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FRAKTIONSBESCHLUSS VOM 10.09.2012
» DIE ZUKUNFT DER SOZIALEN INFRASTRUKTUR
IN LÄNDLICHEN REGIONEN
Der demografische Wandel hat in Teilen Deutschlands eine besondere Dynamik entwickelt. Gerade Dörfer in peripheren ländlichen Regionen spüren ihn bereits heute sehr deutlich: Ihre Einwohnerzahl sinkt, der Altersdurchschnitt steigt. Allerdings fällt die demografische Entwicklung regional sehr unterschiedlich aus. Während die
Prognosen für den ländlichen Raum im „Speckgürtel“ der Ballungszonen optimistisch sind, fallen die Verluste in
den peripheren Regionen wie in der Uckermark, der Lüneburger Heide oder in der Westpfalz hoch aus. Diese gegenläufige Entwicklung zwischen Wachstums- und Schrumpfungsregionen verstärkt sich. Für die peripheren
ländlichen Regionen besteht dringender Handlungsbedarf. Die Bundesrepublik benötigt ein beherztes gesamtgesellschaftliches Vorgehen, um den sozialen Erosionsprozessen im ländlichen Raum entgegenzuwirken, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und damit auch die wirtschaftlichen Perspektiven zu verbessern.
SOZIALE INFRASTRUKTUR: WESENTLICHE GRUNDLAGE FÜR WIRTSCHAFTLICHES UND
SOZIALES HANDELN
Weil die Attraktivität einer Region bisher oft an wirtschaftlicher Prosperität und einer technischen Infrastruktur
gemessen wurde, haben viele Gemeinden in der Vergangenheit ins- besondere mit dem Bau von Straßen auf
den Ausbau der technischen Infrastruktur gesetzt. Ländliche Räume haben aber nur dann eine Zukunft, wenn sie
auch den Bedürfnissen der BewohnerInnen an sozialer Teilhabe Rechnung tragen - für alle Generationen.
Für gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Zusammenhalt ist die Existenzsicherung durch Arbeitsplatzchancen
und Transferleistungen grundlegende Voraussetzung. Darüber hinaus bedarf es eines diskriminierungsfreien Zugangs zu sozialen und kulturellen Angeboten, zu Räumen der Befähigung und der Bildung. Diese Komponenten,
die zur kulturellen, institutionellen und materiellen Teilhabe befähigen, ergänzen sich gegenseitig und stehen
für uns gleichberechtigt nebeneinander. Im vorliegenden Positionspapier steht die soziale Infrastruktur im Fokus,
zu der vor allem Einrichtungen für Bildung, Kultur, Gesundheit und Freizeit zählen. Um diese Infrastruktur angesichts knapper Kassen auch in Zukunft vorhalten zu können, ist eine abgestimmte Gesamtstrategie unter Einbeziehung aller politischen Ebenen und Sektoren dringend erforderlich. Die von der Bundesregierung vorgelegte
nationale Demografie-Strategie wird diesen Erfordernissen allerdings nicht gerecht.
VON DEN BEDÜRFNISSEN DER MENSCHEN AUS GEDACHT.
Um die unterschiedlichen Handlungsfelder aufzeigen zu können, gehen wir von den Bedürfnissen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aus:
Familien sind im ländlichen Raum in besonderem Maße auf eine funktionierende soziale Infrastruktur angewiesen, denn weite Wege zu Arbeitsstätte, Kita, Schule oder Freizeitaktivitäten begrenzen das Zeitbudget
maßgeblich.
Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ist es in manchen Gegenden nicht mehr selbstverständlich,
mit Gleichaltrigen aufzuwachsen. Junge Menschen, die die Zukunft einer Region bedeuten, brauchen positive
Perspektiven.
Junge Alte bereiten sich auf ihr Alter vor und wägen ggfs. ab zwischen Umzug in die Stadt mit besserer Versorgung oder Lebensabend im ländlichen Raum, wo die ärztliche Versorgung beispielsweise oft nicht flächendeckend vorhanden ist.
Die Zahl der Alten und Hochbetagten wird auf dem Land im Verhältnis zum Landesdurchschnitt überproportional steigen, der Pflegenotstand wird sich hier besonders stark zeigen. Alte und Hochbetagte benötigen ein
barrierefreies Umfeld, soziale Kontakte und die Unterstützung im Alltag. Die soziale Teilhabe ist für sie neben
Alltagsbewältigung und Gesundheitsversorgung elementar für ihre Lebensqualität.
Generationenübergreifende Bedürfnisse: Für soziale Teilhabe und eine gute Lebensqualität braucht es Kultur,
zivilgesellschaftliches Engagement, generationenübergreifende Treffpunkte oder die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen.
Darüber hinaus müssen die Voraussetzungen für die soziale Infrastruktur, namentlich finanziell gut ausgestattete Kommunen, Mobilität und Breitbandanschlüsse, stimmen.
Wohnortnahe Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an bereitstellen: Für uns als GRÜNE Bundestagsfraktion ist klar: Kinder und Jugendliche sollen gute und gerechte Startchancen haben- unabhängig von sozialer
Herkunft, ihres Geschlechts und der Region, in der sie aufwachsen. Gerade angesichts der demografischen
Schrumpfung und Alterung dürfen wir kein Talent zurücklassen und können uns keine Bildungsverlierer erlauben. Beste Bildungschancen für alle ist damit ein Gebot der Gerechtigkeit und der ökonomischen Innovationsund Zukunftsfähigkeit. Auch wenn die Zahl der Kinder in vielen ländlichen Regionen kontinuierlich zurückgeht,
brauchen diese wenigen Kinder ein qualitativ hochwertiges, wohnortnahes Bildungsangebot in Kita und Schule.
