetten gesellen sich dem Soloinstrument spielerisch bei. Es herrscht eine romantischimpressionistische Stimmung vor, man denkt an Morgennebel. Doch plötzlich kommt Bewegung in die Musik und das Cello arbeitet sich mit Staccato-Figuren im Forte wie durch Dickicht. Am Ende des kurzen ersten Satzes erlaubt es sich eine kleine Kadenz, bevor der Traum sich in Nichts auflöst, mit einem Harfenton als letztem Klang. Auch der zweite Satz Unterbrochenes Wiegenlied beginnt mit einem träumerischen Dialog zwischen Solocello und den Klarinetten. Das Träumerische kommt ebenfalls im ständigen Wechsel der Taktarten zum Ausdruck – die Musik schwebt im Ungefähren. Später kommt wieder Bewegung auf und es scheint, als versuche sich immer wieder ein Wiegenlied zu formieren. Und auf einmal geschieht ein Einbruch von außen, ein Flügelhorn spielt zu vereinzelten Glockentönen eine verträumte 5 Melodie. Es gibt noch eine andere Welt! Das ist ganz wie bei der Posthorn-Episode im Scherzo von Mahlers Dritter Sinfonie – der Musik bleibt gewissermaßen der Mund offen stehen angesichts dieser Erscheinung. Danach kann nichts mehr so sein wie es vorher war, mit Arpeggien und Pizzicati singt die Musik sich zu einem neuartigen Ende. Jene andere Welt enthüllt dann der Ungarische Traum des Schluss-Satzes. Er macht ungefähr die Hälfte des Konzerts aus und beginnt lebhaft. Auch hier klingt das ferne Flügelhorn herein, doch führt es uns nun zum eigentlichen Material des Satzes. Dem Solo-Cello bleibt erst einmal nichts anderes übrig, als zuzuhören. Und wovon wird hier geträumt? György Ligeti war gestorben, und der Tod dieses verehrten Komponisten brachte Jesper Koch dazu, intensiv an seine ungarischen Helden Bartók, Kodaly und Ligeti zu denken. Die Flügelhornmelodie hat etwas von jeden Folklore-Themen, wie Bartók und Kodaly sie damals sammelten. Die Musik setzt nach dieser Episode wieder Allegro vivace ein und führt das Material fantasiereich durch. Es geht durch die verschiedenfarbigsten Traumbilder, bis sich am Ende alles auflöst und ins Nichts entschwindet. Gustav Mahler Erste Sinfonie (1888) Schon mit seiner ersten, 1888 in Leipzig entstandenen Sinfonie erwies der 28-jährige Gustav Mahler sich als philosophischer Komponist. Nicht dass ihm nicht genügend musikalische Fantasie zur Verfügung gestanden hätte – im Gegenteil! Sein Erstling ist überbordend vor rein musikalischer Einfallskraft. Dazu originell im Umgang mit der Form. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger und Förderer Brahms hatte Mahler bei seiner Ersten offenbar keinerlei Angst vor Beethovens mächtigem Vorbild: Wie Schubert geht Mahler an Beethoven – den er genauestens kennt – einfach vorbei. 6 Franz Schubert ist der Fluchtpunkt, von dem her diese Musik entwickelt ist. Wie Schubert hatte der junge Mahler vor allem Lieder geschrieben. Und sein erster Liederzyklus – entstanden 1884 in Kassel – zitiert sogar Schuberts Lindenbaum: Die Lieder eines fahrenden Gesellen nehmen den Wander-Duktus Schuberts auf und nutzen dessen poetische Bilder, um ein privates Liebeserlebnis in Kunst zu sublimieren. Aus den Klavierliedern wurde erst ein Zyklus mit Orchester, und schließlich drängte es den Komponisten, noch einen Schritt weiter zu gehen, ganz auf Worte zu verzichten und eine rein poetische Gestalt zu formen, eine Sinfonie. Dass das musikalische Material der Gesellenlieder in die Erste Sinfonie eingegangen ist, war ein Glück und ein Unglück zugleich. Ein Glück, weil wir dadurch Hinweise auf den Hintergrund der Musik haben. Ein Unglück, weil dadurch der programmatischen Ausdeutung Tür und Tor geöffnet wurde, was die Musik immer kleiner macht, als sie ist. Zu