laden - Wissenschaft und Aberglauben

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WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
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2000 Werner Schneider u.a.
Spätmoderne Textlinguistik
Kommunikation, Instruktion, Text
(546p11)
Kommunikation
Instruktion
Text
Kommunikation, Instruktion, Text seien linguistische Fundamentalbegriffe.
wie in der Informationstheorie definiert
“Der Sprecher bedeutet dem Hörer, wie dieser sich, wenn er dem Sprachspiel folgen soll, verhalten soll.”
“Der Begriff ‘Text’ besagt, dass die Analyse ihren Anfang bei den größten, durch
auffällige Unterbrechungen der Kommunikation abgegrenzten Einheiten nimmt,
dem Text-in-der-Situation”, mündlich oder schriftlich. “Kleinere Einheiten werden durch Segmentierung gewonnen.”
Text, Textur, Textualität
(546p12)
(546p13)
Textpragmatik
(546p14)
Textsemantik
(546p15)
(546p16)
Was mache eigentlich eine Abfolge sprachlicher Zeichen zu einem Text? Die Frage nach der Textualität des Textes?
Zusammenspiel Codebedeutung (manchmal auch einfach Bedeutung genannt)
und Textbedeutung (Meinung):
“Die Textbedeutung oder Meinung der Wörter in einem Text entsteht dadurch,
dass die Wörter mit ihrem jeweiligen Codebedeutungen einander Kontext geben
und ihre Bedeutungen im Hinblick auf deren Verträglichkeit oder Unverträglichkeit wechselseitig einschränken... Wenn man versucht, sich diese Überlegungen
grafischanschaulichzumachen,dannkannmandiesewechselseitigenDeterminationen durch Bezugslinien zwischen den einzelnen Wörtern des Textes darstellen.
Das ergibt dann allerdings, wenn man es konsequent durchführt, ein sehr komplexes, ja wirres und unübersichtliches Geflecht, und man versteht, dass das Wort
‘Text’ seiner lateinischen Etymologie nach ‘Gewebe’ bedeutet.”
Gewebe kann hier auch als Steigerung zu ‘Netz’ verstanden werden. Beachte auch,
dass das Wort ‘Wirken’ eine Nebenbedeutung im Sinne von ‘Weben’ hat. Gute metaphorische Gewinnmöglichkeiten, wenn wir uns hier im der ‘semantischen Isotopie’ der
Spinner, Webers und Schneiders bewegen.
Wie findet sich der decodierende Hörer so schnell in diesem “wirren Geflecht und
Gewebe” zurecht? “Dass ihm dies tatsächlich fast immer gelingt, ist darauf
zurückzuführen, dass der Text selber vielfältige Hilfen zu seiner eigenen Decodierung enthält.”
Was ist das Thema eines Textes?SeineLexemewerden“nichtausbeliebigenWinkeln des Vokabulars zusammengetragen”, sondern gehören “bestimmten semantischen Gruppierungen” an, “in lockerer Terminologie”: “Wortnetze”.
Bei J. A. Greimas als ‘semantische Isotopien’ bezeichnet, in textlinguistischer Entsprechung der bekannten ‘Wortfelder’.
Mit der Betrachtung der Lexeme im Sinne der Instruktionslinguistik “verlassen
wir die eingefahrenen Bahnen der auf einem statischen Zeichenbegriff beruhenden Referenzsemantik. Die Referenzsemantik denkt sich, wenn sie nach dem Zusammenhang von Sprache und Welt fragt, auf der einen Seite eine Menge von
sprachlichenZeichenundaufderanderenSeitedasInsgesamtderwirklichenoder
gedachten Weltdingen. Am Einfachsten, glaubt die Referenzsemantik, nun ihr
Geschäftbesorgen zu können, wenn sie eine 1:1-Relation zwischenSprachzeichen
und Weltdingen feststellen kann.”
“Ein kleines Textsegment wie ‘die Sonne geht auf’ kann unter dem Gesichtspunkt
der semantischen Referenz immer nur mit der bekannten meteorologischen Erscheinung(odereineKlassevonsolchenErscheinungen)zusammengebrachtwerden. In tatsächlichen, komplexen Situationen bedeutet ein solches Segment aber
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häufig etwas ganz Anderes. Es bedeutet beispielsweise ‘Steh auf!’ oder ‘Mach das
Licht aus!’ oder ‘Schließe die Blendläden!’ In unserem Text [aus dem Tagebuch
Max Frischs] bedeutet es ‘Erzähle von Japan!’.Dasebenmeintmaninderneueren
Linguistik, wenn von der textuellen und pragmatischen Bedeutung eines Wortes
oderTextsegmentesdieRedeist.EswäreabersicherlicheinmethodischerFehler,
wenn jemand diese textuell pragmatische Bedeutung einfach zu einer referenziellen Bedeutung additiv hinzurechnen würde. Vielmehr wird man der Wirklichkeit
desSprachgebrauchswohlnurdanngerecht,wennvonVornhereindieGesamtbedeutung eines Textes-in-der-Situation in Rechnung gestellt wird. Bei dieser Gesamtbedeutung aber ist vorauszusetzen, dass der Sprecher daran interessiert sein
muss, den Hörer mit der Botschaft des Textes zu einem situationadäquaten Verhalten. Der Hörer soll auf den Text reagieren. Dies braucht nicht unbedingt ein
Handeln im engsten Sinn des Wortes zu sein. Der Hörer kann sich in seinem Verhalten auch kognitiv oder emotional beeinflussen lassen. Wenn jedoch der Hörer
am Ende eines Sprachspiels sein Verhalten in gar keiner Weise geändert hat, so
hat dieses Sprachspiel seinen Sinn verfehlt und ist misslungen.”
“Die Weltdinge sind ja nicht einfach gegeben. Solche naive Auffassung ist heutzutage nicht mehr gestattet. Gegeben sind vielmehr allemal komplexe Situationen
mit einer vielschichtigen Interaktion von Personen und Gegenständen, in denen
man allenfalls ein Konglomerat von Daten der sinnlichen Wahrnehmung, der Erinnerung, der Imagination usw. als Primärdaten annehmen kann, was seinerseits
noch erkenntnis- und wahrnehmungstheoretisch in Frage gestellt werden kann.
Wie aber ... findet sich ein Mensch in der unübersehbaren und unübersichtlichen
Komplexität eines solchen Konglomerats von Primärdaten zurecht? Für diese
Orientierungsaufgabe bieten sich nun in einer gegebenen Kommunikationssituation die Sprachzeichen an; sie instruieren den Hörer, wie er die extreme Komplexität verfügbarer Primärdaten in einer anstehenden Situation so bändigen und
ordnen kann, dass ihm ‘sinnvolles’ Verhalten und Handeln möglich ist. Sinnvoll
aber ist dieses Verhalten und Handeln deshalb, weil es durch Bedeutungsinstruktionen der Sprache gesteuert wird.”
(546p17)
Theorie der Sprechakte von John Searle
Sprechakte(speechacts):Sprachealsregelgeleitetes,intentionalesHandeln.“Die
(546p34)
1.
2.
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4.
(546p34-35)
Sprachtheorie ist daher Teil einer allgemeinen Handlungstheorie, und Sprechakte heißen in dieser Theorie die kleinsten und fundamentalsten Einheiten der
sprachlichen Kommunikation.”
Schichtenmodell des Sprechakts mit vier Schichten:
Äußerungsakt (die bloße Äußerung von Sprachzeichen),
propositionaler Akt (Referenz und Prädikation),
perlokutionärer Akt (die erzielte Wirkung),
illokutionärer Akt (die Modalität der Intention, wie Behaupten, Fragen, Befehlen...)
“Es erscheint plausibel, dass ein solcher Sprechakt in seinem linearen oder komplexen Ablauf auch nichtsprachliche Handlungszüge enthalten kann und überhaupt ganz aus nichtsprachlichen Äquivalenten des Sprechens zusammengesetzt
ist. Es ist daher nur konsequent, dass der Begriff ‘speech act’ in der deutschen
Searle-Rezeption nicht nur als ‘Sprechakt’, ‘sprachliches Verhalten’ usw wiedergegeben wird, sondern neuerdings auch immer häufiger als ‘Sprechhandlung’.”
Searles Theorie sei eine Bereicherung von Linguistik und Pragmalinguistik, da geeignet,“dieVerkrustungenderSatzlinguistikaufzubrechenundderLinguistikein
neues und weites Problemfeld zu erschließen. Es steht zu hoffen, dass die Linguis-
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tik durch diese Theorie p35 auch wieder zur Empirie angeleitet wird, die sie sich
eine Zeit lang durch die generative Grammatik beinahe hat abgewöhnen lassen.”
p35-36
(546
)
Der Begriff es Sprechaktes sei allerdings nicht präzise genug; seine Verallgemeinerung problematisch. Darum sei die Sprechakttheorie “als Grundlage einer umfassenden Sprachtheorie” ungeeignet, p35 sondern sinnvollerweise nur auf Fachsprachen anzuwenden, besonders vorteilhaft auf die juristische. “Die im bürgerlichen oder kanonischen Recht fixierten Gültigkeitsregeln geben dem Sprechakt
des Versprechens jene scharfen Konturen, die er in der Umgangssprache eben
nicht hat.”
Es wäre “für den Linguisten ein methodischer Fehler, wenn er alle Varietäten des
Versprechens an der juristischen Form des Heiratsversprechens, und alle Formen
von Beschimpfungen an dem traditionellen, einem veralteten Ehrenkodex verpflichteten Begriff der Verbalinjurie mäße. Die Sprechakttheorie darf die Linguistik nicht verleiten, die Wirklichkeit in Kästchen abzupacken.”
Kommunikatives Handeln
Interessante Begegnung zwischen Handlungstheorie und Sprachtheorie p37 unter
(546p36-37)
dem Stichwort ‘Kommunikation’. Idealer Treffpunkt zwischen Sozialwissenschaften und Sprachwissenschaft. “Am Anfang steht Ludwig Wittgenstein und sein Begriff – wenn es denn ein Begriff ist – des Sprachspiels. Es ist aus den aphoristischen
Bemerkungen Wittgensteins nicht ganz eindeutig zu entnehmen, was man sich
genau unter einem Sprachspiel vorzustellen hat. Eindeutig ist jedoch zu erkennen,
dass er ‘Sprachspiel’ als einen Komplex versteht, in dem Sprechen und Handeln
wechselseitig aufeinander bezogen sind.” Der Begriff des Sprachspiels decke sich
weitgehend mit dem der ‘Geschichten’ (im Plural!) im Sinne W. Schapp.
“Diese beiden Begriffe haben wissenschaftsgeschichtlich gesehen zweifellos den
(546p37-38)
Wert von Orientierungsmarken gehabt. Mit ihrer Hilfe haben Sprach- und Sozialwissenschaften darauf achten gelernt, wie in konkreten Lebenssituationen das
Sprechen in das Handeln und das Handeln in das Sprechen eingebettet ist. Im Begriff des kommunikativen Handelns treffen beide Perspektiven zusammen. Diesen Begriff hat Jürgen Habermas verbreitet. Wir finden Habermas zunächst eine
Wegstrecke lang an der Seite Niklas Luhmanns in der gemeinsamen Kritik an den
verschiedenen reduktionistischen Handlungstheorien, insbesonderes des Behaviorismus. Habermas gibt zu erkennen, dass er dem systemtheoretischen Ansatz
grundsätzlich größere Chancen einräumt als allen anderen Spielarten einer
soziologischen Handlungstheorie. Er bemängelt jedoch an der Systemtheorie als
einer funktionalen, ‘technokratischen’ Theorie, dass auch sie das Handeln nur als
strategisches und zweckrationales Handeln erfassen kann. Dieses aber ist nur ein
Grenzfall intentionalen Handelns. Wenn man sich von diesem Grenzfall entfernt,
ist zu bedenken, dass sich intentionales Handeln grundsätzlich nach gesellschaftlichgeltendenWertenundNormenvollzieht,dieinhistorisch-kulturellüberlieferten Symbolen Gestalt angenommen haben. Der Sinn des Handelns muss daher
‘verstanden’ werden, wobei die Hermeneutik des Verstehens auch p38 ein Vorverständnis der geschichtlichen Situation einschließt. Deshalb ist sinnorientiertes
Handeln immer auch mit Notwendigkeit kommunikatives Handeln.
Mit dem folgenschweren Begriff des kommunikativen Handelns verwesit Habermas die verstehende Soziologie im Sinne Max Webers auf die (Kommunikations-)Linguistik. Er ist also mit Wittgenstein der Ansicht, dass Sprechen und
Handeln Momente desselben Sprachspielmodells sind, so dass sie in einem hermeneutischen Verstehensprozess zusammen gesehen werden können... Sprachverstehen verweist ... auf Handelnkönnen... Die Grenzen der Sprache bezeichnen
die Grenzen des Handelns.” Habermas Utopie des “herrschaftsfreien Diskurses”,
“in dessen idealem Kommunikationsablauf eben jener Sinn gestiftet oder über-
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(546p40-41)
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prüftwird,andemsichgesellschaftlichesHandelnalsvernünftigesHandelnorientieren kann. Das wäre dann ‘wahrhaft kommunikatives Handeln’”.
Siegfried J. Schmidts Begriff des ‘kommunikativen Handlungsspiels’ “eine Kontamination der Begriffe ‘Sprachspiel’ (nach Wittgenstein) und kommunikatives
Handeln (nach Habermas).”
“Wittgenstein, Habermas, Schmidt ... drei erste fragmentarische und noch unbefriedigende Theorieangebote mit dem unübersehbaren Aporiesignalen Aphorismus, Utopie und Schema. Denn da die Menschen so beschaffen sind, dass sie in
fastallenSituationensprachlichesundnichtsprachlichesVerhaltenmischen,kann
man natürlich von jeder beliebigen Situation, an der Menschen beteiligt sind, sagen, sie sei ein Sprachspiel, sie sei kommunikatives Handeln, sie sei ein kommunikatives Handlungsspiel. Wenn das aber von jeder beliebigen Situation gesagt
werden kann, dann kann man es ebensogut von keiner Situation sagen. Jedenfalls
lässt sich aus globalen Charakterisierungen dieser Art kein differenziertes Forschungsprogramm ableiten.”
“Linguisten dürften eigentlich nicht übersehen, dass die Grammatik seit alters
über einen zugleich globalen und höchst differenzierungsfähigen Handlungsbegriff verfügt. Er heißt Verb.”
“Die grammatische Lehre vom Verb ist ... in der Grammatik des Dionysios Thrax
so ausgebildet worden, dass sie in der späten Grammatiktradition als eine elementare Handlungstheorie aufgefasst werden konnte.” Die grammatischen Spezifikationen des ‘Tätigkeitsworts’ nach Dionysios, “die Modi, die Genera, die Arten und
dieFormenderWortbildung,dieNumeri,diePersonen,dieTemporaunddieFormen der Konjugation” ergeben wie in “der Schulgrammatik griechisch-lateinischer Herkunft ... in ihren Grenzen eine durchaus leistungsfähige Linguistik.”
“Diese Grenzen sind vor allen Dingen durch die Satzeinheit bezeichnet, die in
dieser Grammatik als die oberste sprachliche Einheit gesehen wird. Alle übersatzmäßigen Einheiten kommen dabei notwendig zu kurz... Die spektakulären Anfangserfolge der Pragmalinguistik können zu einem erheblichen Teil als befreienden Ausbrüche aus dem engen Satzhorizont beschrieben werden, wie er vor allem
für die generative Grammatik charakteristisch war... Wenn nämlich die Grammatik sich blind stellt, für die kommunikationssteuernde p41 Funktion der syntaktischen Morpheme und auf diese Weise ihre interessantesten Probleme verschenkt,
dann hat allerdings die Pragmatik ein leichtes Spiel, bei den vernachlässigten Themen der textuellen und situativen Makrosyntax stolze Eroberungen zu machen.
Eine Grammatik jedoch, die schon als kommunikative Textsyntax ihre Rechten
und Pflichten voll wahrnimmt, macht einen guten Teil dieser Pragmatik überflüssig.”
Neuere Kasustheorie nach Charles J. Fillmore: die Tiefenstruktur-Kasus als gekennzeichnete Relationen (labelled relations) zwischen Verb und Nomina. In den
Tiefenstruktur-Kasus sind die herkömmlichen Kasus und vertretende
Präpositionen zusammengezogen. Sie haben den Status präsumptiver Universalien. p42 “In einer ersten Liste nennt Fillmore die folgenden Kasus:
Agentiv: der – gewöhnlich belebte – Urheber der Handlung;
Instrumental: das – gewöhnlich unbelebte – Mittel der Handlung;
Dativ: der – gewöhnlich belebte – Handlungsbetroffene;
Faktitiv: das Handlungsresultat;
Lokativ: der Ort der Handlung;
Objektiv: neutraler Kasus (Restkategorie).
Was hier ‘Handlung’ genannt wird, kann jedoch auch Zustand oder Geschehen
sein... Die Kasusliste beansprucht ... keine kanonische Gültigkeit.”
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Erstaktant
Zweitaktant
Drittaktant
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Gefahr der “wilden Heuristik”. “Fillmores Kasustheorie hat gegenüber den freischwebenden Sprechhandlungstheorien zwar den Vorzug, dass sie einen linguistischen Handlungsbegriff mit der Grammatik und nicht dem Höhenflug über die
Grammatik hinweg zu erreichen versucht. Aber er verliert zu schnell aus den
Augen, dass die Grammatik zuerst immer die Grammatik einer Einzelsprache ist.
Erst im mühevollen Sprachvergleich mit vielen methodischen Kautelen darf man
von den Kategorien einer einzelsprachlichen Grammatik zu sprachlichen Universalien (genauer: Universalienhypothesen) aufsteigen.”
Lucien Tesniere p43 stellt – lange vor Fillmore – das Verb in den Mittelpunkt der
syntaktischen Analyse und beschreibt alle anderen Kategorien in Abhängigkeit
von ihm, was man heute (verbale) Dependenzgrammatik nennt..., leider bisher
meistensalsbloßeSatzgrammatikrealisiert.”Tesnierestellt“sichdenSatzkernals
ein kleines Drama vor mit dem Verb als (Bühnen-)Handlung und den nach verschiedenenKasusdifferenziertenNominainderUmgebungdesVerbsalsdenAktanten (actant), d.h. handelnden Personen oder Figuren.” Nicht metaphorisch
ausgedrückt: “Der allgemeinste Ausdruck für den Handlungscharakter des Verbs
ist ‘Vorgang’ (proces).” Die Aktanten werden über ihren Handlungcharakter definiert.
(prime actant: Nomen im Nominativ) celui qui fait l’action
(second actant: Nomen im Akkusativ) celui qui supporte l’action
(tiers actant: Nomen im Dativ) celui au bénéfice ou détriment auquel se fait l’action.
Klaus Heger nennt den Aktanten schwerfällig ‘Handlungsbeteiligten’, Henning
Brinckmann ‘Mitspieler’.”
Verb und Aktanten bilden das Modell einer Handlungssituation, in Tesnieres
Theatermetaphorik einer dramatischen Szene auf der Bühne. “Dabei kommt es
auf die Wertigkeit (Valenz) der Aktanten im Umfeld des Verbs an, je nachdem
welche Aktanten ihre ‘Auftritt’ haben. Das ergibt dann eine linguistische, typologischdifferenzierungsfähige p44 Handlungstheorie,diezwarzunächstnureineeinzelsprachliche Basis hat, jedoch auf dem Wege des empirischen Sprachvergleichs
zeitweise zu einer präsumptiv universal gültigen linguistischen Handlungstheorie
entwickelt werden kann, wenn sie nicht falsifiziert wird.
