Christian Grywatsch Kontinuität im Wandel: Pci – Pds – Ds. Der Prozess der Sozialdemokratisierung der italienischen Kommunisten (1980 – 2000) uni-edition Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Autor: Christian Grywatsch Kontinuität im Wandel: Pci – Pds – Ds. Die Sozialdemokratisierung der italienischen Kommunisten (1980-2000) Christian Grywatsch – Berlin: uni-edition, 2006 ISBN 3-937151-58-3 Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Sozialwissenschaften der Universität Erfurt, Staatswissenschaftliche Fakultät Gedruckt auf holz- und säurefreiem Papier, 100% chlorfrei gebleicht. © uni-edition GmbH, Berlin Zehrensdorfer Str. 11, D – 12277 Berlin Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Herstellung: Schaltungsdienst Lange, Berlin Printed in Germany ISBN 3-937151-58-3 Für Giovanna, Pietro und Elisa Danksagung: Ich möchte mich an dieser Stelle für jegliche Unterstützung, die mir während der Arbeit an meiner Dissertation entgegengebracht wurde bedanken. Für die Auskünfte über das Innenleben der Partei und die Prozesse, die sich während des untersuchten Zeitraumes abspielten, sei von den vielen Parteimitgliedern hier an erster Stelle dem Generalsekretär Piero Fassino für sein Interview gedankt. Darüber hinaus war es neben dem Sekratariatsmitglied, der Senatorin Silvana Amati, vor allem die Basis, für die stellvertretend Silvano Paradisi genannt werden soll, die mir bereitwillige Auskunft gab und so eine große Hilfe war. Eine unerlässliche Stütze bei der Recherche war außerdem das Archiv der Democratici di sinistra in Rom, ohne welches eine Reihe von Daten und Informationen nicht zur Verfügung gestanden hätte. Mein besonderer Dank gilt außerdem meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Strübel, der mich über die Jahre bei meiner Arbeit unterstützt und gefördert hat. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich Herrn PD Dr. Alexander Thumfahrt für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens. Großer Dank gilt insbesondere meiner Mutter Inge Grywatsch, die durch ihr Korrekturlesen und die beharrliche und ausdauernde Beschäftigung mit den verschiedenen Versionen der Rechtsschreibreform und deren Umsetzung eine nicht zu überschätzende Entlastung für mich darstellte. Der größte Dank aber gilt meiner Frau Giovanna und unseren Kindern, die mir während des gesamten Forschungsprojektes moralisch unterstützend zur Seite standen. Ungeachtet dieser Unterstützung sind sämtliche Fehler und Mängel, die der Arbeit anzulasten sind, allein durch den Autor zu verantworten. INHALT 1 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG .................................................... 11 2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER STUDIE............................... 21 2.1 ORGANISATIONSANALYTISCHER FORSCHUNGSANSATZ ..................... 24 2.1.1 Klassische Parteienforschung .................................................... 24 2.1.2 Moderne Parteienforschung ....................................................... 30 2.1.2.1 Kontingenztheoretische Organisationsanalyse................ 31 2.1.2.2 Funktionalistische Organisationsanalyse ........................ 34 2.2 HANDLUNGSTHEORETISCHER UNTERSUCHUNGSANSATZ ................... 38 2.3 ZWISCHENBILANZ ZUR PARTEIENFORSCHUNGSTHEORIE ................... 42 3 HISTORISCHER RÜCKBLICK 1943 – 1989........................................ 45 4 DIE AUFDECKUNG UND BEKÄMPFUNG DER KORRUPTION MANI PULITE - ........................................................................................ 75 5 DAS ITALIENISCHE PARTEIENSYSTEM ......................................... 81 6 PCI– PDS – DS ORGANISATIONSTHEORETISCHE PARTEIENFORSCHUNG AUS SICHT DES „KLASSISCHNEOKLASSISCHEN“ ANSATZES........................................................ 