Manche Kommunen haben aus sinkenden Kinderzahlen in den vergangenen Jahren die Konsequenz gezogen,
nicht etwa den örtlichen Kindergarten zu schließen, sondern frühzeitig den Umbau in Plätze für Kinder unter
drei Jahren zu organisieren. Um den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten 1.
Lebensjahr ab dem 01.08.2013 auch tatsächlich zu realisieren, ist gerade in ländlichen Räumen eine zielgerichtet Angebotsplanung auf Grundlage einer genauen Bedarfserhebung beziehungsweise -analyse notwendig. Nur
so kann ein am tatsächlichen Bedarf orientierter Ausbau der U3-Betreuung gelingen. Wir planen auch in ländlichen Regionen Kindertagesstätten zu „Eltern-Kind-Zentren“ ausbauen, in denen nicht mehr nur das Kind, sondern die ganze Familie im Mittelpunkt steht. Dazu brauchen wir ErzieherInnen, die für diese Erweiterung ihrer
Aufgaben ausgebildet sind. Sie können den täglichen, selbstverständlichen Kontakt dazu nutzen, Eltern individuell über Unterstützungs-, Beratungs- oder Bildungsangebote zu informieren.
Schulstandorte erhalten: Orientiert sich Politik an rein quantitativen Vorgaben wie der Klassengröße, bedeutet
das vielerorts zwangsläufig Schulschließungen und oft zu lange Schulwege. Hier muss das Prinzip „kurze Beine,
kurze Wege“ umgesetzt werden. Allerdings muss die Qualität weiterhin gewährleistet sein.
Wir wollen das Angebot dadurch flächendeckend sichern, dass Kinder jahrgangsübergreifend und länger gemeinsam lernen. Durch Unterrichtsangebote, die die gegliederten Schulformen übergreifen, können nach Prognosen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) viele Schulstandorte erhalten bleiben. Die
so genannte Demografie-Rendite, also die finanziellen Mittel, die durch sinkende Schülerzahlen frei werden, soll
weitgehend im System belassen und in die Qualität investiert werden. Außerdem brauchen wir ein flächendeckendes Angebot gebundener Ganztagsschulen, die als selbstständige Einrichtungen mit einem Personalmix aus
LehrerInnen, PädagogInnen, HandwerkerInnen, KünstlerInnen etc. ganztägiges Lernen und individuelle Förderung leisten. Ein neues Ganztagsschulprogramm von Bund und Ländern würde zum Ausbau solcher Ganztags-
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schulen beitragen. Um diese Möglichkeit wieder zu eröffnen, setzen wir uns für die Aufhebung des Kooperationsverbots ein.
Schulen als multifunktionale Orte entwickeln: Schule ist ein sozialer Ort - und kann auch als Lernort für alle Generationen genutzt werden. Wir wollen Bildungseinrichtungen öffnen, besser miteinander vernetzen und regionale Kooperationen zwischen Kindertagesstätten und Schulen mit Kultureinrichtungen und Sportvereinen fördern. Beispiele aus dünnbesiedelten Ländern wie Finnland zeigen pragmatische Lösungen. Schulen sind dort
multifunktionale Zentren, in denen die Gebäude durch eine flexible Ausstattung von allen Altersgruppen des Ortes genutzt werden. Diese Schulen sind ein Kristallisationspunkt für Bildung, Sport, Kultur, Handwerk und für lokale Netzwerke. ÄrztInnen und andere Gesundheitsberufe bieten in den Räumen Sprechstunden an. Kommunen
und Länder müssen den Schulen ermöglichen, sich zu solch multifunktionalen Zentren zu öffnen. Dies ist auch
notwendig, damit dort ein Raum für bürgerschaftliches Engagement entstehen kann.
Ausbildung attraktiv gestalten: Im ländlichen Raum gibt es eine doppelte Problemlage: zum einen bleiben viele
Ausbildungsstellen unbesetzt. Hier müssen Unternehmen attraktive Angebote machen, um qualifizierte BewerberInnen zu bekommen. So ermöglichen einzelne Betriebe erfolgreich Ausgebildeten ein Stipendium für ein weiterführendes Studium. Zum anderen gibt es Gegenden, in denen nur wenige oder kleine Betriebe existieren, die
entweder die geforderten Ausbildungsinhalte nicht komplett abdecken können bzw. über keine Ausbildungstradition verfügen. Hier kann mit unserem Modell „DualPlus“ die Leistungsfähigkeit des regionalen Ausbildungssektors gestärkt werden. Die Betriebe können Ausbildungsbausteine anbieten und sich durch die Übernahme einzelner Module beteiligen, ohne die gesamte Verantwortung für eine duale Ausbildung übernehmen zu müssen.
Dies erleichtert den Betrieben die Teilnahme am Ausbildungsgeschehen und schafft zusätzliche Chancen für junge Menschen in der Region.
Regionale Wirtschaft stärken: Gute Arbeit bereichert nicht nur das Leben des Einzelnen; in und für die Region
angebotene Dienstleistungen und Produkte sowie regionale Wertschöpfungsketten leisten einen Beitrag für ein
funktionierendes Gemeinwesen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit einer inklusiven Arbeitsmarktstrategie, die an den Stärken und Qualifikationen der Menschen vor Ort anknüpft und die Arbeitslose nicht abkoppelt,
können neue Fachkräfte gewonnen werden. Darüber werden nicht nur individuelle neue berufliche Chancen eröffnet; dies führt auch dazu, dass die in den Regionen angebotenen Stellen mit geeigneten Bewerberinnen und
Bewerbern besetzt werden können. Gründerinnen und Gründer schaffen oft nicht nur für sich selbst berufliche
Perspektiven, sondern auch für andere. Dies kommt auch dem regionalen Arbeitsmarkt zu Gute. Wir wollen daher die Gründungsförderung ausbauen und Selbstständige besser sozial absichern.