Beginn hat Mahler sich selbst dazu hinreißen lassen, programmatische Erläuterungen zu seinen Sinfonien zu geben, doch musste er bald einsehen, dass dies das Verständnis mehr einengte als förderte. Es geht doch um Musik – und die muss im Kopf des Hörers zu neuem Leben erwachen. Die Köpfe der Musikfreunde sind aber alle verschieden und verlangen daher nach unterschiedlichen Nuancen. Deshalb hat der Komponist auch den Titel „Der Titan“, der eine Assoziation zu Jean Pauls romantischem Entwicklungsroman herstellen sollte, bald wieder fallen lassen: „weil ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet. So ist es aber mit jedem Programm! Glauben Sie mir es, auch die Beethovenschen Sinfonien haben ihr inneres Programm, und mit der genaueren Bekanntschaft mit einem solchen Werk wächst auch das Verständnis für der Ideen richtigen Empfindungsgang. So wird es endlich auch mit meinen Werken sein“ (aus einem Brief an den Kritiker der Vossischen Zeitung, Max Marschalk). nannt, die für die gesamte weitere Musik Mahlers prägend blieb. Nun ist klar, wohin die Reise geht! Die Uraufführung der Ersten Sinfonie fand am 20. November 1889 in Budapest statt, wo Mahler Operndirektor war. Er nannte sie damals noch Sinfonische Dichtung in zwei Teilen, wobei im ersten Teil zwischen erstem Satz und Scherzo noch der später ausgesonderte und tatsächlich überflüssige Satz Blumine stand. Die erste Aufführung der Sinfonie in der endgültigen Form dirigierte Mahler am 16. März 1896 bei den Berliner Philharmonikern, gedruckt wurde sie 1899. Entsprechend vollmundig und unbeschwert ist das folgende Scherzo. Auch hier erlaubt sich Mahler die Freiheit, den Tanzsatz an die zweite Stelle der Sinfonie zu setzen, obwohl er den Schulregeln nach doch an die dritte gehört. Die Musik ist hier in keiner Weise doppelbödig und von Form und Gestaltung noch am ehesten von seinem Lehrer Anton Bruckner geprägt, bei dem Mahler in Wien Komposition studiert hatte. Wie souverän Mahler mit der Form umging, um den großen Gedanken gestalten zu können, den er im Sinn hatte, zeigt sich schon daran, dass er den ersten Satz zwar nach Art des Sonatenhauptsatzes konstruierte, ihm jedoch kein zweites, kontrastierendes Thema gab. Und vor die Exposition dieses einzigen Themas setzte er eine lange Einleitung, in der die Musik sich wie aus dem Nichts entfalten kann. „Wie ein Naturlaut“ liegt ein Nebelschleier in der Luft, aus dem sich allmählich die verschiedensten Motive herausschälen, darunter die fallende Quart, die an einen Kuckuck erinnert und sich als das Urmotiv der ganzen Sinfonie erweisen wird. Nach einem romantischen Sehnsuchtsgesang der Hörner kündigt sich das Thema an – es ist die Melodie des Liedes Ging heut morgen übers Feld aus den Gesellenliedern. Damit sind wir auch wieder bei Schubert: Das Thema ist ein Wanderthema und der Sinfoniesatz beschreibt einen Aufbruch in neue Gefilde. Die Art, in der das Thema am Ende mit schmetternden Trompeten überwältigend aufbricht, als würde der Nebel zerreißen und plötzlich die Sonne durchbrechen, hat Theodor W. Adorno mit dem Begriff „Durchbruch“ beschrieben und damit eine Kategorie be- Ohne Vorbild ist hingegen der dritte Satz, ein Trauermarsch in Moll mit unüberhörbar ironischem Unterton. Die Pauken schlagen ihm mit dumpfem Ton den Rhythmus. Sein Thema erinnert an den Kanon Frère Jacques, dormezvous? (Bruder Jakob, schläfst du noch?). Die Musik spricht, vor allem in den Holzbläsern und Trompeten, einen stark böhmischen Akzent, als seien wir tatsächlich bei den Leuten aus Jean Pauls Siebenkäs. Und die Trauer über den, der da zu Grabe getragen wird, hält sich auch in Grenzen, ja sie bricht immer wieder ihn höhnische Übertreibung aus, als könne die Gesellschaft kaum das Lachen unterdrücken, und dann kippt der Trauermarsch auch mal in einen flotten Marsch. Auf vorher ungekannte Weise hat Mahler hier den Hohn auf den Künstler formuliert, den seine Kritiker zur Strecke gebracht haben, und der dies nun schmerzlich erleiden muss. Das Trio scheint ihn zunächst zu trösten: Mahler formte es aus dem Schluss der Gesellenlieder: „An der Straße stand ein Lindenbaum, da hab ich zum ersten Mal im Schlaf geruht ... war alles wieder gut.