119 6.1 PCI ................................................................................................... 127 6.2 PDS - DS .......................................................................................... 174 7 PCI – PDS – DS ORGANISATIONSTHEORETISCHE PARTEIENFORSCHUNG AUS SICHT DES MODERNEN PARTEIENFORSCHUNGSANSATZES ................................................ 217 INHALT 7.1 KONTINGENZTHEORETISCHE ORGANISATIONSANALYSE.................. 219 7.1.1 Pci ............................................................................................ 221 7.1.2 Pds/Ds...................................................................................... 227 7.2 FUNKTIONALISTISCHE ORGANISATIONSANALYSE ........................... 232 7.2.1 Partei als Ausdruck sozialer Kräfte.......................................... 234 7.2.1.1 Pci ................................................................................. 235 7.2.1.2 Pds/Ds ........................................................................... 242 7.2.2 Parteien als Instrument der Machtausübung ............................ 248 7.2.2.1 Pci ................................................................................. 248 7.2.2.2 Pds/Ds ........................................................................... 251 7.2.3 Parteien als Vermittler demokratischer Legitimation .............. 258 7.2.3.1 Pci ................................................................................. 259 7.2.3.2 Pds/Ds ........................................................................... 261 7.2.4 Parteien als Interessengruppe und Karrierevehikel.................. 263 7.2.4.1 Pci ................................................................................. 264 7.2.4.2 Pds/Ds ........................................................................... 269 8 LINKAGE DES PCI, PDS, DS ............................................................. 275 8.1 ORGANISATORISCHES - INDIREKTES LINKAGE ................................. 277 8.2 INDIVIDUELLES – DIREKTES LINKAGE.............................................. 295 9 HANDLUNGSTHEORETISCHE ANALYSE ..................................... 309 10 ZUSAMMENFASSUNG: KONTINUITÄT UND WANDEL IM PROZESS DER SOZIALDEMOKRATISIERUNG DER ITALIENISCHEN KOMMUNISTEN .................................................................................... 337 11 ITALIEN – DIE FRAGE NACH DER ZWEITEN REPUBLIK......... 349 11.1 DIE VERFASSUNG .......................................................................... 351 INHALT 11.2 DAS STAATSOBERHAUPT ............................................................... 358 11.3 DAS PARLAMENT UND DIE REGIERUNG ......................................... 361 11.4 DAS WAHLSYSTEM ........................................................................ 366 11.5 DIE POLITISCHE KULTUR ............................................................... 377 11.6 DIE MEDIEN................................................................................... 381 11.7 TRANSITION OHNE ENDE ODER ENDE OHNE TRANSITION?............. 386 12 ANNEX ............................................................................................... 389 12.1 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ........................................................... 389 12.2 QUELLEN UND LITERATUR............................................................. 390 12.3 TABELLEN UND ÜBERSICHTEN....................................................... 422 1 Einleitung - Fragestellung Italien ist ein Land, das auf uns Deutsche eine besondere Anziehungskraft ausübt. Schon im Mittelalter zog es immer wieder Kaiser und Könige nach Italien. Die Begeisterung, die tiefen Sehnsüchte und die Verwirklichung der Träume blieb lange Zeit einem kleinen Kreis von Künstlern und Intellektuellen vorbehalten. Durch ihre literarischen Arbeiten wurden zum Beispiel Goethe und Hesse zu Botschaftern der Apenninenhalbinsel gegenüber einem breiteren Publikum. