4. Symphoniekonzert - Staatskapelle Dresden

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4. Symphoniekonzert
S a ison 2012 20 13
Jonathan Nott Dirigent
Hélène Grimaud Klavier
o r ts w e c h s e l .
4. Symphoniekonzert
Saison 2012 2013
Jonathan Nott Dirigent
Hélène Grimaud Klavier
MDR Rundfunkchor Leipzig
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einer perfekten Komposition wird: die Gläserne
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w w w.g l a e s e r n e m a n u fa k t u r . d e
PA R T N E R D E R
S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N
sonntag 2 .12 .12 11 Uhr
M O ntag 3.12 .12 2 0 Uhr
Dienstag 4.12.12 2 0 Uhr
|
S emperoper Dres d en
4. Symphoniekonzert
PROGR A MM
Claude Debussy
(18 6 2 -1918)
Jonathan Nott
Dirigent
»Prélude à l’après-midi d’un faune«
(»Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«)
nach Stéphane Mallarmé
für Orchester
Très modéré
Hélène Grimaud
Klavier
Maurice Ravel
MDR Rundfunkchor Leipzig
Einstudierung: Denis Comtet
(18 7 5 -19 37 )
Konzert für Klavier und Orchester G-Dur
1. Allegramente
2. Adagio assai
3. Presto
P a u se
Maurice Ravel
Musik für die Sinne
»Daphnis et Chloé«,
Ballett in einem Akt und drei Teilen
für Chor und Orchester
Mit einem rein französischen Programm gibt der langjährige Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, Jonathan Nott, seinen Einstand bei der
Sächsischen Staatskapelle. Die sinnlich-ekstatischen Klänge von Claude
Debussys »Prélude à l’après-midi d’un faune« und von Maurice Ravels vollständiger Ballettmusik zu »Daphnis et Chloé« umrahmen das Ravel’sche
G-Dur-Klavierkonzert – mit dem die französische Ausnahmepianistin
Hélène Grimaud in die Semper­oper zurückkehrt.
h é l è ne G rim au d signiert a m 2 . d ezem b er in d er konzertpau se
im o b eren r u n d f oyer d er semperoper c d s .
kosten lose Konzertein f ü hr u ngen j e w ei l s 4 5 M in u ten vor Beginn
im O pernke l l er d er S emperoper
2
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4. SYMPHONIEKONZERT
Jonathan Nott Dirigent
E
twas mehr als ein Jahr ist es her, dass Jonathan Nott ein besonderes Jubiläum als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker feierte: Er dirigierte sein 500. Konzert in seiner Bamberger Amtszeit.
Ein Ereignis, das unterstrich, warum die FAZ den Briten als einen
»Glücksfall für die Symphoniker der Stadt« betitelte. Mit »den Bambergern« ging Jonathan Nott seit seinem Amtsantritt im Januar 2000 bislang
allein dreimal auf Tournee in die USA und ebenso oft nach Japan, viermal
nach Südamerika und zweimal nach China, unter seiner Leitung waren die
Bamberger Symphoniker »orchestra in residence« des Lucerne Festival,
gleich zweimal gastierten sie in dieser Funktion unter ihm beim Edinburgh
International Festival. Schon jetzt ist die Ära Nott nach der Chefzeit Joseph
Keilberths die zweitlängste in der Historie der Bamberger Symphoniker, die
2003 zu einer Bayerischen Staatsphilharmonie erhoben wurden. Neben seiner Tätigkeit in der oberfränkischen Stadt wird Jonathan Nott ab 2014 den
Posten des Musikdirektors beim Tokyo Symphony Orchestra übernehmen.
Mit riesigem Erfolg hat sich Jonathan Nott in Bamberg der Musik
Schuberts, Wagners und Mahlers in groß angelegten Werkzyklen gewidmet.
Ebenso prägen Uraufführungen von Auftragskompositionen, die Avantgarde
von Boulez bis Lachenmann sowie die musikalische Moderne um Bartók,
Strawinsky, Janáček und Debussy seine künstlerische Arbeit. Beim Lucerne
Festival 2013 wird er die Bamberger Symphoniker in einer konzertanten Gesamtaufführung des Wagner’schen »Rings« leiten. Seit 2004 wirkt Jonathan
Nott als Jurypräsident des Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs der Bamberger Symphoniker, zu dessen Gewinnern u.a. Gustavo Dudamel gehört.
Jonathan Nott begann seine Karriere als Kapellmeister in Frankfurt und Wiesbaden. Später war er Musikdirektor des Luzerner Theaters
(1997-2001) und Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters (1997-2002),
zugleich hatte er die Position des Musikalischen Leiters beim Ensemble
Intercontemporain in Paris inne (2000-2003).
Als Gastdirigent hoch geschätzt, führen Jonathan Nott Einladungen
zu Klangkörpern wie dem Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam, den
Wiener und Münchner Philharmonikern, dem Tonhalle-Orchester Zürich
oder auch zu den großen Orchestern in New York, Los Angeles, Philadelphia,
Chicago, Cleveland, London, Paris und Sydney. Mit den Berliner Philharmonikern spielte er auf Wunsch György Ligetis sämtliche Orchesterwerke des
ungarischen Komponisten ein. 2007 war Jonathan Nott »artiste étoile« des
Lucerne Festival, 2011 erhielt er den Bayerischen Verdienstorden.
4
5
4. SYMPHONIEKONZERT
Vive la France!
Jonathan Notts
Kapelldebüt mit
Debussy und Ravel
M
aurice Ravel ein Meister, Claude Debussy aber das alles
überstrahlende Genie der französischen Musik seiner Zeit?
Viel ist geschrieben und spekuliert worden über die Bedeutung der beiden großen Komponisten für das Musikleben
ihres Landes. Ravel traf das Schicksal, ein Nachgeborener
zu sein, gut dreizehn Jahre jünger als Debussy, der als Gründervater der
musikalischen »Farb- und Klangkunst« in die Geschichte einging. Allzu
verlockend war es, ihrer beider Schaffen unter das Schlagwort des musikalischen »Impressionismus« zu fassen, ein Begriff, den Debussy und Ravel
kategorisch ablehnten. Ungeachtet dessen einte sie so mancher künstlerische Zug: das begnadete Gespür für die Nuancen und Schattierungen von
Klang und Rhythmus, die Faszination durch außereuropäische Kulturen,
wie sie auf der Pariser Weltausstellung 1889 zu erleben waren, die Begeiste-
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rung für den Jazz, aber auch das Bekenntnis zur französischen Tradition des
17. und 18. Jahrhunderts und zur »clarté« als ästhetischer Maxime. Nicht
selten aus dem Blick gerieten allerdings die fundamentalen Unterschiede
zwischen den beiden »Musiciens français«: Was für Debussys Musik der
flüchtige Augenblick, die vage Andeutung, das Ungezähmte und Regellose der Natur, die Tiefe des Unbewussten, ist für Ravel die hintersinnige
Brillanz und das Raffinement des Ausdrucks, die technische Perfektion,
das Spiel mit musikalischen Maskeraden, ironischen Brechungen und klassischen Formen, das melancholisch-süße Schwelgen in der Vergangenheit.
Debussy und Ravel pflegten, so wird berichtet, lange Jahre ein
durchaus freundschaftliches, wenn auch insgesamt eher distanziertes
Verhältnis, sie kannten sich aus persönlichen Begegnungen in der Pariser
Musik- und Künstlerszene und äußerten sehr wohl kollegiale Wertschätzung
für den jeweils anderen. Auf die Probe gestellt wurde ihr Verhältnis allerdings immer wieder durch die Auseinandersetzungen ihrer Parteigänger,
der »Debussysten« und »Ravelisten«, die mit einiger Ausdauer Gefallen daran gefunden hatten, ihre Favoriten gegeneinander auszuspielen. Und als in
der Pariser Presse dezent verpackte, aber darum nicht weniger genüsslich
angedeutete Plagiatsvorwürfe gegenüber Ravel die Runde machten, kam es
zu jener »Affäre« von zweifelhafter Berühmtheit, die das zerbrechliche Kartenhaus endgültig zum Einsturz brachte. Ravel platzte sprichwörtlich der
Kragen, was die ganze Angelegenheit erst recht hochkochen ließ. Dass der
Kontakt zwischen Ravel und Debussy damit ein mehr oder weniger abruptes
Ende fand, nahmen rückblickend beide mit Bedauern zur Kenntnis. Gleich-
4. SYMPHONIEKONZERT
Jon ath a n N ott b ei d er P ro b en a r b eit ( 2 011)
wohl berührten sich auch weiterhin die »Bahnen« dieser französischen Geis­
tesgrößen, sie beeinflussten einander oder standen sich in ihrem Komponieren unmittelbar gegenüber, wenn sie zeitgleich Musik über Joseph Haydn
schrieben oder dieselben Gedichte von Stéphane Mallarmé vertonten.