“ In der Sinfonie hält die Auflösung des individuellen Unglücks im Naturerlebnis jedoch nicht lange: der Trauermarsch kehrt wieder, die verletzte Seele leidet 7 weiter. Und die Seele des Kapellmeisters Mahler war vor allem dadurch verletzt, dass er seine Götter überall entstellt und in den Dreck gezogen fand, und dass er bei seinem Kampf, ihre wahre Erscheinung durch unerbittliche Probenarbeit wiederherzustellen – man kann das auch eine frühe Form von authentischer Aufführungspraxis nennen – meist auf verständnisvolles Kopfschütteln über den durchgeknallten Idealisten stieß. Das meinte Mahler, wenn er den Beginn des Finales den Aufschrei einer im Tiefsten verletzten Seele nannte. Zwischen brutalen TuttiSchlägen, zischenden Becken und donnernden Trommeln lässt Mahler hässlich und verzerrt Motive aus dem ersten Satz erscheinen. Das alles spricht von großem Ekel, von Ekel vor dem, was im ersten Satz groß und positiv war. Das ungestalte Getöse tobt sich schließlich aus und sinkt in sich zusammen. Die Musik erinnert sich an den Durchbruch im ersten Satz und den Choral, der ihm gefolgt war. Das Hauptthema des Finales ahmt jetzt diesen Durchbruch nach: In strahlendem DDur stellt es sich in Sieger-Pose. Das Hörnerthema aus dem ersten Satz, das mit seinen fallenden Quarten die Natur symbolisiert hatte, schließt sich als Schlussapotheose an – und sackt kraftlos wieder zusammen. Richard Strauss machte Mahler den Vorschlag, hier zu kürzen und gleich den richtigen Schluss folgen zu lassen. Mahler antwortete, dass dies die Idee des Finales im Kern entstellen würde: „... an der beregten Stelle ist die Lösung bloß eine scheinbare (das ganze im wahren Sinne des Wortes ein ‚Trugschluss’) und es bedarf einer Umkehr und Brechung des ganzen Wesens, bevor ein wahrer ‚Sieg’ nach einem solchen Kampfe gefunden werden kann. Ich beabsichtigte eben einen Kampf darzustellen, in welchem der Sieg dem Kämpfer gerade immer dann am weitesten ist, wenn 8 er ihn am nächsten glaubt. – Dieß ist das Wesen jeden seelischen Kampfes.“ Erst auf weiteren Umwegen – unter anderem über das Natur-Szenarium des ersten Satzes – wird ein Rückfall in den Ekel überwunden und der wahre Durchbruch erreicht: wie im ersten Satz durchzuckt es die Musik mit den schmetternden Trompeten nun wirklich und der Satz kann mit dem Naturchoral triumphal schließen. Die fallende Quart setzt den Schlusspunkt. Übrigens hat Schostakowitsch im Finale seiner Ersten Sinfonie dieses Modell genau nachgeahmt, allerdings mit der frechen Ironie eines Neunzehnjährigen. Die Sinfonie zerfällt also deutlich in zwei Teile: der erste zeigt ein Erwachen und selbstbewusstes Erproben der eigenen Kraft, der zweite die Folgen einer tiefen Verletztheit: „Gestrandet“ hatte Mahler den parodistischen Trauermarsch bei der Uraufführung überschrieben. In der Natur, in ihrer ewigen Wiederkehr und Neugeburt sah der Komponist dann die Lösung, die „wie der Blitz einschlagen und aufhorchen lassen“ sollte. Die Voraussetzung, um dieses Ziel zu erreichen, war aber die bewusste Willensanstrengung des Menschen. Mahler verfügte über die Fähigkeit, solchen Gedanken eine musikalische Form zu geben – und vor allem junge Leute von Anfang an mit diesen musikalischen Gestalten zu begeistern. Auch in seinen späteren Jahren war er mit seiner Ersten zufrieden. Als er sie 1909 in New York aufgeführt hatte, schrieb er: „Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft! So etwas wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer!“ Bernd Feuchtner Gustav Mahler JESPER KOCH Komponist MICHAELA FUKAČOVÁ Violoncello Der 1967 geborene dänische Komponist begann bereits im Alter von elf Jahren mit ersten Kompositionen und studierte dann an der Königlich Dänischen Musikakademie in Kopenhagen und Aarhus u. a. bei Andy Pape, Colin Mathews und Karl Aage Rasmussen. 1988 wurde Koch mit dem Carl Nielsen-Stipendium ausgezeichnet, vier Jahre später bekam er den ersten Preis des Internationalen Musikrats für Komponisten unter 30. Er wurde gefördert vom dänischen Kunstrat sowie vom dortigen Komponistenverband. Die Königliche Dänische Philharmonie berief ihn für gleich fünf Spielzeiten zum composer-inresidence. Jesper Kochs klangsatte und poetische Musiksprache unterliegt auch minimalistischen Einflüssen, seine Kompositionen reichen von Solistischem und Kammermusikalischem bis hin zu großen Orchesterwerken. In Skandinavien ist er wohlbekannt, in Deutschland noch ein Geheimtipp. Die tschechische Cellistin begann im Alter von fünf Jahren mit dem Klavierspiel. Mit 14 wechselte sie zum Cello und gewann bereits zwei Jahre später den Beethoven-Wettbewerb, weiter ist sie Preisträgerin des Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau. Zu ihren Lehrern gehören klangvolle Namen wie Navarra, Tortelier, Pleeth und Rostropowitsch. Von ihrer Wahlheimat Dänemark aus führen Konzertreisen in die ganze Welt, u. a. zur Tschechischen Philharmonie, zum Orchestre Philharmonique de Radio France, dem japanischen NHK Orchestra unter Dirigenten wie Libor Pešek, Jiři Bělohlávek, Jiři Kout, Gerd AIbrecht, Eliahu Inbal, Michail Jurowski und Valery Gergiev. Mit Peter Liebersons Cello-Konzert Six Realms gewann sie einen Grammy für das beste Klassik-Album 2007 – die erste Zusammenarbeit mit Justin Brown. Weitere Preise sind der Gramophone award 2006 und eine weitere Nominierung für den Grammy. Sie spielt ein Cello von Carlo Tononi. 10 JUSTIN BROWN Dirigent Justin Brown studierte in Cambridge und Tanglewood bei Seiji Ozawa und Leonard Bernstein und arbeitete später als Assistent bei Leonard Bernstein und Luciano Berio. Als Dirigent debütierte er mit der gefeierten britischen Erstaufführung von Bernsteins Mass. Für seine Programmgestaltung beim Alabama Symphony Orchestra, wo er fünf Spielzeiten als Chefdirigent wirkte, wurde er drei Mal mit dem ASCAP-Award ausgezeichnet. Auf Einladung des renommierten „Spring for Music Festival“ dirigierte er 2012 das Orchester in der Carnegie Hall. Brown leitete zahlreiche Uraufführungen und dirigierte wichtige Stücke bedeutender Zeitgenossen wie Elliott Carter und George Crumb. Er musizierte zudem mit namhaften Solisten wie Yo-Yo Ma, Leon Fleisher und Joshua Bell. Zahlreiche Gastengagements führten ihn an renommierte Opernhäuser und zu Orchestern weltweit, in Deutschland u. a. an die Bayerische Staatsoper München und zu den Dresdner Philharmonikern. Komplettiert wird sein Erfolg durch viele CD-Einspielungen, 2006 wurde er für einen Grammy nominiert. Als Generalmusikdirektor am STAATSTHEATER KARLSRUHE, der er seit 2008 ist, wird Brown v. a. für seine Dirigate von Wagners Ring sowie den Werken Berlioz‘, Verdis und Strauss’ gefeiert. Unter seiner Leitung stehen auf dem facettenreichen Konzertspielplan Werke wie Amériques von Edgar Varèse, Mahlers 5. Sinfonie oder die Gurre-Lieder von Schönberg. Gemeinsam mit seinem Team erhielt er die Auszeichnung „Bestes Konzertprogramm 2012/13“. 