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts wurde Italien auch von Touristen erobert. Der Traum von „la dolce vita“ wurde so durch die Wohlstandsmehrung im Rahmen des deutschen Wirtschaftswunders für viele erfahrbar. Italien übte aber nicht nur auf Grund seiner schönen Strände, seiner Kultur und Lebensfreude eine besondere Anziehungskraft aus. Auch auf ganz anderem, auf politischem Gebiet, war das Land der Zitronenbäume und Mandelblüten attraktiv. Die Polarisierung in zwei starke Subkulturen, die katholische und die sozialistisch/kommunistische, die trotz ihrer tiefen Feindschaft neben- und zunehmend miteinander kooperierten, wie durch die Filmreihe Don Camillo und Peppone auch künstlerisch immer wieder dargestellt, war ein beliebtes Studienobjekt. Überhaupt bot Italien mit der größten kommunistischen Partei außerhalb des direkten sowjetischen Einflussbereiches die Voraussetzung für ein, wie man es bezeichnete, „europäisches Versuchslabor“. Politisches Markenzeichen Italiens war eine einzigartige Kombination aus Dauerkrise und politischer Stabilität, aus Regierungswechseln und personeller Kontinuität. Eine parlamentarische Demokratie, die trotz des Konkurrenzmodells starke konkordanzdemokratische Elemente aufwies, eine Republik welche trotz der offensichtlichen Defizite, die über kurz oder lang zu einem Zusammenbruch des Systems führen mussten, funktionierte.1 1 Wieser/Spotts 1983. 11 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG Dieses System, welches scheinbar keine Überraschungen mehr bereit hielt, in dem eine Regierungskrise und der Sturz einer Regierung auf Grund der Häufigkeit keine wirkliche breaking news mehr darstellte, geriet zu Beginn der neunziger Jahre in Bewegung. Dies geschah in einer Intensität, die bis dahin niemand für möglich gehalten hätte. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Auflösung und Neugründung der Kommunistischen Partei Italiens (Pci2) als sozialdemokratische Organisation (Pds) verlor der „Faktor K“ seine determinierende, weil blockierende Bedeutung. Die quasi Staatspartei Dc verlor somit ihre Legitimation als Freiheitsretterin, was zur Folge hatte, dass neue Akteure auf der politischen Bühne Fuß fassen konnten.3 Diese Tatsache führte dazu, dass die Macht der dominierenden Parteien, insbesondere der Dc und des Psi, eingeschränkt wurden und damit die bis dahin politisch aufrecht erhaltene Immunität der Politiker gegenüber der Justiz überwunden wurde.4 Damit waren die Voraussetzungen für „Mani pulite“5 gelegt. Durch die Art und Weise, wie diese Untersuchungen sich auf das ganze Land ausbreiteten und das politische System erschütterten, sprach man auch von einem Erdbeben, bzw. von einer Lawine, die sich unaufhaltsam ihren Weg bahnte. Die gesamte politische Klasse in Italien war betroffen: etwa 1000 Politiker verschiedenster Ebenen, unter anderem war jeder dritte Parlamentarier betroffen, sahen sich mit „avvisi di garanzia“6 konfrontiert.7 Alles schien zu diesem Zeitpunkt in Frage gestellt. Nicht wenige 2 Bei der Verwendung italienischer Termini, sowie der Abkürzungen für Parteien, Organisationen o.ä. wurde in der Arbeit auf die italienische Schreibweise zurückgegriffen. Mit Ausnahme von Abkürzungen werden diese Begriffe in Anführungszeichen gesetzt und deren Übersetzung bzw. Bedeutung bei der ersten Erwähnung erläutert. 3 Fix 1999. 4 Unter den verschiedenen Darstellungen über „Mani pulite“ und die bis dahin übliche Form, Skandale und politische Prozesse zu verhindern, bzw. ihre Ausweitung zu unterbinden sei an dieser Stelle auf Roques 1994 und Losano 1994 verwiesen, die in narrativer Form einen guten Überblick bieten. 