Hier bleibt noch viel zu tun übrig. Tesnieres Verbtheorie ist ein Forschungsprogramm, an dem noch viele Linguisten mit konkreten Untersuchungsvorhaben arbeiten müssen. Wir brauchen insbesondere für möglichst viele Sprachen Valenzwörterbücher; denn es zeigt sich bei einer Betrachtung des verbalen Vokabulars
verschiedenerSprachensehrschnell,dassdiesyntaktischenValenzstrukturensich
mitgewissensemantischenStrukturendesVokabularsdecken,diebishernochunzureichend bekannt sind. Immerhin zeichnet sich auch nach dem heutigen Stand
unserer Kenntnisse bereits ab, dass die syntaktischen Wertigkeiten offenbar nur
Exponenten bestimmter syntaktisch-lexikalischer Strukturen sind, die zu unseren
sprachlichen Grunderfahrungen gehören.”
Empirische Ermittlung sprachinvarianter Valenzverhältnisse.
“Mit der Hypothese, dass die wenigen, nämlich 3 Valenzen, die überhaupt in der
Umgebung eines Verbes möglich sind, bestimmte Grundmuster sozialen Verhaltens abbilden, so dass wir die verschiedenen Aktanten eines Verbs als typische
Handlungsrollen verstehen können”, kann die Grammatik “aufgefasst werden als
eine Sozialwissenschaft in nuce, die Grammatik des Verbs als eine ihrer Teilbereiche, nämlich als soziologische Handlungstheorie in nuce. Damit jedoch aus dieser
Feststellung weder maßlose Ansprüche der Linguistik noch maßlose Ansprüche
an die Linguisten herausgelesen werden können, will ich abschließend noch einmal daran erinnern, dass die Linguistik, auch wo sie vom Handeln spricht, zuerst
und zumeist die Linguistik einer Einzelsprache ist und nur mit sehr vielen Vorbe-
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halten über diese Begrenzung hinaus sprechen kann. Die Linguistik kann daher
mit ihrer Lehre vom Verb und vom Aktanten anderen Wissenschaften nur eine
Hypothese anbieten, mit der diese – hoffentlich – weiterarbeiten können.”
Das Kommunikationsmodell
Das Kommunikationsmodell orientiert sich eng an dem der Informationstheorie:
(546p45-46)
ein Sender sendet einen Text an einen Empfänger und beide haben Anteil an
einem Code. “Die Idealisierung des Modells liegt unter anderem darin, dass die
normalerweise unterschiedliche Teilhabe an dem gemeinsamen Code hier vernachlässigt ist.”
(546p46-47)
(546p47)
(546p48)
(546p48-49)
(546p51)
Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. Wenn zwei dasselbe hören, ist es nicht
dasselbe.
DerCodespiegeleinsichnocheinmaldiegesamteStrukturdesKommunikationsmodells wieder. p46 Das ‘Sprachspiel in Sprachspiel’, die traditionelle erste und
zweite Person, sind Kommunikationsrollen, “und ich will dafür, wenn ich auch
sonst Änderungen der Terminologie scheue, die Bezeichnung ‘Sender’ und ‘Empfänger’ als grammatische Kategorien einführen.” Für die dritte Person bleibt dabei leider nur eine Restkategorie, für die Weinrich p47 die Bezeichnung ‘Referent’
einführt. “Die Anweisung dieser grammatischen Kategorie besagt, dass der Sprecher dem Hörer bedeutet, er solle das folgende Wort nicht auf den Sender und
nicht auf den Hörer, beziehen, sondern in Bezug auf die Kommunikationsrolle
weitere Anweisungen des Textes – ‘Referenz’ – hinzuziehen.
Sender, Empfänger und Referent sind also die drei Kommunikationsrollen oder
‘Kommunikanten’, in denen das Kommunikationsmodell in der Grammatik selber erscheint.”
“Die Position des Referenten ist ... eine große und kaum konturierte Restkategorie; Referent ist jedes Element..., das in einem Sprachspiel nicht Sender und nicht
Empfänger ist. Was es dann positiv ist, muss durch zusätzliche Informationen des
Textes ausgedrückt werden.”
“Beim Senderplural – wir – ist nach den Strukturgesetzen der deutschen Sprache
irrelevant,obderEmpfängereinbegriffenistodernicht...AndereSprachenunterscheiden hier genauer. Sie haben an dieser Strukturstelle zwei pluralische Kommunikanten.”
Den Senderplural gebe es nämlich als Inklusivplural und als p49 Exklusivplural.
“Der Empfängerplural ‘ihr’ kann nur verwendet werden, wenn der Empfänger in
der Kategorie enthalten ist, wenn ferner – das ist eine negative Bestimmung – der
Sender nicht in ihr enthalten ist, und wenn mindestens ein weiteres Element in ihr
enthalten ist.”
“Mit dem Begriff ‘Kommunikanden’ haben wir Kommunikationsrollen gezeichnet, mit dem Begriff ‘Aktanden’ sollen nun Handlungsrollen bezeichnet werden.”
Tesnieres Erst-, Zweit- und Drittaktand lassen sich, grob gesprochen “mit den traditionellen Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ identifizieren.” Weinrich führt
nun “für die von Tesniere benutzten, jedoch mit der traditionellen Kasuszählung
nicht übereinstimmende Begriffe des Erstaktanden, des Zweitaktanden und des
Drittaktanden die Bezeichnungen Subjekt, Objekt und Partner ein,”
“Insgesamt geht es bei den Aktanden um die Art und Weise, wie ein Verb zu den
Nomina seiner textuellen Umgebung direkt in Beziehung tritt. Die Valenz oder
Wertigkeit eines Verbs richtet sich nun danach, zu wievielen und welchen Aktanden eine solche direkte Beziehung hergestellt werden kann. Die Skala der Möglichkeiten reicht bei Tesniere von der Nullwertigkeit bis zur Dreiwertigkeit.”
Präpositionale Objekte (‘er denkt anseinHaus’)willWeinrich“mitTesnierenicht
zu den Aktanden rechnen..” Sie nur die “Komparsen” im Handlungsdrama. Prä-
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positionen seien nur “eine Untermenge der Junktoren, durch die insgesamt Lexem textuell verbunden werden... Die Aktanden sind jedoch eine Besonderheit
des Verbs und bilden insofern eine eigene, deutlich abgrenzbare Kategorie.”
Das Genitivobjekt sei auch kein eigentlicher Aktant; Weinrich rechnet es glatt zur
(546p52)
Klasse der Präpositionen. Anders als Tesniere sieht er Begriffe wie ‘schneien’,
‘regnen’ nicht als nullwertig an. Bei den zweiwertigen Verben geht er über TesnierehinausundunterscheidetbeimzweitenAktandenzwischenObjektundPartner,
Akkusativ und Dativobjekt. Es ergibt sich damit folgendes
Paradigma der Aktanden für die deutsche Sprache:
1. einwertige Verben: Verb + Subjekt: ‘er lebt’, ‘es schneit’
2. zweiwertige Verben:
A
Verb + Subjekt + Objekt: ‘er sieht ihn’
B
Verb + Subjekt + Partner: ‘er hilft ihm’
3. dreiwertige Verben: Verb + Subjekt + Objekt + Partner: ‘er gibt es ihm’
(546p53-54)
Besondere Fälle:
1. Einwertiges Verb zweiwertig gebraucht: ‘er lebt ein elendes Leben’ (innerer Objekt).
2. Zweiwertiges Verb dreiwertig gebracht: ‘du siehst mir aber auch alles’ (ethischer
Dativ)
3. Dreiwertiges Verb zweiwertig gebraucht: ‘wir liefern frische Ware’ (Fachsprache)
4. Zweiwertiges Verb einwertig gebraucht: ‘ich höre wieder’ (Emphase)
5. Einwertiges Verb dreiwertig gebraucht: ‘du sollst mir nicht einen so elenden Tod
sterben’ (ethischer Dativ + inneres Objekt)
6. Dreiwertiges Verb einwertig gebraucht: ‘er erzählt großartig’ (Emphase in der
Fachsprache)
Valenzerhöhung, Valenzverminderung; überwertiger Gebrauch durch das Modalverb ‘lassen’: ‘ich lebe’, ‘ich lasse dich leben’
Reflexivkonstruktion: ‘er hört ihn an’, ‘er hört ihn sich an’
Unterwertiger Gebrauch durch Passivierung eines aktiven Verbs: ‘ich lobe dich’,
‘du wirst gelobt’
Das vollständigen Passiv ‘du wirst von mir gelobt’ sei maßlos überschätzt: “die geringe Frequenz dieser Struktur in wirklichen Texten (mündlich: 10%) rechtfertigt
diese künstliche, von den Grammatiken um des Parallelismus der Diathese willen
konstruierte Passiv nicht.”
“EsempfiehltsichunterdiesenUmständengrundsätzlich,zwischenderValenzim
Code und der Valenz im Text zu unterscheiden.” Nach diesen Differenzierungen
sei “nicht zu übersehen, dass die Masse der Verben in der deutschen Sprache
keineswegs nach den Gesetzen des Zufalls auf die drei Valenzklassen verteilt ist.
Die Verben lassen, wenn man sie nach ihren Valenzen gruppiert, unübersehbare
semantische Ähnlichkeiten erkennen, die mit diesen Valenzklassen im Zusammenhang stehen müssen.”
Valenzklassen
Es gebe noch kaum zuverlässige Statistiken zur Valenz der deutschen Verben, p55
(546p54-55)
und der Autor berücksichtigt “nur solche Verben, die zu den 500 häufigsten
Wörtern der deutschen Sprache gehören.” Literatur zur deutschen Sprachstatistik: (K74,K75)
Dreiwertige Verben: zwei Gruppen
1. Typus ‘sagen’ (Kommunikationsverben): sagen, schreiben, nennen, zeigen,
erklären, erzählen, wünschen usw.
2. Typus ‘geben’ (Donationsverben): geben, bringen, nehmen, kaufen, schicken usw.
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(546p55-56)
A
B
1.
2.
3.
(546p57)
1.
2.
3.
(546p57-58)
Handlungsrollen
(546p58-59)
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Semantische Gemeinsamkeit: Übermittlung einer Nachricht oder einer Sache.
“Auch negative Gegenwörter gehören selbstverständlich zu dieser Gruppe, etwa
‘verschweigen’ und ‘stehlen’.” Subjekt und Partner seien hier in der Regel durch
Personenbesetzt,dasObjektdurcheineSache.“Homologie:zweiPersonentreten
mittels eines Objekts miteinander in Verbindung.” Daher gesehen “nur zwei Varianten einer einheitlichen Handlungsstruktur”, von Weinrich als Interaktion im
engeren linguistischen Sinne bezeichnet.
Zweiwertige Verben:
intransitive Valenzklassen Subjekt + Partner: gehören, fehlen, helfen, folgen usw.
In Deutschen und anderen Sprachen verhältnismäßig schwach besetzt. Partner in
derRegeleinePerson,SubjekteinePersonoderSache.SemantischeGemeinsamkeit: Herstellung einer Verbindung zwischen Partner und Subjekt. “Als ZuwendungoderZuordnung(oderderenGegenteil)beschreibbar.”Heinrichsprichtvon
“Adversion”.
Subjekt + Objekt: um Vielfaches stärker besetzt, in drei Typen gruppiert in nicht
scharfer, sondern nur nuancierender Differenzierung;
Typus ‘haben’ (Kontaktverben): haben, lassen, finden, halten, sprechen, führen,
tragen,bekommen,ziehen,setzen,stellen,suchen,erhalten,erreichen,legen,treffen, schlagen, verlangen, verlassen, erwarten, annehmen,verlieren,schließenusw.
Typus ‘sehen’ (Perzeptionsverben): sehen, wissen, verstehen, fragen, hören, kennen, erkennen, lernen, lesen, vergessen, ansehen, fühlen, unterscheiden usw.
Typus ‘machen’ (Pk#sverben): machen, bilden, schaffen, bauen usw.
Semantische Gemeinsamkeit schwer auf den Begriff zu bringen; Subjekt in der
Regel Person. Objekt von Person und häufiger von einer Sache besetzt. “Ich will
daher diese Verb-Aktanden-Konstellation allgemein als Handlungsausgriff eines
Subjekts auf ein Objekt beschreiben und führe dafür den Begriff ‘Domination’
ein”, nur im strikt linguistischen Sinne zu verstehen.
Einwertige Verben:
Weniger Formen als in der Klasse der zweiwertigen Verben im Deutschen. Provisorische Untergruppierung nach drei Typen:
Typus ‘sein’ (Existenzverben): sein, werden, leben, beginnen, scheinen, erscheinen, entstehen, gelten, arbeiten, warten, aussehen, reden, wachsen, anfangen usw.
Typus ‘kommen’ (Positionsverben): kommen, stehen, gehen, liegen, sitzen, fallen,
fahren, wohnen, laufen usw.
Typus ‘regnen’ (Witterungsverben): regnen, schneien, frieren, tauen, hageln, blitzen, donnern usw.
Semantische Gemeinsamkeit “physikalische, biologische oder geistige Phänomene”, aufzufassen als Zustände oder Vorgänge, p58 von Weinrich ad hoc als ‘Subsistenz’ klassifiziert.
“Alle Morpheme der Grammatik [sind] als Anweisungen des Sprechers an den
Hörer aufzufassen,... die diesem bedeuten, wie er sich beim Decodieren der Nachrichtverhaltensoll.DasgiltauchfürdieKasus-undStellungsmorpheme,andenen
der Hörer in der deutschen Sprache die Aktanden erkennen kann. Durch sie wird
der Hörer angewiesen, das Verb mit seinen Aktanden zu einer bestimmten Struktur zu verbinden, die als Handlungsmodell verstanden p59 werden kann. Das Verb
repräsentiert hier die Handlung selber, die Aktanden repräsentieren Handlungsrollen, die sowohl von Personen als auch von Sachen ausgefüllt werden können, so
jedoch, dass für bestimmte Rollen Personen und für bestimmte andere Rollen
Sachen bevorzugt sind. Interaktion, Adversion, Domination und Subsistenz sind
im Sinne dieser Überlegungen die vier typisierten Varianten eines Handlungsmo-
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dells, das der deutschen Sprache eingeschrieben ist. Aus diesen vier Varianten des
Handlungsmodells der deutschen Sprache können die Kommunikationspartner,
indem sie dieses Modell lexikalisch mehr oder weniger stark auffüllen, beliebig
komplexe Handlungssituationen aufbauen. Die drei Stufen der Valenz von der
Einwertigkeit über die beiden Formen der Zweiwertigkeit bis hin zur Dreiwertigkeit repräsentieren dementsprechend drei Stufen des Handelns, von der elementarsten Handlungsform der Subsistenz über die entwickelteren Handlungsformen
der Adversion und Domination bis hin zur höchst entfalteten Handungsform der
Interaktion.”
Homologie der Aktanden und Kommunikanden
(546p60)
(546p61)
“Anschluss der Aktandenkategorie an den Fundamentalbegriff der Kommunikation”: Wir verstehen “die Bedeutung der Sprachzeichen grundsätzlich als Anweisungen (Instruktionen)” und ersetzen “damit den traditionellen statischen Zeichenbegriff (Stoa, Scholastik, Saussure) durch einen dynamisch-pragmatischen
Zeichenbegriff... Dieser besagt: Die Bedeutung eines Zeichens ist das, was der
Sprecher dem Hörer zu tun bedeutet (=intransitiver Bedeutungsbegriff). Jede
Bedeutung ist also eine Handlungsanweisung. Mit dieser instruktionslinguistischen Auffassung wird die Verbindung zwischen den Aktanden als den grammatischen Handlungsrollen und der Kommunikation hergestellt.”
Notwendige Verallgemeinerung: die reflexive ‘metakommunikative’ Struktur beobachten wir “auch bei anderen Kategorien der Grammatik, etwa dem Possessiv-,
Demonstrativ-, Interrogativ-, Tempus- und Numerus- und vielen anderen Morphemen, so vielen, dass die Hypothese unaufweisbar ist: Alle Morpheme der
Grammatik haben eine reflexive Struktur, sind also Signale der Kommunikationssteuerung.”
Die drei Kommunikanden Sender, Empfänger, Referent finden sich auch in sehr
vielen anderen nichtverwandten Sprachen und sind sprachtheoretisch gut zu erklären.NaheliegendeVernutung:eshandeltsichumeinlinguistischesUniversale.
“Die gleiche Tatsache findet man nun in der deutschen Sprache und in vielen anderen Sprachen, auch für die drei Aktanden Subjekt, Partner, Objekt; und da wir
auchhierdieDreizahlsprachtheoretischguterklärenkönnen,bietetsichebenfalls
eine Universalitätshypothese an.”
“Die Dreiwertigkeit stellt nicht nur in Bezug auf die Handlungsrollen ein Maximum dar, sondern auch in Bezug auf die Homologie mit den Kommunikationsrollen ein Optimum. Nur wenn sich drei Kommunikanden und drei Aktanden homolog entsprechen, lassen sich die Rollen des Sprachspiels insgesamt mit höchster
Ökonomie verteilen, wie das folgende Inventar möglicher Kombinationen von
Kommunikanden und Aktanden zeigt:
Sender als
Subjekt
Partner
Objekt
Empfänger als
Partner
Objekt
Subjekt
Referent als
Objekt
Subjekt
Partner
Ein Beispiel für die mögliche Verteilung von drei Kommunikanden auf drei Aktanden:
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LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3
Semiotik
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Negativität
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ich
sage
es
dir
Sender
Verb
Referent
Empfänger
Objekt
Partner
Subjekt
(546p61-62)
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Li-10
Aber es sind auch andere Verteilungen denkbar; denn jeder Kommunikand kann
in jeder Aktandenrolle auftreten; das ergibt insgesamt 32=9 Kombinationen. Unter allen Handlungsformen ... Interaktion, Adversion, Domination, Subsistenz
wird also die Kommunikation am Vollkommensten durch die Interaktion gespiegelt. Es ist daher sicher kein Zufall, dass wir in der Valenzklasse der dreiwertigen Verben nicht nur in deutschen Sprache, sondern auch in vielen anderen Sprachen einen signifikant hohen Anteil solcher Verben vorfinden, die sich als Kommunikationsverben klassifizieren lassen... Unter der Strukturbedingungen der
Dreiwertigkeit zeigt sich damit sehr deutlich sowohl eine syntaktische als auch
eine semantische Homologie zwischen den drei Kommunikationsrollen und den
drei Handlungsrollen.”
Bei den zweiwertigen Verben ist die Homologie mit der Kommunikation dementsprechendschwächer,undbeideneinwertigennaturgemäßamweitestenentfernt.
p62 “Man kann sich sogar fragen, ob wir hier nicht sogar überhaupt vom Handeln
weit entfernt sind. Denn viele Handlungstheoretiker der verschiedensten Observanzen haben immer dazu geneigt, diesen Bereich unter solchen Bezeichnungen
wie‘Geschehen’,‘Vorgang’,‘Ereignis’usw.ausdemRaumdesHandelnsganzauszugliedern. Das ist eine Frage der Terminologie.”
Weinrich möchte vermeiden,“eine verschärfte Strukturgrenze zwischen den einwertigen Verben einerseits und den zwei- und dreiwertigen Verben andererseits
anzunehmen.WirverwendendaherdenlinguistischenHandlungsbegriffindenjenigen Grenzen, die durch die strukturelle Reichweite der grammatischen Kategorie ‘Verb’ vorgezeichnet sind, also auch für den Bereich der einwertigen Verben.
Das schließt jedoch nicht aus, dass wir in den Valenzen gleichzeitig Stufen des
Handelns erkennen... Es dürfte sich lohnen, über die anthropologische Relevanz
dieses linguistischen Befundes weiter nachzudenken.”
“Saussure versteht die Linguistik ... als Teildisziplin einer allgemeinen Zeichentheorie oder Semiotik. Im einzelnen sind ein Zeichenkörper (Signifikant) und ein
Zeicheninhalt (Signifikat) so miteinander verbunden, dass eines das andere bedeutet: aliquid stat pro aliquo.”
“Es ist aber schon bei Saussure nicht alles so einfach gemeint.” Kein Zeichen
stünde für sich alleine; seine Relation zu den anderen Zeichen spiele in seine Bedeutung hinein.