11 die badische staatskapelle Als sechstältestes Orchester der Welt kann die BADISCHE STAATSKAPELLE auf eine überaus reiche und gleichzeitig gegenwärtige Tradition zurückblicken. 1662 als Hofkapelle des damals noch in Durlach residierenden badischen Fürstenhofes gegründet, entwickelte sich aus dieser Keimzelle ein Klangkörper mit großer nationaler und internationaler Ausstrahlung. Berühmte Hofkapellmeister wie Franz Danzi, Hermann Levi, Otto Dessoff und Felix Mottl leiteten zahlreiche Ur- und Erstaufführungen, z. B. von Hector Berlioz, Johannes Brahms und Béla Bartók, und machten Karlsruhe zu einem der Zentren des Musiklebens. Neben Brahms standen Richard Wagner und Richard Strauss gleich mehrfach am Pult der Hofkapelle; Niccolò Paganini, Clara Schumann und viele andere herausragende Solisten waren gern gehörte Gäste. Hermann Levi führte 1856 die regelmäßigen Abonnementkonzerte ein, die bis heute als Sinfoniekonzerte der BADISCHEN STAATSKAPELLE weiterleben. Allen Rückschlägen durch Kriege und Finanznöten zum Trotz konnte die Tradition des Orchesters bewahrt werden. Generalmusikdirektoren wie Joseph Keil12 berth, Christof Prick, Günther Neuhold und Kazushi Ono führten das Orchester in die Neuzeit, ohne die Säulen des Repertoires zu vernachlässigen. Regelmäßig fanden sich zeitgenössische Werke auf dem Programm; Komponisten wie Werner Egk, Wolfgang Fortner oder Michael Tippett standen sogar selbst vor dem Orchester, um ihre Werke aufzuführen. Die große Flexibilität der BADISCHEN STAATSKAPELLE zeigt sich auch heute noch in der kompletten Spannweite zwischen Repertoirepflege und der Präsentation zukunftsweisender Zeitgenossen, exemplarisch hierfür der Name Wolfgang Rihm. Der seit 2008 amtierende Generalmusikdirektor Justin Brown steht ganz besonders für die Pflege der Werke Wagners, Berlioz’, Verdis und Strauss’ sowie für einen abwechslungsreichen Konzertspielplan, der vom Deutschen Musikverleger-Verband als „Bestes Konzertprogramm 2012/13“ ausgezeichnet wurde. Auch nach dem 350-jährigen Jubiläum 2012 präsentiert sich die BADISCHE STAATSKAPELLE – auf der reichen Aufführungstradition aufbauend – als lebendiges und leistungsfähiges Ensemble. besetzung 1. Violine Janos Ecseghy Lutz Bartberger Ayu Ideue Sandra Huber Rosemarie Simmendinger-Kàtai Susanne Ingwersen Werner Mayerle Herbert Pfau-von Kügelgen Alexandra Kurth Juliane Anefeld Judith Sauer Bettina Knauer Claudia Schmidt Yana Luzman Isabel Jiménez Montes Andrea Götting* 2. Violine Annelie Groth Shin Hamaguchi Km. Toni Reichl Gregor Anger Km. Uwe Warné Andrea Böhler Christoph Wiebelitz Diana Drechsler Dominik Schneider Birgit Laub Steffen Hamm Moritz von Bülow Rahel Leiser* Fiona Doig* Viola Franziska Dürr Anna Pelczer Km. Joachim Steinmann Ortrun Riecke-Wieck Kyoko Kudo Sibylle Langmaack Akiko Sato Tanja Linsel Nicholas Clifford Stefanie Bühler Andrea Wegmann* Isidore Tillers* Violoncello Thomas Gieron Benjamin Groocock Km. Norbert Ginthör Wolfgang Kursawe Alisa Bock Laurens Groll Johannes Vornhusen Frederik Jäckel* Rebecca Krieg* Raphaël Moraly* Kontrabass Km. Joachim Fleck Peter Cerny Xiaoyin Feng Monika Kinzler Karl Walter Jackl Roland Funk Christoph Epremian Lars Jakob* Harfe Km. Silke Wiesner Flöte Eduardo Belmar Georg Kapp Horatiu Roman Km. Rosemarie Moser Oboe Stephan Rutz Nobuhisa Arai Dorothea Fenton Dörthe Mandel Klarinette Daniel Bollinger Tristan von den Driesch Martin Nitschmann Leonie Gerlach Fagott Oscar Bohórquez Martin Drescher Ulrike Bertram Horn Km. Susanna WichWeißsteiner Peter Bühl