5 „Mani pulite“ bedeutet übersetzt „saubere Hände“ und bezeichnet die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen, die ihren Ausgangspunkt in Mailand nahm und die Aufdeckung der systematischen Korruption und Schmiergeldzahlungen zum Ziel hatte. 6 Es handelt sich bei dem „avviso di garanzia“ um die Benachrichtigung durch die Staatsanwaltschaft, dass gegen die Betreffende Person ermittelt wird. 7 Roques 1994, Seite 69. 12 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG beschworen bereits den Untergang des bis dahin bestehendes Systems, welches man in Erwartung einer neuen Ordnung entsprechend den italienischen Gewohnheiten zur Nummerierung schnell als Erste Republik8 betitulierte. Demnach würden die Ereignisse zu einer neuen, einer Zweiten Republik führen. Dass diese Einschätzung etwas vorschnell war, zeigte sich bereits nach kurzer Zeit. Verantwortlich dafür war eine ebenfalls alte italienische Tradition, die ihren Ausdruck in folgendem Zitat findet: "Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie es ist!"9 Es wundert daher auch nicht, dass sich diese Textstellen in nahezu jedem Buch der neunziger Jahre über Italien wieder findet. Wissenschaftlich ausgedrückt steht diese Sentenz für "ein ausgesprochen konservatives Verständnis von Wandel [...] in dem zentrale Bestandteile des Systems durch Veränderungen nicht-zentraler Bestandteile aufrechterhalten werden."10 Eben dies vollzog sich in Italien und so folgte auf den Zusammenbruch der Ersten Republik kein grundlegender politischer Neuanfang, sondern der Versuch, mittels Modifikationen innerhalb des alten Systems etwas Neues zu gestalten. Die Veränderungen spielten sich dabei häufig in nicht zentralen Bereichen ab oder aber die Neuerungen waren selbst nur sehr begrenzt.11 Was sich seit Beginn der neunziger Jahre grundsätzlich geändert hat, ist das Interesse an Italien aus politikwissenschaftlicher Sicht. Die Apenninenhalbinsel stand schon ein Mal, Mitte der siebziger Jahre, im Mittelpunkt des internationalen Forschungsinteresses. Auch in Deutschland beschäftigten sich in dieser Zeit viele Wissenschaftler mit dem Eurokommunismus, einer Entwicklung, an welcher der Pci maßgeblichen Anteil besaß. Sowohl die kommunistischen Parteien, als auch die Implikationen für das nationale- bzw. internationale System waren dabei 8 Da sich die Begriffe der Ersten und Zweiten Republik allgemein, auch in der Politikwissenschaftlichen Literatur, als Arbeitstitel durchgesetzt haben wird auf die Verwendung von Anführungszeichen verzichtet. 9 Tomasi Di Lampedusa 1998, Seite 33. 10 Orlandini 2000, Seite 24. 11 Um dieser für Italien zentralen Frage nachzugehen und um ein besseres Verständnis für die Diskussion um die Zweiten Republik zu schaffen, wird an dieser Stelle auf das Kapitel 11 verwiesen. 13 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG von Interesse.12 Nach dem Scheitern des „compromesso storico“ (Historischer Kompromiss), dem deutlich schwächeren Abschneiden der Kommunisten bei den folgenden Wahlen (1979) und der Herausbildung einer neuen Regierungskoalition, dem so genannten „pentapartito“ (Fünfparteienkoalition aus Dc, Psi, Pli, Pri und Psdi) der die Regierungsfähigkeit in den Achtzigern wiederherstellte, nahm das Forschungsinteresse deutlich ab. Selbst die Auflösung und Neugründung der einstmals stärksten kommunistischen Partei der westlichen Hemisphäre wurde über die entsprechenden Fachkreise hinaus wenig rezipiert. Die Entwicklungen in Osteuropa, der Zusammenbruch der Staaten des „real existierenden Sozialismus“ waren international von weit größerem Interesse. Mit der durch „Mani pulite“ ausgelösten Entwicklung zu Beginn der neunziger Jahre änderte sich dies schlagartig. Italien rückte wieder in den Mittelpunkt. Nachdem über fast vier Jahrzehnte (mit Ausnahme der bereits angesprochenen