“Die Bedeutung (signification) als die Relation zwischen Signifikand und Signifikat deckt sich nicht mit der Zeichenhaftigkeit (significativité) des Zeichens
schlechthin. ... Ein Zeichen [ist] niemals für sich allein da, [sondern] steht in Relation zu anderen Zeichen, sei es in der paradigmatischen Ordnung des memoriell
gewussten Zeichenbestandes der Sprache (in absentia), sei es in der syntagmatischenOrdnungderbenachbartenZeichenim...Kontext (in praesentia). JedesZeichen hat daher in der Sprache nicht nur einen semiotischen Status, sondern auch
einen relationellen ‘Ko-Status’. Saussure [drückt das so aus], dass in der Sprache
alles mit allem zusammenhängt: dans la langue tout se tient. Zur Charakterisierung
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z.B. Zodiak
Bug oder Feature?
(546p64)
(546p64–65)
Subsysteme
(546p66)
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dieses ‘Ko-Status’ verwendet Saussure in Konkurrenz mit dem Begriff Bedeutung
(signification) den Begriff Wert (valeur). Jedes Sprachzeichen hat einen bestimmten Wert, insofern es sich von allen anderen Zeichen des gleichen Sprachsystems
unterscheidet. Unter diesem Gesichtspunkt nennt Saussure die Zeichen ‘Terme’
eines relativen Gefüges. Die Relation zwischen einem Term und allen anderen
Termen der Sprache ist grundsätzlich differenziell, oppositiv, negativ.Es kommt
daraufan,dasseinSprachzeichen nicht alleanderenZeichendergleichenSprache
ist. Bei Saussure lautet das so: dans la langue il n’y a que les différences sans termes
positifs oder tout est négatif dans la langue.”
Ein Zeichen versteht nur, wer weiß, was es alles nicht ist. Bei ‘logisch tiefen’ semiotischen Systemen wie dem Tierkreis ist das ganz augenfällig, und sogar memoriell ökonomisch: 12 kurze Relativtexte erklären den Tierkreis tiefer und schneller, als 12 lange
Absoluttexte!
Normalerweise ist das feature jedoch ein bug: “Dass der ... Wunsch nach einer allgemeinen Zeichendefinition nur am Ende eines langen Umwegs durch die Negate
befriedigt werden soll, ist in der Saussure-Rezeption nur selten kritisch erörtert
worden. [Abwegig ist], im aktualen Sprachgebrauch bei ... Sprecher oder
Hörer ... ein Bewusstsein der Zeichenbedeutungen in dem Sinn anzunehmen,
dass jedes Zeichen nur als verschieden von allen anderen Zeichen bewusst ist. Die
hohe Komplexität des Zeicheninventars einer Sprache [und] die ... Virtuosität im
Kodieren und Dekodieren ... ... lassen sich über ein so umständliches Identifizierungsverfahren nicht zusammenbringen. Aber auch in der linguistischen Theorie,
die nicht unbedingt den Bahnen des automatisierten Sprachbewusstseins ... zu folgen braucht, liegt die Umständlichkeit des Wertbegriffes, also der lange Marsch
durch sämtliche Negate der Sprache, weit jenseits jeder methodischen Reichweite. [Tatsächlich erlagen die meisten Linguisten der Versuchung], diese Seite der
Saussureschen Sprachtheorie auf sich beruhen zu lassen und die negative Methode einfach nicht zu praktizieren. ”
“Saussure selber hat [anscheinend] nicht über dieses Problem der methodischen
Umständlichkeit nachgedacht und wohl nicht erkannt, dass es sich hier um eine
Variante des allgemeinen linguistischen Komplexitätsproblems handelt. Er
[wollte ausdrücklich] den negativen Wertbegriff auf alle Bezirke der Sprache angewandt wissen, auf die Lexeme des Lexikons ebenso wie auf die Morpheme der
Grammatik ... Allenfalls [gibt es Hinweise], dass Saussure zur Begrenzung des Negationsspiels vornehmlich den semantischen Nahbereich des in Frage stehenden
Sprachzeichens gemeint hat.
“...Verschiedene Linguisten [versuchten], semantische Subsysteme zu isolieren,
[worin] der differenzielle und negative Wert des sprachlichen Zeichens [identifizierbar wird]. ... Am dauerhaftesten hält sich in der Diskussion der von Gunther
Ipsen 1924 geprägte Begriff des semantischen Feldes oder Bedeutungsfeldes. Der
stärkste theoretische Anstoß wird 1931 von Jost Trier gegeben, der den deutschen
Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes untersucht, und zwar sowohl synchronisch als auch diachronisch [Jargon für historisch].Wörter wie ‘Kunst’, ‘Weisheit’,
‘Wissen’, ‘Klugheit’, ‘List’ usw. sind nach Trier nicht oder nicht nur durch einen
positivenBedeutungsgehaltbestimmt,sonderndurchZahlundLagerungderTerme in dem Wortfeld oder Sinnbezirk, zu dem diese Worte gehören.”
Die“semantischeFeldstruktur”wird“auchgerneamBeispielderZeugnisnoten...
erläutert. ‘Befriedigend’ ... ist eben nicht notwendig, was befriedigt, sondern bezeichnet einen bestimmten Stellenwert auf der Leistungsskala, der durch die Zahl
... der Noten [und] die Lagerung zwischen ... ‘gut’ und ‘ausreichend’ ... bestimmt
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(546p66.67)
NB
Semantik
(546p72)
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ist. Man könnte mit Saussures Argumentation sagen, ‘befriedigend’ bedeutet
[hier] ‘nicht sehr gut’, ‘nicht gut’, ‘nicht ausreichend’, ‘nicht mangelhaft’ und ‘nicht
ungenügend’. ... ...
Während in der ‘Sprachinhaltsforschung’ die Negativität als Konstituens des
sprachlichen Feldes in Vergessenheit geriet, richtet die Oxforder Sprachphilosophie gerade auf diesen Aspekt ihre Aufmerksamkeit, Die Oxforder entwickeln ...
einen Bedeutungsbegriff ganz vom Kontrastbegriff her.”
Eine Bedeutung kontrastiert dadurch mit anderen Bedeutungen, dass es einige
Gegenstände gibt, die unter eine bestimmte Bedeutung fallen, und andereGegenstände,dienichtdarunterfallen.BeiWittgensteinerscheintindiesemZusammenhang auch der Begriff des semantischen Feldes, und zwar in abweichender Metaphorik als sprachlicher ‘Maßstab’, der an die Wirklichkeit angelegt wird. Die Bedeutungen entsprechen hier den Teilstrichen auf dem Maßstab; ihr Eichwert
hängtdavonab,wievieleTeilstrichesonstnochaufdemMaßstabeingetragensind
und wie sie insgesamt angeordnet sind. Es sind aber viele p67 Maßstäbe im Gebrauch, die für jeweils verschiedene Situationen geeignet sind. In einer gegebenen
Situation schließt der Gebrauch eines bestimmten Maßstabes aller anderen
Maßstäbe aus.”
Die Kritik am Begriff des semantischen Feldes ziele hauptsächlich auf die Unmöglichkeit, die Felder scharf zu umgrenzen und die Beziehungen zwischen den
Feldgliedern scharf zu definieren.
Woran der Realist sofort die Praxistauglichkeit dieses Konzepts erkennt: denn eben so
ist die Realität. Die hier geforderten ‘klaren Linien’ liefern bestenfalls ein expressionistischesBilddersemantischenWirklichkeit,schlimmstenfallsunbrauchbareArtefakte.
Der wackre Praktikus förcht’ sich nit. Er hält sich an das Paradigma der Fuzzymengen
und der neuronalen Netze, nicht davor zurückschreckend, dass diese keine vollständig
bestimmte Methodologie liefern, sondern vieles seinem (Sprach-)Gefühl und seiner
Intuition überlassend.
Dies tun ja noch die methodischsten Grammatiker, nur reklamieren sie universelle
Gültigkeit für ihre rein subjektiven Bestimmungen.
Anders als bei den unwiderlegbaren Theoretikern lässt sich allerdings die Anwendung
der ‘unscharfen Logik’ nicht nur empirisch, sondern sogar praktisch verifizieren, dergestalt, dass jeder Laie den Erfolg so sicher beurteilen kann wie den Erfolg einer Fernseherreparatur (geht / geht nicht).
Vergleiche Schmitzens Ausführung zur Computerlingustik als praktische Herausforderung an die Linguistik! (439p)
“Die strukturale Sprachwissenschaft ... hat sich sowohl in ihren ‘taxanomischen’
als auch in ihrer ‘generativen’ Spielart (diese wenigstens in ihren Anfängen bei
Chomsky) eine Zeit lang von der asketischen Anstrengung leiten lassen, bei der
Beschreibung und Modellbildung möglichst ohne Semantik auszukommen. Die
Syntax rückte in den Mittelpunkt des Interesses, und die Semantik wurde entweder als struktural nicht beschreibbar ausgeklammert oder allenfalls als sekundäre
‘Interpretation’ einer im übrigen streng formal generierten Tiefenstruktur zugelassen. Beide Verfahren haben sich als gleichermaßen steril erwiesen und sind
nach vielen vergeblichen Mühen heute von den meisten Linguisten aufgegeben
worden. Die Semantik steht wieder gleichrangig mit der Syntax und ohne scharfe
Grenzziehung zu ihr im Zentrum der linguistischen Diskussion. Dabei spielt ... der
Merkmal-Begriff eine wichtige Rolle. Es wird also versucht, das einzelne Wort
(Lexem oder Morphem) wie auch die Wortsequenzen nach ihren semantischen
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Holismus
Adorno?
(546p73)
(546p73-74)
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Komponenten oder Semen zu untersuchen, die den phonologischen oder anthropologischen Merkmalen entsprechen.
So haben wir bei den strukturalen Linguisten einen im Kern holistischen Ansatz!
“Das Ganz ist das Unwahre!” Alles ganz falsch? Es sei denn, wir übersetzen ‘das Ganze’ mit ‘das Heile’
Beispiel: das Wortfeld der Sitzmöbel in der französischen Sprache (Bernard Pottier); überschaubare Menge von Wörtern: chaise, fauteuil, cabouret, canapé,
pouffe. “Wenn man die einzelnen Sitzmöbel nun zu definieren versucht, benutzt
man Merkmale (Seme), nach denen sie sich unterscheiden. Das Wort chaise präsentiert etwa eine Menge von Semen wie: ‘zum Sitzen’, ‘mit Füßen’, ‘für eine Person’, ‘mit Lehne’, usw. ... Es kommt nicht darauf an, alle denkbaren Seme möglichsterschöpfendaufzuzählen,sondernmanwähltdiejenigenaus,dieinderjeweilig untersuchten Sprache dazu dienen, diese Wortbedeutung (das ‘Semen’) von
den anderen Wortbedeutungen des Subsystems der Sitzmöbel zu unterscheiden.
Das Sem ‘für eine Person’ wird also deshalb als relevant gesetzt, weil es in dem in
Frage stehenden Subsystem der französischen Sprache auch Sitzmöbel gibt, deren
Bezeichnung das Sem ‘für mehrer Personen’ haben, so dass die eine Bedeutung
nicht die andere ist.
Es ist nun in der neueren Semantik viel darüber diskutiert worden, welchen Status
dieeinzelnensemantischenMerkmalealsdieKomponentenderWörterinderBeschreibung haben sollen. Kann man etwa zwischen mehr oder weniger universalen
Merkmalen, die sich durch das ganze Lexikon ziehen, und mehr oder weniger partikulären Merkmalen (distinguishers) unterscheiden, die nur in einem besonderen
Bereich des Lexikons relevant sind? (Katz / Fodor) Stehen alle Merkmale gleichrangig in einer Merkmalmenge oder bilden sie hierarchisch eine Konfiguration?
(U. Weinreich) Kann man eine reduzierte Merkmalsmenge zu einem ‘Archisemen’ zusammenfassen, das dann auf einer höheren Abstraktionsebene zu lokalisieren ist? (B. Pottier) Kann man ein Bedeutungsfeld von seiner Semstruktur konstituieren? (K. Baumgärtner) Kann man aus semantischen Merkmalen ein Basiswörterbuch zusammenstellen, das die Grundlage vieler oder sogar aller Wörterbücher bilden könnte? (M. Alinei) Kann man Metaphern von der Verträglichkeit
oder Unverträglichkeit der beteiligten Seme her erklären? (J.S. Petöfi)”
Viele Seme – einige Sematiker meinen: alle – seien binär angeordnet: belebt – unbelebt; konkret – abstrakt; zählbar – nicht zählbar; menschlich – nichtmenschlich;
zeitlich – nicht zeitlich. p74 In vielen Analysen würden sie Semkomplexe bevorzugt
aus solchen binären Semen gebildet. Katz und Foder möchten dieses Verfahren
als semantische Ergänzung der generativen Grammatik zu Disambiguierungsprozessenverwenden.“MehrdeutigeWörtersolleneindeutiggemachtwerden,indem für die jeweiligen Unterbedeutungen unterschiedliche Semenkomplexe bestimmt werden. Schulbeispiel ist (bei der in der neueren Semantik herrschenden
Beispieldiät) das [englische] Wort bachelor ... Es bedeute je nach dem Kontext
‘Junggeselle’, ‘Knappe’, ‘Bachalaureus’ oder ‘junger Seehund’, und man kann nun
diesen Teilbedeutungen je teilverschiedene Sem-Mengen zuordnen. Gemeinsame Seme wie ‘lebendig’ und ‘jung’ konstituieren die Gesamtbedeutung, währendnichtgemeinsameSemebewirken,dassinnerhalbderGesamtbedeutung‘ein
junger Seehund’ nicht ‘Junggeselle’, ‘Knappe’ oder ‘Bachalaureus’ bedeutet. So
verstanden, lassen sich die Komponenten einer Bedeutung hierarchisch in Form
eines Baumgrafen notieren.”
Von der Alltäglichkeit der Metasprache
“Der Begriff ‘Metasprache’ hat sich in der linguistischen Diskussion seit der strukturalistischen Phase sehr schnell ausgebreitet und gehört heute zum festen terminologischen Bestand dieser Wissenschaft... Die Begriffsbildung folgt deutlich er-
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kennbar dem Leitbegriff ‘Metaphysik’. Aus der Philosophiegeschichte ist bekannt, dass die Bezeichnung ‘Metaphysik’ bei Aristoteles ursprünglich nur bibliothekstechnisch und didaktisch gemeint war: Metaphysik ist diejenige Wissenschaft, die nach der Physik kommt. Daraus entwickelte sich aber in der aristotelischen und nacharistotelischen Philosophie eine Auffassung, derzufolge die Metaphysik eine Wissenschaft ist, die über der Physik (und anderen Einzelwissenschaften) steht, weil sie unter anderem die Bedingungen erforscht, unter denen einzelwissenschaftliche ... Kenntnis möglich ist. Die Metaphysik ist also eine Metawissenschaft, insofern sie die Physik zum Gegenstand der Reflexion macht.
Bewusstsein als Selbstbewusstsein, Perzeption und Apperzeption
(546p90-91)
(546p92-93)
(546p93-94)
In der Metaphysik des Aristoteles findet man auch die Formel, die seither als
Grundfigur des reflexiven Bewusstseins gilt’. Sie lautet bei Aristoteles νοεσις
νοεσεος [wissensbezogenes Wissen] Die lateinisch schreibende Philosophie stellt
hierfür den Begriff conscientia zur Verfügung. Die Antike und mittelalterliche
Philosophie bringen jedoch für den Begriff des (Selbst-)Bewusstseins nur ein begrenztes Interesse auf... Erst Descartes hat den modernen Bewusstseinsbegriff
begründet... Der bekannte Satz ‘je pense, donc je suis’ ist im Kontext der kartesischen Philosophie pointiert p91 so zu lesen, dass alles Objektbewusstsein im Selbstbewusstseinals einem Bewusstsein der eigenen Bewusstseinsakte gründet. Dasreflexive Bewusstsein ist daher das gewisseste Bewusstsein, und so hat auch die Metaphysik ihren Platz nicht mehr nach der Physik, sondern vor der Physik als dem
Wissenvon den resextensae. Diese kartesische Umkehrung der Prioritäten des Bewusstseins ist in der nachkartesischen Philosophie nicht mehr verlorengegangen.
So führt Leibniz mit dem Blick auf Descartes die begriffliche Unterscheidung zwischen perception und apperception ein. Unter perception versteht er ‘l’état interieur
de la monade répresentant les choses externes’, unter apperception ‘la conscience
ou la connaissance reflective de cet état interieur’. Dieser Begriff der apperception
wird von Kant, der nach dem Prinzip der Erkenntniskonstanz fragt, noch einmal
überhöht durch seinen Begriff des transzendentalen Bewusstseins, das er als
transzendentale Einheit der Apperzeption erläutert und gelegentlich auch durch
den Begriff des Selbstbewusstseins ersetzt. Für Hegel ist das Selbstbewusstsein
Grund und Wahrheit des Bewusstseins überhaupt. Es umschließt auch das
‘Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein’.
Die naive Auffassung eines unreflektierten und abbildenden Objektbewusstseins
ist nach Descartes, Kant und Hegel nicht mehr möglich”, nicht einmal in den Naturwissenschaften.
“Brigitte Schliebenlange stellt also mit Recht p93 fest, dass das Problem der Metasprache erstmals explizit in der scholastischen Sprachphilosophie formuliert worden ist. Über die Logiker (Frege, Russell, Carnap, Tarsky...) gelangt die Unterscheidung von suppositioformalis’(intentiorecta) und suppositiomaterialis(intentio
obliqua) der Sache und teilweise auch der Terminologie nach in die moderne Wissenschaftstheorie.BeidenjüngerenLogikernfindenwirdanndafürdenAusdruck
‘Metasprache’ geläufig verwendet, und zwar mit einer Definition, wie sie etwa bei
Carnap zu lesen ist: ‘In order to speak about any object..., we need a metalanguage.’
NunhataberunterdenLinguisteninsbesondereRomanJacobsonsogleichdarauf
aufmerksam gemacht, dass wir einen metasprachlichen Gebrauch der Sprache
nichtnur in der förmlichen und formelhaften Rede derjenigen finden, die sich wissenschaftlich mit der Sprache und dem Sprechen beschäftigen: ‘Obviously, such
operations labelled metalinguistic by the logicians are not their invention. Fare
frombeeingconfinedtothesphereofscience,theyprovedtobeanintegralpartoft
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our customary linguistic activities.’ Wann immer beim Sprechen Störungen oder
Verständnisschwierigkeiten auftreten, versuchen die Gesprächspartner p94 durch
metasprachliche Verfahren das Verständnis des fraglichen Textes zu klären. Der
Hörer fragt also etwa zurück: ‘Was haben Sie gesagt?’ oder ‘Wie meinen Sie das?’
oder ‘Was verstehen Sie unter . . .’ oder einfach ‘Wie bitte?’ Auf solche Fragen hin
setzt der Befragte, der ihm ja auch am rechten Verständnis seiner Rede gelegen
sein muss, in der Regel ebenfalls metasprachliche Mittel ein, um die signalisierte
Bedeutungsschwierigkeit zu beheben. Er antwortet also etwa: ‘Ich habe gesagt,
dass . . .’ oder ‘Ich meinte damit, dass . . .’ oder ‘Ich verstehe darunter . . .’ oder ‘Ich
willesnocheinmalsagen’.Jacobsonmachtinsbesonderedaraufaufmerksam,dass
Kommunikationsstörungen und Verständnisschwierigkeiten dieser Art vor allem
unter den Bedingungen des Spracherwerbs uu des Sprachverlustes auftreten. Der
muttersprachliche Spracherwerb des Kindes vollzieht sich also im großen Maße
einerseits durch metasprachliche Reflexionen der Kinder auf ihren eigenen
Sprachlernprozess, andererseits durch die metasprachlichen Korrekturen, die die
Erwachsenen an der Sprache der Kinder vornehmen. Umgekehrt sind viele
Spracstörungen unter den Krankheitsbedingungen der Aphasie als Verlust metasprachlicher Fähigkeiten zu beschreiben und zu erklären.”