Verse jenes Symbolisten Mallarmé, die auf den Mythos von Pan und
Syrinx anspielen, waren es schließlich auch, durch deren Inspiration Debussy das Tor zur musikalischen Moderne weit aufstieß: mit seinem »Prélude à
l’après-midi d’un faune«. Eine Komposition, die gerade Ravel als unerreichtes
Meisterwerk verehrte: »Es ist die einzige Partitur«, betonte Ravel, »die absolut
perfekt ist«. Obwohl als reines Orchesterstück konzipiert, wurde das Werk
einige Jahre nach der Entstehung in Paris auch als Ballett choreo­g rafiert,
getanzt von Vaslav Nijinsky und den allseits bewunderten »Ballets russes«.
Es war die gleiche Bühnenkonstellation wie nur wenige Tage später bei der
Uraufführung von Ravels symphonisch verdichtetem Ballett »Daphnis et
Chloé«, das auf einen Hirtenroman des Dichters Longos zurückgeht.
Debussys »Prélude« einerseits, Ravels vollständige Ballettmusik zu
»Daphnis« andererseits bilden die beiden Pole, zwischen denen das Programm des 4. Symphoniekonzerts eingespannt ist, mit dem Jonathan Nott
seinen Einstand am Pult der Sächsischen Staatskapelle gibt. Ein erlesenes
französisches Programm, in dessen Zentrum ein Werk steht, das zwar nicht
auf literarische Quellen und auch nicht auf antike Sujets zurückgeht, wohl
aber typisch Ravel’sche »Musik über Musik« ist: Ravels Klavierkonzert in
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S t é ph a ne M a l l a rm é , P ortr ät von É d o ua r d M a net (18 76)
G-Dur, das den Geist Mozarts und des Jazz atmet und interpretiert wird von
der Weltklassepianistin Hélène Grimaud.
Die Ausnahmemusikerin aus der Festivalstadt Aix-en-Provence ging
2007 mit der Sächsischen Staatskapelle auf Europa-Tournee, zuletzt war sie
im Juni dieses Jahres in einem umjubelten Recital im Rahmen der Dresdner
Musikfestspiele in der Semperoper zu Gast. »Die Semperoper ist ein magi­
scher Ort«, sagt die Französin, die sich im Konzertsaal ebenso wie auf CD
seit Jahren intensiv mit Ravels G-Dur-Konzert auseinandergesetzt hat, dessen
innere Vielgestaltigkeit überbordend ist und das neben aller rhythmischen
Verve hinreißende Kantilenen umfasst. Kantilenen: Sie vor allem sind es, die
das künstlerische Denken Jonathan Notts auch und gerade in der Instrumentalmusik umkreist. »Ich selbst komme nicht weg vom Gesang, von der Kantilene«, bekennt er über seine dirigentische Arbeit. »Man trägt immer eine Note
zur nächsten. Das heißt, das Spannungsfeld von einer Note zur nächsten ist
immer da«, fügt er hinzu. »Das Konzept von Klang und Kantilene ist bei mir
Grundlage des Musikmachens.« Die Moderne um Debussy, Ravel, Schostakowitsch, Bartók markiert seit jeher einen Schwerpunkt in der Konzerttätigkeit
des Briten, wovon nicht zuletzt seine überaus erfolgreiche, bald dreizehnjährige Amtszeit als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker kündet. »Was ich
überall in der Musik suche, ist das Timing von Farbwechseln, die Kontinuität
der Musik und die Schönheit des Klangs.«
Torsten B l a i c h
4. SYMPHONIEKONZERT
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ZWEI TEMPERAMENTE – EIN GEFÜHL
Französische Philosophin trifft argentinisches Heißblut.
Die beiden Klassikstars setzen mit ihrer ersten gemeinsamen Aufnahme
neue Maßstäbe für eine legendäre kammermusikalische Formation.
Die Pa riser We ltau sste l lu ng von 18 8 9 mit d em eigens au s d iesem An l a ss
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w i c htige a nreg u ngen f ü r ihr w eiteres m u sik a l is c hes S c h a f f en .
Weitere Veröffentlichungen:
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11
www.helenegrimaud.de
Claude Debussy
* 2 2 . Au g u st 18 6 2 in S a int- G erm a in - en - L aye (b ei Pa ris)
† 2 5 . M ä rz 1918 in Pa ris
»Prélude à l’après-midi d’un faune«
(»Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«)
nach Stéphane Mallarmé
für Orchester
Très modéré
entsta n d en
d i c hteris c he vor l age
zwischen 1891 und September 1894
als erster Teil eines geplanten
Triptychons aus »Prélude,
Interlude et Paraphrase finale«
das 1876 erschienene Gedicht
»L’ Après-midi d’un faune« von
Stéphane Mallarmé (1842-1898)
Besetz u ng
Raymond Bonheur, befreundeter
Komponist und ehemaliger Kommilitone am Pariser Conservatoire
3 Flöten, 2 Oboen,
Englischhorn, 2 Klarinetten,
2 Fagotte, 4 Hörner, Schlagzeug,
2 Harfen, Streicher
u r au f ge f ü hrt
Ver l ag
am 22. Dezember 1894 in der
Salle d’Harcourt in Paris (Orches­
tre de la Société Nationale de
Musique, Dirigent: Gustave Doret)
Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
ge w i d met
12
13
Dau er
ca. 11 Minuten
revolutionäre klänge
Debussys »Prélude à
l’après-midi d’un faune«
C
laude Debussy sah sich verschiedensten Einflüssen ausgesetzt,
bevor er einen eigenen Musikstil entwickelte: Nach Studien am
Pariser Conservatoire reiste er als Hauspianist Nadeschda von
Mecks, der langjährigen Mäzenin Peter Tschaikowskys, mehrmals nach Russland und begeisterte sich für die Musik Modest
Mussorgskis. Mit 22 Jahren wurde ihm für die Kantate »L’Enfant prodigue«
der begehrte Rom-Preis verliehen, verbunden mit einem dreijährigen RomAufenthalt, bei dem er die Bekanntschaft mit Franz Liszt und Giuseppe
Verdi machte. In den Jahren 1888/1889 besuchte er Aufführungen von »Tris­
tan und Isolde« und »Parsifal« bei den Bayreuther Festspielen – und geriet
unter den Einfluss Richard Wagners. Schon bald allerdings machte sich
Debussy weitgehend frei von diesen Vorbildern. Angeregt durch die Musik
außereuropäischer Kulturkreise, die er auf der Pariser Weltausstellung 1889
kennenlernte, entwickelte er einen eigenen Stil, ein nuanciertes Klang- und
Farbenspiel, sinnlich, naturhaft, fantastisch. »Mir sind einige Töne aus der
Flöte eines ägyptischen Hirtenknaben lieber, er gehört zur Landschaft und
hört Harmonien, die ihre Lehrbücher ignorieren«, sollte er später in den
fiktiven Gesprächen mit seinem Alter ego »Monsieur Croche« (»Herr Achtelnote«) äußern. Im »Prélude à l’après-midi d’un faune« (»Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«) wird dieser Stil zum ersten Mal greifbar.
Zu diesem Werk ließ sich Debussy durch das Gedicht »L’ Après-midi
d’un faune« des Literaten Stéphane Mallarmé anregen, das dieser unter dem
Eindruck eines Bildes von François Boucher (»Pan und Syrinx«) geschrieben
hatte. Debussy war ein großer Bewunderer Mallarmés, der Galionsfigur des
literarischen Symbolismus im ausgehenden 19. Jahrhundert. Traumbilder,
Metaphern, atmosphärisch aufgeladene Szenerien und das Spiel mit Assoziationen und der Vorstellungswelt des Lesers waren wichtige Ausdrucksmit-
4. SYMPHONIEKONZERT
tel symbolistischer Dichtung, nicht
»… die Flöte des Faun brachte neuen
zu vergessen das Bemühen um eine
Atem in die Musik; was über Bord
»Musikalisierung« der Sprache: »Sie
geworfen wurde, war nicht so sehr
warfen ein nie gesehenes Licht auf
die Kunst der Entwicklung als das
die Worte«, erläuterte Paul Dukas
Formkonzept selbst, das hier von
das Bestreben der Symbolisten,
den unpersönlichen Zwängen des
»sie benutzten Verfahren, die den
Schemas befreit wurde… L’ AprèsDichtern vor ihnen völlig unbekannt
midi d‘un faune steht am Beginn der
waren, sie statteten das Wortmaterimodernen Musik.«
al mit Effekten aus, deren Subtilität
und Kraft vor ihnen niemand verPierre Boulez
mutet hätte. Vor allem aber schufen
sie Poesie und Prosa wie Musiker, indem sie ihre Bilder nach klanglichen
Gesichtspunkten kombinierten.« Debussy war, als einziger Musiker, regelmäßig zu Gast bei den berühmten »Mardis«, den Treffen in Mallarmés Salon
in der Pariser Rue de Rome, bei denen sich immer dienstags Künstler wie
André Gide, Oscar Wilde, Maurice Maeterlinck, Rainer Maria Rilke oder
Stefan George einfanden. Ebenfalls in diesem erlesenen Kreis verkehrte der
Maler Édouard Manet, der Mallarmé auf einem Gemälde verewigte; Manet
war es auch, der zur ersten gedruckten Ausgabe von Mallarmés »L’ Aprèsmidi d’un faune« die Illustrationen beisteuerte.