Frank Bechtel Jörg Dusemund Km. Thomas Crome Km. Jürgen Danker Dominik Zinsstag Regina Mickel* Bastian Schmid* Trompete Jens Böcherer Km. Peter Heckle Km. Ulrich Dannenmaier Ulrich Warratz Posaune István Juhász Angelika Frei Heinrich Gölzenleuchter Tuba Dirk Hirthe Pauke & Schlagzeug Helge Daferner Stefan Rupp* Km. Rainer Engelhardt Raoul Nies Manuel Becker Peter Klinkenberg* Celesta & Klavier Miho Uchida * Gast der Staatskapelle 13 14 15 bildnachweise UMSCHLAG S. 3 S. 9 S. 10 S. 11 S. 14, 15 Agentur Fotografie von 1908, Nielsen-Museum Odense Fotografie von Adolph Kohut (1900) Privat (li.) / Agentur (re.) Felix Grünschloß Falk von Traubenberg TEXTNACHWEISE S. 2 – 9 Originalbeitrag von Bernd Feuchtner Sollten wir Rechteinhaber übersehen haben, bitten wir um Nachricht. STAATSTHEATER KARLSRUHE Saison 2014/15 Programmheft Nr. 206 www.staatstheater.karlsruhe.de impressum Herausgeber BADISCHES STAATSTHEATER Karlsruhe Generalintendant Peter Spuhler VERWALTUNGSDIREKTOR Michael Obermeier ORCHESTERDIREKTOR & KONZERTDRAMATURG Axel Schlicksupp REDAKTION Axel Schlicksupp KONZEPT DOUBLE STANDARDS Berlin www.doublestandards.net GESTALTUNG Kristina Schwarz DRUCK medialogik GmbH, Karlsruhe Unser Abonnementbüro berät Sie gerne! Ab 10,50 bzw. 5,50 Euro PRO Konzert 16 ABONNEMENTBÜRO T 0721 3557 323 F 0721 3557 346 [email protected] DIE nächsten Konzerte SONNTAGSCAFÉ – VOM 2. SINFONIEkonzert Fung Dust Devils Mieczysław PRATER ZUR COPACABANA Vivian Weinberg Violinkonzert g-Moll op. 67 Salonmusik & Lateinamerikanische Folklore Das neue Sonntagscafé bringt musikalischen Glanz und Schmelz ins MITTLERE FOYER. Vier Musiker der STAATSKAPELLE tun sich mit Tenor Eleazar Rodriguez und Kapellmeister Steven Moore zusammen, um Ihnen die Kaffeestunde mit extra arrangierten Klassikern und einem großem Kuchenbüffet doppelt zu versüßen. DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstellung (Orchestrierung Maurice Ravel) Eleazar Rodriguez Tenor Leonie Gerlach Bassklarinette Diana Drechsler Violine Monika Kinzler Kontrabass Raoul Nies Schlagzeug Steven Moore Klavier & Moderation Zum ersten Mal steht mit Mei-Ann Chen eine Frau am Pult der STAATSKAPELLE. Die Chefdirigentin des Memphis Symphony Orchestra und der Chicago Sinfonietta dirigiert Bilder einer Ausstellung, das bekannteste und berühmteste Werk Modest Mussorgskys, in der farbenreichen Orchestrierung Ravels. Das Orchesterstück Dust Devils von Vivian Fung geht einer weiteren faszinierenden Entdeckung des Autors der Passagierin voraus: Mieczysław Weinbergs Violinkonzert. 19.10. 15.00 MITTLERES FOYER Linus Roth Violine Mei-Ann Chen Dirigentin 2.11. 11.00 & 3.11. 20.00 GROSSES HAUS TANGO REVOLUCIONARIO – Kammerkonzert & TANZ Tango-Abend mit Tanz und zum selber Tanzen Mitreißende Tangos von José Bragato und Astor Piazzolla, Tanz mit dem STAATSBALLETT und Tanz für alle – das vereint das spartenübergreifende Konzert Tango Revolucionario. Frank Nebl Klarinette Leonie Gerlach Bassklarinette Steven Moore Klavier und Moderation Reginaldo Oliveira & Kt. Flavio Salamanka Choreographie & Tanz Bruna Andrade & Larissa Mota Tanz Brigitte Albert Tango-DJ 24.10. 20.00 KLEINES HAUS Im Anschluss Tanz bis 24.00 Uhr 12+ 1. JUGENDKonzert – BILDER EINER AUSSTELLUNG Modest Mussorgsky Bilder einer Ausstellung (Orchestrierung Maurice Ravel) Bilder einer Ausstellung ist ein Paradebeispiel für das Thema Programmmusik in der Schule. Ergänzend zum Unterricht werden Ulrich Wagner und die BADISCHE STAATSKAPELLE das Werk im Konzert aus unterschiedlichen Perspektiven vorstellen und betrachten. Ulrich Wagner Dirigent & Moderator Rusanna Nikitina Konzertpädagogin 5.11. 11.00 & 18.00 KLEINES HAUS