Sprache und Bewusstsein
(546p104-105)
(546p109)
GerhardFrey“führtinseinerSprachphilosophiediebeidenTraditionssträngeder
Bewusstseinsphilosophie und der Metasprachenlogik glücklich wieder zusammen. Er greift also zunächst in dem Begriff des Bewusstseins die alte Bedeutung
des Mit-Wissens, con-scientia, wieder auf und betont, dass jedes Wissen eines Gegenstandes (intentio recta) von einem (Mit-)Wissen vom Wissen dieses Gegenstandes (intentio obliqua) begleitet ist. Das Bewusstseinsphänomen der Reflexion
ist also an allen theoretischen Akten des Bewusstseins zu beobachten. Diese reflexive Struktur wird nun in der Sprache abgebildet, vornehmlich in der Unterredungssprache, die ein ‘du’ voraussetzt. ‘In jedem echten Gespräch wird in Frage
gestellt, bezweifelt, zugestimmt; es werden Wünsche, Forderungen und Klagen
geäußert und zurückgeweisen. All das sind aber reflexive Prozesse.’ Die Sprache
lässt gleichzeitig erkennen, dass es verschiedene Akte der Reflexion gibt, je nach
den sprachlichen Formen, die dabei verwendet werden. In diesem Zusammenhang macht Frey auf die Funktion der p105 Grammatik für den Prozess der Reflexion aufmerksam. Er nennt insbesondere Frage und Antwort, Affirmation und
Negation, Genus und Tempus, die adverbialen Bestimmungen und im Prinzip alle
grammatischen Formen, durch die eine ‘Mannigfaltigkeit möglicher Reflexionsstrukturen’ ausgedrückt werden kann. Wenn man also mit Frey der Ansicht ist,
dass es in der Sprache nicht nur explizite, sondern auch implizite Reflexionsstrukturen gibt, dann muss man mit ihm auch die Folgerung ziehen, dass es in natürlichen Sprachen keine strenge Scheidung zwischen Metasprache und Objektsprache gibt.”
“Die Reflexivität der Sprache auf ihre eigenen Bedingungen, wie sie mit dem Begriff der Metasprache gemeint ist, ist den natürlichen Sprachen nicht als ein Gedankenspiel der der professionellen Literaturen und Logiker aufgesetzt. Es muss
vielmehr für jede Kommunikation angenommen werden, dass die Gesprächsteilnehmer in unterschiedlichem Maß an dem nur grundsätzlich gemeinsamen Code
Anteil haben. Sie haben – so können wir es auch in anderer Terminologie ausdrücken – grundsätzlich eine mehr oder weniger unterschiedliche Sprachkompetenz. In alltäglicher Kommunikation, wenn Menschen miteinander sprechen, die
aus gleichen Verhältnissen stammen, sich gut kennen und mit der anstehenden Situation vertraut sind, wird dieses Kompetenzgefälle gering zu veranschlagen sein.
Es bestehen dann für den Rezipienten nur die allgemeinen Verständigungs-
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Fußnote:
(546p109-110)
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schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass er sehr schnell sehr viele Zeichen
decodieren muss. Dabei helfen ihm die metasprachlichen Signale der Grammatik,
und sie reichen dafür normalerweise aus.
U.Weinreich:ImGegensatzzukünstlichenSprachsystemen,mitdenendieLogiker operieren, fungiert eine natürliche Sprache als ihre eigene Metasprache.
WannimmerjedochdiesegünstigenVorausetzungen p110 fürdenAblaufeinesGespräches nicht bestehen, so dass die Gesprächsteilnehmer von verschiedener Herkunft, verschiedener Erziehung und verschiedener Interessenlage untereinander
völlig fremd sind, reichen die grammatischen Signale zur Steuerung der Kommunikation häufig nicht aus und müssen in ihrer Wirkung durch explizit metasprachliche Signale aus dem Arsenal der Semantik ergänzt und verstärkt werden. Dann
entstehtzum Ausgleich des nun vielleicht erheblichen Kompetenzgefälles eine explizite Reflexivität, die natürlich ebenfalls je nach Art und Menge der verwendeten Zeichen graduell verschieden sein kann. Welches Maß an Reflexivität sich
in dem Minimum einer bloß grammatischen Steuerung der Kommunikation und
dem Maximum der wissenschaftlichen, von einer expliziten Theorie präzise angeleiteten und manchmal gegängelten Kommunikation zu den Teilnehmern eines
Sprachspiels tatsächlich gewählt wird, hängt von der Situation ab. Denn beide Gesprächsteilnehmer wollen in der Regel, dass die Kommunikation gelingt. Es
gehört nun zu den Bedingungen des Gelingens, dass in einem Sprachspiel umso
mehr metasprachliche Mittel eingesetzt werden müssen, je größer das Kompentenzgefälle ist, das überwunden werden soll.”
Morphologie des Artikels
(546p168)
Erweiterung von Karl Bühlers ‘Deixis-Theorie’: Der unbestimmte Artikel sei textlinguistisch “ein Signal des Sprechers (Schreibers) ..., dass die Aufmerksamkeit
desHörers(Lesers)aufeinenbestimmtenBereichdesTextzusammenhangslenkt.
Denn jeder Text, das ist eine der ersten Beobachtungen der Textsemantik, ist ein
komplexes Geflecht von Determinationen, durch die sich die Bedeutungen wechselseitig modifizieren. Das ist für den Hörer ein erhebliches Verständnisproblem,
und seine Entschlüsselungsaufgabe wird ihm nicht wenig erleichtert, wenn in den
Text Signale eingeschoben sind, und zwar obstinat [=störrisch], die seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Zonen der Information lenken. Das geschieht durch
die Artikelmorpheme. Der unbestimmte Artikel hat nun für den Hörer den Signalwert, seine AufmerksamkeitaufdieNachinformationzulenken.InOpposition
dazu signalisiert der bestimmte Artikel, dass es an dieser Stelle auf die Vorinformation ankommt.
Vorinformation und Nachinformation lassen sich natürlich für jeden beliebigen
Textausschnitt, also für jedes beliebige Zeichen einer Zeichenkette, unterscheiden. Für den Signalwert des Artikels ist das in der besonderen Weise zu verstehen, dass die Vorinformation oder die Nachinformation jeweils besonders ‘angeleuchtet’ wird im Hinblick auf ihre Determinationsleistung für dasjenige Textelement, vor dem der Artikel steht. Wir wollen dieses Element das ‘Artikulat’ nennen”,einSubstantivodereinesubstantivischeKonstruktion.“AufdiesesArtikulat
bezieht sich die Signalfunktion des Artikels dergestalt, dass der Hörer das Artikulat entweder durch die (weitergeltende) Vorinformation oder durch eine (neu zu
erwartende) Nachinformation determiniert verstehen soll.”
Kontext, Situation, Code
(546p169)
“Die Vorinformation oder Nachinformation, auf die durch den Artikel die Aufmerksamkeit gelenkt wird” kann “ein (gesprochener oder geschriebener) Kontext” oder “eine außersprachliche Situation” sein. “Dass Kontext und Situation
grundsätzlich konvertibel sind, ist ein Axiom der Linguistik. Es garantiert die Er-
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(546p169-170)
(546p170)
(546p172)

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lernbarkeit einer Sprache auch ohne Dazwischentreten einer vermittelnden oder
Metasprache.DerAusruf‘DieDecke!’imAngesichteinerDeckehatdiesichtbare
Decke als Voraussetzung.”
“Wenn keine Vorinformation durch den Kontext und auch keine durch die Situation auszumachen oder nicht in ihrer Relevanz erkennbar ist, dann lenkt der bestimmte Artikel, wenn er dennoch auftritt, die Aufmerksamkeit des Hörers auf
denCodederSprache.DasArtikulatgiltdannmitder(weiten,generellen)Bedeutung, die es im Wörterbuch hat. Einige Wissenschaftler machen gerne von dieser
Möglichkeit Gebrauch, wenn sie allgemeine Sätze bilden wollen: sie blenden dann
jede kontextuelle und situationelle Vorinformation aus und lassen durch den Gebrauch des bestimmten Artikels erkennen, dass nur die allgemeine Vorinformation des Vokabulars gelten soll. Solche Sätze beginnen also: ‘Der Mensch ist . . .’
Aus Sätzen dieses Typus ist die immer noch zäh sich behauptende Meinung hergeleitet, der bestimmte Artikel bezeichne die Gattung, hier also das Gattungswesen
Mensch. Nein, das ist eine falsche Analyse. Das Lexem ‘Mensch’ bezeichnet das
Gattungswesen Mensch, und der Artikel ‘der’ gibt an, wie dieses Gattungswesen
Mensch aus der Vorinformation näher zu verstehen ist. Nur aus der Stellung ‘der’
p170 plus Isolierung (d.h. bei Abwesenheit von vorinformierendem Kontext und
vorinformierender Situation) erhält der Hörer den Hinweis, dass ausnahmsweise
nur die Vorinformation des sprachlichen Codes gilt. Die Bezeichnung der Gattung durch den bestimmten Artikel ist ein textlinguistischer Grenzfall unter den
besonderen Bedingungen der (meistens metasprachlichen) Isolierung und kann
daher von einer konsequenten Textlinguistik nebenbei miterklärt werden.”
Die drei Typen der Vorinformation – Kontext, Situation, Code – lassen sich auch
inder Nachinformation antreffen. Ein Beispiel für “den dritten Typus der Nachinformation”: “In Arthur Schnitzlers Novelle ‘Die Toten schweigen’ endet die Erzählung versöhnlich mit dem folgenden Satz:
‘Und während sie mit ihrem Jungen langsam durch die Tür schreitet, immer die
Augen ihres Gatten auf sich gerichtet fühlend, kommt eine große Ruhe über sie,
als würde Vieles wieder gut . . . . . . . . . . . . . .’
Die beiden bestimmten Artikel dieses Satzes beziehen sich auf die ganze voraufgehendeNovelleundleistenfürjedenLeser,derdieNovellegelesenhat,ihreAufgabe vollkommen. Der Leser versteht also ‘Tür’ selbstverständlich nicht als das
Gattungsgebilde Tür, sondern als die besondere Tür des Hauses, in das die Heldin
gerade schweren Herzens gerade zurückgekehrt ist. Aber von Ruhe war vorher
noch nicht die Rede, im Gegenteil, die ganz Novelle ist Unruhe. Nun kommt am
Ende die Versöhnung als eine große Ruhe, und damit beginnt für die Heldin ein
neuesLeben,dasindieserNovellenichtmehrerzähltwird,darumdievielenPunktedesAutorsamSchlussderErzählung.SiesinddasÄquivalentderInterpunktion
für den öffnenden Signalwert des unbestimmten Artikels, der über das Ende des
Textes hinauswirkt in ein offenes Nachher. Hier gibt es, da dieGeschichtezuEnde
ist, keine Nachinformation durch einen Kontext, und da gibt es auch, da es sich um
eine fiktive Geschichte handelt, keine bestimmte Nachinformation durch eine
festgelegte Situation, sondern es gibt nur die mögliche Nachinformation alles dessen, was in dem Bedeutungsumfang des deutschen Wortes ‘Ruhe’ fallen kann.”
“Zwischen der Textsyntax als linguistischer und der Stilistik als (literar-)kritischer
Disziplin kann vermittelnd eine Texttypologie angenommen werden. Dabei ist in
erster Linie, aber nicht ausschließlich, ein die literarischen Gattungen zu denken,
die man sich als Klassen von wirklichen oder möglichen Texten denken kann, wie
sie durch die literarische Tradition gebildet und kanonisiert worden sind. Für
solche Texttypen sind auch bestimmte Affinitäten zu bestimmten oder zum unbestimmten Artikel feststellbar. Für die literarische Gattung der Fabel ist beispiels-
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weise charakteristisch, dass sie die erzählte Geschichte gerne, soweit das bei einer
Erzählung überhaupt möglich ist, auf der Ebene der Tiergattung oder -art hält. Es
soll also nicht von einem bestimmten Wolf und irgendeinem bestimmten Lamm
die Rede sein, sondern von dem (immer gefräßigen) Wolf als der Wolfsnatur und
(immer geduldigen) Lamm als der Lammsfrömmigkeit. Solches zu signalisieren
ist der bestimmte Artikel besonders angezeigt, und wir finden bei Lessing beispielsweise die Fabel ‘Der Dornstrauch’:
‘Aber sage mir doch, fragte die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist. Was willst du damit? Was
können sie die helfen? Nichts, sagte der Dornstrauch. Ich will sie ihm auch nicht
nehmen, ich will sie ihm nur zerreißen.’
Es wird in dieser Fabel dem Dornstrauch keine neue Eigenschaft hinzugefügt
außer der, die man schon immer an ihm gekannt hat. Sofern man nur das Wort
‘Dornstrauch’ in der deutschen Sprache ... kennt: er hat Dornen, und man zerreißt
sich an ihm die Kleider.
Andere Fabeln fügen dem bekannten Gattungswesen eine neue Eigenschaft hinzu: ‘Vor alten Zeiten fand ein Fuchs die hohle, einen weiten Mund aufreißenden
Larve eines Schauspielers’ (Lessing, Der FuchsunddieLarve).Esgehörtnichtzur
Fuchsnatur, dass er eine Schauspielermaske findet, und so muss der Leser in besonderem Maße auf die Nachinformation achten. Unter diesen Bedingungen
steht auch in der Fabel der unbestimmte Artikel. Für andere Erzählungen gelten
andere Regeln: Es war einmal ein Kaiser . . . – so fängt ein Märchen an. Das ist ein
starkes, weil doppeltes Aufmerksamkeitssignal. Hört zu! Passt auf! So ungefähr
können wir den Signalwert dieses makrosyntaktisch verfestigten Signals lexematisch umschreiben. Die Aufmerksamkeit der Kinder wird hier mit besonderem
Nachdruck auf die Nachinformation gelenkt. Kinder brauchen solche starken Signale, denn sie sind im Verstehen von Texten noch ungeübt und beherrschen bei
der Entschlüsselung die Nuancen noch nicht im gleichen Maße wie die Erwachsenen. Aber selbst die Erwachsenen sind dem Erzähler dankbar, wenn er sie mit
einem Signal wie ‘eines Tages’ auf den Beginn der Haupthandlung aufmerksam
macht.”
“Eine Affinität zum unbestimmten Artikel” zeige der “Satztypus der Prädikation
mittels Kopula und Prädikatsnomen”. ‘Das Leben ist ein Traum’ sei ein solcher
Satz, und “dieses typische Merkmal bleibt im Satz erhalten, auch wenn man ihm
die Kopula ‘elliptisch’ entzieht. Solche Prädikationen sind im besonderen Maß gerichtete Textstücke, die dem Determinationsgeflecht die starke Richtung vom
Subjekt auf das Prädikat und vom Thema auf das Rhema geben, so dass dann auch
die Lexeme nicht ohne gleichzeitige Vertauschung der Artikel ihre Plätze tauschen können. Diese Gerichtetheit der ‘funktionalen Satzperspektive’ wird durch
die Artikelmorpheme hervorgebracht. Der bestimmte Artikel steht vorne und
nimmt also die Vorinformation auf, der unbestimmte Artikel steht hinten und
führt zur Nachinformation weiter. Die Abfolge ‘bestimmter Artikel + Lexem +
unbestimmter Artikel + Lexem’ signalisiert damit eo ipso, d.h. auch ohne Kopula
oder ein anderes Verb, das geregelte, methodische Fortschreiten von einem niederen zu einem höheren Informationsstand.”
“Das Demonstrativpronomen, das Possessivpronomen sowie gewisse Formen des
Interrogativpronomens ... haben ähnliche Signalfunktion.”
“Die textlinguistische Funktion des Interrogativpronomens ist am leichtesten zu
bestimmen. Jede Frage bezieht sich auf die Vorinformation. Sie erklärt jedoch
diese Vorinformation für unzureichend und bittet um eine Ergänzung, also Nachinformation. Der Gesprächspartner gibt sie; das ist die Antwort. Die Frage kann
demnach als eine Brücke zwischen Vorinformation und Nachinformation aufge-
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fasst werden. Was für den syntaktischen Status der Frage allgemein gilt, das gilt
auch für solche Fragen, die mit dem Interrogativpronomen ‘welcher’ gebildet werden. In ihnen wird spezifiziert, was genau an der Vorinformation als unzureichend
empfunden worden ist. Der Mangel liegt demnach beim Substantiv. Das Fragepronomen ‘welcher’ bezieht sich also nicht auf die Vorinformation schlechthin,
sondern auf eine bestimmte, nämlich die nominale Zone der Vorinformation.
In ähnlicher Weise sind das Possessivpronomen und das Demonstrativpronomen
zu analysieren. Das Possessivpronomen ‘mein’ vs. ‘dein’ vs. ‘sein’ verweist ebenso
wie der bestimmte Artikel auf die Vorinformation. Es leistet diesen Hinweis jedoch nicht generell, sondern speziell und p176 visiert die Vorinformation unter
einem bestimmten Gesichtspunkt an”, nämlich dem einer Person. “Auch das ‘Zeigen’ ist eine nichtlinguistische oder jedenfalls nicht spezifisch linguistische Kategorie. Die als eminent ‘deiktisch’ geltenden Demonstrativpronomina teilen mit
dembestimmtenArtikelunddemPossessivpronomendieFunktion,dieAufmerksamkeit des Hörers auf die Vorinformation zu lenken. Es ist jedoch im Unterschied zum bestimmten Artikel genau wie beim Possessivpronomen jeweils eine
besondere Zone der Vorinformation, auf die gezielt das Augenmerk gerichtet
wird,undzwaristesdieNahzonebeidemMorphem‘dieser’,dieFernzonebeidem
Morphem ‘jener’... Natürlich kann hier wie bei jedem Text die Vorinformation
statt im Kontext auch in der Situation liegen; dann – nur dann – bezeichnet ‘dieser’
räumlich die Nähe, ‘jener’ räumlich die Ferne, und die genannten Formen können
von einer Geste der Hand begleitet werden. Die begleitende Geste ist jedoch für
die linguistische Funktion des Morphems nicht konstitutiv.”
Beim Possessivpronomen und beim Demonstrativpronomen sei immer entweder
ein Kontext oder eine Situation vorausgesetzt. “Die Sprache als Code reicht dafür
nicht aus. Geht dennoch einmal einem Possessivpronomen oder einem Demonstrativpronomen etwa bei gestörter Kommunikation keine kontextuelle oder situationelle Vorinformation vorauf, so erklärt sich der Hörer für unzufrieden und
benutzt das Interrogativpronomen, um sich die fehlende Vorinformation durch
Nachinformation ergänzen zu lassen.”
“Die Distribution der Artikelformen in einem Text ist ein wichtiger Aspekt seiner
Zeichen- und Textstruktur. Die Artikel sind Signale, die den Hörer oder Leser anweisen, die Sprachzeichen des Textes in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu
verstehen, und da es zwei Artikelklassen gibt, bilden sie mit ihren Funktionen eine
binäre Opposition... Es gibt weiterhin, dat Text immer eine lineare Verlaufsstruktur hat, grundsätzlich zwei Richtungen, in welche die Aufmerksamkeit des Hörers
oder Lesers gelenkt werden kann, nämlich entweder rückläufig zum Textverlauf
(anaphorisch), d.h. auf die Vorinformation zu, oder gleichsinnig mit dem Textverlauf (kataphorisch), d.h. auf die Nachinformation zu.”
Häufig mache erst der Artikel das Nomen “ohne Rücksicht auf die Lexemklasse,
der das Monem angehören würde, wenn ihm nicht ein Artikel vorausginge. Wir
könnendaher...vondenLexemklassenabsehen,undauchhierdenBegriffArtikulat verwenden, um damit ein Monem oder eine Monemgruppe in Beziehung zum
vorausgehenden Artikel zu benennen. Das Artikulat kann daher ein Nomen sein
oder ein Nomen mit einem Adjektiv oder ein Nomen mit einem Relativsatz oder
sonst ein anderes Syntagma. Dieses Artikulat ist im Text grundsätzlich determinationsbedürftig, denn wie jedes andere Zeichen in der gesprochenen oder geschriebenen Kette des Textes ist es nicht nur Träger seiner eigenen Bedeutung, sondern
ist auch mit all den anderen Sprachzeichen verbunden, die ihm voraufgehen und
die ihm folgen, und die nach dem Prinzip der semantischen Verträglichkeit seine
Bedeutung determinieren und modifizieren. Zu diesem Zweck lenkt der be-
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stimmte Artikel die Aufmerksamkeit des Hörers auf die Vorinformation, der unbestimmte Artikel auf die Nachinformation.