Mallarmés aus 110 Versen bestehendes Gedicht beschreibt den
Traum eines Flöte spielenden Fauns, halb Mensch, halb Tier, der sich – in
der südlichen Nachmittagsonne räkelnd – vorstellt, zwei schlafende Nymphen zu verführen. Debussy plante zunächst, das Gedicht als dreiteiliges
symphonisches Triptychon in Musik zu setzen (»Prélude, Interlude et Paraphrase finale«), beschränkte sich aber dann auf das »Prélude«, das einer
Lesung des Gedichts als Vorspiel dienen sollte. Auf dem Programmblatt der
Uraufführung, die am 22. Dezember 1894 in Paris stattfand, kündigte er das
Werk wie folgt an: »Die Musik dieses Vorspiels ist eine sehr freie Illustration
des schönen Gedichts von Mallarmé. Sie will nicht dessen Synthese sein.
Es handelt sich eher um aufeinanderfolgende Dekors, durch die sich die
Begierden und Träume des Fauns während der Hitze dieses Nachmittags
bewegen.« Mit anderen Worten: Debussy komponierte keine Tondichtung,
sondern ein Werk, das die symbolistischen Stimmungsbeschreibungen
Mallarmés nur auf andeutende Weise umsetzte.
»Der Atem der Moderne«
Musikalisch handelt es sich beim »Prélude à l’après-midi d’un faune« um
eine Art »Improvisation um ein Kernthema« (Jean Barraqué). Das eröffnende viertaktige Flötensolo enthält im Keim bereits das Material des
14
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Begr ü n d er d er m u sik a l is c hen » K l a ng - u n d Fa r b k u nst« :
C l au d e De b u ssy (u m 19 0 5)
4. SYMPHONIEKONZERT
Va s l av N i j insky a l s De b u ssys Fau n
Nijinskys bahnbrechende Interpretation dieser Figur sorgte in Paris 1912 für
heftige Kontroversen – und ließ ihn zum Gesprächsthema der europäischen
Feuilletons werden. In Ravels wenige Tage später uraufgeführtem Ballett
»Daphnis et Chloé« übernahm der russische Tänzer ebenfalls die männliche
Hauptrolle. Am 26. Januar 1913 konnte man Nijinsky auch am Königlichen
Opernhaus in Dresden als Faun erleben, die »Ballets russes« und der Dirigent
Pierre Monteux machten Station in der Elbestadt. »Nijinsky ist ein großer
Künstler; ein Ballettänzer von solcher Durchbildung der Glieder, wie es heutzutage vielleicht keinen zweiten mehr gibt. Er ist geradezu ein Ballettvirtuose.
Unleugbar«, berichtete tags darauf der »Dresdner Anzeiger« und schwärmte
von der »bis ins Kleinste beherrschten Mimik seines ganzen Körpers«.
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17
»Da, wo Debussy andeutet, klärt
ganzen Stückes: dessen Chromatik
Ravel auf und präzisiert. Was bei
ebenso wie die klare Diatonik,
dem einen den Eindruck ständig
außerdem den Tritonus – Symbol
neuer Entdeckungen erweckt, mit
einer an die tonalen Grenzen stoall den Überraschungen und dem
ßenden Harmonik. Die Flöte, schon
Staunen, die dazugehören, das stellt
in der Antike ein sehnsüchtiges
sich bei dem anderen als bereits erLockinstrument (Syrinx), wird
obertes und geordnetes Gebiet dar.
hier wieder ihrer ursprünglichen
Einerseits ein Genie der Sensibilität,
Bedeutung zugeführt. Dem schweandererseits eines der Intelligenz.«
benden Charakter der Anfangstakte entspricht eine reduzierte
Alfred Cortot
Orchesterbesetzung (ohne schweres Blech), deren vielfältige Klangfarben gezielt eingesetzt werden. Formal scheint die Komposition frei und
offen angelegt – ein Eindruck, der durch die Überlagerung verschiedener
Formmodelle entsteht: Debussy verbindet Elemente der Variation (das
Flötenthema erklingt insgesamt zehnmal, immer anders harmonisiert)
und des Sonatensatzes (durchführungsartige Zwischenteile) mit einer
übergeordneten, dreiteiligen Bogenform (zwei vom Flötensolo geprägte
Rahmenteile umschließen einen noch deutlich »tristanesken« Mittelteil).
In den letzten Takten wird das Thema auf seine Kerntöne reduziert; »es
ist die wiedergefundene Ruhe des Fauns und sein Versinken in Schlaf«
(Dietmar Holland).
»Erst seit ich zum erstenmal ›L’après-midi d’un faune‹ gehört hatte,
wusste ich, was Musik ist«, ließ später Maurice Ravel voller Anerkennung
verlauten. Mit der Transparenz des Orchestersatzes, der Geschmeidigkeit
von Klang, Harmonik und Form war Debussy eine dezente musikalische
Revolution gelungen. »Impressionismus« sollte man diesen Stil – in Anlehnung an die zeitgenössische Malerei – schon bald nennen (ein Begriff, den
Debussy übrigens wie Ravel ablehnte). Das Publikum der Uraufführung
durch die Pariser Société Nationale de Musique unter dem Dirigat von
Gustave Doret reagierte zunächst verblüfft, aber auch begeistert: Das »Prélude« musste sofort wiederholt werden. Und der Dichter Mallarmé selbst
gestand – nach anfänglicher Skepsis –, dass die Musik Debussys »keine
Dissonanz zu meinem Text ergab, sondern wahrhaftig noch viel weiter
darin ging, die Sehnsucht und das Licht mit Feinheit, Melancholie und
Reichtum wiederzugeben«. Vollends berühmt wurde das Werk schließlich
in einer getanzten Version: in der Choreografie Vaslav Nijinskys, die am
29. Mai 1912 mit den legendären »Ballets russes« im Pariser Théâtre du
Châtelet Premiere feierte.
To b i a s N ie d ers c h l ag
4. SYMPHONIEKONZERT
Maurice Ravel
* 7. M ä rz 18 7 5 in Ci b o u re (S ü d f r a nkrei c h)
† 2 8 . Dezem b er 19 37 in Pa ris
Musik von urbaner eleganz
Ravels Klavierkonzert in G-Dur
M
Konzert für Klavier und Orchester G-Dur
1. Allegramente
2. Adagio assai
3. Presto
entsta n d en
Besetz u ng
zwischen Sommer 1929
und November 1931
Klavier solo, Piccolo, Flöte, Oboe,
Englischhorn, 2 Klarinetten,
2 Fagotte, 2 Hörner, Trompete,
Posaune, Pauken, Schlagzeug,
Harfe, Streicher
ge w i d met
der befreundeten Pianistin
Marguerite Long (1874-1966)
Ver l ag
u r au f ge f ü hrt
am 14. Januar 1932 in der Salle
Pleyel in Paris (Solistin: Marguerite Long, Orchestre Lamoureux,
Dirigent: Maurice Ravel)
18
19
Durand, Paris
Dau er
ca. 22 Minuten
aurice Ravels Klaviermusik entstand zum größten Teil in
den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. In der Folgezeit, den
1920er Jahren, begann der Ruhm des Komponisten weltweit auszustrahlen und auf zahlreichen Tourneen, deren
Höhepunkt 1928 eine viermonatige Konzertreise durch die
Vereinigten Staaten war, reifte in Ravel der Plan, etwas gänzlich Neues für
Klavier zu schreiben. Es sollte ein Klavierkonzert werden, als Novität für eine
Tournee, die das gigantische Reisepensum seines USA-Aufenthaltes noch
übertreffen sollte: Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien hatte er im
Visier. Um das noch gar nicht begonnene Klavierkonzert stritten sich schon
die möglichen Auftraggeber, Serge Koussewitzky beispielsweise wollte es
für das Jubiläum seines Boston Symphony Orchestra 1931 reservieren. Aber
Ravel war vorsichtig. Er wollte das Stück für seine Zwecke frei zur Verfügung
haben, und er brauchte Zeit, wollte keinen Termindruck. Trotzdem nahm
er während der Arbeit an dem Konzert noch den Auftrag für ein zweites
Klavierkonzert an, das Konzert für die linke Hand allein, das der einarmige
österreichische Pianist Paul Wittgenstein bei Ravel bestellt hatte. Für Ravel
war es eine inspirierende Herausforderung, an diesem Paar von Konzerten
zu arbeiten. Das linkshändige Konzert verlangte den virtuosen Bluff einer
trickreichen Schreibweise, um über die beschränkten Möglichkeiten hinwegzutäuschen, in dem anderen Konzert hingegen konnte er sich eine raffinierte
Einfachheit leisten, die Herausforderungen ganz anderer Art stellt.
