Viele Wege führen zum Kauf

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Schwerpunkt
Viele Wege führen zum Kauf
Den Kaufentscheidungsprozess verstehen und nutzen
Die Autoren
Frank Drewes verantwortet als Associate Director Marketing Science
bei Harris Interactive die
Entwicklung und Anwendung innovativer Marktforschungsansätze. Der
Diplom-Psychologe verfügt über zehn Jahre
Institutserfahrung mit den Branchenschwerpunkten Finance, Automotive und FMCG.
[email protected]
I
n vielen Produkt- bzw. Dienstleistungskategorien sehen sich Kunden heutzutage einer schier unüberschaubaren Angebotsfülle gegenüber. Die Vielzahl von
Anbietern und Unternehmen, Marken,
Produktvarianten bzw. Dienstleistungskonditionen schlägt sich in Dutzenden, ja
Hunderten Optionen nieder, aus denen
Kunden wählen können. Ebenso unübersichtlich ist die Informationsfülle, die zu
diesen Produkten bzw. Angeboten bereitsteht, seien es Werbung und Produkttests
in klassischen und neuen Medien, persönliche Empfehlungen, Verkaufsförderungsmaßnahmen am Point-of-Sale und anderes mehr.
In einem solchen Konsumumfeld kann der
Anspruch an einen Konsumenten nicht
mehr sein, die bestmögliche Entscheidung
Christin Heiland absolvierte das Studium der
Wirtschaftswissenschaften
an der Hochschule Harz in
Wernigerode. Die DiplomWirtschaftspsychologin
unterstützt das Harris
Interactive Team als Research Consultant in
den Schwerpunkten FMCG und OTC.
[email protected]
Frauke Mandera, DiplomInformationswirtin (FH), ist
als Research Consultant der
Harris Interactive AG für die
Projektleitung in den Bereichen Automotive, Industrie- und Investitionsgüter,
Telecommunications und Pharma verantwortlich.
[email protected]
zu treffen, da der Entscheidungsaufwand
in keinem Verhältnis zum Entscheidungsnutzen stünde. Der Anspruch sollte vielmehr sein, aus einer Anzahl von Entscheidungsheuristiken diejenige auszuwählen,
die eine zufriedenstellende Entscheidung
bei adäquatem Aufwand ermöglicht.
Vielzahl von Entscheidungen, die jeden Tag
anstehen.
In der Praxis hat das Marketing längst lernen
müssen, diese Heuristiken aufzugreifen, ja,
oftmals ist es seine implizite Aufgabe, Konsumenten zu einer Entscheidung zu führen,
die sie vollständig informiert nach rein rationalen Gesichtspunkten wohl nicht treffen würden. Dies ist völlig legitim und alles
in allem auch für die Konsumenten von Nutzen, weil sie eine Vielzahl zufriedenstellender Konsumentscheidungen mit einem vertretbaren Aufwand treffen können.
Im Folgenden werden sechs prototypische
Kaufentscheidungsprozesse vorgestellt, die
sich in ihrem Aufwand und Umfang, den
herangezogenen Informationsquellen, den
Entscheidungskriterien und nicht zuletzt
den sie begleitenden Stimmungen unterscheiden. Diese sechs unterschiedlichen
Kaufentscheidungsprozesse sind kein Persönlichkeitsmerkmal, das unabhängig von
der konkret anstehenden Kaufentscheidung wäre. Vielmehr zeigte sich, dass die
situativen Einflüsse auf die Wahl des konkreten Kaufentscheidungsprozesses sehr
viel bedeutsamer sind als etwaige generelle
persönliche Entscheidungsstile. Mit anderen Worten: In aller Regel wählen Konsumenten ihren Entscheidungsprozess nach
der jeweils anstehenden Entscheidung und
deren Rahmenbedingungen aus.