Der bestimmte Artikel ist also ein Signal, das den Hörer auffordert, den voraufgehenden Text nach geeigneten Determinanten für das Artikulat abzusuchen. Der
bestimmte Artikel besagt damit gleichzeitig, dass die Information, die der bisherige Text über das Zeichen gegeben hat, weiterhin gilt. Die Aufmerksamkeit des
Hörers kann nun schnell über das in Frage stehende Artikulat hinweggehen und
sich auf andere Segmente des Textes konzentrieren. Im Gegensatz dazu erfordert
der unbestimmte Artikel die rege Aufmerksamkeit des Hörers, da er sich für ein
genaues Verständnis des in Frage stehenden Artikulats nicht auf die Information
verlassen kann, die er im voraufgehenden Text erhalten hat. Er muss vielmehr auf
neue Determinanten im nachfolgenden Text warten.”
Zipfsche Regel
(546p224)
Metaphern
(546p277-278)
Wie der Autor anhand einer Textprobe vorführt, kann man durch Extraktion aller mit
unbestimmtem Artikel bezeichneten Syntagmen die erzählerische Substanz eines Textes sehr schön umreißen.
Länge und Frequenz eines Elementes der Sprache sind in der Regel umgekehrt
proportional. (K76)
IndermodernenMetaphernforschungwerdederBegriff‘Metapher’inseinerweitesten Bedeutung für allen Formen des sprachlichen Bildes’ verwandt. “Die
außerordentlich weit gehende Übereinstimmung im Metapherngebrauch p278 bei
den Angehörigen eines Kulturkreises, zumal einer Epoche” könne schwerlich Zufall sein. “Der Einzelne steht immer schon in einer metaphorischen Tradition, die
ihm teils durch die Muttersprache, teils durch die Literatur vermittelt wird und
ihm als sprachlich-literarisches Weltbild gegenwärtig ist.”
Manche dieser Traditionen reichen sogar bis in die Antike:
Universalität der Münzmetaphorik
(546p278-279)
André Gide:
(546p279)
,Zurückzuverfolgen bis Horaz, Ovid, Plutarch, Lukian. p279 Die Vermutung liege
nahe, “dass der Vergleich der Wörter mit Münzen aus der griechischen Skepsis
stammt oder doch wenigstens als Haupt- und Staatsargument des skeptischen
Anomalisten bekannt geworden ist. Wenn nämlich die Wörter einer Sprache von
der Art der Münzen und damit Zeichen sind, dann kann die Sprache nicht von der
Natur eingepflanzt sein, sondern muss auf menschlicher Übereinkunft beruhen.
Ihre Gesetze werden dann nicht von der allgemeinen Vernunft gegeben, sondern
beruhen auf der Autorität maßgeblichen Sprachgebrauchs.”
Fruchtbare skeptische Metapher, stetig erweitert durch ihre moderne ‘Paraphern’:
Die meisten unserer sprachlichen Äußerungen seien ungedeckten Schecks
vergleichbar.
Man kann diese Metaphern geradezu parallel verschieben und erhält auf diese
Weise neue Metaphern, die uns entweder aus der Umgangssprache bekannt sind
oder aber bei der Lektüre auf Schritt und Tritt begegnen, so dass wir oft gar nicht
recht sagen können, ob wir sie nun schon gehört haben oder nicht:
Verba valent sicut nummi. (Goethe) Ein neues Wort wird gleich einer Münze geprägt; das Münzrecht hat aber nicht der Einzelne, sondern die Sprachgemeinschaft; sie gibt dem Metall erst die publica forma (Ovid). Besteht aber eine inopia
verborum (HerenniusRhetorik),somussderEinzelnealsderSchuldnerfürseinen
Gläubiger neue Münzen auftreiben (Ronsard). Er wird sie vielleicht als Lehnwörter leihen können. Äußerstenfalls kann er zur Falschmünzerei eines Neologismus Zuflucht nehmen (Fronto). Aber Vorsicht! Wortfälscher büßen zusammen
mitdenFalschmünzerninderselben bolgia derHölle(Dante).NeueMünzenerre-
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gen oft zuerst als Schlagwörter (=Prägewörter) Misstrauen. Oft müssen sie umgeprägt werden (Rivarol). Erst wenn man sie an sich gewöhnt hat, bekommen sie ihren vollen Wert (Ronsard).
So wächst nach und nach der Wortschatz (thesaurus) an. Je größer der Reichtum
(546p280-281)
derSprache,destohöherihreVollkommenheit(Leibniz).EinenColbertsolltedie
Sprache haben (Hamann). Aller Reichtum muss gut verwaltet werden; das geschieht im Wörterbuch, denn ‘eine Sprache, die außer ihrem Warenvorrat, der im
Umlauf ist, keine Sparpfennige und seltene Münzen aufzuweisen hätte, wäre arm
geschaffen’. (J. Grimm) Eine Sprachakademie bietet sich als sprachliche
Münzstätte der Nation mit exklusivem Emissionsrecht an (Académie Francaise).
Sprachkünstler und Philologen sind die Bankiers der Gelehrtenrepublik (Hamann).
Sie sichten und wägen, scheiden Gold von Flitter. (Balsac) Sehr alte Münzen haben Liebhaberwert. (Hebbel) Übersetzungen sind nur Kupfergeld. (Montesquieu) Oft zeigt sich auch, dass das vermeintliche Gold schon lange durch p281
meist schmutzige Papierscheine ersetzt worden ist. (Valéry) Vielleicht sollte man
wieder alte Goldgruben öffnen. (Jean Paul)
Nach der Münze, die er ausgibt, wird auch der Mann beurteilt: Pedanten zahlen in
einer Währung, die außer Kurs ist. (La Bruyere) Luther stößt Wechslertische der
scholastischen Wortkrämer um. (Herder) Das Genie erkennt man an der einmaligen Münze, die es ausgibt. (Villemain) Reichtum täuscht oft; manche sind nur
durch Plündern reich geworden. (Evremont) Es gibt in commerce d’esprit keine
Wertbeständigkeit. (La Bruyere) Zwar kann man sich mit poetischen Wechseln für
Geschenke revanchieren, (Goethe) aber immer muss das echte Gold vom Talmigoldunterschiedenwerden.(Boileau)Denn‘WortegelteninderWeltvielundwenig wie das Geld.’ (Logau)
p281-282
)
Daher bleibt die Literatur Börsenschwankungen unterworfen. (Zeitschrift la bar(546
que des mots) Denn oft führt gerade Verschwendung zu Reichtum. (Valéry) Um
freilich brillant reden und goldene Worte von sich geben zu können, muss man den
Reichtum erfinden. Man findet ihn mithilfe der Rhetorik in den Fundgruben, den
topoi oder loci. (Cicero)Findetmannichts,darfman‘keineWendung,keinenAusdruck unaufgeschrieben lassen. Reichtum erwirbt man sich durch Ersparung der
Pfennigwahrheiten’. (Lichtenberg) Besonders Bibelsprüche muss man ‘in die
Säcklein, in die Beutlein stecken, wie man die Pfennige und Gulden in die Tasche
steckt ... und lasse sich niemand zu klug dünken und verachte solch Kinderspiel’.
(Luther) Valéry erhält von Alain einen ausgeliehenen Gedichtband mit Glossen
versehen zurück: das Kapital hat Zinsen p282 getragen. Eckermann aber muss sich
ein solches Kapital erst bilden. (Goethe) Ein großer Autor zeichnet sich nämlich
durch eine reiche Sprache aus. Er gehört daher der höchsten Steuerklasse an und
ist ‘Klassiker’ (Gellius)
Klassik: eine fiskalische Metapher macht Karriere
Das letztgenannte Beispiel lässt sehr deutlich erkennen, warum die diachronische
Metaphorik durch eine synchronische Metaphorik zu ergänzen ist. Die diachronischeMetaphorikkannnurzeigen,dasssichdie‘Steuerklassenmetapher’(Curtius)
seitGelliusfindetundsichinderunsgeläufigenliterarischenKategoriedesKlassikers kontinuierlich fortsetzt. Dass diese Metapher nun so unerhörte Karriere gemacht hat, veranschaulicht für Curtius nur ‘das Walten des Zufalls in der Geschichte unserer literarischen Terminologie’. Nein, das ist kein Zufall, denn diese
Metapher ist nicht isoliert. Sie steht seit ihrer Geburt in einem festgefügten Bildfeld. Daszuzeigen,istAufgabedersynchronischenMetaphorik.HeuteistdieMetapher des classicus scriptor in allen Sprachen zum Terminus erstarrt. Aber das
Bildfeld der Sprache als eines Finanzwesens, das schon vorher da war, ist so lebendig wie eh und je. So beobachten wir hier das Werden und Vergehen einer Meta-
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Abschweifung
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Bildfelder
(546p283)
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pher innerhalb eines im größeren Rhythmus lebenden Bildfeldes. Seitdem sie zur
Exmetapher verblasst ist, hat das Bildfeld eine freie Stelle; sie kann alle Zeit wieder neu besetzt werden.
Es handelt sich hier um sehr ‘reich’ besetztes. mehrdimensionales Bildfeld. Es sind ja
nicht nur die Klassiker, in denen sich der lateinische Begriff der classis (=Steuerklasse)
niedergeschlagen hat, sondern davon abgelöst im Begriff ‘Klasse’ wie ‘Klasse statt
Masse’ usw. Kann es ein besseres Indiz dafür geben, wie armselig es mit unseren Eliten
steht, dass ihr erklärter Lieblingssport Steuerflucht oder Steuervermeidung ist? Viel
Steuern zu zahlen galt einmal buchstäblich als Ausdruck von Klasse, als direkter Ausdruck von Prestige ohne den Umweg über kostspielige Luxus-Prestige-Waren gehen zu
müssen.
Die angeführten Beispiele mögen genügen. Sie lassen erkennen, dass es nicht nur
hier und dort Finanzmetaphern gibt, sondern dass sie aufeinander bezogen sind
und sich gegenseitig erklären. Ich bin bei der Vorführung der Beispiele absichtlich
durchaus ahistorisch von Autor zu Autor und wahllos durch die europäische Literatur gesprungen, weil die p283 Metaphern, die wir bei der Lektüre oder der lebendigen Wechselrede in unser Sprachbewusstsein aufnehmen, in unserem Gedächtnis ja auch nicht jeweils mit einer Jahreszahl als Index gegenwärtig sind. Für das
Sprachbewusstsein relevanter ist die Zugehörigkeit der Metapher zu einem
Bildfeld.”
Ein Bildfeld “ist keine Allegorie im rhetorischen Sinne des Wortes, denn die rhetorische Figur der Allegorie, definiert als fortgesetzte Metapher, gibt es nur in
einem Text. Sie ist also individuell und aktual. Das Bildfeld gehört demgegenüber
zum objektiven, virtuellen Sozialgebilde der Sprache und verhält sich zur Allegorie wie Saussures Sprachgebilde zu einer Folge von Sprechakten. Die Allegorie
setzt das Bildfeld voraus, nicht umgekehrt.”
Weinrich benutzt den Begriff in Anlehnung an Paul Claudel “in Analogie zu dem
in der Linguistik bekannten Begriff des Wortfeldes oder Bedeutungsfeldes. Im
Maße, wie das Einzelwort in der Sprache keine isolierte Existenz hat, gehört auch
die Einzelmetapher in den Zusammenhang eines Bildfeldes. Sie ist eine Stelle im
Bildfeld. In der Metapher ‘Wortmünze’ ist nicht nur die Sache ‘Wort’ mit der Sache ‘Münze’ verbunden, sondern jeder Terminus bringt seine Nachbarn mit: das
WortdenSinnbezirkderSprache,dieMünzedenSinnbezirkdesFinanzwesens.In
der aktualen und scheinbar punktuellen Metapher vollzieht sich in Wirklichkeit
die Kopplung zweier sprachlicher Sinnbezirke. Wir können dabei durchaus die
Frage offen lassen, von welcher formalen Struktur diese Sinnbezirke sind, ob
Wortfeld, Bedeutungsfeld, Sachgruppe. Partnerschaft usw. Entscheidend ist nur,
dass zwei sprachliche Sinnbezirke durch einen sprachlichen Akt gekoppelt und
analog gesetzt worden sind.”
Metaphoranden – Metaphorator, Paraphoranden, Paraphorator bei Jaynes. Metaphernbildung als Agens der Bildung unseres modernen Selbst-Bewusstseins (259)
(546p284)
“Insofern zwei Sinnbezirke Bestandteil eines Bildfeldes sind, nennen wir sie (mit
Ausdrücken von Joost Trier) als bildspendendes [Metaphorator] und bildempfangendes [Metaphorand] Feld. In unserem Beispielen wird das bildempfangende
Feld vom Sinnbezirk Sprache gebildet, das bildspendende Fled vom Sinnbezirk
des Finanzwesens. Das Bildfeld, das sich in der Koppelung der beiden Sinnbezirke
konstituiert, wollen wir nach seiner Zentralmetapher ‘Wortmünze’ nennen.”
“Konstitutiv für die Bildfelder” sei, “dass zwei Sinnbezirke durch einen geistigen,
analogiestiftenden Akt zusammengekoppelt” seien. Isolierung der Bildspender
von den Bildempfängern sei “eine unzulässige und trügerische Abstraktion”.
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“Alle Metaphern aus dem Finanzwesen zusammen also bilden gar nichts, auch
wenn man alle Metaphern für das Wortwesen zusammennimmt, erhält man gar
nichts, jede keine sinnvolle Struktur.”
AlsbesondersverführerischhatsichinderMetaphernforschungdieIsolierungder
bildspendenden Felder erwiesen. Caroline Spurgeon etwa hat bei Shakespeare
nur die bildspenden Felder studiert, weil sie in Anlehnung an die freudsche Psychoanalyse glaubte, sie verrieten die geheimsten Neigungen des Mannes, welcher
Shakespeare hieß, und Walter Porzig glaubt, aus den bildspendenden Feldern, die
bei einem Volk vorherrschend sind, dessen Wesen erfahren zu können.”
Ich versteh seinen Einwand nicht. Natürlich sind in solche Untersuchungen die Art
und Weise des Gebrauchs einzubeziehen. Wer isoliert hier schon so rigoros, wie die hier
anklingende Polemik pappkameradschaftlich unterstellt? Wo es jedenfalls um ideosynkratischen Gebrauch von Metaphern geht, ist ein besonders Augenmerk auf die bevorzugten Geberfelder durchaus angezeigt!
(546p285)
Wilhelm Stählin “weist darauf hin, dass Paulus keine Metapher aus dem Zeltmacherhandwerk und nur einzige Seefahrtsmetapher hat. (1Tim 1v19) Wir müssen
daraus den Schluss ziehen, dass Abstraktionen wie Seefahrtsmetaphern, Kriegsmetaphern,FinanzmetaphernoffenbarderWirklichkeitlebendigerSprachenicht
gerecht werden. Realitäten sind stattdessen die konkreten Bildfelder Staatsschiff,
Liebeskrieg, Wortmünze. Paulus hat deshalb keine Seefahrtsmetaphern, weil er
nicht vom Staat schreibt.”
Da macht es sich Weinrich zu einfach. Von ideologischen Gründungshelden darf man
sehr wohl die Prägung neuer Metaphern erwarten, und insofern ist Stählins Hinweis
zumindest interessant. Aufgrund des Scheiterns des normativen Paradigmas vom
(mindestens sieben) echte Briefe schreibenden historischen Paulus (92, 108) bahnt
sich in der historisch-kritischen Forschung des dritten Jahrtausends die Erkenntnis an,
dass Paulus der Zeltmacher eine mythische Figur ist.
Paulus schrieb wenig vom Staat, viel aber von Gemeinden. Die Seefahrtsmetapher
hätte da nahegelegen. Tatsächlich wurde sie nach seiner Etablierung im Christentum
gerne benutzt und erlebte im protestantischen Kirchenlied eine hohe Blüte: ”Es kommt
ein Schiff gefahren” oder moderner “Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt”
(546p285)
“Logisch richtig darf man also nur sagen, dass er das Bildfeld des Staatsschiffes
nicht verwendet. Der Philologe soll nicht trennen, was die Tradition verbunden
hat.”
Die Tradition verbindet gar nichts – diese Personalisierung der Tradition ist hierhöchst
unwissenschaftlich. Es sind immer die Sprecher, die Angehörigen der Sprachgemeinschaft, die im Sprachgebrauch getrennte Sinnbezirke zusammenbringen und neue Metaphern schaffen, die füglich immer auch diachronisch zu betrachten sind: hier darf
der Philologe nicht zusammenwerfen, was nicht von Vornherein zusammengehörte,
sondern aus dem historischen Zusammenhang erklärt werden kann und soll (also
auch Sozial- und Individualpsychologie der mitspielenden Bildfelder).
Weitere Bildfelder: “Welttheater, Lebenssaft, Liebesjagd, république des lettres,Tierreich, Verstandeslicht, Luftschiff, Dichterschöpfer, Spündenschuld, Text-
gewebe, Existenzspiel, Wortbaustein, Sprachpflanze, Liebeslandschaft, Ehegespann, Lebensreise, Himmelreich, Charaktermetall, Geistesacker.” Es gebe nur
eine überschaubare Anzahl solcher Bildfelder, und sie seien “nicht aus einer wie
immer gearteten philosophischen Weltdeutung deduktiv ableitbar... Vom Menschengeist gesetzt und in der Bildungstradition weitergereicht, sind sie dem Leser
europäischer Literatur in einem Maße verfügbar, dass dem Grade seiner Belesenheit entspricht. Sie sind unverwechselbare, geistige und materiale Bilder der Sprache (langue). Wer eine eine allgemeine materiale Metaphorik geben will, muss sie
aufzählen, monografisch beschreiben und sagen, wie sie sich zueinander verhal-
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ten, denn die Bildfelder der Sprache liegen nicht sauber geschieden nebeneinander, sondern sie überlagern sich teilweise und haben bislang einzelne Metaphernstellen gemeinsam.
Dafür nun zwei Beispiele. Im Bildfeld ‘Wortmünze’ gibt es die Bildstelle der ‘goldenen Worte’, aurea dicta. Diese gehört außerdem noch zu einem anderen Bildfeld,offenbarälterenBildfeld‘Sprachmetall’,ausdemmanbesondersindenbiblischen Büchern viele Metaphern findet. Deutlicher ist ein anderes Beispiel. Auch
derToposbegriffistnämlicheinMetapher,diezumehrerenBildfelderngehört.Er
ist heimisch im Bildfeld Geisterregion mit seinen zahlreichen in der Wissenschaft
geläufigen Metaphern wie ‘Methode’ (Weg), trivium, Studiengang, Orientierung,
geistiger Ort, Fortschritt, Wissensgebiet, Bildfeld usw. Insofern aber der Topos
auch der Fundort für den Schatz der Gedanken und Worte ist, wie besonders bei
Cicero deutlich wird, ist hier der Zusammenhang mit dem Wortfeld ‘Wortmünze’
hergestellt. Doch sind die Verbindungen zwischen den Bildfeldern nicht immer
wie hier logisch untadelig, sondern vielmehr meistens bloß assoziativ.”
Jaynes (259) sieht in der räumlichen Metaphorisierung des Geistes ein Konstitutiv für
die Bildung des modernen reflexiven (Selbst-)Bewusstseins. In der Tat ist die Metapher
‘Geistesraum’ tief in der Sprache verankert. Nach Jaynes können wir vom Geist gar
nicht anders denken denn in räumlichen Begriffen, der metaphorische Charakter ist
über weite Strecken hin schon so sehr verblasst, dass er uns gar nicht mehr bewusst
wird. So ist auch der Begriff Metapher (Übertragung) ist räumlich: Sinn wird von hier
nach dort (durch den geistigen Raum) getragen.