Hochschulen als wichtige Motoren regionaler Entwicklung nutzen: Wir möchten Hochschulen als Kristallisationspunkte für Qualifizierung und Innovation nutzen. Den ansässigen Unternehmen können sie qualifizierte AbsolventInnen, Weiterbildungsangebote, Forschungsleistungen und gezielte Forschungskooperationen anbieten.
Mit diesen Leistungen, aber auch durch Ausgründungen und ihre Nachfrage nach Dienstleistungen befördern sie
die Ansiedlung neuer Unternehmen und initiieren private Forschungs-und Entwicklungsprojekte. Mit attraktiven
Studienangeboten oder Standorten in der Region können junge Leute vor Ort gehalten werden. Im Bereich der
Forschung sind bestehende Hochschulen in ländlichen Räumen ideal, um Auswirkungen des demografischen
Wandels in den Blick zu nehmen und Lösungsansätze für sich zu entwickeln.
Kinder- und Jugendarbeit sichern: Die Kinder- und Jugendarbeit muss auch in strukturschwachen Regionen bedarfsgerechte Angebote unterbreiten. Die professionelle Kinder- und Jugendarbeit konzentriert oft ihre Angebote, meist Jugendtreffs oder Freizeitheime, auf die Mittelzentren, die auch Schulstandorte sind. Der ganztägigen
Schule mit ihrem Personalmix aus Bildung und Erziehung kommt bei der Freizeitgestaltung eine Schlüsselrolle zu,
vorausgesetzt, sie versteht sich als zentraler Ort des Gemeinwesens. Mit einem intensiven Austausch zwischen
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Schule, Kinder-und Jugendhilfe, Sportvereinen, Jugend- und anderen Organisationen, die Jugendliche ansprechen, können nach dem Unterricht Angebote gemacht werden. Schule kann hier Zugänge erleichtern, indem sie
Lotsenfunktion übernimmt. Der Rückzug der Kinder- und Jugendarbeit aus der Fläche schwächt jedoch das Gemeinschaftsleben in den Dörfern. Aus unserer Sicht sind daher ergänzende mobile Angebote wie mobile Jugendberatung und Spielmobile notwendig. Besonders aussichtsreich erscheinen ehrenamtlich geführte Jugendclubs,
Jugendgruppen und Jugendinitiativen, die aber durch professionelle Begleitung stabilisiert und qualifiziert werden müssen.
Partizipation von Kindern und Jugendlichen stärken: Gerade damit die Interessen und Bedarfe von Jugendlichen als kleiner werdende Gruppe auf dem Land nicht vergessen werden, ist es wichtig, dass sie sich als ExpertInnen in eigener Sache in Planungen einbringen und so ihr Lebensumfeld aktiv mitgestalten. Gerade wenn es
darum geht, Angebote für Jugendliche in ländlichen Regionen zu entwickeln, sind die Jugendlichen selbst besonders gefragt. Ein positives Beispiel hierfür sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die Jugendlichen in der
Gemeindeordnung in Schleswig-Holstein gewährt werden. Dabei sind die unterschiedlichen Zugangswege und
Bedürfnislagen von Jungen und Mädchen verschiedener Altersgruppen zu beachten. In Prozessen wie der Spielleitplanung können sich Kinder und Jugendliche selbst einbringen. Das schafft Identifikation mit ihrem Dorf und
ihrer Region.
Ein besonderes Augenmerk sollte auf Stärkung der Eigeninitiative der Jugendlichen gelegt werden. Leer stehende
Gebäude oder Brachflächen sind für Jugendliche interessant. Die öffentliche Hand muss Wege finden, ihnen
Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Das Gefühl, selbst zu gestalten, schafft Selbstbewusstsein und ein Verbunden sein mit der Region.
Jugendkultur ermöglichen und bestehende Angebote neu ausrichten: Kulturangebote und Gelegenheiten zur
künstlerischen Aktivität haben einen entscheidenden Einfluss auf das Identitätsempfinden zum Heimatort und
die Attraktivität von Orten – insbesondere für Jugendliche: Sie benötigen deshalb genügend Rückzugsorte und
Abwechslung im Freizeitbereich. Dazu gehören selbstverständlich auch Diskotheken und Kneipen, deren Existenz
wiederum durch attraktive lokale kulturelle Events gesichert werden kann.
Künstlerische Arbeit benötigt allem voran Räume und Freiräume, um sich entfalten zu können. Dies gehört zu
den Voraussetzungen für die Praxis von Jugendkulturen, wie beispielsweise Hip-Hop, Punk, Graffiti oder Straight
Edge. Die Schaffung von Freiräumen und Möglichkeiten zur künstlerischen Auseinandersetzung ist daher insbesondere im ländlichen Raum notwendig, um Jugendlichen Perspektiven zur Entfaltung ihrer Kreativität vor Ort
anbieten zu können. Jugendkulturzentren und Jugendkulturringe müssen in ländlichen Gebieten beispielsweise
durch eine Ausweitung der Soziokultur-Förderung gestärkt werden und erhalten bleiben. Die Bereitstellung von
Räumlichkeiten ist ein wesentlicher Faktor zur Förderung des kreativen Potentials junger Menschen. Hier kann
das Modell der „Wächterhäuser“ (in Sachsen durch HausHalten e.V.) als Vorbild dienen: „Hauserhalt durch Nutzung“ ist für Kreative wie für Eigentümer ein „Win-Win-Modell“. Auch Bands, bildende und darstellende Künstlerinnen und Künstler im Bereich Jugendkultur und im semiprofessionellen Bereich könnten von diesem Konzept
profitieren, weil dadurch mehr günstige Probenräume zur Verfügung stehen. Von bundespolitischer Seite fordern
wir eine Stärkung jugendkultureller Aktivität durch die Auflegung des Förderprogramms „Jugendkultur Jetzt“.
