Darmstädter Expressionismus«

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Hannes Heer
»Darmstädter Expressionismus«
Gustav Hartung oder die Verteidigung der Republik mit den Mitteln des Theaters
GEWALT DER FRÜHEN JAHRE
G
ustav Hartung, 1897 in Ostpreußen unter dem Namen May geboren, war nach einer
Schauspielausbildung bei Max Reinhardt in Berlin ans Bremer Theater gegangen und 1914
als Regisseur ans Schauspielhaus Frankfurt verpflichtet worden. Zwei Jahre lang produzierte er im damals üblichen Rhythmus von zwei Wochen Schwänke und Komödien und lernte
daneben von den ungewöhnlichen, weil »modernen« Inszenierungen seines Regiekollegen
Karl-Heinz Martin. 1917, als der von Dresden gekommene Intendant Carl Zeiß eine neue
Ära begründete, wurde Hartung Oberspielleiter. Nachdem er im September und Oktober
Carl Sternheims »Perleberg« und Georg Kaisers »Der Zentaur« zur Uraufführung gebracht
hatte, gelang ihm mit Paul Kornfelds »Die Verführung« am 8. Dezember 1917 der Durchbruch: Es war der Einzug des Expressionismus am Frankfurter Schauspielhaus, und Hartung
wurde dessen wichtigster Regisseur.
Als Hartung 1920 bei der Nachfolge für den scheidenden Frankfurter Theaterleiter Zeiß
nicht zum Zug gekommen war, ging er als Intendant nach Darmstadt. Dort faszinierte er die
Besucher mit in einer ungewohnt neuen Tonart inszenierten Klassikern und irritierte sie zugleich mit aufsehenerregenden Uraufführungen expressionistischer Literatur: Sternheims
»Der entfesselte Zeitgenosse«, eine Satire um eine reiche Erbin, die auf ihrem Schloss von
gierigen Heiratskandidaten belagert wird, polarisierte das Publikum und provozierte die ersten Pfiffe. Und Fritz von Unruhs schon 1912 entstandenes, aber vom Kaiser verbotenes kritisches Poem »Prinz Louis Ferdinand von Preußen« provozierte das revanchistisch-deutschnationale Milieu der ehemaligen Residenzstadt ebenso wie die Person des Dichters, der als
Preußenrenegat und Gesinnungspazifist galt.
Darmstadt war damals, wie Frankfurt, ein Tummelplatz revanchistischer und antisemitischer Bünde. Alle diese außerparlamentarischen Gruppen waren republikfeindlich und
zeichneten sich durch eine hohe Gewaltbereitschaft aus. Die meist aus ehemaligen Angehörigen der »Freikorps« und rechtsradikalen Studenten bestehenden Wehrverbände organisierten den Widerstand gegen die französischen Truppen, die gemäß Versailler Vertrag Teile
des Rheinlands und damit auch Hessens besetzt hatten, und bereiteten den gewaltsamen
Sturz der Republik vor. Der Geheimbund »Organisation Consul«, dessen legaler Arm der
Bund »Wiking« war, versuchte, mit der Ermordung prominenter Politiker diesen Prozess zu
beschleunigen. Und eine antisemitische Massenorganisation wie der »Deutschvölkische
Schutz- und Trutzbund«, der für die Niederlage und die Revolution von 1918 »die Juden«
verantwortlich machte und deren »restlose Ausscheidung« forderte, überzog 1920/21 die
ganze Republik mit einer Welle von Störaktionen gegen Theater, die Stücke jüdischer Autoren aufführten. Als parlamentarisches Sprachrohr dieser Gruppen und Verbände fungierte
die »Deutschnationale Volkspartei«, deren Sprecher im Volksstaat Hessen Ferdinand Werner
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war. Der Butzbacher Oberstudienrat, Mitbegründer der DNVP wie des »Deutschvölkischen
Schutz- und Trutzbundes«, war, nach dem Urteil der »Frankfurter Zeitung«, »der antisemitische Hauptagitator« in Hessen.
Aus diesem Milieu, aus dem ein Jahr später die ersten hessischen Ortsgruppen der
NSDAP in Frankfurt und Darmstadt entstehen sollten, erfolgte am 25. Mai 1921 der Angriff
auf das Landestheater. Anlass war das fast hundert Jahre alte Stück »Kean« von Alexandre
Dumas. Kasimir Edschmid hatte den reißerischen Lebensabriss des berühmten englischen
Shakespeare-Darstellers Edmund Kean bearbeitet und um groteske Box- und Mordszenen in
einer Hafenspelunke erweitert. Wehrverbände wie der Bund »Wiking« versuchten die Premiere am 25. Mai 1921 mit Trillerpfeifen und Sprechchören zu sprengen. Die Aufführung
eines französischen Stücks, während französische Truppen das Rheinland besetzt hielten,
wurde als politische Provokation und die Darstellung der Gewaltexzesse einer trivialen
Halbwelt auf der Bühne als Anschlag auf den guten Geschmack verstanden. Der Bearbeiter
Edschmid, Gründer der Darmstädter Sezession und Mitglied der pazifistischen Clarté-Bewegung, war für die extreme Rechte ein Kulturzerstörer und Vaterlandsverräter. Der ganze
Hass aber richtete sich gegen Gustav Hartung, den »Judenfreund«: Angeblich hatte er beabsichtigt, den Bayreuther Festspieldirigenten und Darmstädter Generalmusikdirektor Michael Balling durch einen Nachwuchsdirigenten jüdischer Herkunft zu ersetzen.