Hier liegt ein ernstes Problem beim Verständnis des menschlichen Bewusstseins verborgen – weil die Metapherauch zu durchaus unzulässigen Vor‘stellungen’ des
menschlichen Geistes zwingt, wo vergessen wird, dass es sich nur eine Metapher und
vielleicht noch eine produktive Analogie handelt, aber weder um Homologie noch eine
topologische Isomorphie.
“Steht jede Metapher in einem Bildfeld? Das wäre bei weitem zuviel gesagt, denn
jedesWortkannmetaphorischeBedeutungannehmen,jedeSachekannmetaphorischbezeichnetwerden,undderFantasiesindkeineGrenzengesetzt.Diebeliebige, isolierte Metapher ist allezeit möglich, aber sie ist seltener als man denkt und –
was noch wichtiger ist – sie hat gewöhnlich keinen Erfolg bei der Sprachgemeinschaft. Die Sprachgemeinschaft will die integrierte Metapher, vornehmlich (aber
nichtausschließlich)fürdenBereichderinnerenErfahrung.DieineinemBildfeld
integrierte Metapher hat alle Aussichten, von der Sprachgemeinschaft angenommen zu werden und die Sprachmeister wissen das.”
Das Abendland als Bildfeldgemeinschaft
(546p287)
“Die konkreten Bildfelder sind wohl kaum jemals Allgemeinbesitz der Menschheit, aber auch nicht exklusiver Besitz der Einzelsprache (Muttersprache). Sie gehören zum sprachlichen Weltbild eines Kulturkreises. ‘Ein Wort prägen’ – man
kann diese Metapher gefahrlos in unsere Nachbarsprachen übersetzen: verbum
percutere, (Fronto) coniare una parola, forger un mot, to coin aber word, cunar una
palabra. AberauchwennicheineneueMetapherersinneundetwadenRenaissancehumanismus als sprachliche Währungsreform bezeichne, so kann ich diese Metapher bedenkenlos in eine unserer Nachbarsprachen übersetzen, denn ich kann
sicher sein, dass sie dort in das Bildfeld integriert wird, in das sie gehört. Metaphern sind folglich besser übersetzbar als Wörter. ‘Welt’ ist nicht gleich mundo,
und ‘Theater’ ist nicht gleich teatro, aber ‘Welttheater’ teatro del mundo. Die Inhalte sind verschieden, aber die metaphorische Analogiestiftung ist identisch.
Es gibt eine Harmonie der Bildfelder zwischen den einzelnen abendländischen
Sprachen. Das Abendland ist eine Bildfeldgemeinschaft.”
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Autorschaft im Bildfeld
(546p288)
“Wirklich schöpferisch ist nur die Stiftung eines neuen Bildfeldes, und das geschiehtsehrselten.ZumeistfüllenwirnurdiefreienMetaphernstellenaus,diemit
dem bestehenden Bildfeld bereits potenziell gegeben sind. So nehmen und geben
wir zugleich: das ist nicht originale Schöpfung, sondern Autorschaft, ‘Mehrung’.”
Metaphern des Gedächtnisses
(546p291f)
“Es finden sich im Wesentlichen zwei und nur zwei Bildfelder: die Magazinmetaphern und die Wachstafelmetaphern. “Die in den Texten begegnenden Metaphern gruppieren sich mit überraschender Homogenität um eine dieser beiden
Zentralmetaphern und bilden zwei Bildfelder, deren Konsistenz die Auffassung
nahelegt, dass sie für die Theorien der memoria den Wert von Denkmodellen haben. Die einzelnen Autoren unterscheiden sich schon in den Grundlagen ihres
Denkens dadurch, dass sie bald das eine, bald das andere Bildfeld als Denkmodell
bevorzugen.”
Höchste Zeit also, zu einem besseren Modell überzugehen! Noch die Computer-Metapher ‘Speicher’ ist offensichtlich eine Magazinmetapher.
DasGedächtnismagazin,schonbeiPlatovollausgebildetinderrhetorischenMnemotechnik: Lokalisierung der Gedächtnisinhalte. Von Plato verspottet, von den
Aufklärern abgelehnt.
Vor dem Hintergrund der räumlichen Metaphorik des Bewusstseins gesehen, erscheint
Lokalisierung der Gedächtnisinhalte ganz natürlich.
Kritik von Augustin, Thomas von Aquin, Diderot
(546p292)
“In ihre kritische Phase gerät die Magazinmetaphorik mit dem Versuch der positivistischen Psychologie, das Gedächtnismagazin nun auch tatsächlich im Gehirn
räumlichnachzuweisen.Bergsonpolemisiertdaher,obwohlerselberMagazinmetaphern verwendet, nicht nur gegen diese Metaphorik, sondern vor allem gegen
ihre unreflektierte Anwendung.”
Die Tafel der Erinnerung
(546p292)
Plato
(546p293)
“Plato lässt Sokrates sagen:
‘Nimm also zum Zweck unserer Untersuchung an, in unserer Seele befinde sich
eine wächserne Tafel, bei dem einen größer, bei dem anderen kleiner, bei dem
einen aus reinerem Wachs, bei dem anderen aus schmutzigerem, hier aus härterem, bei anderen wieder aus weicheren, bei einigen auch aus regelrecht passendem.’
Diese Tafel ist ein Geschenk der Mnemosyne, der Mutter der Musen.”
Auch diese Metaphorik verleite dazu, sie zu wörtlich zu nehmen. (Weinrich zitiert
dazu wieder Diderot.) Sie sei sehr beliebt in der Pädagogik.
Erotische Untertöne, Fantasien der Formbarkeit: dahinschmelzen wie Wachs, Wachs
in meinen Händen. In modernen Fassungen geht diese Konnotation verloren:
Heute modernisiert: bei Racine wird es ein Buch, bei Bergson ein Fotoapparat.
In der Computerei wird diese Metaphorik vor allem bei Massenspeichern aufgegriffen:
man spricht von Dateien (file=Akte), Dokumenten, Verzeichnissen usw.
Es bleibt aber dennoch im Wesen das gleiche Bildfeld. Auch in unserem
alltäglichen Sprachgebrauch ist es in Wendungen wie ‘sich etwas einprägen’,
‘einen tiefen Eindruck hinterlassen’, ‘eine plastische Erinnerung’ ständig gegenwärtig.”
Die ‘wachsgebundenen’ Sprechweisen über Ein- und Ausdruck sind zu tief verankert,
um modernisierbar zu sein. Die ‘plastische Erinnerung’ speist sich aber kaum diesem
Bildfeld, wie die Sprechweisen ‘es steht mir noch plastisch vor Augen’, aber auch ‘plastisch vor Augen führen’ zeigen: diese beschreiben eine besonders lebensechte, sozusa-
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gen dreidimensionale (=plastische) Vorstellung, weniger symbolisch, mehr ikonisch,
‘eidetisch’ , und nicht auf Gedächtnisinhalte beschränkt wie im Wachstafelbild.
“Seit der Antike also liegen beide Bildfelder nebeneinander und konkurrieren
miteinander um die Gunst der Denker.” Condillac und Schopenhauer sprechen
sich gegen beide Metapher aus. Schopenhauer “vergleicht nämlich das Gedächtnis mit einem Tuch, das die Falten, in die es einmal gelegt war, noch lange bewahrt.”
Weiter abgeschlagene Bildfeldkandidaten: “Qunitilian bezeichnet das Auswen(546p294)
diglernen als Wiederkäuen, Augustin entsprechend das Gedächtnis als Magen.
Diderot und manche Assoziationspsychologen fassen das Gedächtnis als Kette
auf, und ganz andersartige Metaphern finden wir bei den Dichtern. ‘Souvenir o
bucher!’ ruftValéryaus,undbeiPhilippeSoubaultlesenwirdenVers ‘Ma mémoire
me suivit comme un petit chien.’”
“Theoretisch wären beliebig viele Bildfelder möglich, aber es gibt sie eben nicht in
unserem Kulturkreis. Die Zweiheit der memoria-Bildfelder ist ein Faktum der
abendländischenGeistesgeschichte.DashängtwahrscheinlichmitderDoppelheit
des Phänomens memoria zusammen: die Magazinmetaphern sammeln sich nämlich vorwiegend um den Pol ‘Gedächtnis’, die Tafelmetaphern hingegen um den
Pol ‘Erinnerung’.”
Metaphern als Denkmodelle
“Wir können einen Gegenstand wie die memoria nicht ohne Metapher denken.
Metaphern, zumal wenn sie in der Konsistenz von Bildfeldern auftreten, haben
den Wert von (hypothetischen) Denkmodellen. Kritisch benutzt, helfen sie uns,
Fragen zu stellen.”
Beide Metaphern, aber vor allem die Magazinmetapher suggerieren uns ein unzutreffendes Bild des Gedächtnisses oder der Erinnerung. Als diese beiden deutshen Worte
geprägt wurden, hatte man anscheinend ein realistischeres Denkmodell: das
‘Gedächtnis’ ist das, worin gedacht wird, die ‘Erinnerung’ ist das, womit erinnert wird:
die Vorstellungsbilder werden nicht als Substanz angesehen, die man aus einem Speicher holt, oder als interne Kopie, die von einer Tafel gelesen wird, sondern dynamischer, im Verbindung mit einem geistiger Vorgang , einer (Re-)Konstruktion:
(ge-)denken, erinnern = im Inneren aufbauen.
Metaphern im Kontext
Versuch einer Definition aus dem Kontext heraus: “Eine Metapher – und das ist
imGrundedieeinzigmöglicheMetapherndefinition –isteineWortineinemKontext, durch den es so determiniert wird, dass es etwas anderes meint, als es bedeutet. Vom Kontext hängt wesentlich ab, ob eine Metapher sich selber deutet oder
rätselhaft bleibt. Eine starke Kontextdetermination zwingt auch das fremdeste
Wort in den gemeinten Sinnzusammenhang. Wissenschaftliche Texte beispielsweise – d.h. methodisch gerichtete Texte – sind oft von dieser Art oder sollten es
doch sein. Ihre starke Kontextdetermination neutralisiert für den Leser auch solche Metaphern, die er bei gelockerter Kontextbindung vielleicht als kühn empfinden würde,”
Kritik der Sprachkritik Wittgensteins im ‘Tractatus logico-philosophicus’
(564)
Im Vorwort: “Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen:
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen. Und wovon man nicht reden
kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze
ziehen,odervielmehr,nichtdemDenken,sonderndemAusdruckdesGedankens;
denn, um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser
Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken
lässt).
(546p311)
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(564p114-115)
Aber
(350p124)
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Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können, und was jenseits
der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.”
6.52 “Wirfühlen,dassselbstwennallemöglichenwissenschaftlichenFragenbeantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann
eben keine Frage mehr, und eben dies ist die Antwort.
6.521 DieLösungdesProblemsdesLebensmerkt p115 manamVerschwindendiesesProblems...
6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.
6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: nichts zu sagen, als was
sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft, also etwas, was mit Philosophie
nichts zu tun hat; und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen
wollte, ihmnachzuweisen,dassergewissenZeicheninseinenSätzenkeineBedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend. Er hätte
nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten, aber sie wäre die einzig streng
richtige.”
Nach Wittgenstein bleibt für den eigentlichen Vorgang der Klärung nur “das Mystische
– es zeigt sich”. Mit einem Mal, unvermittelt, springt die Klarheit in die Sprache. Wir
dürfen uns nicht an die Wahrheit herantasten, würde man Wittgenstein glauben. Sicher, es hat seinen Reiz: schweigend wie die Indianer im Rat der Alten sitzen wir wochenlang herum, lassen das Kalumet herumgehen, schauen unbewegten Gesichts
übers Lagerfeuer, und selten, ganz selten, perlt die Weisheit in ruhigen, gesetzten, absolut klaren Worten.
Bei allem Verdienst dieser starken Sätze und Gedanken gegenüber den allüberall zusammengeschwätzten pseudointellektuellen Quatschozeanen:
Als wäre es nicht dennoch sinnvoll und oft auch notwendig, über das Unklare als das
Noch-Nicht-Klare zu sprechen; und da man sich nicht klarer ausdrücken sollte, als
man denkt (Bohr), spricht man dabei unklar, sofern man wahrhaftig spricht: der Vorgang der Klärung: per aspera ad astra!
Schon im Tractatus gibt Wittgenstein zu erkennen, dass er am rein logischen Zugang
zur Sprache (und erst recht zur Wirklichkeit) zweifelt. Der Begriff des Sprachspiels hat
die Lingustik zwar sehr befruchtet, wird aber von Wittgenstein selber nur aphoristisch
definiert.
Und “der späte Wittgenstein (565) begann zu glauben, dass Wörter sich – ganz gegen die Gesetze der herkömmlichen Logik – auch auf Klassen von Dingen beziehen können, die nicht unbedingt gemeinsame Merkmale besitzen. Er stellte sich
z.B. die Frage: Was ist ein Spiel? Ist es ein Wettbewerb? Vielleicht, allerdings gelten auch so kindliche Zeitvertreibe wie Ringelreigen als Spiele. Ist es also Vergnügen? Die meisten Sprachen kennen aber auch das Bild vom Kriegsspiel oder
vom tödlichen Spiel. Müssen zwei oder mehr Spieler beteiligt sein? Es kann nicht
schaden, aber auch das stille Legen von Patiencen gilt als Spiel. Worte wie Spiel, so
kam es Wittgenstein vor, sind eine Art Allzweckbehälter für Dinge mit Familienähnlichkeit.”
Was die Anwendung einer ‘Fuzzy Logic’ → FL nahelegt und letztlich die Wiederannäherung an die – dem Identitätsdenker so verhasste – unordentliche empirische
Wirklichkeit.
Und wir landen wieder bei Niels Bohr: ‘Drücke dich niemals deutlicher aus, als du
denkst!’
Grammatisches, physiologisches, soziales und funktionales Geschlecht
20.10.97 WS
Die weiblichen Grammatikformen, die mit besonderer Endung (wie ‘-in’) abgeleitet werden, sind die Nebenformen der männlichen Bezeichnung. Für Frauen eine
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19.04.98 WS
17.12.98 WS
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böse linguistische Falle; denn so gerät die weibliche Rolle zur Nebenrolle, sobald
frau – scheinbar politisch korrekt – nur den Mund aufmacht.
“Ich bin hier der Boss” steht einer Frau sehr gut. Jede grammatisch-weibliche Alternative riecht nach schlapper Quotenregelung. “Wird gemacht Chef!” sagt sich
prima zu einer Frau, weiß ich aus persönlicher Erfahrung. Chefin kommt mir da
jedenfalls nicht über die Zunge.
Männer, die nach wie vor Mächtigen, hatten nie Probleme, klangvolle Ausdrücke
auf sich zu beziehen, die nicht männlichen Grammatikgeschlechts sind. “Du überlegene Person, du überragende Persönlichkeit, du echte Kapazität”, lassen sich
Männer problemlos loben! Und kein Mann fühlt sich zum Neutrum gemacht,
wenn er hört, er sei hier das größte Genie.
Es geht hier auch um die Wahrheit, nämlich in Form semiotischer Korrektheit.
Wer als Frau eine traditionell männliche Rolle übernimmt, sollte die traditionell
männliche Bezeichnung dafür in Anspruch nehmen und sich nicht tatsächlich mit
der als weiblich gekennzeichneten Nebenrolle abspeisen lassen.
WerprimärnachdemphysiologischenGeschlechtdifferenziertundnichtnachder
sozialen Funktion, diskriminiert nolens volens die Frauen und überantwortet sie
automatisch der Macht des männlichen Diskurses. Es gilt nicht länger die sozialen
Funktionen nach dem Geschlecht zu differenzieren, sondern die Funktionen über
das Geschlecht zu integrieren, um einen Bruch im sprachgefügten Machtbewusstsein einzuleiten. ‘Steh’n Sie Ihren Mann, Madame!’, nicht: ihre Frau; durch ‘Übersetzung’ – traduttore, traditore – wird Madame ein ganzes Spektrum wichtiger sozialer Funktionen versperrt. Wirklich!
Wer die Macht der Sprache (des ‘Diskurses’ im foucaultschen Sinne) wirklich erkannt hat, ergreift sie, statt sich ihrem diskriminierenden Ritual zu unterwerfen.
Oder umgekehrt; wer sie ergreift, erkennt erst die Macht der Sprache. Das ist keine These, sondern eine empirische Beobachtung, wiederholt gemacht an erfolgreichen Frauen in ‘männlichen’ Positionen (also nicht im therapeutischen, sozialen, pädagogischen Bereich oder in anderen ewig weiblichen Funktionen, die
mann in allzu durchsichtiger Toleranz gerne den Frauen überlässt). Weiteres Beispiel: praktische Erfahrungen von Frauen, die im Internet unter männlichem Namen auftreten.
EineAlternativewäre:FrauenverweigernsichjeglicherMachtundjeglicherautoritärer Struktur. Dann bleiben alle die männlichen sozialen Funktionen – nicht zuletzt die so genannten ‘Herrschaftsfunktionen’ – weiter fest in der Hand der
Männer. Schlecht für die Männer beiderlei Geschlechts, zugegeben, aber immer
noch schlechter für die Frauen.
Mittlerweile haben die (intelligenten) Männer immer weniger Probleme, sich interessante weibliche Rollen unter den Nagel zu reißen. Viele zögern nicht, weiblich inspirierte und interpretierte oder schlicht taktisch verwertbare Funktionen
zu übernehmen.WarumtunsichsovieleFrauennochschwer,männlicheFunktionen einfach zu übernehmen, wollen sie kapitulantenhaft ‘weiblich interpretieren’
und sehen sich schwuppdich wieder als die Unterworfenen, im männlichen Sinne
Instrumentalisierten und schlichtweg Verarschten.
Worauf ich warte, ist, dass Männer sich mutig und semiotisch korrekt Hausfrau
benennen, wenn sie genau diese Rolle übernommen haben. Hausmann klingt zur
Strafe ein bisschen nach Weichei. Kindermädchen und Anstandsdame hört man
Männer schon mal spielen – das ist erlaubter ironischer Zungenschlag.
Der betonte Gebrauch oder gar das Bestehen auf der weiblichen Nebenbezeichnung ist selten politisch korrekt, sprachlich schön oder inhaltlich richtig. Selbstbewusste Frauen sind längst dazu übergegangen, die weibliche Form zu boykottieren. Auf der Bürotür, steht “Chefredakteur”, auch wenn dieser Marion heisst, und
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(377p156)
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auf der Visitenkarte “D. Seeger, Landschaftsarchitekt”, auch wenn D für Daniela
steht;dieInformationüberdasphysiologischeGeschlechtistnichtvonBelangund
bleibt zu Recht ausgeklammert. Eine Berufsbezeichnung ist eine BerufsbezeichnungundhatüberdieGeschlechtsorganedesAusübendenebensowenigAuskunft
zu erteilen wie über dessen Haarfarbe.
Mann und Frau sollten die weiblichen Sprachformen eine Zeitlang einfach aushungern, um etwas zu tun gegen die Diskriminierung der Frau, und sprachlich
über die Geschlechter integrieren, nicht nach den Geschlechtern differenzieren,
wo immer es angebracht klingt. Und es klingt ganz und gar nicht blöd, wenn eine
Frau sagt: “Ich bin der Herr meines Lebens!”. Es klingt unschöner, wenn sie sagt:
“Ich bin die Herrin meines Lebens” oder völlig daneben wäre “Ich bin die Dame
meines Lebens!” – auch ungeachtet dessen, dass neben der hässlichen sprachlichen Form weder Inhalt noch Politik solcher Formulierungen korrekt sind.
Schreibt den Frauen Herrlichkeit zu, statt immer nur immer wieder ihre Dämlichkeit aufzumöbeln. Jede Frauenpolitik, die als Frauenpolitik daherkommt, ist
schlechte Frauenpolitik.
Mit Ausnahme der Ausnahmen – verlassen wir uns da auf den Klang, auf das
Sprachgefühl – ist es einzig und allein die Primärform einer Personalbezeichnung,
welche die Bedeutung trägt, die erwachsene, aufgeklärte, fortschrittliche Menschen der gesellschaftlichen Rollenverteilung zuschreiben sollten.