Teilhabe älterer Menschen ermöglichen: Wir brauchen differenzierte Altersbilder, die der Vielfalt des Alters gerecht werden und die Lebenswirklichkeit der Älteren widerspiegelt. Ältere Menschen bilden keine homogene
Gruppe. Sie sind höchst unterschiedlich bspw. in Bezug auf ihre Gesundheit, ihre finanziellen Ressourcen und
Lebensstile. Somit darf das Alter unter keinen Umständen auf einseitige Zustandsbeschreibungen verengt werden, wie Kompetenzverlust, Bedürftigkeit und Einschränkung aber auch nicht nur auf Potenziale, Stärken und
freie Zeitverfügung.
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Um der Vielfalt des Alterns zu entsprechen, bedürfen wir der aktiven Mitwirkung von Seniorenverbänden, vertretungen und –initiativen bei Entscheidungsprozessen. Durch die direkte und verbindliche Einbindung eines
Seniorenbeauftragten in der Kommune kann es gelingen, die Interessen und Bedürfnisse der Älteren in der
kommunalen Planung zu berücksichtigen. Nur so kann das „Einbezogensein in eine Lebenssituation“ (WHO
2002), der barrierefreie Zugang zu Angeboten und Dienstleistungen und das Mitwirken am gesellschaftlichen Leben Realität werden. Durch den Aufbau von sozialen Unterstützungsstrukturen, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen und einer inklusiven Bürgerschaft wird der Isolation und Vereinsamung von Älteren vorgebeugt.
Differenziertes Pflege- und Unterstützungsangebot im ländlichen Raum sichern: Pflegebedürftige Menschen
haben auf dem Land nur unzureichend Zugang zu Unterstützungsangeboten. Bisher ist die Pflege dort meist darauf ausgerichtet, dass Angehörige Pflegeaufgaben übernehmen, diese jedoch wegen Abwanderung, längerer
Erwerbstätigkeit, zunehmender Berufstätigkeit von Frauen oder anderer Prioritätensetzung dies immer weniger
wahrnehmen können oder wollen. Zudem herrscht bereits heute ein Mangel an qualifizierten Pflegekräften, der
in Zukunft noch größer wird. Eine umfassende Reform der Pflegeversicherung muss die unterschiedlichen Voraussetzungen auf dem Land und in der Stadt berücksichtigen. Gerade ambulante Pflegedienstleistungen und
Familienhilfen müssen auf dem Land gestärkt werden. Wir planen deshalb ein persönliches Pflegebudget einzuführen, dass die flexiblere Leistungsgewährung ermöglicht und sich stärker an die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse pflegebedürftiger Menschen orientiert. Zudem befördert es einen Mix an Hilfen. Beratung und die Organisation des Leistungsgeschehens muss von einem oder einer unabhängigen Fallbegleiter oder -begleiterin im
Sinne eines Case-Management-Ansatzes übernommen werden. Nur so kann das optimale verbraucherorientierte
Versorgungssetting geschaffen werden.
Wir werden mehr in entlastende Dienste, in Tagespflege oder Pflegefamilien und in Pflegezeitkonzepte investieren müssen, um den Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensform zu unterstützen. Beratungs- und Unterstützungsangebote sowie die gesellschaftliche Anerkennung der geleisteten Pflegearbeit sind Eckpfeiler des Erhalts der Pflegebereitschaft und müssen gefördert werden.
Wenn die Pflege in einer stationären Einrichtung erbracht werden muss, dann sollte sich diese kleinräumig in die
Gemeinde integrieren. Der Schwerpunkt der Förderung sollte auf kleinräumigen Wohn- und Pflegeeinrichtungen,
Demenz-WGs und ähnlichen selbstbestimmten, wohnortnahen Wohnformen liegen. Diese Versorgungsformen
sollten den Austausch der Generationen fördern und Teil eines intakten Gemeindelebens sein.
Über die pflegerische Versorgung hinaus muss sichergestellt werden, dass Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf auch dann in ihrer Wunsch-Umgebung bleiben können, wenn sie weiter gehenden bzw. anderen Unterstützungsbedarf haben. Hierzu müssen niedrigschwellige Dienstleistungen geschaffen und gefördert werden, wie
bspw. Assistenz- und Betreuungsdienste, Assistenzgenossenschaften, Nachbarschaftshilfen oder Besuchsdienste.