Siebziger) hinweg Regierungskrisen und Skandale mit der Gewissheit thematisiert wurden, dass sich nichts ändern würde, spürte man nun, dass Veränderungen in der Luft lagen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Phase, als der Medienunternehmer Silvio Berlusconi sein politisches Engagement ankündigte und bereits zwei Monate später als strahlender Sieger aus den nationalen Parlamentswahlen hervorging. Sein Sieg veranlasste nationale wie internationale Beobachter zur Ausrufung einer „Telekratie“, manche sprachen gar von der Gefahr einer „Demokratur“. Nach knapp acht Monaten war dieses Gespenst zunächst wieder verschwunden. Die Regierung stürzte und eine Übergangsregierung unter dem Parteilosen Ciampi kam ins Amt. Blieb also trotz aller Veränderungen doch alles beim Alten? Diese Frage muss mit Nein beantwortet werden. Vor allem innerhalb der Parteienlandschaft hatten sich Entwicklungen vollzogen, die als Bruch mit der Vergangenheit gewertet werden konnten. In erster Linie ist das Auftauchen von neuen politischen Akteuren zu nennen, welches durch wissenschaftliche Studien begleitet wurde. Zentraler Gegenstand der meisten Analysen waren die Parteiorganisationen Forza Italia13, Alleanza nazionale14 und die Lega 12 13 z. Bsp.: Goldenberg 1979; Timmermann 1979; Strübel 1982. Renner 1994; Ruggeri/Guarino 1994; Wallisch 1997; Rauen 1995a; Rauen 1995b; 14 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG nord15. Besonders die Vereinigung Berlusconis erreichte durch die neuartige Struktur Aufmerksamkeit, die in erster Linie mit Skepsis in Bezug auf ihre demokratische Ausrichtung und Legitimität betrachtet wurde. Darüber hinaus wurde besonders ein Phänomen thematisiert was in dieser Form erst mit dem Aufsteigen der Forza Italia und ihres Führers aufkam: Ein ausgeprägter Interessenkonflikt zwischen privaten (wirtschaftlichen) und Staatsinteressen. Wie man Berlusconis Aufstieg auch werten mochte, Italien schien seinem Ruf als „Laboratorium“ erneut gerecht zu werden. Ein weiterer Einschnitt in der Geschichte der italienischen Republik stellten die Nationalwahlen von 1996 dar. Durch sie gelangte zum ersten Mal nach dem II. Weltkrieg eine Linksregierung ins Amt. Die Wahlen führten aber nur begrenzt zu stabilen politischen Mehrheiten, so dass die Regierung Prodi 1998 zurücktreten musste. Es schien, als hätten trotz der Veränderungen der Jahre 1992/93 die alten Mechanismen der Ersten Republik überlebt. Die Beschreibung von Regierungskrisen gehörte damit, wie vor den Ereignissen von „Mani pulite“ zum journalistischen Alltag. Die Faszination, die sich zu Beginn der Neunziger nachweisen ließ, verflog auch deshalb, weil sich die Entwicklungen innerhalb des Parteiensystems, speziell in Bezug auf die politischen Akteure, nur noch rekapitulieren ließen. Die Spaltungen, Neugründungen, Bündnisse und Vereinigungen waren nicht mehr zu überschauen und nur schwierig zu analysieren, da durch ihre geringe Halbwertzeit eine Analyse oft obsolet wurde. Die Konsequenzen daraus sind Forschungslücken auf verschiedenen Gebieten. Vor allem die kleinen Parteien sowohl der Mitte (z. Bsp: Ccd, Cdu, Ppi) als auch des linken Spektrums, insbesondere die Nachfolgeorganisationen des Psi, sind kaum wissenschaftlich thematisiert worden. Aber auch bei den großen Parteiorganisationen finden sich Forschungsdefizite. Eklatant schein dies im Bereich der Kommunistischen Partei Italiens (Pci) bzw. seiner Nachfolger. Während die neuen Akteure FI, An und Lega nord teilweise sehr ausführlich besprochen wurden, war das Interesse am Pds im Vergleich gering. 14 15 Ignazi 1994; Feldbauer 1996; Scheuer 1996, Visentini 1993; Brütting 1995a; Braun 1996; Bordon 1997. 