Das konservative Darmstädter Bürgertum unterstützte die Proteste im und gegen das
Theater: Die Inszenierung habe die Grenzen des »im Rahmen eines ernsten Stücks Erlaubten« überschritten, kommentierte das »Darmstädter Tagblatt«, und ein Abgeordneter der
»Deutschen Volkspartei« verurteilte das Stück im Landtag als »unmoralisch und abscheulich«. Der Überfall auf das Hessische Landestheater, das Zentrum bürgerlicher Hochkultur
und Selbstrepräsentation, wie die folgenden Angriffe in Presse und Landtag, waren eine
Feinderklärung. Aber Hartung wich davor nicht zurück. Im Gegenteil.
Im Februar 1922 aus Anlass der Eröffnung des Kleinen Hauses machte der Intendant sein
Verständnis von Theater in einer programmatischen Rede öffentlich: Kunst und vor allem
Theater sei kein »freundliches Unterhaltungs- oder schönes Erbauungsmittel«, sondern ein
»Forum, auf dem die Menschheit die Kämpfe, die sie am stärksten bewegten« gedeutet
sehen wolle. Vom Theater nur die Präsentation des »Klassisch-Schönen« zu verlangen, fuhr
er fort, sei bequem: der jetzt lebende Künstler könne nur »aus seiner Zeit heraus« etwas Lebendiges schaffen, und wenn diese Zeit »unharmonisch« sei, so dürfe man »von ihm keine
Harmonie erwarten«. Zudem sei auch das heute als klassisch gefeierte Kunstwerk zu seiner
Zeit meist als hässlich und wertlos bekämpft worden. »Das heute Hässliche«, so Hartungs
aufreizend-treffender Hinweis, »ist vielleicht das Schöne von morgen«.
Diese Position teilte auch das Ensemble. Das zeigte sich, als der langjährige Sachverständige des Berliner Polizeipräsidiums in Sachen »Schmutz und Schund« und Regierungsrat im Preußischen Wohlfahrtsministerium, Karl Brunner, am 2. Mai 1922 in Darmstadt
einen Vortrag hielt. Brunner war bei der im Februar 1921 mit Stinkbomben ausgetragenen
Attacke des antisemitischen »Schutz- und Trutzbundes« gegen die Aufführung des »vom
Juden« Arthur Schnitzler verfassten Stücks »Der Reigen« am Berliner Schauspielhaus beteiligt gewesen und hatte anschließend die juristische Verfolgung der Schauspieler wie der
Theaterleitung erzwungen. Seitdem war »Schmutz-Brunner«, wie er sich stolz nannte, zum
Helden einer deutschnational-christlichen Einheitsfront der »deutschen Gesittung« und zum
Propheten des Untergangs der im »Sumpf der Unzucht« versinkenden deutschen Theater geworden. Während ihm in der Frankfurter Paulskirche am 30. April 1922 ein tausendköpfiges Publikum zugejubelt hatte, kam es bei der darauf folgenden Veranstaltung in Darmstadt
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zu Tumulten: 20 Mitglieder des Landestheaters protestierten mit einer Erklärung gegen
Brunners Auftritt und dessen reaktionäres Kunstverständnis.
DAS THEATER ALS FRONT
Von den Gegnern der Moderne wurde Hartungs Bekenntnis zu einer gegenwartsbezogenen Kunst wie die mutige Einmischung seines Ensembles in diese Debatte als offene
Kampfansage verstanden und entsprechend beantwortet. Georg Büchners am 23. Januar
1923 erstmals in seiner Heimatstadt aufgeführte Komödie »Leonce und Lena« war der Anlass. Das Stück wurde bei der Premiere von einer Minderheit regelrecht ausgepfiffen und
vom konservativen »Darmstädter Tagblatt« und der rechtsextremen »Hessischen Landeszeitung« wegen der Angriffe auf Königtum und Kirche zum Gegenstand einer Kampagne gemacht. Das katholische »Zentrum« und die »Deutsche Volkspartei« schlossen sich diesen
Protesten an und richteten zwei Beschwerden an den Landtag.
Dessen Debatte am 4. Mai 1923 offenbarte wie unter einem Mikroskop zwei Grundelemente des antimodernen bürgerlichen Kunstverständnisses. Die Zentrumsabgeordnete Elisabeth Hattemer entwarf ein moralisch und ästhetisch bewahrendes Konzept, das hohen
volkspädagogischen Ziele verpflichtet war: »Der Zweck des Theaters« sei »die Hebung der
Kultur und die Veredelung des Menschen.« Daher dürften nur solche Werke zur Aufführung
kommen, die »sittlich einwandfrei, erhebenden bildenden Wert« besäßen. Stücke, in denen
das »Niedere« oder die »großen Probleme des Lebens« dargestellt würden, ohne klare Lösungen anzubieten, hätten auf der Bühne keinen Platz. Statt des modisch Neuen und um
jeden Preis Modernen sollte »das gute Alte, [das] vorhanden und noch allgemein beliebt und
angesehen ist« in den Spielplan aufgenommen und in den »vom Dichter vorgeschriebenen«
Kostümen und Bühnenbildern inszeniert werden.