Aus der geplanten Welttournee wurde nichts, aber als Ravel die
1929 begonnene Komposition 1931 beendet hatte, ging er nach der Pariser
Uraufführung am 14. Januar 1932 als Dirigent zusammen mit der Pianistin
Marguerite Long auf eine ausgedehnte Europa-Tournee. Als beide schon Paris
verlassen hatten, mussten Ravels Lackschuhe per Post hinterhergeschickt
werden, die er in Paris vergessen hatte. Von seiner sprichwörtlichen Vergesslichkeit berichtete Marguerite Long später in vielen witzigen Episoden, so
auch von dem beinahe verpassten Dinner beim rumänischen König: »Es war
in Bukarest, wo die Zerstreutheit meines Begleiters uns in die erste wirklich
ernste Verlegenheit brachte. Wir waren beide zum Essen eingeladen, Ravel
4. SYMPHONIEKONZERT
beim König und ich bei der ersten Hofdame. Nur wusste keiner von uns etwas
davon, weil Ravel die Einladungen mit ihrem königlichen Geheimnis ungelesen in seiner Tasche bewahrte. Mit erfreulicher Unkompliziertheit und viel
Verständnis für die delikate Situation rief der König persönlich bei uns im
Hotel an und war selbst der erste, der über diesen Zwischenfall lachte.«
Der mondäne Hintergrund einer für die Metropolen der ganzen Welt
bestimmten Musik scheint im G-Dur-Konzert mitzuklingen. Wie im Konzert
für die linke Hand verwendete Ravel auch in diesem Werk Anklänge an die
Jazzmusik. Aber was dort im Sinne des Blues als einsame Klage inszeniert
wird, erscheint hier eher als die glamouröse Seite des Jazz. 1928 hatte Ravel
begeistert New Yorker Nachtclubs besucht, auch in Begleitung der Komponisten George Gershwin und Alexandre Tansman. Und tatsächlich könnte
man Ravels Klavierkonzert in eine entwicklungsgeschichtliche Reihe mit
Gershwins Konzert von 1925 und Tansmans weniger bekanntem Konzert
von 1927 stellen, die ebenfalls eindringlich den Tonfall des Jazz aufnehmen.
Allerdings ging Ravel in seinem G-Dur-Konzert mit dem Jazz nicht nur viel
sparsamer um als in den genannten Werken, sondern auch dezenter als in vielen seiner eigenen Kompositionen, einschließlich des Konzertes für die linke
Hand. Die Jazz-Anklänge wirken im G-Dur-Konzert eher wie farbige Reflexe,
plötzliche harmonische Lichtwechsel in einer Atmosphäre, die als Ganze
nach den konstruktiven Spielregeln des Neo-Klassizismus geformt wird.
Zwischen »Concerto« und »Divertissement«
Im ersten Satz ist es das Seitenthema mit seinen Blue-Notes, das jene urbane, aufreizende Atmosphäre modernen Großstadtlebens um 1930 ausstrahlt, und es tritt im Laufe des Satzes immer mehr in den Vordergrund.
Ihm gegenüber aber steht das erste Thema, scharf in der folkloristischen
Rhythmik, ein präziser, flirrender Klang aus Piccolo, Marschtrommel und
Triolen des Klaviers. Die Flötenmelodie entwickelt sich über 15 Takte hinweg rein diatonisch (d.h. mit den regulären Tönen der Tonart G-Dur), während die Klaviertriolen auf den Zählzeiten heftige Dissonanzen markieren.
Einem Journalisten gegenüber soll Ravel gesagt haben: »Wussten Sie, dass
mich das G-Dur-Konzert zwei Jahre Arbeit gekostet hat? Das Eröffnungsthema war mir während einer Eisenbahnfahrt zwischen Oxford und London
eingefallen. Aber der erste Einfall ist ja noch gar nichts. Dann erst beginnt
die eigentliche Feinarbeit. Die Vorstellung vom Komponisten, der seiner
persönlichen Eingebung folgend seine Gedanken fieberhaft auf einen Fetzen
Papier kritzelt, ist lange überholt. Musik zu komponieren ist zu 75 Prozent
reine Verstandesarbeit. Diese Anstrengung genieße ich aber häufig mehr als
das Ausruhen.« Oft wurde dieses erste Thema aus der Folklore der Heimat
Ravels, dem Baskenland, abgeleitet. Auf jeden Fall aber etabliert es eine
20
21
d er Komponist u n d d ie Ur au f f ü hr u ngsso l istin seines
K l av ierkonzerts in G - D u r : M au ri c e R av e l u n d M a rg u erite Long
4. SYMPHONIEKONZERT
Gegenwelt zu der urbanen Eleganz
Das G-Dur-Konzert ist ein sehr
des Seitenthemas, und wenn es
schwieriges Werk, vor allem wegen
nicht ins Baskenland verweist, dann
des zweiten Satzes, wo der Solist
zurück in die märchenhaften Gekeine einzige Ruhepause hat.
filde der »Ballets russes« im Paris
Ich sprach mit Ravel über meine
um 1912, zu Ravels eigenen KomFurcht, nach dem so phantasiepositionen oder zu Igor Strawinskys
vollen und brillant orchestrierten
Märchenfigur Petruschka.
ersten Satz auf dem Piano allein die
Der zweite Satz dagegen
Kantabilität der Melodie während
entführt in die zurückgezogene,
einer so ausgedehnten und langsam
stille Welt eines Zimmers. Das Orfließenden Phrase nicht fortfühchester schweigt und das Klavier
ren zu können. »Diese fließende
spielt eine raffiniert einfache Musik,
Phrase!«, rief Ravel. »Wie habe ich
aus der Wolfgang Amadeus Mozart
daran gearbeitet, Takt für Takt! Ich
und Erik Satie gleichermaßen grübin fast daran verzweifelt!«
ßen. Die erste Hälfte dieses Klaviersolos ist wieder rein diatonisch,
Marguerite Long
erst dann treten sehr sparsam Versetzungszeichen dazu. Die Melodie entwickelt sich zunächst ganz engräumig, traumverloren, wie tastend. Verfremdend wirkt die Begleitung, in der,
wenn man die Vorstellung einer traumartigen Atmosphäre ernst nimmt, der
Freud’sche Begriff der Verschiebung ganz wörtlich genommen erfahrbar
wird. Das vertraute Muster »um-ta-ta, um-ta-ta« erscheint hier ganz schematisch durchgeführt, aber gegenüber der Melodie konsequent verschoben
und durch Ravels ungewöhnliche Notation nochmals verunklart.
Im Schlusssatz wird mit einem Trommelwirbel die Stimmung des
ersten Satzes wieder aufgenommen. Das Klavier setzt mit virtuosen Fanfaren ein, es dominieren kleine rhythmische Zellen wie im Eingangssatz, ein
perkussiver Impuls ergreift Klavier und Orchester. Hörner und Trompeten
erinnern an Gesten der Jagdmusik, so dass nach den Straßen der Großstadt
und der Zurückgezogenheit des Zimmers jetzt eine von fröhlichen Menschen belebte Naturszenerie heraufbeschworen wird. Ravel nannte sein
G-Dur-Konzert »ein Konzert im echten Sinne des Wortes: ich meine damit,
dass es im Geiste der Konzerte von Mozart und Saint-Saëns geschrieben
ist. Eine solche Musik sollte meiner Meinung nach aufgelockert und brillant
sein und nicht auf Tiefe und dramatische Effekte abzielen. Man hat von
bestimmten großen Klassikern behauptet, ihre Konzerte seien nicht ›für‹,
sondern ›gegen‹ das Klavier geschrieben. Dem stimme ich gern zu. Ich hatte
eigentlich die Absicht, dieses Konzert mit ›Divertissement‹ zu betiteln. Dann
aber meinte ich, dafür liege keine Notwendigkeit vor, weil eben der Titel
›Concerto‹ hinreichend deutlich sein dürfte.«
M au ri c e r av e l a m K l av ier mit Va s l av N i j insky (Pa ris , 1911)
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23
M a rtin Wi l kening
4. SYMPHONIEKONZERT
Hélène Grimaud Klavier
S
ie ist eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der Musikwelt,
rund um den Globus begeistert Hélène Grimaud ihr Publikum. Die
Ausnahmepianistin tritt mit den international führenden Orches­
tern auf, gibt Recitals in den wichtigsten Musikmetropolen und
gastiert als leidenschaftliche Kammermusikerin bei den renommierten Musikfestivals.
Vor ihren Auftritten mit Ravels Klavierkonzert bei der Sächsischen
Staatskapelle Dresden war Hélène Grimaud in dieser Saison u.a. im Amsterdamer Concertgebouw, im Eröffungskonzert des neuen Konzerthauses im
norwegischen Stavanger und in der Tonhalle Zürich zu erleben, mit den Wiener Philharmonikern unter Andris Nelsons konzertierte sie in München, Paris
und Wien. Noch im Dezember wird sie mit der Cellistin Sol Gabetta Konzerte
in Deutschland und Frankreich geben, das gemeinsam eingespielte Album
»Duo« erschien 2012. Eine Asien-Tournee Hélène Grimauds mit Konzerten
und Recitals in China, Singapur, Malaysia, Japan und Südkorea folgt im neuen
Jahr, ehe die Pianistin mit dem London Philharmonic Orchestra und Vladimir
Jurowski in der Schweiz und in New York zu Gast ist.