Urteilsheuristiken für
Entscheidungen
Die kognitive Psychologie kennt eine Vielzahl von Urteilsheuristiken, die sich in typischen Urteilsfehlern widerspiegeln. Dieser
indirekte Nachweis von Heuristiken über
ihre Fehler verführt dazu, ihren unbestreitbar hohen Nutzen zu übersehen: Urteilsheuristiken führen nicht in erster Linie zu
Beurteilungsfehlern unter bestimmten Umständen, sondern sie ermöglichen erst die
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Wege zum Kauf
Die Methodik
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In einer großangelegten qualitativ-quantitativen Grundlagenstudie mit mehr als
2.000 britischen Befragten wurde eine
Vielzahl von Fragen rund um Entscheidungen in insgesamt mehr als 20 Produktkategorien gestellt. Diese Fragen bezogen sich
konkret auf die letzte getroffene Entschei-
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Kurzfassung
Heutzutage sehen sich Konsumenten einer Vielzahl von Entscheidungserfordernissen gegenüber, die das Ideal einer bestmöglichen, völlig rationalen Entscheidung immer illusorischer
erscheinen lässt. Stattdessen setzen Konsumenten Heuristiken
ein, um zufriedenstellende Entscheidungen mit einem vertretbaren Aufwand treffen zu können. Der vorliegende Artikel stellt
die Ergebnisse einer umfangreichen britisch-deutschen Studie
mit insgesamt mehr als 3.000 Befragten vor. Auf der Basis einer
Vielzahl von Angaben zu konkreten Entscheidungssituationen
wurden sechs prototypische Entscheidungsprozesse identifiziert und eindeutige Marketingempfehlungen abgeleitet.
dung, wodurch die Gefahr kognitiv überformter Angaben zu Kaufentscheidungen
vermindert wurde. Den Kern der späteren
Kaufentscheidungstypologie bildeten zunächst 19 Zustimmungsaussagen, die im
Laufe der Analyse auf nur acht Aussagen
reduziert werden konnten. Ihre Anwendbarkeit wurde in einer nachfolgenden Studie mit mehr als 1.200 deutschen Konsumenten überprüft.
Sechs prototypische
Kaufentscheidungsprozesse
Mittels clusteranalytischer Verfahren wurden sechs prototypische Kaufentscheidungsprozesse identifiziert, die nachfolgend beschrieben werden. An dieser Stelle
sei betont, dass die Analyseeinheiten konkrete Kaufentscheidungen der Befragten
in spezifischen Produktkategorien waren,
nicht die Befragten selbst: Jeder Befragte
ging mit mehreren konkreten Kaufentscheidungen in die Clusteranalyse ein, die
über die unterschiedlichen Produktkategorien hinweg berechnet wurde. Die Kaufentscheidungstypologie ist universell gültig.
Von Produktkategorie zu Produktkategorie
unterscheiden sich nicht die Typen selbst,
sondern lediglich ihr jeweiliger Anteil an
den Kaufentscheidungen in der Kategorie.
Die sechs prototypischen Kaufentscheidungsprozesse lassen sich wie folgt charakterisieren:
● Umfangreiche Kaufentscheidungen mit
hoher innerer Beteiligung bei gleichzeitiger Unerfahrenheit, denen ein aufwändiger, aber teilweise wenig planvoller Entscheidungsprozess vorausgeht
● Systematische Kaufentscheidungen mit
hoher innerer Beteiligung und Erfahrenheit, die aktiv und planvoll nach rationalen Kriterien getroffen werden
● Gewohnheitsmäßige Kaufentscheidungen, die einen wiederkehrenden Bedarf
befriedigen und nicht mehr hinterfragt
werden
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Abstract
Nowadays consumers are confronted with a variety of decision
making demands that make the ideal answer in a best possible
and fully rational decision seem more and more illusionary. To
combat this, consumers use heuristics to be able to make a
satisfactory decision with an acceptable amount of effort.
This article presents the results of a comprehensive study in
Great Britain and Germany with more than 3000 respondents.
Six prototypical decision making processes have been identified
and clear marketing recommendations derived from a range of
results to concrete decision making situations.