Der Sprecher der »Deutschen Volkspartei«, Eduard Dingeldey, ging entschieden weiter:
Nicht Bewahren, sondern Rettung sei das Gebot der Stunde. Für ihn war Kultur ein politisches Gut und ein Instrument zur nationalen Mobilisierung. Vor dem Hintergrund der durch
die militärische Niederlage, die Revolution und den folgenden Bürgerkrieg ausgelösten Erschütterungen diagnostizierte er die Gegenwart als eine Zeit, in der sich die Menschen »aus
der Verwurzelung« mit einer übergeordneten Ordnung gelöst und stattdessen »eine freie
Willkür des Einzelnen, der einzelnen Wünsche und Triebe« proklamiert hätten. Das Theater, namentlich das des Expressionismus, habe diesen neuen Geist der »Autonomie« und des
»Unverantwortlichen« gestärkt. In einer solchen Zeit habe die Kunst, genauer: die deutsche
Kunst die hohe Aufgabe, »das Wurzellose wieder festzupflanzen in dem Erdreich des Volkes, und das Auseinanderstrebende, das sittlich Verbildete wieder zu heilen« und das große
Erbe der deutschen Kultur als »erstrebenswertestes Ziel allen vor Augen zu stellen«. Denn
diese unvergängliche Erbschaft, so Dingeldey, sei »das Letzte, was uns geblieben ist in dieser Zeit des äußeren, des wirtschaftlichen Verfalls, in dieser Zeit, in der man versucht, das
Reich uns zu nehmen und zu zerstückeln«. Hartung stehe in Opposition zu einem solchen
Kunstverständnis und müsse daher abtreten.
Was sich hier artikulierte, waren die aus dem Trauma des Untergangs der alten politischkulturellen Ordnung 1918 entstandenen Ängste vor der Zerstückelung des eigenen Volkes
wie des verbliebenen Reiches, potenziert mit dem Schrecken, den das Erscheinen einer
neuen, alle bisherigen Seh- und Hörgewohnheiten außer Kraft setzenden modernen Kunst
auslöste. Rettung vor den Zentrifugalkräften dieses offensichtlich unaufhaltsamen Erosi-
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onsprozesses bot nur der Rückgriff auf den Kanon einer als klassisch verstandene Kunst, die
zur »Bildungsstätte der deutschen Seele«, zum »Heiligen Gral« und zur Fluchtburg des »geheimen Deutschlands« proklamiert wurde.
Die These vom Kampf um die letzten Dinge enthielt einen gefährlichen Subtext: Die Rettung des kulturellen Erbes konnte nur durch die Deutschen selbst erfolgen. Die Juden als
Nichtdeutsche waren davon ausgeschlossen. Eduard Dingeldey hatte in seiner Grundsatzrede auch einen Theaterzettel zur Aufführung von Gerhard Hauptmanns Stück »Die Weber«
scharf kritisiert: Der Abdruck des gleichnamigen Gedichts von Heinrich Heine mit den berühmten Versen »Deutschland, wir weben Dein Leichentuch/Wir weben hinein den dreifachen Fluch/Wir weben, wir weben, wir weben! […] Ein Fluch dem falschen Vaterlande, /wo
nur gedeihen Schmach und Schande« war für den Vorsitzenden der rechtsliberalen »Deutschen Volkspartei« ein Beitrag zur Schwächung der gerade jetzt so notwendigen nationalen
Einheitsfront. Sein Kollege von der »Deutschnationalen Volkspartei«, Rudolf Kindt, ging
weiter: Für ihn bestand der Skandal darin, dass Heinrich Heine, einem »Nichtdeutschen, der
von Paris aus sein Vaterland in infamster Weise beschimpft hat«, in einem deutschen Theater überhaupt das Wort erteilt worden war.
Das »Darmstädter Tagblatt« verschärfte diese Debatte mit dem Vorwurf, Hartung habe ein
»Kunstinstitut« in ein »Instrument politischer Propaganda« verwandelt. Das aber sei ein
»Verbrechen an der hehren Aufgabe der Kunst, Verbrechen an unserm Volk«. Dann folgten
zwei Sätze, die das geheime Credo des bildungsbürgerlichen Kampfbundes gegen Kunstmoderne, Republik und Aufklärung bildeten: »Jede Kunst kann nur national sein. […] So
kann auch ein Kunstwerk, hier das Drama und die Oper, im tiefsten Kern nur von dem Volk
erfasst und verstanden werden, aus dessen Geist heraus das Werk geschaffen wurde.« Diese
Sätze waren fast wörtliche Zitate aus Richard Wagners antisemitischem Pamphlet »Das Judentum in der Musik« und die Verbindung zu Hitlers Vorstellung von Kunst.