“Bedeutung ist Information, die ausgesondert worden ist, Information, die nicht
mehr da ist. Die auch nicht dazusein braucht.”
Der Landschaftsarchitekt Daniela Seeger, attraktiv und unverkennbar weiblichen
Geschlechts, verbuchte es mit Recht als persönlichen Erfolg, als in der Hitze des
Meetings ihr männliches Gegenüber sie plötzlich mit “Herr Seeger” ansprach. Sie
fühlte sich seltsam, aber höchst angenehm berührt – und richtig verstanden. Eine
Geschäftsbesprechung ist nun mal kein Flirt.
Personalpronomina: nicht nur rein deiktisch, sondern Bedeutungstransporteure:
ich Symbol für den “Sender”, den Sprecher eines Textes
wir? =“ich+du” oder = ”wir Sender” im Gegensatz zu “euch Hörern”? In der Tat wird
“wir” meistens in dem letzteren, gruppen-zentrischen Sinne verstanden.
du Symbol für den “Empfänger”, den Hörer eines Textes
vgl. (546p45f)
Bedeutung in der Sprachwissenschaft – Strukturalismus
Heinz Mosell:
(367p66)
(367p66-67)
Studium PH, TH, Soziologie, Politologie; Prof. für Politologie, Fachrichtung Sozialpädagogik FH Rheinland/Pfalz (Darmstadt).
Der Linguist Leonard Bloomfield, einer der Begründer der modernen amerikanischen Sprachwissenschaft, schließe die Bedeutung als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung aus:
“Nichtlinguisten, (wenn sie nicht zufällig Physikalisten sind), vergessen ständig,
dass ein Sprecher Geräusche macht, und schreiben ihm stattdessen den Besitz unangreifbarer ‘Ideen’ zu. Es liegt bei den Linguisten, in allen Einzelheiten nachzuweisen, p67 dassderSprecherkeineIdeenhatunddassdasGeräuschgenügt–denn
die Wörter wirken auf die Nervensysteme seinez Sprachgenossen wie der Finger
am Abzug.”
In der Tat ein Versuch, den Physikalismus in Sachen Dummstellerei noch zu überbieten – o Ausdruck tiefer Selbstverachtung?
Genausogut könnte man sagen, dass ein Programmierer mithilfe der Tastatur
elektrische Impulse macht, und dass diese Impulse auf die CPU wirkt wie der Finger
am Abzug.
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Da ist ja schon was dran, aber für ein Verständnis etwa der Funktionalität von Software doch die falsche Kategorie!
Ebenso kann es ohne den zentralen Begriff der Bedeutung kein funktionales Verständnis von Sprache geben.
“Bloomfield sind Bedeutungsfunktionen der Zeichen nicht fremd, aber er betrachtetsie nicht als Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern anderer Disziplinen.”
Bloomfield:
(367p85)
(367p86)
(367p86)
(367p87)
Sapir:
... und profuliert sich als dünnbrettliebender Problemdrückeberger ...
“Our discussion so far has shown us that every language consists of aber number of
signals, linguistic forms. Linguistic form is a fixed combination of signal-units, the
phonemes.Ineverylanguage,thenumberofphonemesandthenumberofactually
occuring combinations of phonemes, is strictly limited. By uttering aber linguistic
form aber speaker prompts his hearers to respond to a situation; this situation and
the responses to it are the linguistic meaning of form.”
“Der menschliche Umgang mit der Sprache ist noch wenig erforscht. Zeichen haben weder die Regelhaftigkeit des Bestandes noch die seiner Veränderung vollends aufdecken können. In der Beschreibung der Sprachverwendung, die Regelhaftigkeiten des Dargestellten und seine Veränderungen aufgrund der Darstellung ihrer Art, Formen und Interdependenzen mittels lautlicher Zeichen aufdecken müsste, sind kaum Ansätze zu verzeichnen.
In der Sprachverwendung fällt der häufige Gebrauch einseitig beschränkter
Sprachinhalte und Sprachformen auf, in der die Sprache geistige Ausbeutung
nicht nur toleriert, sondern fördert, Entscheidungen auf ein Minimum an Information hin erlaubt, durch Zustimmung zu einigen, vielleicht je zentralen Inhalten
eine ganze Folge von Verhaltensabläufen sicherstellt.
DieQualitätderSpracheinihrerFunktion,InformationenüberdieSozialstruktur
und in die Sozialstruktur zu vermitteln, bemisst sich nicht an der Qualität ihrer Information über die Bedingungen der Realität.”
“Die Sprache ist konditioniert, und die moderne Sprachwissenschaft kann nicht
die Auffassung implizieren, nur parole stelle Daten dar, ‘die durch den Zusammenhang der gesellschaftlichen Totalität strukturiert’ seien (Adorno). Auch die
langue, auch der Sprachinhaltsprozess, ist menschliche Institution und von daher
konditioniert.”
“Die Sprachverwendung, obgleich konditioniert. erlaubt jedoch nicht die Folgerung, dass die Sprache nicht mehr enthalte, nicht zu mehr tauge. Die Sprachverwendung erweckt nicht den Eindruck, als sei die Sprache zur Kontrolle der Bedingungen der Realität erfunden worden, zur Teilnahme aller an allem sprachlich
Aufgezeichneten und seiner Verarbeitung in Zusammenhängen.”
Mosell zitiert Sapir: “To put our viewpoint somewhat differently, language is primarely a prerational function. It humbly works up to the thought that is latent in,
that may be eventually be read into its classification and its forms; it is not, as is generally but naively assumed, the final label put upon the finished thought.”
Die Sprache erscheint als Denksteinbruch und etwas noch zu Entdeckendes:
“Thought may be defined as the highest latent or potential content of speech, the
content that is obtained by interpreting each of the elements in the flow of language as possessed of its very fullest conceptual value.”
“Jedes inhaltliche signifikante Element auf seinen Inhalt hin (unter einem je wissenschaftlich möglichen Aspekt) auszuschöpfen, setzt voraus, mehr zu kennen als
die Sprache, die einem geläufig ist.”
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Dabei eine bedenkliche Einschätzung:
“Der Computer ist darauf abgestellt, unter großen Datenmengen das vergleichbare schnell und umfassend zu identifizieren und nach den Möglichkeiten eines Anwendungssystems auszuwerten. Die Fülle der Daten, die vom einzelnen Sprecher
nicht übersehen noch auf inhaltliche Differenzen hin verglichen und zu Sprachinhaltssystemen aufgebaut werden können, stellt für die Verarbeitungstruktur des
Computers kein Problem dar.”
Damit solle aber nicht gesagt werden, “dass die Quantität, die Sinnfrage einer solchen Untersuchung nicht tangiere”.
Semantik und Syntax nach Chomsky:
(367p89)
Sprachstatistik
(367p93)
(367p93-94)
Wortfeldforschung
(367p96)
(367p97)
“In the domain of semantics there are, needless to say, problems of fact an principle that have barely been approached, and there is no reasonable concrete or well
defined‘theory of semantic representation’ to which one can refer. I will, however,
assume here that such a system can be developed, and it makes sense to speak of
the ways in which the inherent meaning of a sentence, characterized in some stillto-be-discovered system of representation, is related to various aspects of its
form.”
“Sprachstatistik formuliert Gesetze auf der Basis von Worthäufigkeit, Rang und
Wortlänge und hat Tendenzen im Prozess der Sprachentwicklung aufgezeigt. Begründer dieser Disziplin ist G.H. Zipf, bedeutende Vertreter sind [der Engländer
G.] Herdan und [P.L.] Guiraud.
[S.W.] Wagner entwickelte Verfahren, die nach statistisch und informationstheoretisch begründenten Rangkriterien und verschiedenen Zusatzkriterien automatisch Stichwortlisten erzeugen und mit Hilfe von p94 Computern interpretieren.
[R.] Hartmann nennt als wichtigste Sachgebiete, in denen lexikalische Messungen
angewandt werden können, die Sprachpsychologie, Sprachpädagogik, die linguistische Theorie, die Philologie, die Dokumentation und Kybernetik.”
Wortfeldforschung “betont die gegenseitige inhaltliche Einflussnahme gleichartigerWorteineinemSinnbezirk,dessenAufbauundderenIneinandergreifeninder
Regel wenig exakt beschrieben sind.”
“EsmüssenKriterienermitteltwerden,ausdenensichdieZugehörigkeitzueinem
Sinnbezirk ergibt. Gibt es bestimmte Aussagestrukturen, vom Inhalt determinierte Form, die für die Wortinhalte eines Wortfeldes relevant sein könnten, so dass
ein Sinnbezirk sich automatisch aufbauen ließe? So sind es typische Geschehensmerkmale, die Verwendung einer begrenzten Zahl inhaltlich bestimmter Verben,
die sinnzusammenhängende Sätze repräsentieren, in denen Zugehörigkeit zu
einem Sinnbezirk signalisiert werden.
Aus der Analyse der Syntax, die sich semantisch bedingter Eigentümlichkeiten
nicht entziehen kann, ergibt sich die Notwendigkeit vielfacher Wortklassifizierungen, die auf ihre für Sinnbezirke und Sinnkopplung semantisch relevanten Konditionen untersucht werden müssten.
Seiler sucht einen Ansatz, dieser Verbindung einen von Semantik und Syntax
nachzugehen, indem er zwischen den semantischen Eigenschaften eines lexikalischen Monems und deren Entstehung innerhalb der syntagmatischen Beziehungen von Sätzen einen Zusammenhang sieht. Er geht von der Annahme aus, dass
lexikalische Feldstrukturen durch die syntaktischen Strukturen einer Sprache bestimmt seien. Dem intuitiv gebildeten Wortfeld – sprechen, reden, sagen,
erzählen, bemerken, antworten, entgegnen, fragen – stellt er eine Gruppe intuitiv ausgewählter syntagmatischer Beziehungen gegenüber und prüft das Vorkom-
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(367p97-98)
Grammatik
(367p112-113)
(367p113-114)
(367p114)
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men der acht Verben. Dabei stellt er innerhalb des Wortfeldes Verhältnisse von
Komplementarität, Synonymität und Antithetik fest.
Stammerjohann hält ‘zu einer erschöpfenden inneren Strukturierung und zu einer
Angrenzung des Wortfeldes nach außen, wenn es das gibt ... vermutlich weitere
und andere grammatikalische Kriterien’ für notwendig.
Zu Verfahren quantitativer Semantik, die keineswegs mit qualitativer Semantik
verwechselt werden möchten und zu Verfahren des automatic indexing und automatic abstracting ist zu bemerken, dass die aufgrund einer Häufigkeitsliste als signifikant ermittelten Worte in einer sehr großzügig zu interpretierenden Weise auf
einen Bedeutungsträger (z.B. in einem Buchtitel) bezogen wurden, die dem
Verhältnis zwischen Wörtern und dem Wort, das einen Sinnbezirk p98 symbolisiert, nicht angemessen ist. Das in Dokumentationsanalysen gebräuchliche Verfahren, ein Komponentenregister für die Auswertung zu erstellen, müsste sich bei
einer Definition entsprechender Kriterien, die den Inhalt eines Wortes beeinflussen, als Instrument zur Analyse von Wortinhalten im Zusammenhang eines Sinnbezirks oder einer Sinnkopplung entwickeln lassen.
Bei dem Bemühen, linguistische Einheiten zur Analyse und Synthese von Texten
zu gewinnen, spielen Sinnkopplungen, verstanden als typische, inhaltlich bedingte
syntaktische Abhängigkeitsstrukturen, eine Rolle.
EineadäquateInterpretationvonTextendürftesichjedochkaummitdengenannten Verfahren sichern lassen, die den Wortverbindungen mit dem höchsten Gewicht bei der Analyse bzw. Synthese von Texten Vorrang einräumen.”
“Als erster Entwurf einer Grammatiktheorie gilt die von Chomsky entwickelte generative Transformationsgrammatik”; p113 diese enthalte “eine syntaktische, eine
phonologische und eine semantische Komponente.”
“Die syntaktische Komponente besteht aus der Basis der Grammatik und einem
expliziten Ableitungsmechanismus. Die syntaktische und phonologische Komponente der Grammatik ‘are purely interpretive. They play no part in the generation of
sentence structures’. Die grammatische Basis enthält kontextfreie Regeln, mit
denen sich auch fehlerhafte Sätze wie ‘Der Stein regnet’ generieren lassen.”
Darüber hinaus gibt es Subkategorisierungsregeln, die kontextsensitv sind. Diese
“schränken die unerwünschten Kombinationen aus der Anwendung kontextfreier
Regeln ein.
Semantische Merkmale bzw. Merkmalgruppen wie ‘belebt’, ‘abstrakt’, ‘kontinuierlich’, ‘human’ und deren Gegenteil dienen zur Subkategorisierung von Nomina. Die Merkmale ‘transitiv’ und ‘intransitiv’ und die Abhängigkeit zu anderen
kategorialen Texten ... dienen der Subkategorisierung von Verben.
Die Struktur, die aus den Subkategorisierungsregeln abgeleitet ist, bildet ein Abstractum aus komplexen Symbolen..., denen nach einer generellen Regel Lexeme
zugeordnetwerden,diedemLexikonentnommensind,daszurBasisgehört.Jedes
Lexem steht mit seinem phonologischen, syntaktischen und auch semantischen
Merkmalen im Lexikon.
Die Basis erzeugt die Tiefenstruktur, die bereits die gesamte semantische Information enthält. Die Transformatiosnregeln, die mit der Basis zur syntaktischen
Komponente gehören, generieren aus der Tiefenstruktur die Oberflächenstruktur.
Die nach Chomsky diesem Modell zugrundeliegende ‘Tiefenstruktur’ verberge
(bzw. enthalte) die Semantik. Aber diese Vorstellung führt zu gewaltigen Schwierigkeiten, die innerhalb der Literaturik auch ausführlich diskutiert wurden. Die
weitere Untersuchung hat sich am Ende ziemlich verfranzt.
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(367p116)
(367p117)
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“Wenn die Tiefenstruktur die semantische Interpretation von Sätzen einwandfrei
bestimmen soll, dann müsse sie die Sätze ‘Hans liebt die Arbeit’, ‘Hans arbeitet
gern’ als bedeutungsähnlich erweisen. Da weder Subkategorisierungs- noch Lexikonregel die Tiefenstruktur beider Sätze näherbringen, schlägt Lerot vor, den inneren Aufbau der Tiefenstruktur zu ändern und die Sätze in minimale Bedeutungseinheiten, nicht mehr zerlegbare semantische Bestandteile (Noeme) zu
zerlegen und unter Anwendung der noetischen Verzweigungsregeln und der subkategorialen Lexikonregeln Symbolketten zu generieren.” Heringer hat grundsätzliche Einwände gegen die Transformationsgrammatik. Die Transformationen
seiennichtbedeutungsinvariant,nichteindeutig,nichtvollständigundwürdeninsbesondere ganzheitliche (“holophrastische”) Bedeutungen von Sätzen nicht wiedergeben.
“Die Sprachkompetenz als das kreative Vermögen des Menschen, sowohl semantisch als auch syntaktisch neue, aber zulässige und verstehbare Sätze zu bilden und
nicht nur auf der Basis des inhaltlich und in den Regelhaftigkeiten in der Sprache
Verfügten neue Sätze zu generieren, überschreiten das zu erwartende Vermögen
eines Computers.”
Bei aller berechtigten Skepsis muss man hier doch wohl ein Fragezeichen hinsetzen!
Der Autor resumiert, “dass die von der Linguistik vorgelegten Elemente der Sprache noch nicht das Instrumentarium darstellen, um mittels maschineller Verfahren beliebige Texte in natürlicher Sprache zu analysieren.”
Generative Transformationsgrammatik:
(367p120)
(367p115-116)
Semantik
Syntax
Phonologie
Basis
semantische
Komponente
Bedeutungsstruktur
Tiefenstruktur
Transformationsteil
Oberflächenstruktur
Phonologische
Komponente
Lautstruktur
Lemmatisierung
(367p128-129)
Zur Identifikation der Grundform eines Wortes “bieten sich zwei Wege an. Über
die Zusammenstellung aller Flexionsendungen, Präfixe und Suffixe und eines Lexikons der Lexeme oder über ein Wörterverzeichnis, das die einzelnen Worte und
nichtnur in ihrer Grundgestalt ..., sondern in allen sprachlich möglichen Veränderungen aufführt. Man spricht von einem Wortformenbuch, einem p129 Thesaurus,
der in diesem Fall der Ermittlung der Grundgestalt eines Wortes dient.
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(367p129-130)
(367p137)
(367p140)
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Die Grundgestalt eines Wortes über die Liste der Flexionsendungen, Präfixe und
Suffixe unter Verwendung des Lexikons der Lexeme zu wollen, ist ein ungleich
komplizierteres Verfahren als die Zwischenschaltung des Wortformenbuches.”
“Die Endsilbe -en ist unverkennbar mehrdeutig und verwechselbar. Sie kann zur
Grundgestalt eines Wortes gehören, Gliederungsmerkmal, p130 d.h. Flexionsendung sein und als Flexionsendung mehrere Kasus symbolisieren.”
In die Liste der Flexionsendungen aufzunehmen seien “die nach Genus und Numerus verschiedenen Deklinationsendungen der Substantive einschließlich der
Artikel und der Adjektive und die Konjugationsformen der Verben, die Endungen, Veränderungen des Wortstammes und Umschreibungen... In Verbindung
mit einem lexikalischen Thesaurus und einem Thesaurus der Sinnbezirke und
Sinnkopplungen scheint es dann möglich zu sein, die Abweichung eines im Text
gegebenen Wortes von der Grundgestalt festzustellen, die Liste der Flexionsendungen auf diese Anweichung hin zu überprüfen, die Flexionsendung zu identifizieren, die Funktion der festgestellten syntaktischen Form zu finden, die konkrete
Zuordnung des flektierten Wortes im Satze zu definieren, den Bezugsbegriff zu
ermitteln und nun seinerseits zu überprüfen.
Die Liste der Flexionsendungen bedarf neben der Darstellung der lautlichen Elemente zusätzlicher Kriterien, um aus den verschiedenen Funktionen einer gleichlautenden Flexionsendung eindeutig die herauszufinden, die der Situation des
konkreten Satzes entspricht.”
Sinnkopplung wird auch als semantisch-syntaktischer Hof bezeichnet:
Was röhrt? Ausschließlich der Hirsch – meint jedenfalls der Autor. Aber auch
Auspuffe hat man schon röhren hören.
Linguistische Datenverarbeitung
Morphologische Analyse als Alternative zum Lexikon
(307p21)
Wörterbucherstellung mit statistischer Verteilung der relevanten Wörter eines
(307p21-22)
Textes: (K73)
p31
(307 )
Strukturalistische Literaturik gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden als
‘synchrone’ Nachfolgerin einer sprachgeschichtlich orientierten (‘diachronen’)
Betrachtungsweise.
Begründer Ferdinand de Saussure; Unterscheidung zw ‘language’ (des insgesamt
gegebenen, eher abstrakten Sprachumfangs) und ‘parole’ (der konkrete Sprachgebrauch des Einzelnen). Starke Impulse in den USA durch Edward Sapir, Leonard Bloomfield, C.F. Hocket und Zellig S. Harris.
Starker Einfluss bis nach 1950.
Wissenschafttheoretische Position des linguistischen Strukturalismus:
Empirische Lingustik. “Einzig legitimes Erkenntnisverfahren” sei “die Beobachtung und Analyse des empirisch fassbaren Materials der Einzelsprache”.
Korpusgedanke
Korpus ist die Gesamtheit der zu einem Zeitpunkt abgegebenen Äußerungen
aller Sprecher einer Sprache
ForderungnachProzedurenzurEntdeckungvonRegularitätenimKorpus–sogenannter Entdeckungsprozeduren (discovery procedures).
Ab 1950 gewisses Interesse für parole als Gegenstand der Linguistik; heute Bevor(307p32)
zugung der gesprochenen vor der geschriebenen Sprache. Man unterscheidet darum heute Korpora geschriebener und gesprochener Sprache.