Spontane Kaufentscheidungen, die ungeplant durch situative Gegebenheiten
angeregt werden
● Emotionale Kaufentscheidungen mit hoher innerer Beteiligung, denen emotionale Motive zugrunde liegen und bei denen schon die Beschäftigung mit Alternativen als lustvoll erlebt wird
● Genötigte Kaufentscheidungen, die notwendig sind, aber ohne besondere innere
Beteiligung eher widerwillig und oberflächlich getroffen werden
Abbildung 1 stellt die sechs Entscheidungsprozesse schematisch als U-Bahn-Verbindungen dar. Die Länge der Verbindungen
symbolisiert den intellektuellen und zeitlichen Aufwand – am höchsten ist er bei
umfangreichen und systematischen, am
geringsten bei spontanen Entscheidungen. Diese Entscheidungen führen durch
unterschiedliche Regionen im Entscheidungsraum, systematische Entscheidungen
beispielsweise durch die proaktive und unabhängige Region und emotionale Entscheidungen durch die reagierende Region. Auf ihrem Wege passieren sie bestimmte Stationen, die für Anregungsquellen
stehen, so beispielsweise die Recherche bei
●
umfangreichen und systematischen Entscheidungen oder die Vorschläge bei umfangreichen, genötigten und emotionalen
Entscheidungen. An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich betont, dass es sich um
eine schematische Darstellung handelt und
nicht impliziert, dass diese Stationen exklusiv nur durch die entsprechenden Prozesse oder in genau dieser Reihenfolge angesteuert werden.
Mit einer Ausnahme, die später noch erläutert wird, waren die kategorienspezifischen Verteilungen der Kaufentscheidungstypen in Großbritannien und Deutschland
sehr ähnlich (siehe Abbildung 2 für eine
Zusammenfassung der deutschen Ergebnisse). So dominieren bei der Wahl des
Energieversorgers umfangreiche oder systematische Kaufentscheidungen mit zusammen 80 Prozent. Ein ähnliches Profil
weisen Entscheidungen rund um Auslandsreisen auf, von denen 68 Prozent umfangreich oder spontan getroffen werden. Interessant: Nur 15 Prozent der Entscheidungen gehören dem emotionalen, aber
immerhin 10 Prozent dem genötigten Typ
an, worin sich eine überraschend ambivalente Einstellung des Reiseweltmeisters
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Kaufentscheidungsprozesse nach Produktkategorie (deutsche Ergebnisse)
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Deutschland gegenüber Auslandsreisen offenbart.
Wenig überraschend werden umfangreiche und systematische Entscheidungen immer dann eher getroffen, wenn ihre Konsequenzen eine gewisse zeitliche oder finanzielle Tragweite haben. Aber immerhin
einem Fünftel der Befragten wurde die letzte Entscheidung über eine Automobilanschaffung aufgenötigt.
Eine sehr hohe Ähnlichkeit weisen die Entscheidungsstrukturen für die beiden Finanzdienstleistungen Girokonto und Kfz-Versicherung auf: Mehr als ein Drittel der Entscheidungen sind systematisch und jeweils
ein Fünftel umfangreich oder genötigt.
Spielten bei den bislang betrachteten Kategorien gewohnheitsmäßige, spontane und
emotionale Entscheidungen eine eher untergeordnete Rolle, rücken sie bei der
FMCG-Kategorie Bier in den Vordergrund:
25 Prozent der Entscheidungen sind gewohnheitsmäßig, 21 Prozent spontan und
16 Prozent emotional. In der zweiten
FMCG-Kategorie Hautpflegeprodukte fallen jeweils ein Sechstel der Entscheidungen
systematisch, gewohnheitsmäßig, spontan
oder emotional. In beiden FMCG-Kategorien stark vertreten sind genötigte Entscheidungen, auf die jeweils ein Viertel entfallen.
Die einzige bemerkenswerte Abweichung
zwischen den britischen und deutschen Ergebnissen trat in der letzten Kategorie auf:
Während in Großbritannien knapp 60 Prozent der Entscheidungen über den Kauf
von OTC-Präparaten gewohnheitsmäßig
fallen, sind es in Deutschland nicht einmal
20 Prozent. In diesem Ergebnis spiegelt
sich anscheinend eine grundsätzlich andere Einstellung gegenüber der Selbstmedikation in den beiden Gesundheitssystemen wider.