Einen Schwerpunkt in Hélène Grimauds künstlerischen Aktivitäten der nächsten Spielzeit wird die Musik von Brahms bilden, auch können sich Musikliebhaber auf die Veröffentlichtung ihrer Einspielungen der
Brahms-Konzerte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
und den Wiener Philharmonikern freuen. Ferner wird Hélène Grimaud diese
Kompositionen mit dem Philharmonia Orchestra, dem City of Birmingham
Symphony Orchestra, der Tschechischen Philharmonie, dem San Francisco
Symphony Orchestra oder auch mit dem Philadelphia Orchestra zur Aufführung bringen. Mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden hat die Exklusivkünstlerin der Deutschen Grammophon bereits zwei Aufnahmen vorgelegt:
Beethovens fünftes Klavierkonzert unter Vladimir Jurowski (2006) und das
Klavierkonzert von Schumann unter Esa-Pekka Salonen (2005).
Hélène Grimaud erhielt eine Vielzahl an Auszeichnungen, darunter
den Preis der Dresdner Musikfestspiele (2012), den Bremer Musikfest-Preis
(2009), den »Victoire d’honneur« bei den Victoires de la Musique (2004) sowie den »ECHO Klassik«, letzteren u.a. in der Kategorie »Instrumentalist des
Jahres« (2005). Die Französin trat als erfolgreiche Buchautorin in Erscheinung und engagiert sich für zahlreiche gemeinnützige Zwecke, so für das
Wolf Conservation Center, das sie 1999 im US-Bundesstaat New York gründete, für den Worldwide Fund for Nature sowie für Amnesty International.
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25
4. SYMPHONIEKONZERT
Maurice Ravel
* 7. M ä rz 18 7 5 in Ci b o u re (S ü d f r a nkrei c h)
† 2 8 . Dezem b er 19 37 in Pa ris
»Daphnis et Chloé«,
Ballett in einem Akt und drei Teilen
für Chor und Orchester
entsta n d en
l i b retto
vermutlich ab Juni 1909,
Fertigstellung am 5. April 1912
von Michail Fokine und Maurice
Ravel, basierend auf einem Hirtenroman des Dichters Longos
ge w i d met
Serge Diaghilew (1872-1929),
Gründer und Direktor der
»Ballets russes«
u r au f ge f ü hrt
am 8. Juni 1912 im Théâtre du
Châtelet in Paris (getanzt durch
die »Ballets russes« mit Vaslav
Nijinsky als Daphnis und Tamara
Karsawina als Chloé, Dirigent:
Pierre Monteux, Choreografie:
Michail Fokine, Ausstattung und
Kostüme: Léon Bakst)
Besetz u ng
Gemischter Chor, Piccolo,
2 Flöten, Altflöte, 2 Oboen,
Englischhorn, Es-Klarinette,
2 Klarinetten, Bassklarinette,
3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner,
4 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba,
Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen,
Celesta, Streicher, Bühnenmusik
(Horn, Trompete)
Ver l ag
Durand, Paris
Dau er
ca. 60 Minuten
26
27
Klangphantasien Der Antike
Ravels »Daphnis et Chloé«
Ü
ber sein Ballett »Daphnis et Chloé«, 1912 fertiggestellt,
schrieb Maurice Ravel, seine Absicht sei es gewesen, »ein
breites mu­sikalisches Fresko zu komponieren, weniger
bedacht auf Archaismus als auf Treue gegenüber dem Griechenland meiner Träume, das eher jenem verwandt ist, wie
es die französischen Maler vom Ende des 18. Jahrhunderts sich vorgestellt
und geschildert haben«. Was Ravel über seine Komposition sagte, gilt
erst recht für das Libretto, das im Wesentlichen von ihm stammt und das
insofern ebenfalls wie ein Fresko wirkt, als es auf eine ganze Reihe an
Handlungsfäden und verwickelten Zügen der literarischen Vorlage verzichtet. Grundlage von Ravels Adaption war der Roman des antiken Dichters
Longos aus dem späten 2. oder frühen 3. nachchristlichen Jahrhundert.
Aus den vier Kapiteln bei Longos wurde bei Ravel ein Einakter in drei Teilen, der Wechsel der Jahreszeiten mit seinen detaillierten Beschreibungen
der Landschaft ist auf zwei Tage und eine Nacht zusammengezogen. Longos brauchte den langen Zeitraum, um Analogien zwischen den Zyklen
der Natur und der Entwicklung der Liebe zwischen Daphnis und Chloé zu
entfalten, zwei heranwachsenden Hirtenkindern, die von klein auf anein­
ander gewöhnt sind und nun zu begreifen versuchen, was in ihnen als
Verliebte vorgeht und auf was ihr bisher unbekanntes Verlangen eigentlich
zielt. Diese auf poetische Weise unbestimmte Liebesempfindung der jungen Leute wird als eine eigene Welt dargestellt. Dorcon, dem Kuhhirten,
gelingt es nicht, die Schäferin Chloé für sich gewinnen, aber Daphnis fällt
bei Longos, in aller Unschuld, natürlich auf die Verführungskünste der
Stadtbewohnerin Lyceion herein. Er meint sogar noch, Chloé eine Freude
zu bereiten, wenn er ihr von seiner neuen Erfahrung erzählt.
4. SYMPHONIEKONZERT
Die Romanvorlage des Longos
Wiederentdeckt wurde Longos’ Roman für die Neuzeit in Frankreich. Die
erste Übersetzung erschien 1559 in Paris. Zahlreiche weitere Übersetzungen
und Bearbeitungen folgten. Von Ravel ist überliefert, dass er bei antiken Texten die Ausgaben des 18. Jahrhunderts mit ihrem Geschmackskostüm der
damaligen Mode bei weitem den textreueren Versionen seiner Zeit vorzog.
Er hatte kein spezielles Interesse an der Antike, ganz im Gegensatz zum russischen Tänzer Michail Fokine (1880-1942), der zu den Künstlern gehörte,
die der Ballettproduzent Serge Diaghilew in Paris um sich versammelte. Seit
1909, seit der Gründung der Tanztruppe, arbeitete Fokine für Diaghilews
»Ballets russes« als Choreograf. Es ist wahrscheinlich, dass die Idee zu dem
Ballett »Daphnis et Chloé« von Fokine ausging, war er es doch, der sich mit
diesem Stoff schon jahrelang beschäftigte. In einer Buchhandlung in St. Petersburg hatte er zufällig eine russische Neuausgabe des Romans entdeckt
und 1904 den Plan entwickelt, mit Hilfe dieses Stoffes ein Ballett zu schaffen,
das durch seine Besinnung auf die Antike dem akademisch erstarrten Tanzstil seiner Zeit eine neue Wahrheit des Ausdrucks verleihen könnte. In St. Pe­tersburg war es jedoch aussichtslos, diese Ideen zu verwirklichen.
Auch in Paris stand das Ballett zu Beginn des 20. Jahrhunderts im
Hintergrund des aktuellen Kunstinteresses. Anti-akademische Stoffe gehörten daher von Anfang an zu Diaghilews Programm einer Erneuerung des
Tanzes: in Strawinskys »Feuervogel« und »Petruschka« durch den Rückgriff
auf die russische Sagen- und Märchenwelt, ähnlich wie in Ravels Ballettfassung von »Ma mère l’oye« die Märchen aus Charles Perraults Sammlung als
Stoff dienten. Weiter in die Mythologie zurück führte Strawinskys »Le Sacre
du printemps«, dessen archaische Hirtenwelt ein Jahr nach Ravels »Daphnis
et Chloé« auf die Bühne der »Ballets russes« kam.
Ravels »Daphnis« und Debussys »Prélude«
Die Anlehnung an die griechische Antike teilt Ravels Ballett direkt mit
Claude Debussys »Prélude à l’après-midi d’un faune«, obwohl in diesem
Werk alles Stoffliche zugunsten eines sinnlich aufgeladenen erotischen
Stimmungsbildes zurücktritt. Bereits Jahre zuvor als reines Konzertstück
entstanden, brachte Diaghilew das Debussy’sche »Prélude« 1912 als Tanzstück heraus, nur wenige Tage vor Ravels »Daphnis«, bei dessen Uraufführung am 8. Juni 1912 Debussys Opus zudem wiederholt gezeigt wurde. Die
Ballettfassung des »Prélude« war ein Tanzsolo des wie ein Blitz in Paris
einschlagenden Vaslav Nijinsky (1889-1950), voll skandalös provokanter
Sinnlichkeit, mit neuartigen Bewegungen und von einer faszinierend verstörenden Androgynität der Erscheinung dieses Tänzers. Demgegenüber
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29
wirkte Fokines Choreografie zum
»Daphnis«-Ballett eher konventio­
nell. Nijinsky tanzte aber auch
hier in der männlichen Hauptrolle, und Ravel hatte sich für seine
Musik zum ersten Solotanz des
Daphnis, bei dem dieser gegen
seinen Rivalen antritt, direkt von
Nijinskys Bewegungen inspirieren
lassen – mehr vielleicht als durch
das Libretto. Ravels Freund Dimitri
Calvocoressi berichtete: »In ›Le
Pavillon d’Armide‹, einem anderen
Ballett, das Diaghilew in dieser
Saison herausgebracht hatte, vollführte Nijinsky in einem Solopart
einen wunderbaren Sprung, von
dem Ravel restlos begeistert war.