Parlamentsdebatten und Zeitungskampagnen wie diese trugen zu dem Klima von judenfeindlichen Gerüchten und Verdächtigungen bei, mit dem die Arbeit des Landestheaters tagtäglich diskreditiert wurde. »Jede Aufführung«, so die Beobachtung des Theaterkritikers
Wilhelm Michel, »wird darauf beäugt, ob sie einer minderheitlichen und minderwertigen
Voreingenommenheit in den Kram paßt. Jedes Neuengagement wird auf Judenreinheit geprüft.« Durch diese Schnüffelei und die damit verbundene Hetze werde das Verhältnis der
Bevölkerung zum Landestheater »systematisch vergiftet«. Gustav Hartung, von der überregionalen Theaterkritik als der »Regisseur der Energie«, der »Regisseur mit dem immensen
Formtrieb«, der »Zusammenpresser«, der »Willensbändiger«, als einer, der »in das Werk hineinsteigt und aus Fläche Plastik macht« gefeiert, kapitulierte angesichts dieses permanenten öffentlichen Sperrfeuers wie der infamen verdeckten Angriffe. Obwohl er vom Kultusministerium für drei weitere Jahre verpflichtet worden war, kündigte er im Herbst 1923
seinen Vertrag. Als er Darmstadt im Sommer 1924 verließ, bilanzierte Bernhard Diebold in
der »Frankfurter Zeitung«: »Keine deutsche Provinzbühne […] darf sich solcher oder nur
ähnlicher Leistungen erfreuen, wie sie Hartung hervorbringt«.
DIE KULTURELLE SA
Der Aufstieg der hessischen NSDAP, der 1922 mit der Gründung der ersten Ortsgruppen
in Darmstadt und Frankfurt begonnen hatte, erfuhr durch den gescheiterten Hitlerputsch im
November 1923 und das danach verhängte Verbot einen empfindlichen Rückschlag. Für die
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von Hitler 1925 wiedergegründete Partei zeigten sich die ersten Erfolge in Hessen bei den
Kommunalwahlen Ende 1929: die NSDAP erzielte hohe Gewinne auf dem Land. Fünf Nationalsozialisten schafften den Einzug in den Darmstädter Stadtrat. Aber erst der Erdrutschsieg bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930, der die NSDAP zur zweitstärksten
Partei im Reichstag machte, erschütterte auch das politische System im Volksstaat Hessen:
Fast ein Fünftel der wahlberechtigten Bevölkerung war der NSDAP gefolgt. Die Gründe für
diese politische Wende lagen nicht nur in der flächendeckenden und alle Interessengruppen
bedienenden Propaganda der NSDAP, die zu einer enormen Mobilisierung von bisherigen
Nichtwählern geführt hatte. Die ökonomische Krise hatte auch die tradierten antisemitischen Feindbilder auf dem Land reaktiviert und in den Städten das massenhafte Überlaufen
bürgerlicher Stammwähler von den beiden deutschnationalen Parteien zu den Nationalsozialisten beschleunigt. Bei den hessischen Landtagswahlen am 15. November 1931 wiederholte sich dieser Triumph: Die NSDAP wurde mit 31,7 Prozent der Stimmen zur stärksten
Partei. Die seit 1919 unangefochten regierende Koalition von SPD, Deutscher Demokratischer Partei und »Zentrum« hatte ihre Mehrheit verloren und blieb nur noch geschäftsführend im Amt. Zum Parlamentspräsidenten wurde der 1928 aus der »Deutschnationalen
Volkspartei« ausgetretene und 1930 zur NSDAP gewechselte Judenhasser Ferdinand Werner
gewählt.
Die Triumphe der NSDAP waren nicht nur deren demagogischen Versprechungen und der
Faszination ihres Führers geschuldet. Damals, in den Jahren 1930 bis 1933, vollzog sich ein
Prozess, der die Bezeichnung »Machtergreifung« zu Recht verdient: Durch das Eindringen
der Nationalsozialisten in das Netzwerk der von Vereinen, Berufsorganisationen und anderer Interessengruppen gelang ihnen in vielen Sektoren der Gesellschaft die allmähliche Erringung der geistig-kulturellen Hegemonie. Eine dieser vielen Vorhutorganisationen, die
sich einer solchen »Mobilisierung von unten« verschrieben hatte, war der »Kampfbund für
deutsche Kultur«.
Nur der arischen Rasse, so hatte Hitler in »Mein Kampf« doziert, komme aufgrund ihres
rassisch bedingten »Idealismus« die Rolle eines »Kulturbegründers« zu. Das jüdische Volk
dagegen habe aufgrund seines »nackten Egoismus« nie eine eigene Kunst hervorgebracht.
Die Juden könnten nur die vorgefundene fremde Kunst imitieren, schlimmer noch: als »Parasiten« und »Schmarotzer« würden sie die rassische Existenz und künstlerische Schöpferkraft ihrer Gastvölker bedrohen. Sie seien »Kulturzerstörer«. Die aus dieser Wahnidee abgeleitete Kunstpolitik ließ sich in einem Satz zusammenfassen – Rettung der »arischen
Kunst« durch Ausschaltung der Juden. Diesen Abwehrkampf zu organisieren, übernahm Alfred Rosenbergs Ende 1928 gegründeter »Kampfbund für deutsche Kultur«, der im Unterschied zu den Konzepten der christlich-konservativen Kulturbünde vom »Kulturverfall« im
»zersetzenden Einfluss des Judentums« einen eindeutigen Verursacher und in dessen »Ausscheidung« einen radikalen Rettungsplan präsentieren konnte. Unterstützt von Leitfiguren
des völkischen Lagers wie Winifred Wagner, Adolf Bartels und Paul Schultze-Naumburg
wurde der »Kampfbund« zum Motor des bisher vom Bürgertum dominierten Kulturkampfes und entwickelte sich zu einer, wie die »Frankfurter Zeitung« schrieb, »auf kulturell frisierten SA«. Es gelang ihm, sich in der Endzeit der Weimarer Republik als erfolgreicher
Brückenkopf der NSDAP im Feld der Kunst und als radikale Alternative zu den bestehenden reaktionären Kulturvereinen zu etablieren. Er diente dann auch als Rekrutierungsfeld
für die bei der Machtübernahme benötigten neuen Kulturfunktionäre.