Gründung von sozialen Genossenschaften vereinfachen: Die Zukunft der Versorgung älterer Menschen liegt in
Gruppen im Ort, die sich gegenseitig helfen und sich ehrenamtliche und professionelle Hilfe dazu nehmen. Sozial- und Gesundheitsgenossenschaften sind dafür ein zukunftsträchtiges Modell. Sie sind eine Organisationsform,
die Belange von Menschen in überschaubaren Räumen dezentral und partizipativ organisiert, zum Beispiel eine
Genossenschaft für einen Dorfladen oder für eine Pflegegemeinschaft im Dorf. Allerdings sind manche Rahmenbedingungen bei Gründung und Arbeit von Genossenschaften hinderlich, daher muss das Genossenschaftsgesetz
überprüft und ggfs. angepasst werden. Auf den Prüfstand sollte die Prüfungspflicht und die Zwangsmitgliedschaft in Prüfverbänden für kleine Genossenschaften mit marginalen Gewinnen.
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Barrierefreies Wohnen und attraktives Wohnumfeld fördern: Menschen wollen möglichst lange selbstständig in
ihrer eigenen Wohnung und in einem vertrauten Wohnumfeld leben. Die abnehmende Dichte und der Wegfall
von Versorgungsstrukturen im ländlichen Raum stellen mobilitätseingeschränkte Personen allerdings vor große
Schwierigkeiten, diesen Wunsch zu verwirklichen. Es leben rund 93 Prozent der über 65-Jährigen und ca. zwei
Drittel der über 90-Jährigen in ihrer eigenen Wohnung1, viele davon alleinstehende Frauen. In ländlichen Regionen sind das oft Häuser mit großer Wohnfläche und unzureichender altersgerechter Ausstattung. Oft wird das
eigene Wohneigentum im Alter deswegen als Belastung empfunden. Laut einer Umfrage im Auftrag des Deutschen Mieterbundes sind etwa ein Viertel der Seniorenhaushalte umzugsbereit, wenn sie dadurch länger selbstständig leben können. Selbstbestimmt Wohnen heißt also nicht unbedingt möglichst lange im überdimensionierten Einfamilienhaus wohnen zu bleiben. Wir möchten alte Menschen dabei unterstützen, so lange wie möglich selbstbestimmt zu wohnen. Deswegen ist es sinnvoll, dass Mehrfamilienhäuser bei Neubau sowie tiefgreifenden Modernisierung barrierefrei gestaltet werden. Dementsprechend sollte die Musterbauordnung darauf
ausgerichtet werden.
Angesichts des hohen Bedarfs ist eine staatliche Förderung für Barriere reduzierende Umbaumaßnahmen auf
Bundesebene unverzichtbar. Wir setzen uns daher für die Verstetigung des Programms „Altersgerecht Umbauen“
der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein. Wir wollen die Beratung zum barrierereduzierten Umbauen und ihre Finanzierung ausweiten sowie auf den präventiven Charakter hinweisen. Denn je weniger Hürden sich im Wohnumfeld befinden, desto weniger Unfälle und Verletzungen sind die Folge.
In ländlichen Regionen ist es wichtig, neue Wohnformen wie Senioren- oder Pflegewohngemeinschaften, Hausgemeinschaften oder Mehrgenerationenwohnen mit einer guten Nahversorgung und Mobilitätsanbindung zu
fördern.
Ein barrierefreies und kommunikatives Wohnumfeld, der Dorfladen um die Ecke, die Bushaltestelle in fußläufiger
Entfernung sowie eine soziale und kulturelle Infrastruktur zeichnen ein Dorf mit hoher Lebensqualität aus. Wir
wollen die Lebensqualität in den kleineren Städten und Gemeinden erhalten. Auch ein planvoller Siedlungsrückbau in schrumpfenden Regionen sollte nicht ausgeschlossen werden. So soll die Versorgung mit sozialer und
technischer Infrastruktur langfristig finanzierbar sein. Dennoch können staatliche Unterstützungen die mangelnde Wirtschaftlichkeit zum Beispiel von kleinen Dorfläden nicht beseitigen, mobile Versorgungsangebote könnten
hier eine Lösungsmöglichkeit sein.
Wir plädieren für Dorferneuerungsmaßnahmen inklusive Dorfmoderation, die zu einer funktionalen Stabilisierung der Gemeinde beitragen können. Dieser Prozess erfordert die Einbindung verschiedenster Akteure vor Ort,
wie zum Beispiel ArchitektInnen, örtliche Banken, Wohlfahrtspflege, Handwerk, Kirchengemeinden, Interessengruppen und BürgerInnen. Die Programme im Bereich Stadtentwicklung und ländliche Räume müssen den Anforderungen kleiner Gemeinden angepasst werden, damit sie für diese zu handhaben sind. Gerade finanzschwachen Gemeinden, die den Eigenanteil für erforderliche Bundes- oder Landesmittel nicht leisten können, muss
eine Perspektive geboten werden.
1
Quelle: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: „Wohnen im Alter“,
http://www.bmvbs.de/cae/servlet/contentblob/67012/publicationFile/39022/wohnen-im-alter-forschungen-heft-147.pdf
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Gesundheitsversorgung sichern: Da der Anteil älterer Menschen in vielen ländlichen Regionen überdurchschnittlich steigt, wird hier die Zahl von PatientInnen mit chronischen und mehreren Krankheiten stärker zunehmen.
Damit ändern sich auch die Bedürfnisse der PatientInnen. Deswegen greift die von der Bundesregierung propagierte Förderung von Landarztpraxen zu kurz. Wir brauchen ein neues Verständnis der Gesundheitsversorgung,
eine andere Aufgabenteilung der Gesundheitsberufe und vor Ort angepasste Versorgungsstrukturen.
Dazu gehört, Potenziale der unterschiedlichen Akteure und Träger der Gesundheitsversorgung miteinander zu
vernetzen. Wir wollen, dass Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, niedergelassene MedizinerInnen und andere
Gesundheitsberufe in regionalen Versorgungsverbünden enger zusammenarbeiten. Die Grenzen zwischen den
verschiedenen Versorgungssektoren werden so durchlässiger, Versorgungslücken können geschlossen werden.