Um dem Tänzer Gelegenheit zu
i d eenge b er f ü r » da phnis et c h lo é«
ähnlichen Sprüngen zu geben,
a l s B a l l ett: M i c h a i l Fokine
hatte Ravel die Takte nach dem
Schema ›Lauf mit anschließender langer Pause‹ angelegt, ein Muster, von
dem Daphnis’ Tanz im ersten Bild durchgängig geprägt ist.«
Insgesamt aber war die Zusammenarbeit zwischen Ravel und Fokine
von gegenseitigem Misstrauen und Unverständnis geprägt. Nach Vollendung der dreijährigen Arbeit schrieb Ravel an den Direktor der Pariser
Oper: »›Daphnis et Chloé‹ war für mich eine so ununterbrochene Tortur,
dass mir vorerst jede Lust auf ein ähnliches Unternehmen vergällt ist.« 1909
hatte die Arbeit an dem Stück begonnen, Diaghilew wollte es eigentlich
schon 1910 herausbringen. Bereits die gemeinsame Arbeit am Szenario war
von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ravel und Fokine geprägt,
bei denen als Übersetzer auch der Bühnenmaler Léon Bakst gleich mit verschlissen wurde. Fokine reduzierte später in seiner Autobiografie rückblickend die Unstimmigkeiten weitgehend auf die Piratenszene des 1. Bildes,
die er sich breiter ausgemalt wünschte, während Ravel nur etwas von einem
blitzartigen Überfall wissen wollte.
»Griechenland der Träume«
Tatsache ist aber, dass von Fokines Wiederbelebung der Antike kaum etwas in dem Libretto übrig geblieben ist. Ravel sprach nicht ohne Grund
von einer Umgestaltung zum »Griechenland meiner Träume«, für das ihm
4. SYMPHONIEKONZERT
30
die Kunst des 18. Jahrhunderts die Bilder lieferte. Und tatsächlich fand
er in dieser Stilisierung ein Mittel, um alle unmittelbaren Leidenschaften
zu verwandeln, die Nacktheit in Kostüme zu stecken. Diese Auflösung des
direkten Begehrens in die Ironie (wie in der Verführungsszene Lyceions
im 1. Bild) oder in ein stilisiertes Spiel wie in der Pantomime des 3. Bildes,
das die Erfüllung eines »Pas de deux« vorenthält, verlagert auch die bewegendsten Momente des Stückes in symbolische Naturschilderungen wie
den großen Sonnenaufgang des 3. Bildes. Dieses Bild nahm mit wiederholten Umarbeitungen die meiste Zeit in Anspruch. So wissen wir aus einer
Klavierfassung, dass der Schlussteil des Balletts in einer ersten Version
nur halb so lang war. Als Ravel klar wurde, dass sein Ballett so schnell
nicht fertig werden und zur Aufführung kommen würde, gab er noch während der Arbeit aus der bereits geschriebenen Musik eine Suite heraus, die
vor der Balletturaufführung in Paris gespielt wurde. Zusammen mit einer
zweiten Suite ist dies bis heute die meistgespielte »Daphnis«-Musik im
Konzertsaal.
dreimal geklingelt, und das VorEbenso wie Debussy war auch Ravel
spiel begann gerade, als wir unein begnadeter Genießer und Feinseren Freund in festlicher Abendschmecker. Allerdings unterschied
gala und mit einem länglichen
sich Ravel von Debussy durch die
Paket in braunem Packpapier
besorgniserregenden Mengen von
unter dem Arm eintreffen sahen.
Mixed Pickles, Pfeffer, Senf und
Während wir uns beeilten, unsere
anderen anregenden Gewürzen,
Plätze einzunehmen, erkundigte
die er zu verschlingen in der Lage
er sich sehr eindringlich nach der
war, und durch seine ausgeprägte
Loge von Madame Misia Sert. ›Aber
Vorliebe für exotische Gerichte und
Sie haben doch Ihre eigene Loge!‹,
orientalische Leckereien.
erwiderte ich. ›Ja, aber ich habe
Misia Sert etwas mitgebracht.‹ Und
Ricardo Viñes
ohne Rücksicht auf Nijinsky, der
gerade mit einer Ziegenherde die Bühne betrat, wickelte er sein Paket aus
und präsentierte Madame Sert eine wunderbare chinesische Puppe.«
Vaslav Nijinsky im Fokus
Ravels »Daphnis«-Musik
Diese vorgezogene Uraufführung von Musik aus seinem Ballett konnte
nicht auf Diaghilews Beifall hoffen, und sie nährte sein wachsendes Misstrauen gegenüber Ravels Willen, wirklich eine Musik für die Erfordernis­
se eines Balletts zu schreiben. Er drohte dem Verlag, das ganze Projekt
platzen zu lassen, und wahrscheinlich ist die Rettung des gemeinsamen
Vorhabens nur dem Einfluss der Mäzenin Misia Edwards (später Misia
Sert) zu danken, die einerseits zu den treuesten und uneigennützigsten
Unterstützerinnen Ravels gehörte und andererseits für Diaghilews Arbeit
unentbehrlich war. Diaghilew jedoch hatte mehr und mehr das Interesse
an der sich hinziehenden Arbeit verloren und konzentrierte seine Energien
mittlerweile auf den Tänzer Nijinsky. Fokine geriet ins Hintertreffen, und
da Nijinsky durch die Arbeit an seinem Debussy-Stück völlig in Anspruch
genommen war, litt auch die Einstudierung von »Daphnis et Chloé« – alles
Umstände, die mit dazu führten, dass Nijinskys Faun zur Geburtsstunde
eines neuen Tanzstils werden konnte, Ravels Pastoralstück jedoch nach
einer bloß freundlichen Aufnahme und trotz einer großen Zahl von Vorstellungen nicht jenen intensiven Widerhall fand wie die großen Ballette
Strawinskys, die Ravels Stück zeitlich umrahmen.
Bei der Premiere verhielt Ravel sich so, als ob ihn das ganze Geschehen im Theater gar nichts mehr angehe. Sein Vertrauter Roland-Manuel berichtete: »Ich erinnere mich noch gut daran, wie Ravel zur Uraufführung zu spät kam. In großer Unruhe, weil wir ihn im Saal des Theaters
nicht finden konnten, suchten wir die Gänge nach ihm ab. Es hatte bereits
Ein Grund, der Fokine zur Wahl des Stoffes von »Daphnis und Chloé« bewegt hatte, war, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, die Absicht, »zum
ersten Mal auf dem neuzeitlichen Theater die wiederauferstandene Musik
des alten Griechenland erklingen zu lassen«. Für ein derart spekulatives
Vorhaben war Ravel jedoch nicht zu gewinnen, so dass Fokine ihm schließlich »die völlige Freiheit in der Idee, in der Wahl der musikalischen Form,
in Takt, Rhythmus und der Länge der einzelnen Teile« überlassen musste.
Auffällig ist in der Verteilung der Tänze, dass die beiden Protagonisten zwar
jeweils einen großen Solo-Auftritt haben – Daphnis im 1. Bild bei seinem
Tanzwettstreit um Chloés Gunst und Chloé im 2. Bild, wenn sie vor den
Piraten tanzt. Der fällige »Pas de deux« im Schlussbild erscheint stattdessen
als Pantomime, bei der alleine Chloé als Handelnde auftritt: eine Szene, die
als flötenbegleitetes Solostück (mit Daphnis-Nijinsky als Flötist) fast wie
eine Parodie auf Debussys Tanzsolo wirkt.
Die Flöte ist das dominierende Instrument schon im Vorspiel,
mehrmals erklingt sie auch auf der Bühne – der wohl einzige musikalische
Tribut Ravels an eine vorgestellte griechische Antike. Punktuell mag auch
die reiche und farbige Schlagzeugbesetzung an antike Darstellungen und
Beschreibungen von Instrumenten erinnern: Ravel verlangt vier verschiedene Typen von Trommeln, außerdem Becken, Triangel und Kastagnetten,
Glockenspiel und Celesta, Tamtam und antike Zymbeln. Außerdem kommt
am Ende des 1. Bildes, als die Piraten Chloé entführen und die ganze
Landschaft in einem irrealen Licht versinkt, auch eine Windmaschine zum
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4. SYMPHONIEKONZERT
Einsatz. Von entscheidenderem Einfluss auf den spezifischen Klang dieser
Musik ist aber der Summchor, den Ravel immer wieder in die Instrumentalklänge mischt und am Ende des 1. Bildes unbegleitet, handlungslos, als
reine Stimme der beseelten Natur erklingen lässt.