15 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG Aus der Zeit der Neugründung des Pds stammt die von Piero Ignazi vorgelegte Studie ‚Dal PCI al PDS’, die zur Datenbasis für alle, sich in den neunziger Jahren mit der Transformation des Pci zum Pds beschäftigenden Werke wurde.16 Mehr als fünf Jahre lang folgten keine umfassenderen Studien zum Pds, da besonders die Aktionen „Mani pulite“ und die neuen politischen Akteure die Aufmerksamkeit banden. Die Eruptionen, die das Parteiensystem erschütterten und die Agonie der Dc und des Psi einleiteten, standen einer intensiven Beschäftigung mit den kommunistischen Nachfolgeparteien entgegen. Erst die Konfrontation zwischen Berlusconis Forza Italia und dem Pds 1994 rückten letzteren wieder in die Nähe des Rampenlichts der Parteienforscher. Carlo Baccetti legte 1997 eine Monographie vor, die aufbauend auf der Analyse von Ignazi, die Entwicklung der ersten fünf Jahre der Entwicklung des Pds nachzeichnete. Im Kern ging es darin um die Beschreibung des Wandels. Auch die von Anna Bosco im internationalen Vergleich mit den kommunistischen Parteien Spaniens und Portugals vorgelegte Untersuchung nahm diesen zum Ausgangspunkt.17 Die letzte Arbeit zum Pds und seiner Transformation zu den Ds wurde von Bellucci, Maraffi und Segatti vorgelegt, welche besonders auf die Einstellungsänderungen der Parteitagsdelegierten zwischen Pci (1990) und Pds (1997) und Ds (2000) fokussierten. Die 2002 von De Angelis vorgelegte Analyse bezog sich im Gegensatz dazu ausschließlich auf die Organisationsstruktur des Pci. Alle diese Arbeiten setzen ihren Schwerpunkt auf den Nachweis des Wandels und der Veränderung im Verhältnis des Pci und seinen Nachfolgern. Was vollkommen fehlt, ist die Berücksichtigung von Übereinstimmungen, bzw. der Suche nach Kontinuitäten in der Organisation und den Prozessen der entsprechenden Parteien. Dies verlangt der Frage nachzugehen, ob und worin sich Parallelen nachweisen lassen. Sämtliche zitierten Arbeiten beschreiben in erster Linie die Veränderungen, ohne dezidiert auf die Konstanten zwischen Pci und Pds einzugehen. Die vorliegende Arbeit soll dazu einen Gegenakzent setzen und die Dimension der Kontinuität verstärkt beleuchten. Mithin besteht die 16 17 Ignazi 1992. Bosco 2000. 16 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG Singularität der vorliegenden Studie darin, zu fragen, wo die Grenze zwischen Kontinuität und Wandel liegt. Damit sind nicht nur die Fakten und Tatsachen der Transformation relevant sondern implizit rückt auch die zeitliche Komponente der Entwicklung in den Vordergrund. So soll nicht unhinterfragt auf die grundlegende Studie Ignazis zurückgegriffen werden, der den Bruch des Pci mit der Vergangenheit als Folge der Wahlniederlage von 1987 sieht. Auch wenn sein Werk als Datenbasis für die folgende Arbeit unentbehrlich ist, soll eine, dem neuen Kenntnisstand der Forschung, insbesondere durch die detaillierte Arbeit De Angelis, angemessene neue Bewertung des Pci im Verhältnis zum Pds und den Ds erfolgen. Ins Zentrum rückt dabei die Frage, wann der Wandel und die Veränderungen innerhalb der Kommunistischen Partei Italiens begonnen haben. Es besteht in diesem Punkt eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den Studien von Ignazi, Baccetti und Bosco und den Einschätzungen von Protagonisten der ehemaligen Kommunistischen Partei Italiens. Während diese nahezu einhellig die Krise und die beginnenden Veränderungen an den Beginn der achtziger Jahre datieren,18 sehen die Wissenschaftler die Krise und die Veränderung als Ergebnis der Nationalwahlen von 1987.19 Sie berufen sich dabei auf das von Panebianco 1982 entwickelte Modell, mit dem sich Veränderungen in Parteien beschreiben lassen. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auch auf das von ihm vorgelegte Transformationsmodell und berücksichtigt gleichzeitig die von Harmel und Janda vorgelegte Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung dieses von Wiesendahl als „Neoklassischen Forschungsansatz“ bezeichnete Modell. Durch diese Herangehensweise wird der Weg frei für eine vollkommen neue Perspektive, aus welcher die Frage nach dem Zeitpunkt des Wandels ergebnisoffen untersucht werden kann. Gerade darin bestand die Motivation für und die Faszination in der Arbeit, zu überprüfen, ob sich aus den fokussierten aktuellen Forschungsergebnissen, wie vermutet, eine neue Bewertung in Bezug auf Kontinuität und Wandel ergibt. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen, dem Ziel der umfassenden Darstellung dadurch gerecht zu werden, dass die Dissertation 18 19 Ariemma 2000; Mantovani 2002; Caponi 2003. Baccetti 1997; Bosco 2000. 17 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG sich nicht nur auf diesen Forschungsansatz beschränkt. Der Kategorie Wiesendahls folgend sollen weitere Forschungsperspektiven genutzt werden, um den Pci und seine Nachfolger darzustellen. Auch der als „handlungstheoretische Perspektive“ bezeichnete Ansatz, der Parteien als Produkt menschlichen Handelns erklärt, soll obgleich der gegebenen Schwierigkeiten bei der Datenlage, mit einbezogen werden.20 Dieses Vorgehen soll ein möglichst ausführliches Bild entwerfen, welches die Kontinuitätslinien ebenso beleuchtet wie den zweifelsfrei abgelaufenen Wandel. Bevor die Untersuchung sich dem konkreten Gegenstand, dem Pci der achtziger Jahre und dem Pds/Ds widmet, soll nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der zur Anwendung kommenden Parteienforschungstheorie und zum besseren Verständnis ein historischer Rückblick auf die Geschichte Italiens eingefügt werden. Damit wird es auch möglich, die publizistisch aufgeladene Frage nach der Zweiten Republik Italien, die im Anschließenden exkursorisch angesprochen werden soll, zu verstehen. Dies scheint dem Autor aus zweierlei Gründen notwendig: Erstens da die Zweite Republik vor allem Mitte der Neunziger vielfach in einen verkürzten Zusammenhang mit einem neuen Parteiensystem gebracht wurde, was eine unzulässige Vereinfachung dieser für Italien zentralen Frage darstellte. Der zweite Grund liegt darin, dass sich die Untersuchung auf die Parteien und deren Analyse konzentriert. Dem Erkenntnisinteresse folgend, wurde die Studie darum im Sinne einer möglichst großen Tiefenschärfe nicht mit der Analyselast, zweifelsohne relevanter Fakt wie der politischen Kultur, bzw. der Frage nach den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, beladen. Der Autor ist sich bewusst, dass die politische Kultur - für den Untersuchungsgegenstand Italien erscheint es gar angebracht von politischen Kulturen zu sprechen - ein entscheidender Faktor für ein Parteisystem ist, doch liegt das Ziel der Arbeit auf einer detaillierten 20 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass durch die Einführung dieser zweiten Perspektive, die den gleichen Gegenstand innerhalb derselben Zeitspanne analysiert, inhaltliche Wiederholungen teilweise nicht zu vermeiden waren. Speziell die Tatsache, dass die beschriebenen Fakten aus der unterschiedlichen Perspektive unterschiedliche Konsequenzen trugen, bzw. Schlussfolgerungen brachten, stand einem Verzicht auf eine abermalige Nennung entgegen. 18 EINLEITUNG - FRAGESTELLUNG politikwissenschaftlichen Betrachtung der Parteiorganisationen. Einer breiten Würdigung aller Einflussfaktoren stehen dabei der Umfang, als auch die geringere Schärfe in Bezug auf das angegebene Ziel entgegen. Um den Faktoren trotzdem den ihnen angemessenen Stellenwert zuzuweisen, werden sie im Kapitel 10 in einem Problemaufriss skizziert werden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Vollständigkeit beanspruchende Abhandlung aller Determinanten sondern um einen Exkurs, der für dass Problemfeld der Zweiten Republik Italien sensibilisieren soll. 19