Solche regionalen integrierten Versorgungssysteme sind eine Voraussetzung für den Erhalt vieler Landkrankenhäuser, die heute oft nicht mehr rentabel betrieben werden können.
Eine Schlüsselrolle für die Gesundheitsversorgung auf dem Lande haben die Pflegekräfte. Qualifizierte Pflegekräfte müssen mehr Verantwortung übernehmen dürfen. Bisher steht dem aber die Arzt-Zentriertheit des deutschen
Gesundheitssystems entgegen. Anders als zum Beispiel in Großbritannien oder Skandinavien, dürfen bei uns fast
alle im weitesten Sinne medizinischen Tätigkeiten bei Bagatellerkrankungen und in der Pflege nur durch eine
Ärztin/einen Arzt ausgeübt oder veranlasst werden. Diese Kompetenzverteilung in den Gesundheitsberufen muss
unbedingt auf den Prüfstand.
Nicht zuletzt müssen neue flexible Versorgungsformen gefördert werden. Dazu gehören etwa Fahrdienste für
Arztbesuche, Arztfilialen oder mobile Praxisteams, in denen verschiedene Gesundheitsberufe zusammenarbeiten.
So könnten für PatientInnen in kleinen Gemeinden regelmäßige Sprechstunden und Hausbesuche sichergestellt
werden. Durch diese Veränderungen können ländliche Regionen zum Vorbild und zum Schrittmacher für Reformen werden, die auch in den Städten und Ballungszentren auf die Tagesordnung gehören.
Sozialplanung im ländlichen Raum umsetzen: Gerade in ländlichen Regionen sollten sich die Kommunen und
Kreise im Rahmen ihrer Daseinsfürsorge stärker in der Gestaltung, Planung und Steuerung von Altenhilfe und
Pflege einbringen. Die Sozialplanung als langfristig angelegter Prozess entwickelt und koordiniert vorausschauend integrierte soziale Unterstützungssysteme. Politik, Verwaltung, freie Träger und engagierte BürgerInnen sollten dieses Instrument offensiv nutzen, um regionale Netzwerke anzustoßen und umzusetzen.
ALTERSÜBERGREIFEND DENKEN, ZIVILGESELLSCHAFT STÄRKEN
Generationenübergreifende Treffpunkte schaffen: Für ehrenamtliches Engagement und das Miteinander von
Jung und Alt müssen Räume entstehen. Durch das Modellprojekt der Mehrgenerationenhäuser gibt es einige solcher Orte. Allerdings hat die Bundesregierung kein Konzept für eine nachhaltige Etablierung und Finanzierung
vorgelegt. Zudem hat sie Projekte zur Bürgerbeteiligung, zur Integration und Quartiersmanagement durch die
Umstrukturierung des Städtebauförderungprogramms „Soziale Stadt“ deutlich beschnitten.
Mehrgenerationenhäuser oder ähnliche Einrichtungen dürfen nicht in Konkurrenz zu bestehenden Strukturen vor
Ort treten. Der generationenübergreifende Gedanke zwischen Alt und Jung muss in allen Einrichtungen stärker
zum Tragen kommen, bspw. damit dort auch der Pflegestützpunkt angesiedelt ist. Einrichtungen sind vor allem
dann erfolgreich, wenn kommunal gut verankert sind und wenn sie sich mit der Förderung und Unterstützung
von Familien beschäftigen. Für solche Strukturen bedarf es ein nachhaltiges Konzept.
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Zivilgesellschaft stärken: Das wichtigste Potenzial des ländlichen Raumes sind aktive Menschen. Eine lebendige
Zivilgesellschaft ist fähig, gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche aufzunehmen und sie zu ihrem Wohl
zu gestalten. Dafür brauchen wir gerade in ländlichen Regionen neue Beteiligungsverfahren. Die Ausarbeitung
von Dorfentwicklungsplänen oder die Gründung von Dorfentwicklungsvereinen ermöglichen neue Beteiligungschancen, indem sie die BürgerInnen in die kommunale Gestaltung mit einbeziehen. Flache Strukturen vor Ort erleichtern freiwilliges Engagement, da sie Reibungsverluste und damit Frustration mindern. Menschen engagieren
sich aus verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlichen Motiven, zeitlich ungebunden oder dauerhaft.
Wichtig ist, dass die Freiwilligkeit im Vordergrund steht und die Strukturen offen bleiben. Staatliches Handeln
muss hier die Vielfalt und Unabhängigkeit bürgerschaftlichen Engagements unterstützen.
Beteiligung und Engagement für das Gemeinwesen braucht gute Rahmenbedingungen. Fortbildungsangebote,
Absicherung der mit ehrenamtlichen Tätigkeiten verbundenen Risiken und verlässliche Strukturen stärken das
ehrenamtliche Engagement. Die Institutionalisierung von AnsprechpartnerInnen auf Gemeinde- oder Kreisebene
dient der Kristallisation durch Information, Vernetzung, Kooperation und Beratung. Koordinatoren und Ehrenamtsbörsen können Hilfe leistende und Hilfe suchende Menschen vernetzen. Dafür müssen Kommunen endlich
wieder besser ausgestattet werden, um ihren freiwilligen Aufgaben nachkommen zu können. Planungen und
Umsetzung zivilgesellschaftlicher Förderung muss zukünftig in enger Zusammenarbeit von Bund, Ländern und
Kommunen erfolgen.