In der Musik nehmen die impressionistischen Naturschilderungen
einen breiten Raum ein. Es sind vor allem die Veränderungen des Lichts,
die Ravels Musik mit ihrer raffinierten Klangphantasie nachzeichnet. Dem
»Nocturne« am Schluss des 1. Bildes mit seinen unheimlichen Klangerscheinungen (die Windmaschine bildet nur die illustrativste von ihnen)
folgt zu Beginn des 3. Bildes der Sonnenaufgang. Mit seiner weitgespannten Entwicklung eines D-Dur-Klanges zieht er viel mehr die Aufmerksamkeit auf sich als das parallel stattfindende Wiedersehen der Liebenden
Daphnis und Chloé.
Die reinen Tanzstücke dagegen entwerfen sehr genaue gestische
Porträts der an der Handlung beteiligten Figuren. Tritt der vergebliche Liebeswerber Dorcon im kurzatmigen 2/4-Takt, begleitet von den Blechbläsern,
auf, so bewegt sich Daphnis im biegsamen 6/8-Takt, den er übrigens nicht
nur mit Chloé, sondern auch mit deren Rivalin Lyceion teilt, so dass nur
Dorcon wirklich durch die Musik außerhalb des erotischen Kraftfeldes um
Daphnis herum steht. Die Gruppentänze dienen der Darstellung religiöser
Kulthandlungen (zu Beginn mit Harfe und Streichern), der ruppigen Siegesfeier der Piraten und als Bacchanal im 1. und 3. Bild der Feier freudiger Eks­
tase in der Hirtengemeinschaft. In diesem Bacchanal und seiner ausgeweiteten Wiederaufnahme am Schluss zog Ravel ungerade Taktarten heran, die
die Symmetrien der kontrollierten Bewegungen aufheben. Hier, im 7/4- und
im 5/4-Takt (was den Interpreten der Uraufführung einige Probleme bereitete), wagt sich die Musik am weitesten in jenen expressionistischen Gestus
hinein, der ein Jahr später Strawinskys »Sacre« zum Skandal machte.
In der Gesamtanlage erscheint Ravels Ballett von reizvoller Vieldeutigkeit. Es lässt sich kaum durchgehend als jene »choreografische Symphonie« hören, als die der Komponist das Werk einmal bezeichnete, dafür gibt es
zu viele malerische Episoden, die aus dem Gesamtverlauf heraustreten und
beim Hören ganz für sich sprechen. Andererseits aber bestimmen doch wenige zentrale Motive die Gravitationszentren dieser Musik. Allen voran steht
das Liebesthema von Daphnis und Chloé, das in mannigfachen Wandlungen
und Entwicklungen das Stück durchzieht. Zum ersten Mal erklingt es in der
Einleitung im Solohorn nach einem stimmungshaften Flötenthema: zwar
pianissimo, aber doch von entschiedener Gestik und kraftvoll geschwungener
Kontur, mit zwei synkopisch akzentuierten Quintintervallen, erst abwärts,
dann aufwärts und jeweils gefolgt von einem wellenartigen Ausschwingen.
32
M a rtin Wi l kening
33
Da s T h é âtre d u Ch âte l et (u m 1914)
1912 wurde in dem Pariser Theater nicht nur Ravels »Daphnis et Chloé«
aus der Taufe gehoben, sondern auch Debussys »Prélude à l’après-midi d’un
faune« erstmals als Ballett aufgeführt. Bei der »Daphnis«-Premiere folgten
beide Werke aufeinander.
4. SYMPHONIEKONZERT
»Daphnis et Chloé«
Die Handlung
1. Teil
Mit dem Vorspiel öffnet sich der Blick in eine liebliche Landschaft in der
Nähe einer Küste. Wiesen, Felder und Hügel wechseln einander ab, im Vordergrund, am Rand eines heiligen Hains, befindet sich die Felsengrotte, die
als Heiligtum des Gottes Pan und der Nymphen verehrt wird. Junge Hirten
und Hirtinnen erscheinen vor der Grotte, mit Opfergaben huldigen sie ihrem
Gott. Ihr ritueller Tanz bricht in dem Moment ab, in dem sie Daphnis und
Chloé entdecken, den Ziegenhirten und die Schäferin, die einander lieben.
Ein schnellerer Tanz verwandelt die weihevolle Stimmung in ein fröhliches
Fest. Dabei treten aber auch die Rivalen der Liebenden auf, Mädchen umschwärmen Daphnis, und Chloé wird von Dorcon, dem sozial höher stehenden und etwas lebenserfahreneren Kuhhirten, umworben.
Daphnis stößt Dorcon beiseite und es kommt zu einem Tanzwettstreit zwischen den beiden. Dorcon blamiert sich gehörig, mit seinem tapsigen Tanz hat er keine Chance gegen den mit geschmeidigen Läufen und
Sprüngen aufwartenden Daphnis. Dieser erhält als Sieger einen Kuss, bevor
die Hirtinnen Chloé fortführen. Daphnis erstarrt in einer traumartigen
Ekstase als Vorahnung seiner Liebeserfüllung. In dieser Stimmung tritt
Lyceion an ihn heran, eine raffinierte Rivalin der unerfahrenen Chloé, und
versucht Daphnis zu verführen. Diesen rettet weniger seine Widerstandskraft als seine Naivität und ein plötzlicher Aufruhr.
Piraten sind in die Idylle eingedrungen und entführen Chloé. Daphnis,
der an der Grotte eine von Chloés Sandalen entdeckt, klagt vor dem Heilig­t um
sein Leid. Das Licht verwandelt sich, die Statuen der Nymphen erwachen und
kündigen ihm die Hilfe Pans an. Dessen Gestalt tritt aus einem Felsen hervor
und die Natur erhebt in einem A-capella-Summchor ihre Stimme.
2. Teil
Die Piraten feiern in ihrem Quartier mit einem wilden Kriegstanz. Chloé soll
für Bryaxis, den Anführer, tanzen. Widerwillig kommt sie der Forderung
nach, weil sie hofft, dadurch ihre Freiheit wiedererhalten zu können. Sie ist
erschöpft und niedergeschlagen, und ihr Tanz zeigt diese Stimmung zwischen Verzweiflung und Hoffnung durch den Wechsel zwischen mäßigen und
34
35
V E R FÜ H R U N G S S Z E N E : LYc e I O N (O LG A M E L N I KOVA )
U N D DA P H N I S (O R D E P C H ACO N) I N D E R C H O R E O G R AF I E VO N
J O H N N E U M E I E R A N D E R d res d ner S E M P E R O P E R ( 2 0 0 4).
langsamen Passagen. Plötzlich dringen mysteriöse und furchteinflößende
Klänge in die Szene hinein und es erscheinen die Gesandten des Pan, Satyrn
und andere fantastische Kreaturen. Es blitzt, die Erde bricht auf und die Piraten fliehen, als sie schattenhaft die riesige Gestalt des Pan erblicken.
3. Teil
Nacht liegt über der lieblichen Landschaft der Hirten. Bäche von Tau rieseln
murmelnd über die Felsen. Langsam kommt der Morgen. Daphnis beweint
das Schicksal Chloés. Die Sonne geht auf und man hört die Vögel singen, die
Schäfer beginnen ihr Tagwerk. Da erscheint die befreite Chloé in Gesellschaft
von Schäferinnen. Ein Hirte erklärt, warum Pan das Liebespaar wieder zusammengeführt hat: Er erinnerte sich an seine eigene unglückliche Liebe zu
der Nymphe Syrinx. Aus der vergeblichen Suche nach ihr, die sich fliehend
in ein Schilfrohr verwandelt hatte, entstand das Instrument, das seiner Sehnsucht Ausdruck verlieh, die Panflöte. Daphnis und Chloé spielen diese Szene
als Pantomime nach, Chloé ist die Nymphe, Daphnis begleitet ihren Tanz
auf der Flöte. Zum Schluss fällt sie ihm in die Arme. Nymphen und Bacchantinnen und junge Männer versammeln sich zum abschließenden Bacchanal,
auf dem in fröhlichem Tumult das junge Paar gefeiert wird.
M a rtin Wi l kening
4. SYMPHONIEKONZERT
MDR Rundfunkchor Leipzig
E inst u d ier u ng : Denis Comtet
D
er MDR Rundfunkchor hat seit vielen Jahren seinen festen Platz
in der Reihe europäischer Spitzenchöre. Er ist der größte und
traditionsreichste Chor des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
und gilt unter Experten als einer der besten. Dirigenten wie Herbert von Karajan, Kurt Masur, Sir Colin Davis, Claudio Abbado,
Sir Simon Rattle, Sir Neville Marriner, Seiji Ozawa, Lorin Maazel, Bernard
Haitink, Riccardo Muti, Georges Prêtre oder Sir Roger Norrington haben
dem MDR Rundfunkchor ihre Reverenz erwiesen. Regelmäßig konzertiert
der Chor gemeinsam mit dem MDR Sinfonieorchester unter Leitung seines
neuen Chefdirigenten Kristjan Järvi.