Nachdem in den NS-Hochburgen München, Weimar, Bayreuth, Dresden und Berlin schon
1929 Ortsgruppen entstanden waren, erfolgte 1930 in einer zweiten Welle die Gründung von
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weiteren Gruppen in Karlsruhe, Stuttgart, Darmstadt, Frankfurt, Köln und Düsseldorf. In
Darmstadt gelang es der Ortsgruppe des »Kampfbundes«, eine Handvoll Orchestermitglieder des Landestheaters als Mitglieder zu gewinnen und mit ihnen am Theater eine informelle, aber einflussreiche Zelle der NSDAP aufzubauen.
RETTUNG DER REPUBLIK MIT DEN MITTELN DES THEATERS
Als Gustav Hartung im Herbst 1931 auf Betreiben des sozialdemokratischen Innenministers Wilhelm Leuschner überraschend als Intendant nach Darmstadt zurückkehrte, löste
das einen Proteststurm der Rechtsparteien und der konservativen Lokalzeitungen aus. Auch
im Stadtrat kam es zu erbitterten Angriffen gegen das Verfahren und die Person Hartungs.
Die Vorwürfe seiner Gegner waren die alten – der Missbrauch des Kunsttempels Theater als
»Instrument der politischen Propaganda« und die Lust des Regisseurs am modischen Experiment wie am nihilistischen Zweifel statt selbstloser »Diener der Kunst zu sein«. Die
NSDAP, für die Hartung ein Jude war, warnte davor, dass dieser »sein semitisches Künstlertum dazu benutzen wird, um den letzten Rest von deutscher Kultur zu vernichten«. Das
waren keine Tiraden mehr wie die Landtagsreden Ferdinand Werners in den frühen 20er Jahren, sondern Hammerschläge einer Partei, die sich anschickte, die Grundfesten der Republik
wie die Freiheit der Kunst zu zertrümmern.
Nicht nur diese veränderte politische Konstellation engte den Spielraum des Theaters ein.
Auch die Menschen, für die das Theater da war, hatten sich durch die sozialen Erschütterungen der Weltwirtschaftskatastrophe verändert. Gerhart Hauptmanns Tragödie »Die
Weber« »millionenfach vergrößert«, so diagnostizierte Hartung die neue Lage. Und er reagierte darauf: Es gehe jetzt darum, das Theater »als sinngebende Stätte menschlicher Kultur
zu erhalten«, um den Menschen die moralische Kraft zu geben, »den lebensvernichtenden
Einflüssen des Tages gegenüber standzuhalten.« Das mache es notwendig, in Rückwendung
zu den Klassikern Stücke aufzuführen, die sich mit der »Staats- und Rechtsidee« befassten
und zugleich in einer inneren Beziehung stünden »zu den brennenden Fragen der Zeit.«
Gestützt auf diesen Erfolg wagte Hartung mehr: Er inszenierte den »Wilhelm Tell« –
nicht, wie gewohnt, als Idylle eines in erhabener Landschaft lebenden urwüchsigen (deutschen) Volkes und dessen wie eine Naturgewalt sich eine Bahn brechenden Befreiungskampf
gegen artfremde Herrschaft. Der Regisseur zeigte statt des patriotischen Kollektivs den Einzelnen, der sich Raum schafft für die rettende Tat, »den von Schiller gemeinten Menschen,
der auf sittliche Verantwortung, auf selbständiges Urteil, auf eigenen Entschluß und namentlich auch auf eignes Opfer gestellt ist«. Die Kritiken zeigten, dass dieser pointierte und
zur Zeitströmung querstehende Ansatz der Inszenierung sofort erkannt und, je nach Lager,
bewertet wurde: in republikanischer Lesart zustimmend als Imperativ der »individuellen
Freiheit« und als »das erste große Bekenntnis« eines deutschen Dichters »zur demokratischen Staatsform«, aus völkischer Sicht ablehnend, weil der Kern des Stückes der »Befreiungskampf eines Volkes gegen auswärtige Herrscher und ihre Willkür sei«, damals das napoleonische Völkergefängnis und, so der aktuelle Subtext, heute die Franzosen an der Ruhr
und das Diktat von Versailles. Trotz oder gerade wegen dieser Kontroverse wurde die Inszenierung zu einem der größten Triumphe Hartungs.