Lebenslanges Lernen fördern: Um immer neuen Anforderungen - nicht nur - im Beruf gerecht werden zu können und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, ist die Förderung lebenslangen Lernens zwingend notwendig. Mit einem Erwachsenenbildungsförderungsgesetz wollen wir Weiterbildung als vierte Säule unseres Bildungssystems etablieren. Berufliche und allgemeine Weiterbildungsangebote können Menschen gerade im ländlichen Raum über Neue Medien erreichen. Barrierefreie Internet- und Medienangebote sowie eine flächendeckende breitbandige Internetversorgung kann zu gesellschaftlicher Teilhabe aller Menschen beitragen und eingeschränkte Mobilität von älteren Menschen und Menschen mit Behinderung teilweise kompensieren. Projekte wie
„Internet goes Ländle“ aus Baden-Württemberg sind gute Beispiele dafür, wie mit einem Train-the-trainerKonzept die Medienkompetenz von älteren Menschen im ländlichen Raum gefördert werden kann.
Kulturelle Angebote neu ausrichten: Kulturelle Angebote prägen nicht nur die Identität einer Region, sondern
tragen vor allem zur Zufriedenheit und sozialer Teilhabe der BürgerInnen bei. Vielfältige und abwechslungsreiche
Kulturangebote sind längst ein entscheidender Wirtschaftsfaktor, sie stärken Innovationskraft und soziale Gerechtigkeit. Denn Kulturinstitutionen und Festivals ebenso wie die „freie Szene“ tragen wesentlich zur Attraktivität von Orten als Wirtschaftsstandort und Tourismusmagnet bei. Gerade die soziokulturellen Zentren nutzen das
Potenzial der Region.
Allerdings stehen in strukturschwachen ländlichen Regionen Kürzungen im Kulturbereich an erster Stelle. "Wo
Kultur wegbricht, wird Platz frei für Gewalt"- diese Mahnung August Everdings beschreibt treffend die gesellschaftlichen Konsequenzen des Mangels an kulturellen Angeboten. Wir treten daher für eine Sicherstellung der
kulturellen Infrastruktur ein. Dazu gehört auch, dass Kultureinrichtungen ihr Angebot auf die veränderte Sozialstruktur und neue Zielgruppen ausrichten. Es müssen Räume für die Kulturelle Entfaltung bereitgestellt werden.
Wir fordern eine Erhöhung der Mittel für den Fonds Soziokultur um mindestens 25 Prozent sowie der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren, um soziokulturelle Aktivitäten bundesweit stärker als bisher fördern zu können.
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VORAUSSETZUNGEN FÜR SOZIALE INFRASTRUKTUR
Handlungsfähigkeit der Kommunen sichern: Die demografische Entwicklung verstärkt die finanzielle Abwärtsspirale, gerade für Gemeinden in strukturschwachen Regionen. Weniger EinwohnerInnen führen zu sinkenden
Einnahmen – etwa aus Steuern, des Länderfinanz-ausgleichs oder durch die sinkende Erwerbsquote. Auf der
Ausgabenseite erhöht eine alternde Bevölkerung die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen. Zudem sind strukturschwache und vom demografischen Wandel besonders betroffene Regionen mit erhöhten Infrastrukturkosten
belastet. Hier kommt die sogenannte Kostenremanenz zum Tragen, die das Phänomen beschreibt, dass die Ausgaben einer Gebietskörperschaft für eine bestimmte kommunale Leistung nicht in dem Maße sinken, wie diese
zuvor bei Bevölkerungswachstum gestiegen sind. Die Folge sind steigende pro Kopf-Ausgaben der Gemeinden.
Dies gilt auch für die sozialen Leistungen, wie z.B. der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, die
mit der älter werdenden Gesellschaft zunehmen.
Klamme kommunale Kassen zwingen Gemeinden, freiwillige Leistungen einzusparen. Wir fordern deshalb, die
steuerlichen Einnahmen der Gemeinden zu stärken und bei den sozialen Pflichtleistungen die Kommunen durch
höhere Bundesanteile zu entlasten.
Interkommunale Kooperationen sind ein wichtiger Baustein für die Sicherstellung der kommunalen Daseinsvorsorge, um Kräfte und Kompetenzen vor Ort zu bündeln. Hier bestehende Rechtsunsicherheiten und steuerliche
Hindernisse müssen beseitigt werden.
Technische Infrastruktur - Mobilität und Breitbandversorgung als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe: Weite Wege sind kennzeichnend für den ländlichen Raum, eine gute Mobilität gerade für Jüngere und Ältere
zwingend notwendig. Stattdessen steigen vor Ort die Pendeldistanzen, die kleinräumige Versorgungsinfrastruktur
und das Angebot des ÖPNV werden wegen sinkender Nachfrage abgebaut, die Abhängigkeit vom Auto wächst.
Oft bleibt der Schulverkehr das einzige Angebot im öffentlichen Nahverkehr. Doch der ÖPNV muss im ländlichen
Raum weiterhin als wichtiger Bestandteil der Daseinsvorsorge verstanden werden. Wir fordern neben den klassischen Nahverkehrsangeboten zusätzliche, alternative Formen, die barrierefrei gestaltet sein müssen. Dazu zählen
Anrufsammeltaxi, BürgerInnenbus, Anruflinientaxi, Anrufbus sowie der Kombibus – eine Kombination von Linienbus, Post, Kurierdienst und Fahrdienst, der sich in der Schweiz und Skandinavien bewährt hat und in der
Uckermark in der Entwicklung steckt. Wir wollen privat oder im Verein organisierte Fahrdienste unterstützen und
Hemmnisse abbauen. Zusätzlich setzen wir weiterhin auf den Schienenverkehr. Er kann in ländlichen Regionen
das Rückgrat im öffentlichen Verkehr sein. Deshalb muss bei der Revision der Regionalisierungsmittel 2015 eine
auskömmliche Finanzierung des Nahverkehrsangebots auf der Schiene erhalten bleiben.