Dass der Chor nicht nur exzellenter Partner der großen internatio­
nalen Symphonieorchester ist, hat er mit weithin beachteten A-cappellaInterpretationen vielfach unter Beweis gestellt. Weltliche und geistliche
Musik, Ensemblegesang und Chorsymphonik gehören gleichermaßen zu
seinem Repertoire, das beinahe ein Jahrtausend Musikgeschichte umspannt.
Als Spezialensemble für zeitgenössische Musik haben sich die 73 Choristen
durch zahlreiche Ur- und Erstaufführungen einen Namen gemacht.
Seit 1998 leitet Howard Arman den Chor. In der Reihe seiner Vorgänger finden sich berühmte Namen wie Herbert Kegel, Wolf-Dieter Hauschild,
Jörg-Peter Weigle und Gert Frischmuth. Nahezu 200 Schallplatten und CDs
hat das Ensemble in seiner über 60-jährigen Geschichte aufgenommen. 2002
wurde die Einspielung von Sergej Rachmaninows »Vesper«, 2005 die von Carl
Heinrich Grauns Passionsoratorium »Der Tod Jesu« mit dem ECHO-KlassikPreis ausgezeichnet. Über die Europäische Rundfunkunion wie auch auf
Tourneen und Gastspielen ist der Chor weltweit zu hören und übernimmt mit
seiner künstlerischen Arbeit die Funktion eines musikalischen Botschafters.
Seit Jahrzehnten arbeitet die Sächsische Staatskapelle Dresden in
Konzerten und Aufnahmen eng mit dem MDR Rundfunkchor zusammen.
Zuletzt waren die Sängerinnen und Sänger 2011 in einem Konzert anlässlich
des 225. Geburtstags von Carl Maria von Weber mit der Staatskapelle in der
Semperoper zu erleben, am Dirigentenpult stand Manfred Honeck. Im Jahr
zuvor trat der Chor mit der Staatskapelle in der Dresdner Frauenkirche auf:
im Rahmen eines Konzertes unter Daniel Harding zum 200. Geburtstag von
Robert Schumann.
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4. SYMPHONIEKONZERT
4. Symphoniekonzert 2012 | 2013
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Bratschen
Roland Straumer 1. Konzertmeister
Michael Eckoldt
Jörg Faßmann
Federico Kasik
Volker Dietzsch
Johanna Mittag
Birgit Jahn
Anja Krauß
Anett Baumann
Roland Knauth
Anselm Telle
Sae Shimabara
Renate Peuckert
Lenka Matejáková**
Annekatrin Rammelt*
Anna Kießling*
2. Violinen
Heinz-Dieter Richter
Matthias Meißner
Annette Thiem
Jens Metzner
Ulrike Scobel
Olaf-Torsten Spies
Elisabeta Schürer
Emanuel Held
Kay Mitzscherling
Ting Hsuan Hu
Paige Kearl
Dietrich Reinhold*
Steffen Gaitzsch*
Nicole Amal Reich*
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39
Konzertmeister
Flöten
Gerd Grötzschel* S o lo
Andreas Schreiber
Anya Muminovich
Michael Horwath
Ulrich Milatz
Wolfgang Grabner
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Susanne Neuhaus
Ekaterina Zubkova**
Albrecht Kunath*
Elke Bär*
Ivan Bezpalov*
Rozália Szabó S o lo
Bernhard Kury
Britta Croissant*
Dóra Varga**
Oboen
Bernd Schober S o lo
Andreas Lorenz
Michael Goldammer
Klarinetten
Violoncelli
Friedwart Christian Dittmann
Tom Höhnerbach
Martin Jungnickel
Uwe Kroggel
Andreas Priebst
Bernward Gruner
Jörg Hassenrück
Jakob Andert
Achim Melzer*
Michael Peternek*
Kontrabässe
Georg Kekeisen* S o lo
Martin Knauer
Torsten Hoppe
Fred Weiche
Reimond Püschel
Thomas Grosche
Johannes Nalepa
Michael Patzelt**
S o lo
Ulrich Pluta S o lo
Egbert Esterl
Jan Seifert
Christian Dollfuß
Fagotte
Joachim Hans S o lo
Joachim Huschke
Andreas Börtitz
Simon Rothe*
Hörner
Robert Langbein S o lo
Andreas Langosch
Harald Heim
Miklós Takács
Eberhard Kaiser
Posaunen
Uwe Voigt S o lo
Jürgen Umbreit
Frank van Nooy
Tuba
Jens-Peter Erbe
S o lo
Pauken
Bernhard Schmidt
S o lo
Schlagzeug
Christian Langer
Frank Behsing
Jürgen May
Dirk Reinhold
Stefan Seidl
Jakob Eschenburg**
Alexej Bröse*
Timo Schmeichel*
Johann-Georg Baumgärtel*
Harfen
Vicky Müller S o lo
Astrid von Brück S o lo
Celesta
Ellen Rissinger
Trompeten
Tobias Willner S o lo
Viktor Spáth S o lo
Peter Lohse
Siegfried Schneider
Christian Wenzel**
* a l s G a st
** a l s Ak a d emist
4. SYMPHONIEKONZERT
Vorschau
Silvesterkonzert der Staatskapelle Dresden
I n Z u s a mmen a r b eit mit d em Z DF
S onntag 3 0 .12 .12 2 0 Uhr
Wertsteigerung
+ Musikfreude pur ein Leben lang
M ontag 31.12 .12 17.15 Uhr
S emperoper Dres d en
Christian Thielemann Dirigent
Diana Damrau Sopran
Piotr Beczala Tenor
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Höhepunkte aus Operetten von Emmerich Kálmán
5. Symphoniekonzert
S onntag 6 .1.13 11 Uhr
M ontag 7.1.13 2 0 Uhr
Dienstag 8 .1.13 2 0 Uhr
S emperoper Dres d en
Myung-Whun Chung Dirigent
Olivier Messiaen
»L’Ascension« für Orchester
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 1 D-Dur
Kostenlose Einführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Opernkeller der Semperoper
4. Kammerabend
M itt wo c h 9.1.13 2 0 Uhr
S emperoper Dres d en
Myung-Whun Chung Klavier
Robert Langbein Horn
Arabella Quartett
Comeniusstr. 99 - 01309 Dresden
Tel.: 0351-268 95 15 - Fax: 0351-268 95 16
Flügel - Klaviere - Digitalpianos
[email protected] - www.piano-gaebler.de
Robert Schumann
Adagio und Allegro für Horn und Klavier op. 70
Hans Werner Henze
Streichquartett Nr. 3
Johannes Brahms
Klavierquintett f-Moll op. 34
4. SYMPHONIEKONZERT
I mpress u m
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2012|2013
Herausgegeben von der
Sächsischen Staatsoper Dresden
© November 2012
R e da ktion
Dr. Torsten Blaich
G esta lt u ng u n d L ayo u t
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
Christian Thielemann
Chefdirigent
Katrin Schirrmeister
Persönliche Referentin von
Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
Union Druckerei Dresden GmbH
Dr. Torsten Blaich
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Anzeigen v ertrie b
Matthias Claudi
PR und Marketing
Dr u c k
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
i.A. der Moderne Zeiten Medien GmbH
Telefon: 0351/25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Bi l d n ac h w eise
Thomas Müller (S. 5); Bilder einer Metropole,
Die Impressionisten in Paris, hrsg. vom Museum
Folkwang, Göttingen 2010 (S. 6/7); Paul Yates
(S. 8); Horst Keller: Edouard Manet, München
1989 (S. 9); Alphonse Liébert (S. 10); François
Lesure: Claude Debussy, Lettres 1884-1918,
Paris 1980 (S. 15, 16); Roger Nichols: Maurice
Ravel im Spiegel seiner Zeit, Zürich/St. Gallen
1990 (S. 21); Lydia Wolgina u.a.: Michail Fokin,
Gegen den Strom, Berlin 1974 (S. 22, 29); Mat
Hennek/DG (S. 25); Yan Terrien (S. 33); Matthias
Creutziger (S. 35); MDR/Martin Jehnichen (S. 37).
T e x tn ac h w eise
VARIATIONEN
EINES
THEMAS
Agnes Monreal
Assistentin des Orchesterdirektors
Sarah Niebergall
Orchesterdisponentin
Matthias Gries
Orchesterinspizient
Agnes Thiel
Friederike Wendler
Mathias Ludewig
Notenbibliothek
Ob Computer, Tablet
oder Smartphone –
die neue Website der
Staatskapelle macht
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gute Figur.
Die Texte von Tobias Niederschlag, Martin
Wilkening und Dr. Torsten Blaich sind Originalbeiträge für die Publikationen der Sächsischen
Staatskapelle Dresden.
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
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