Ähnlich wie bei »Wilhelm Tell« ging er auch an »Maria Stuart« heran. Sein Interesse galt
nicht der Auseinandersetzung der beiden religiösen und politischen Systeme, nicht dem Zusammenstoß zweier in Rivalität verbissener und in ihrem Charakter entgegengesetzter Frau-
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entypen. Was er zeigen wollte, war der Kampf des auf dem eigenen Leben bestehenden und
moralisch eigenverantwortlichen Individuums gegen ein Staat gewordenes und als Staatsräson getarntes autoritäres Prinzip der Macht, das die Machthaber zu Gefangenen und Automaten der Zerstörung werden lässt. Mochte der Absolutismus wie jedes andere autoritäre
System über seine Gegner obsiegen, der Machtstaat, auf dem Höhepunkt seines Sieges, als
er Maria zur Hinrichtung führte, war moralisch gerichtet. »Bürgerin Stuart« lautete der Titel
eines Beitrags in der Hauszeitschrift des Theaters.
Hartung interessierten die Tiefenschichten der alten Texte mit ihren existentiellen Aussagen über den Menschen, aber immer auch deren funkenschlagender Kurzschluss mit der Gegenwart. So wollte er mit einem Büchner-Wedekind-Brecht-Projekt auf der Bühne erproben,
was die drei Theaterrevolutionäre verbinde. Vor allem Brechts »Heilige Johanna der
Schlachthöfe« war ihm wichtig, weil dieses Stück auf das Herz der gegenwärtigen Finsternis zeige – auf die Zerstörung des Menschen durch das Gesetz des Kapitalismus. »Hier liegt
von jungen deutschen Autoren die einzige Auseinandersetzungsmöglichkeit vor«, schrieb er
seinem zaudernden Dramaturgen Eugen Gürster, »mir scheint es, dass die Bühne sich aufgibt, wenn sie, auch unter Gefahr eines Kampfes, dieser Auseinandersetzung ausweicht.«
Da war der Hartung der frühen 20er Jahre zu erkennen, für den das Theater eine Form des
gesellschaftlichen Eingriffs war und die Bühne ein Forum der Selbstverständigung im Medium der Kunst. Sein Theater, so konnte man in seiner Hauszeitung, den »Blättern des Hessischen Landestheaters«, zu Beginn seiner zweiten Spielzeit im Herbst 1932 lesen, sei der
Versuch, in einer Zeit, da das »gesellschaftlich-staatliche Zusammenleben« bedroht sei und
»die Heiligkeit des Menschenlebens« nicht mehr gelte, das Gegenbild des unzerstörbaren
»Typus Mensch« zu entwerfen. Er wolle, so der Intendant, in einer durch die Leidenschaft
der politischen Kämpfe verursachten Situation tiefster »Gefühlsverwirrung« mit seiner Arbeit »einen Weg zur Selbstbesinnung« weisen. Seine Arbeit als Intendant und Regisseur am
Hessischen Landestheater von 1931 bis 1933 war nicht weniger als der waghalsige Versuch,
mit den Mitteln des Theaters die geistig-moralischen Grundlagen der Republik zu retten.
Als der Vorhang bei der Premiere von »Maria Stuart« am 20. Januar 1933 nach der fünfstündigen Aufführung gefallen war, »durchbrausten«, wie ein Kritiker sich später erinnerte,
»Beifallsstürme das Große Haus.« Sie hätten Hartungs Regie ebenso wie den schauspielerischen Leistungen gegolten, »die mit zu dem Großartigsten gehörten, was an moderner
Schauspielkunst je auf der Darmstädter Bühne zu sehen war.« Zwei Wochen nach diesem
Triumph begann die öffentliche Demütigung des Intendanten und die Zerschlagung seines
Theaters.
DIE VERTREIBUNG
Die am 30. Januar 1933 gebildete Regierung unter dem Reichskanzler Adolf Hitler war
aufgrund der triumphalen Wahlsiege der NSDAP 1932 und der Koalitionsbereitschaft des
Führers der »Deutschnationalen Volkspartei« Hugenberg eine legale Machtübernahme. Danach setzten sofort die von Hitler und seiner Partei für diesen Fall geplanten Rechtsbrüche
und Gewaltmaßnahmen ein. Parallel dazu wurde der letzte Akt einer parlamentarischen Legitimation inszeniert: Bei den Reichstagswahlen am 5. März stimmten im Reich 44 Prozent,
im Volksstaat Hessen 47 Prozent der Wähler für die NSDAP. Gestützt auf dieses Ergebnis
und die nach dem Reichstagsbrand erlassene »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«
übernahm die neue Reichsregierung im Bündnis mit den regionalen Parteigliederungen auch
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in Hessen am 6. März 1933 die Macht: Nachdem die Polizei einem Reichskommissar unterstellt worden war, wurden das Innenministerium, das Gewerkschaftshaus und die Wohnungen des sozialdemokratischen Staatspräsidenten Adelung sowie seines Innenministers
Leuschner besetzt. Am 13. März wählte das durch den Ausschluss der Kommunisten zum
Rumpflandtag gewordene Parlament Ferdinand Werner zum neuen Staatspräsidenten und sicherte der Regierung mit einem »Ermächtigungsgesetz« den rechtsfreien Raum, den sie zum
»Umbau« von Staat und Gesellschaft benötigte.
Gustav Hartung wurde synchron zu diesem Prozess der totalen Machtaneignung in seiner
Arbeit eingeschränkt, persönlich gedemütigt und am Ende verjagt.