Implikationen für das Marketing
In welcher Weise können diese Erkenntnisse durch das Marketing genutzt werden? Im Rahmen des vorgestellten Modells
der Entscheidungsprozesse kann das Marketing grundsätzlich auf zweierlei Weise
einwirken: entweder durch Anpassung
der Entscheidungsprozesse an die Marketingaktivitäten oder durch Anpassung der
Marketingaktivitäten an die Entscheidungsprozesse. Eine Veränderung der Entscheidungsprozesse einer größeren Konsumentengruppe ist sicherlich ambitioniert,
wobei Apple mit dem iPhone vermutlich
genau dies gelang. In den weitaus meisten
Fällen wird die entscheidungsprozessgerechte Gestaltung der Marketingaktivitäten aber der effizientere Weg sein:
● Bei umfangreichen Kaufentscheidungen
besteht bereits ein grundsätzliches Interesse seitens des Konsumenten an Informationen aller Art. Die eigentliche Aufgabe des Marketings ist es deswegen, die
Aufmerksamkeit auf die eigenen Informationen zu lenken, die durchaus werblichen Charakter haben können.
● Bei systematischen Kaufentscheidungen
besteht ebenfalls bereits ein grundsätzliches Interesse. Konsumenten in diesem
Entscheidungsprozess geben sich jedoch
selbstbestimmter und besser informiert.
Die Kunst des Marketings in dieser Situation besteht deswegen darin, Informationen bereitzustellen, ohne manipulativ zu
wirken.
● Das Marketing steht bei gewohnheitsmäßigen Kaufentscheidungen vor zwei
gegensätzlichen Zielsetzungen: einerseits
die Entscheidungen bei den Bestandskunden möglichst tiefgehend zu habitualisieren und sie andererseits den
Fremdkunden ins Bewusstsein zu rufen.
Vermutlich muss in den meisten Situationen zwischen der Sicherung der Bestandskundschaft und der Eroberung
von Fremdkunden abgewogen werden.
● Die beste Gelegenheit, spontane Kaufentscheidungen anzustoßen, bietet sich
in der Regel am Point-of-Sale. Ein hoher
Aufmerksamkeitswert des Produkts verbunden mit anschaulicher, leicht verständlicher, nicht zu umfassender Infor-
mation erhöht die Absatzchance ebenso
wie eine gewisse Distanz gegenüber
Konkurrenzprodukten, sei sie räumlich
oder von der Produktpositionierung her.
● Gerade bei emotionalen Kaufentscheidungen ist es für das Marketing entscheidend, den richtigen Ton zu treffen und
die Botschaft mit Esprit und Enthusiasmus zu vermitteln. Paradoxerweise ist es
vermutlich eine besondere Herausforderung, Marketing für ein Produkt zu betreiben, von dem die Konsumenten begeistert sind. Bionade mag als Beispiel
dienen, wie schnell die Zuneigung der
Kunden verspielt sein kann.
● Konsumenten, die sich einer genötigten Kaufentscheidung gegenübersehen,
möchten in erster Linie eines: es so
schnell wie möglich hinter sich bringen.
Erfolgversprechend sind deswegen alle
Maßnahmen, die die Entscheidung so
einfach wie möglich machen, angefangen von klaren Empfehlungen bis hin zur
Übernahme von Formalitäten, wie sie
insbesondere beim Wechsel von Dienstleistungsanbietern anfallen.
Der jeweils vorherrschende Entscheidungsprozess kann nicht nur für eine Produktkategorie insgesamt mit geringem Aufwand
bestimmt werden, sondern auch für beliebige Zielgruppen innerhalb der Kategorie,
seien es Bestandskunden, Fremdkunden,
Neukunden oder anderes mehr.
Fazit
Die Idealvorstellung des allwissenden, rein
rational entscheidenden Konsumenten ist
obsolet. Konsumenten nutzen Urteilsheuristiken, um zu einer zufriedenstellenden
Entscheidung zu gelangen, nicht zur bestmöglichen. Diese Urteilsheuristiken spiegeln sich in Entscheidungsprozessen wider,
die sich mit relativ geringem Aufwand für
unterschiedlichste Zielgruppen diagnostizieren lassen. Aus dieser Diagnose lassen
sich gezielt Marketingmaßnahmen ableiten, um die Konsumenten in ihrer Entscheidungssituation abzuholen.
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