Für die soziale Teilhabe im ländlichen Raum wird ein Breitbandanschluss immer notwendiger, aber eine Grundversorgung ist flächendeckend noch nicht vorhanden. Deshalb fordern wir einen Universaldienst, also ein Recht
auf schnelles Internet für alle, mit einer Geschwindigkeit von 6Mbit/s, finanziert über einen Unternehmensfonds.
Die Mindestbandbreite muss dynamisch gestaltet und in regelmäßigen Abständen angepasst werden. 2
2
Mehr Informationen zur technischen Infrastruktur findet sich im Beschluss „Strukturen im ländlichen Raum grün modernisieren“ der Bun-
destagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
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DIE BUNDESTAGSFRAKTION VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SETZT SICH VOR ALLEM
DAFÜR EIN,
dass alle Kinder gute und gerechte Startchancen bekommen – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und
der Region, in der sie aufwachsen. Daher brauchen wir ein qualitativ hochwertiges Angebot an ganztägiger
Kindertagesbetreuung. Dies befördert auch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
auch auf dem Land ein flächendeckendes Angebot gebundener Ganztagsschulen zu schaffen, die als selbstständige Einrichtungen individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen gewährleisten;
mit multifunktionalen Bildungszentren, kulturellen und mobilen Beratungsangeboten den ländlichen Raum
für Jugendliche attraktiv zu gestalten. Dabei müssen Jugendliche an der Weiterentwicklung der Angebote
grundlegend beteiligt werden;
Bildungsinstitutionen zu vernetzen, Ausbildung und Hochschulen als Motoren regionaler Entwicklung zu nutzen und gute Arbeit in der Region zu unterstützen;
die Teilhabe vor allem älterer Menschen zu gewährleisten, indem sie bei Entscheidungen über die Gestaltung
der Lebenswelt, Infrastruktur etc. verbindlich einbezogen werden;
Räume für Austausch, Kooperation und Vernetzung einzurichten. Soziale Infrastruktur kann räumliche Distanzen überwinden und lebendige Zivilgesellschaft zusätzlich stärken;
die pflegerische Versorgung im ländlichen Raum bspw. durch die Verfügbarkeit eines Pflegebudgets, den
Ausbau von entlastenden Diensten und von alternativen Wohn- und Betreuungsformen zu stärken;
die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe zu verbessern und der Pflege einen größeren Stellenwert zu geben. Zugleich müssen mehr Anreize für sektorenübergreifende Versorgungsformen geschaffen werden;
das Programm „Altersgerecht Umbauen“ zu verstetigen und Programme in den Bereichen Stadtentwicklung
weiterzuentwickeln;
die kulturelle Infrastruktur zu erhalten und auszubauen, denn Kulturangebote und Gelegenheiten zur künstlerischen Aktivität haben einen entscheidenden Einfluss auf das Identitätsempfinden zum Heimatort und auf
die Attraktivität von Orten;
die finanzielle Situation der Kommunen zu verbessern;
Mobilität und Breitbandversorgung im ländlichen Raum zu gewährleisten.
AUSBLICK
Der ländliche Raum steht vor einem weitgreifendem Strukturwandel, den wir gestalten wollen. Die Prognosen
zum demografischen Wandel werfen die Frage auf, unter welcher Prämisse die soziale Infrastruktur konzipiert
wird. Das Grundgesetz gibt das Ziel vor, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Landesteilen anzustreben.
Gleichwertig heißt aber aus unserer Sicht nicht identisch. Vor allem muss JedeR die Chance auf gerechte Teilhabe
am gesellschaftlichen und politischen Leben haben. Aus unserer Sicht müssen die Angebote der sozialen Infrastruktur so gestaltet werden, dass sie von Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten genutzt
werden können. Nur mit Blick auf Vielfalt kann der Gedanke einer inklusiven Gesellschaft Realität werden.
09/2012 | Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion | FRAKTIONSBESCHLUSS VOM 10.09.2012
» DIE ZUKUNFT DER SOZIALEN INFRASTRUKTUR
IN LÄNDLICHEN REGIONEN | 10
Unsere Analyse zeigt, dass wir mehr flexible und dezentrale Angebote brauchen. Alte Glaubenssätze müssen
überprüft werden. Wir brauchen eine ehrliche Diskussion darüber, wie sich die demografische Entwicklung regional auswirken wird, welche Angebote die Menschen wirklich brauchen und was der Staat, die Gemeinde und
die Bürgerschaft leisten können, um die negativen Folgen abzufedern. Den Königsweg für die Anpassung und die
Gestaltung an den demografischen Wandel im ländlichen Raum gibt es nicht. Gemeinsam müssen Gemeinden
und Regionen nach Antworten suchen. Wichtig ist es, die einzelnen Maßnahmen in einem kleinräumigen, dafür
langen Planungshorizont von etwa 20 Jahren zu sehen. Neues, innovatives und vor allem ressortübergreifendes
Denken und Handeln ist von allen Akteuren gefordert, damit auch unter veränderten Bedingungen weiterhin ein
lebendiges und teilhabegerechtes Leben auf dem Lande möglich ist.
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