In der Stadtratsitzung am 2. Februar 1933 billigten »Zentrum«, »Deutsche Volkspartei«
und »Deutschnationale« den Antrag der NSDAP, die Aufführung von Brechts »Die heilige
Johanna der Schlachthöfe« zu verbieten. Der Antrag, die von Hartung zu verantwortende
»Verjudung« des Landestheaters zu überprüfen, wurde einstimmig an den Städtischen Theaterausschuss verwiesen.
In der Sitzung des Theaterausschusses am 6. März, einen Tag nach dem Sieg der NSDAP
bei den Reichstagswahlen, wurde der anwesende Intendant verpflichtet, eine Liste des an
seinem Haus beschäftigten künstlerischen Personals vorzulegen, aus der hervorgehe, wer
Jude sei und wer nicht.
Am 7. März suchte im Auftrag des Landtagspräsidenten Ferdinand Werner eine vierköpfige Parteikommission, darunter die Orchestermitglieder des Landestheaters Paul Fichtmüller und Otto Drumm, den Intendanten auf und machte diesem ein Angebot: Er könne im Amt
bleiben, wenn er sieben von ihm engagierte jüdische und politisch untragbare Künstler entlasse und die Planung des Spielplans an die Partei abgebe. Als Hartung das ebenso ablehnte wie den geforderten Rücktritt, drohten die vier Emissäre, man werde seinen Abgang »mit
anderen Mitteln […] erzwingen«. Was damit gemeint war, zeigte sich in den folgenden
Tagen: die Sabotage des Spielplans.
Die für den 8. März angesetzte Premiere von Georg Bernard Shaws Komödie »Zu wahr,
um schön« zu sein musste abgesetzt werden, nachdem die SA während der Generalprobe in
den Hof des Theaters einmarschiert war. Hartung hatte seine Arbeit wegen des provozierenden Aufmarsches nicht unterbrochen, sondern war erst am Ende der Probe zu einer kurzen
Ansprache auf die Bühne gestiegen: »Wir werden dieses Stück nicht mehr herausbringen
können, das ist eine Tragödie, nicht nur für das Stück, für uns alle und für Deutschland. Ich
bin fest davon überzeugt, dass das nicht lange dauern wird, und wir dieses Stück in Freiheit
und Demokratie spielen werden.«
Am 10. März erschien die oben erwähnte Kommission erneut bei Hartung und kündigte
für die Abendvorstellung des »Fidelio« Störungen an, falls er nicht dem als Dirigent vorgesehenen Juden Hermann Adler den Auftritt verbiete. Der Intendant gehorchte, um keine Absetzung der Vorstellung zu provozieren. Am 12. März besetzte ein starker Trupp SA die Eingänge des Kleinen Hauses und verhinderte so die Vorstellung von Ferdinand Bruckners »Die
Marquise von O.«
Am 13. März, nach der Wahl des Landtagspräsidenten Werner zum neuen Staatspräsidenten, erklärte dieser, der amtierende Theaterleiter sei aus politischen Gründen für das neue
Regime nicht tragbar, und bestimmte einen kommissarischen Intendanten. Daraufhin erklärte Hartung seinen Rücktritt und flüchtete in die Schweiz.
Aber der abgesetzte Intendant gab auch als Flüchtling keine Ruhe: Zwei Wochen nach seiner Ankunft, am 3. April 1933, griff Hartung im Schweizer Radio die neuen Machthaber
wegen der Vorgänge an den deutschen Theatern heftig an. Am 3. Juni wies er in den Basler
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Nachrichten die von den Nazis verbreitete Lüge, er sei als Jude und Kommunist entlassen
worden, zurück und benannte die wirklichen Gründe: als Demokrat und von einer demokratischen Regierung zum Theaterleiter berufen, sei er für das NS-Regime nicht mehr tragbar
gewesen. Am 30. November 1933 inszenierte er am Zürcher Schauspielhaus die Uraufführung von Ferdinand Bruckners »Die Rassen«, die erste auf einem Theater erhobene Anklage gegen die seit April 1933 brutal in Szene gesetzte Verfolgung der Juden in Deutschland.
Sie erregte europaweites Aufsehen.
Hartung war, als er Ende 1933 »Die Rassen« inszenierte, durch Flüchtlinge aus Darmstadt, die er ans Zürcher Theater geholt hatte, genauestens darüber informiert, was am Hessischen Landestheater nach seiner Flucht vor sich gegangen war: Neunzehn jüdische und
acht nichtjüdische Angehörige der Leitung und des künstlerischen Personals waren im März
1933 gekündigt worden: der Verwaltungsdirektor Paul Sander, die Kapellmeister Erwin
Palm und Hermann Adler, die Dramaturgen und Regisseure Kurt Hirschfeld und Eugen
Gürster, der Bühnenbildner Sigfrid Sebba, der Korrepetitor Arthur Schlossberg, der Souffleur Hugo Hertz, der Theaterarzt Siegfried Oppenheimer, die Opernsolisten Fritzi Jokl und
Siegfried Urias, die Mitglieder des Chors Meta Hartog, Helene Rungius und Marie Joachim,
die Kammermusiker Karl Jäger, Albert Klinge, Karl Mechler und Ludwig Eymann, die
Schauspielerinnen Lilli Palmer, Margarete Kessler, Jenny Wiener, Mine Corinth und Grete
Jacobsen sowie die Schauspieler Hugo Kessler, Ernst Ginsberg, Karl Paryla und Hermann
Gallinger. Aber der Furor der neuen Machthaber richtete sich nicht nur gegen Juden und »Judenfreunde«, sondern auch gegen alle politisch untragbaren Angehörigen des Theaters. Deshalb war das gesamte Technische Personal, ca. 200 Personen, ebenfalls entlassen worden.
Ein sogenannter »Bereinigungsausschuss« unter Leitung des schon erwähnten Kammermusikers Fichtmüller prüfte jeden einzelnen Mitarbeiter und hob bei positivem Befund die Entlassung wieder auf. 31 Arbeiter und Angestellte, zumeist ehemalige Mitglieder der inzwischen verbotenen SPD und der Gewerkschaft, wurden gekündigt und vertrieben. Sie
überlebten, mit Ausnahme von zwei jüdischen Logenschließern, in Deutschland.
Zwölf der vertriebenen Künstler gelang die Flucht ins Exil, zehn blieben in Deutschland
und überlebten, wenn es sich um Juden handelte, durch den Schutz ihrer arischen Ehepartner. Das Schicksal von zwei Künstlern ist unbekannt, drei wurden deportiert und ermordet
– Erwin Palm im November 1941 im Ghetto Minsk, Siegfried Oppenheimer im Februar
1943 im KZ Theresienstadt, Hugo Kessler 1943 in Sobibor.
DER GEJAGTE
Zum Zeitpunkt, als die drei ehemaligen Darmstädter Ensemblemitglieder in die Deportationszüge getrieben wurden, stand Gustav Hartung selbst längst auf der Todesliste. Im Juli
1934, aus Anlass der Wiedereröffnung der Heidelberger Festspiele durch Goebbels und in
Erinnerung an den von der SA 1933 ermordeten Berliner Schauspieler Hans Otto, hatte Hartung in einem Offenen Brief die in Deutschland gebliebenen Künstler daran erinnert: »Wer
sich vor Mördern und Mordgesellen verbeugt, glorifiziert den Mord und macht ihn zum Vorbild.« In einem persönlichen Brief an den früheren Freund und jetzigen Star der Festspiele,
Heinrich George, war er noch deutlicher geworden: »Wer sich vor Mördern verbeugt, wird
selbst zum Mörder.« Goebbels, dem der Schauspieler den Brief vorgelegt hatte, diktierte die
Antwort: »Wenn Sie zurückkommen, werden Sie nicht eingesperrt – Sie werden gevierteilt.«
Der für Kultur zuständige Minister Goebbels, das Außenministerium und Himmlers Si-
»Darmstädter Expressionismus«
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cherheitsdienst warteten nicht, bis der verhasste Theatermann die Grenze überschritten hatte
und in ihrer Gewalt war.
Als Hartung 1934 zum Direktor des Berner Stadttheaters gewählt worden war, protestierte auch die Schweizer Fremdenpolizei gegen diesen Beschluss: Sie wollte den radikalen
Flüchtling schon lange loswerden. Aber es war der deutsche Botschafter in Bern, Erwin von
Weizäcker, der in Goebbels Auftrag die Annullierung der Wahl erzwang.
1936 vom Dritten Reich ausgebürgert und damit staatenlos geworden, schien Hartungs
Aufenthalt in der Schweiz endgültig gesichert zu sein, als ihn der Vorstand des Basler Stadttheaters 1937 zum Oberspielleiter wählte. Diesmal antwortete Goebbels mit einem Boykott
des Basler Theaters: Reichsdeutschen Künstlern wurden Auftritte in Basel untersagt, und
dort mit Gastspielverträgen beschäftigten Deutschen entzog man die Pässe. Basel beugte
sich dem Druck: Nach zwei Spielzeiten wurde Hartungs Vertrag nicht mehr verlängert.
Der durch diese permanente Verfolgung herzkrank gewordene Regisseur musste sich fortan als Schauspiellehrer am Basler Konservatorium durchschlagen. Ganz zuletzt sah es doch
noch so aus, als ob im Zusammenspiel von Fremdenpolizei und reichsdeutschem Terrorapparat Hartungs Leben verwirkt sei: Aufgrund einer anonymen Denunziation wurde er im
Herbst 1943 wegen angeblicher Affären mit einigen seinen Schülerinnen als Leiter der
Schauspielklasse entlassen, verhaftet und im November 1944 zu acht Monaten Gefängnis
auf Bewährung und sofortiger Ausweisung verurteilt. Dieses Urteil, das seinen Tod bedeutet hätte, wurde am 16. Mai 1945 in eine achtmonatige Bewährungsstrafe mit Internierung
umgewandelt.
Nach massiven Protesten erhielt Hartung am 17. Juli 1945 Urlaub aus dem Internierungslager, um seine Rückkehr nach Deutschland zu betreiben. Da die Intendanz am Darmstädter Theater schon mit einem 1933 ebenfalls Vertriebenen besetzt war, übernahm Hartung
die Leitung der Heidelberger Kammerspiele. Dort ist er am 14. Februar 1946 verstorben.
Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags findet sich in: Hannes Heer, Sven Fritz u.a., Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der »Juden« und »politisch Untragbaren« aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Darmstadt 2011.
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