Angesichts der unüberschaubaren Fülle des Sprachmaterials muss man notgedrungen auf repräsentative Korpora zurückgreifen, die sich meist aus der Aufgabenstellung ergeben (Untersuchung an bestimmten Autoren, Subkulturen, Epochen usw.)
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LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3
(307p34)
Korpus
Freiburger K.
Mannheimer K.
LIMAS-K.
Brown-K.
Lancaster-Oxford-Bergen-K.
Kant-K.
Typ

Li-35
2000 Werner Schneider u.a.
Sprachk.
Sprachk.
Sprachk.
Sprachk.
Sprachk.
Sprache
deutsch
deutsch
deutsch
US-engl.
UK-engl.
Form Zeitraum
Texte
Worte
Autorenk.
deutsch
literal 18. Jh.
16
4,0 M
oral 1967-74
literal 1946-67
literal 1970
literal 1961
literal
222
32
500
500
500
0,6 M
2,2 M
1,0 M
1,0 M
1,0 M
Postulat des Strukturalismus
(307p33)
“In ihrer strengsten Form forderte die strukturalistische Linguistik, dass es
möglich sein müsste, ohne jedes Vorwissen über ein Sprachsystem diese aus der
Beobachtung der Sprachphänomene zu erschließen.”
Entdeckungsprozeduren, Texteinheiten, minimale Paare
(307p34)
Entdeckungsprozeduren sollen die in einem Korpus enthaltenen Regeln “ganz
mechanisch” entdecken, geleitet von der “Idee, dass man die Regeln, denen ein
Text gehorcht, aus der Verteilung der Texteinheiten und ihrer Umgebungen entdecken könne. Dementsprechend besteht eine Teilprozedur darin, die Texteinheiten festzustellen und deren Umgebungen zu bestimmen. Diese werden sodann
zu so genannten minimalen Paaren geordnet, die wiederum hinsichtlich Bedeutungsgleichheit überprüft werden. Aus diesem Verfahren ... ergeben sich
schließlich Klassifikationen, in denen sich die Regelmäßigkeiten der Zuordnung
von sprachlichen Elementen in Texten niederschlagen.” vgl (57)
Entdeckungsprozeduren: eher eine Fiktion!
(307p35)
Sancta simplicitas!
Obwohl es naheläge, gebe es noch keine Automatisierung außer im Bereich der
Phonologie!
Üblich sei ein Trial’n’Error-Verfahren: der Linguist rät “aufgrund seiner sprachlichen Kompetenz” Regeln, setzt diese in Prozeduren um und wende sie dann auf
“große Textkorpora” an, um sie zu verifizieren.
Auch in der modernen Computerlinguistik “werden reine Entdeckungsprozeduren,mitdenensprachlicheRegularitätenerstaufgedecktwerdensollen,nurselten
betrachtet; man setzt vielmehr das Vorwissen des Menschen ein, um mittels
Grammatiken in Korpora die darin vermuteten Regularitäten zu beschreiben.”
Außer für ganz triviale Fälle ergeben sich ernste berechnungstheoretische Probleme für
die ‘unüberwachte’ Gewinnung solcher Regeln. Die Automatisierung stößt aus prinzipielle Grenzen!
Segmentierung von Texten
(307p36-37)
(307p37)
Grundproblem: Definition und Ermittlung sprachlicher Einheiten, genannt Segmente, z.B. Buchstaben, Silben, Morphe, Wortformen, Satzteile (‘Konstituenten’). Meist ziehe bei der Definition “unbewusstes Wissen über die Struktur von
Sprache heran”. p36 Je nach dieser Definition ergeben sich unterschiedliche Segmentierungen eines Textes.
Automatische Phonem-Segmentierung “illusorisch”; Spracherkennung nur auf
Wortebene möglich.
Kein Wunder – weil es akustischen Äquivalente zu (kontextfreien) Phonemen streng
genommen nicht gibt. Kontextabhängigkeit ist enorm. Vgl. meine Diplomarbeit zur
Dyadensynthesevon Sprache. – Ein Phonem ist also eher ein dynamisches Phänomen,
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LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3

Li-36
2000 Werner Schneider u.a.
keine eindeutige “invariante Form”, die Menschen “in sich gespeichert haben”, wie der
Text uns weismachen will!
Morphe und Morpheme
Die Wortform
(307p40)
zusammengesetzt
bestehe aus den sechs Morphen
zu-samm-en-ge-setz-t
Lemmatisierung
(307p41-42)
a) Homographie
Beispiel
b) Homonymie
Beispiel
“Jedes Morph hat nicht nur eine bestimmte Funktion für den Aufbau der Wortform (z.B. Präfix, Stamm, Suffix, Endung), sondern auch eine semantische Funktion,aufgrundderenes,zusammenmitanderenMorphen,dieWortbedeutungbestimmt.
Ketten sprachlicher Phänomene können in Morphe zerlegt werden, weil der
Mensch, wie im Fall der Laute, in seinem sprachlichen Wissen über Muster
verfügt, die man Morpheme nennt und die durch diese Morphe repräsentiert werden. Diese sind im Gedächtnis gespeichert und erlauben uns, bei konkreten
sprachlichen Phänomenen deren einzelne Bauelemente zu erkennen.
In der strukturalistischen Literaturik wird das Morphem als die kleinste bedeutungstragende Einheit definiert.
Die RückführungeinerWortformaufdieGrundform(Lemma=Wörterbucheintrag) heißt Lemmatisierung; p42 diese erfordert in zwei Fällen Kontext-Auswertung:
Wortform kann auf zwei verschiedene Grundformen rückgeführt werden:
BEGRIFFEN → DER BEGRIFF oder BEGREIFEN
Wortform führt auf Grundform, die mehr als eine Bedeutung hat:
DES SCHLOSSES → SCHLOSS → ‘Gebäude’ oder ‘Schließvorrichtung’
Syntaktische Regeln und Strukturbeschreibung
(307p42-43)
Wortformen werden nach ‘syntaktischen Regeln’ zu Satzteilen (Konstituenten)
zusammengefügt. p43 Diese werden anhand von Segmentklassen (z.B Substantiv,
Verb usw.) formuliert:
(307p43)
“Die Zerlegung eines konkreten Textes in Satzglieder wird dann nicht auf der
Ebene der Wortformen entschieden, sondern auf der Ebene von Klassennamen,
die an die Stelle der Wortformen treten und die sich zu funktionalen Einheiten zusammenschließen lassen.”
Eine solche Art Segmentierung heißt Strukturbeschreibung.
Klassifikation
Klassifikation ist “die Zuordnung von in einem Korpus gefundenen Segmenten zu
(307p44)
einer bestimmten Klasse unter definierten Gesichtspunkten” wie “die Zuordnung
von Wortklassen zu Textwortformen oder die Angabe einer Satzteilbeschreibung
zu einer Kette von Wörtern”.
Fiktive Distributionsanalyse mit Entdeckungsprozeduren
“Nach klassisch strukturalistischer Methode werden Klassen durch eine Untersuchung der Distribution (Verteilung) eines potenziellen Segments in den Umgebungen, in denen es in einem Korpus vorkommt, gewonnen... In der sprachwissenschaftlichen Praxis jedoch hat man diese Verfahren kaum angewandt, sondern
sich fast ausschließlich von pragmatischen oder plausiblen Segmentdefinitionen
oder Klassifikationen leiten lassen. Von den auf dieser Basis konstruierten Grammatiken nimmt man an, dass sie die tatsächlichen grammatischen Regularitäten
beschreiben.”
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Li-37
2000 Werner Schneider u.a.
Segmentierung und Klassifikation – noch einmal Henne und Ei (442p1)
(307p45)
Grammatik
(307p46)
(307
p46-47)
Segmentierung und Klassifikation seien nicht voneinander zu trennen. “Denn um
eineKlassezuordnenzukönnen,musszunächstdasSegmentermitteltwerden.Ob
aber eine Zeichenfolge in einem Korpus als Textsegment aufgefasst werden kann,
hängt davon ab, ob es einer Klasse zugeordnet werden kann, d.h. ob es in Texten
eine bestimmte Funktion ausübt. Die Funktion eines Segments wird jedoch nicht
von außersprachlichen Kriterien bestimmt, sondern von der Sprache selbst,
nämlich durch die Beziehungen, in denen das betreffende Segment im Sprachsystem anzutreffen ist.”
“Die Menge der Ersetzungsregeln, mit denen man ... die Strukturen der Sätze
einer Sprache beschreiben kann, nennt man die Grammatik einer Sprache.”
Phasenstrukturgrammatik:
Dependenzgrammatik:
schrittweise (vorzugsweise binäre)
Zerlegung in Satzglieder:
Bestimmung von Abhängigkeiten etwa
zwischenVerbes und Nominalgruppen:
S
S
NP
Sprache lebt
(307p47)
V
VP
NP1 NP2 NP3
Die Beschreibung eines Sprachsystems sei im Grunde aber eine Konstruktion.
“Das, was in einer Grammatik beschrieben wird, gibt immer nur einen vergangenen Zustand der Sprache wieder, niemals den aktuellen, der allein durch das
Sprachsystem im Sprachbenutzer repräsentiert wird. Das Sprachssystem ist also
im Grunde eine kognitive Größe. Wir können hier auch von sprachlichem Wissen
sprechen.”
Auch noch diese instrumentelle Auffassung ist artifiziell und höchst fragwürdig. Vgl.
ausführliche Diskussion in (439)!
Sprachliches Zeichen und Bedeutung
(307p48)
DeSaussuredefiniertdassprachlicheZeichenals“EinheitvonBeziehungundBezeichnetem (signifiant und signifié)”. “In der strukturalistischen Linguistik führte
dies zu der Konsequenz, dass für Grapheme, Phoneme, Morpheme Beziehungsfunktionen angenommen werden, die mit Hilfe bestimmter Merkmale definiert
werden.
Für die sprachliche Einheit ‘Wort’ wird das Bezeichnete meist ‘Bedeutung’ genannt. Was Bedeutung von Wörtern ist und wie sie zu bestimmen ist, darüber gab
es allerdings in der Geschichte der Sprachwissenschaft unterschiedlichste Theorien.
Vorherrschend ... ist die Auffassung, dass die Bedeutung von Wörtern eine Größe
außerhalb der Sprache selbst sei. Diese Auffassung stützt sich auf die Tatsache,
dass Wörter sich offenkundig meist auf Außersprachliches, auf Gegenstände und
Sachverhalte, beziehen.
Sprachliches und referenzielles Wissen
In den letzten Jahren hat aber gerade das Bestreben nach einer Algorithmisierung
sprachlichen Handelns zu einer Präzisierung dieser Auffassung geführt, und zwar
durch die experimentelle Simulation von sprachlichen Prozessen in der Linguisti-
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
Li-38
2000 Werner Schneider u.a.
schen Datenverarbeitung und der Künstlichen Intelligenz und durch die damit
neue Definition des Wissensbegriffs.”
Man unterscheidet nämlich jetzt sprachliches und referenzielles Wissen; mit dem
ersten erkenne der Mensch “sprachliche Phänomene hinsichtlich ihrer sprachlichenStruktur”,daszweitesei“Hintergrundwissen,daserbeiderProduktionvon
Sprache heranzieht”.
(307p48-49)
Konsequenz der instrumentalistischen Sprachauffassung, wie diese etwas artifiziell!
Morphische und syntaktische Regeln, morphologische, syntaktische und semantische Eigenschaften von Wörtern; algorithmisch zu implementieren, p49 “so dass
größere Sprachkorpora explizit beschrieben werden können”.
Einzelne Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse, Vorgehensweisen; wird zur
Auflösung von Mehrdeutigkeiten eingesetzt.
sprachlich
referenziell
Den Autoren ist klar, dass hier eigentlich das “Pferd vom Schwanz aufgezäumt”
(439p152) werden muss, weil diese Trennung reichlich künstlich ist:
“Da Sprache und Wissenserschließung nicht voneinander getrennt werden
können, weil Sprache das Medium ist, durch Menschen einander Wissen vermittelnundsichWissenerschließen,bedarfesimmerderAufschlüsselungdessprachlichen Wissens, um das referenzielle Wissen zu erschließen.”
Der Begriff des Wissens in diesem Sinne habe vor allem in amerikanischen K.I.Publikationen den der Bedeutung praktisch abgelöst.
Textzubereitungen
(307p68-69)
(307p90)
KWIC
KWOC
Lemmatisierung
(307p94)
(307p95)
Wortfugen
(307p169)
Allerdings in der begrifflichen Engführung “Wissen ist das, worauf wissensbasierte Systeme basieren”!
Horizontaltext: Text in seiner üblichen Form.
Vertikaltext: Nach Wortformen zerlegter Text; dabei sind die Wortformen mit
Angaben über Text-Ort (Zeile, Segmentnummer) versehen
Konkordanz
Key Word In Context: Stichworte linksbündig untereinander, davor zeilenfüllend
die Worte-davor, dahinter zeilenfüllend die Worte-dahinter.
Key Word Out of Context: Stichwort, danach Textausschnitt mit dem Stichwort
Graphem = Lautzeichen (s,ch,sch,...)
Morphologische Analyse:
(1) Derivationsmorphologie: Wortableitungen
(2) Flexionsmorphologie: Veränderung von Wortformen zum Ausdruck syntaktischer Funktionen
Kombination von Wortformen:
a) Bedeutungsvariation durch Affixe
b) Ableitung anderer Wortklassen
c) Bedeutungsvariation durch Verbindung zweier Inhaltswörter
a) und b) = Derivation; c) = Komposition
dazu im Deutschen Stammveränderung (rot → röten)
Dekombination nennt man erwartungsgemäß die Umkehrung:
– Liste von Affixen (Suffixe, Präfixe) zur Isolation des Kernmorphems
– Problem bei Kombinationen von Kernmorphemen
– beliebter Retter aus der Not: Kernmorphem-Lexikon
– hoffnungslose Fälle: Er-drücken oder Erd-rücken?
1 WE häufig 5 WA häufig – WE häufig
2 WE selten 6 WA häufig – WE selten
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Li-39
2000 Werner Schneider u.a.
3 WA häufig 7 WA selten – WE häufig
4 WA selten 8 WA selten – WE selten
p96
(307 )
Nicht-lexikalische Ermittlung von Wortfugen auf statistischer Grundlage
CGEM
Cluster von Graphemen für Ende von Morphemen
CGAM
Cluster von Graphemen für Anfang von Morphemen
Bereits Zwei-Graphem-Cluster (Digramme) zeigen eine “statistisch signifikante
Verteilung” und verhindern bereits Blumento-Pferde.
p97
(307 )
Wortformenbezogene und satzbezogene Lemmatisierung
lexikongestützte und morphologische Lemmatisierung
(1) Identifikationsteil zur Bestimmung der Wortklasse bzw. des Wortstamms
(2) Deflexions- oder Zuweisungsteil zur Generierung der Grundform
Zwei Strategien zur Identifikation von Stamm und Endung:
(1) longest matching: beginne mit möglichst langer Graphemfolge als Stamm,
(307p98)
verkürze ggf.
(2) shortest matching: beginne mit möglichst kurzer Graphemfolge, verlängere ggf.
(1) ist sicherer, (2) ist effizienter
Im Deutschen 52 Flexionssuffixe, 11 Fugenmorpheme, repräsentiert durch 11 Graphemfolgen:
<null>, –a, –e, –em, –(e)n, –ien, –(e)ns, –(e)nd, –er, –(e)s, –(e)st, –s
⇒ kombinatorische Ausbeute unbefriedigend
Ausweg: Wortbildungsmorpheme einbeziehen:
–heit, –keit, –erei, –ig, –ung, –lich, –isch
Lexiken
(1) Vollformenlexikon (idiotensicher, aber sehr umfangreich)
(2) Stammlexikon
(307p99)
Vollständige und eindeutige Lemmatisierung erfordert bei allen Verfahren syntaktische Analyse, dh. Bestimmung der Satzstruktur
Diese setzt wiederum die Lemmatisierung voraus – wunderschöner Zirkel.
(307p100)
Existierende Lemmatisierungs-Komponenten: CONDOR, LEMMA2:
Wortformenbezogen mit kleinen Vollformenlexikon + Stammlexikon mit geschlossenen* Wortklassen + ggf. hochfrequente unregelmäßige Wortformen.
Einfache Satzkontextanalyse.
*
im Gegensatz zu offenen Wortklassen wie Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb
Deskriptive Grammatik
= Dokumentation des Inventars und des Regelsystems einer durch einen Korpus
(307p100-101)
repräsentierten Sprache; enthält Wortschatz und Listen der übrigen sprachlichen
Einheiten und die grammatischen Regeln zur Verknüpfung dieser Einheiten.
Unterschied zur präskriptiven (normativen) Grammatik, welche zur Produktion
korrekter Sätze dient. Die Dudengrammatik hat “gewisse normative Funktion,
obwohl es eine offizielle Sprachnormierung nicht gibt.”
Typische sprachliche Einheiten:
NP
Nominalphrase = Kette von
WKS
Wortklassensymbolen, wie etwa
SU
Substantiv
Bedeutung
Demonstrativpronomen + Begleiter
PP
Präposition
PK
Konjunktion
AD
Adjektiv.
VE
Verb.
AufsolchenEinheitenstützensichmehrstufigeErsetzungsregelnzumAufbauimmer komplexerer NP (mit Artikel/Pronomen, Kombination mit Produktion usw.)
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LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3

Li-40
2000 Werner Schneider u.a.
Analyse durch Bottom-Up-Algorithmus, ausgehend von einer Kette von Terminalsymbolen
Parsing, Strukturbeschreibung
(307p106)
“Elektronische Syntaxanalyse” = automatische syntaktische Strukturbeschreibung.
⇒ Explizite Darstellung der Abhängigkeiten im Satz und Klassifikation der Satzteile
Terminale Kette = Folge der Wortformen eines Textes
(307p107)
Präterminale Kette = Kette der Terminalsymbole = Folge der Klassennamen
und Merkmale.
Parser = Algorithmus zur Zerlegung von Säzen in ihre Konstituenten
⇒ regelgesteuerte Automaten zur Produktion einer Strukturbeschreibung aus vorgegebenen Sätzen
p108
(1) top down
(2) bottom up.
(307 )
(307p113)
Existierende Software: Großrechnerpakete wie LDVLIB, OXFORD CONCORDANCE PROGRAMME
(307p104)
(307p109)
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LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3

Li-41
2000 Werner Schneider u.a.
Die Herausforderung der Computerlinguistik (439)
Die Probleme Gläubigen, wenn der Messias wirklich kommt ... wenn das eigene Maschinen-Paradigma in Form einer realen Maschine inkarniert und einem realen Praxistest unterworfen wird...
Literatur
Zeitschriften
Adressen
Computational Linguistics; LDV-Forum
Verbundprojekt WissenschaftSBErkenntnis
Universität des Saarlandes
FR 10 Informatik IV
Im Stadtwald 15
66nnn Saarbrücken
IBM Deutschland GmbH
Scientific Center
Institute for Knowledge Based Systems (IKSB)
Postfach 800880
70nnn Stuttgart
Definition und Geschichte
60er
70-80er
“Linguistische DV” (LDV) Konstruktion von Wörterbüchern und Thesauren;
die ehrgeizigere, prozedural denkende Computerlinguistik.
Computerisierbarkeit wird zum Maß für Grammatiktheorien.
Die definitorischen Grenzen der Disziplin fließen: Nachbarschaft und Überlappung zu K.I.-Forschung, Psychologie, Kognitionswissenschaft.
Computerlinguistik als Spiegel unserer durchtechnisierten Lebenswelt
(439p11)
(439p11-12)
“DiesBuchlädtdazuein,einmaldenAtemanzuhalten.Wirwolleneinmalzurücktreten und das, was unter dem Namen Computerlinguistik betrieben wird, von der
Seite anschauen – nicht, um uns mit Grausen abzuwenden, sondern um zu verstehen, was wir da machen. ‘Was gesehen werden soll, muss vor uns gedreht werden’
(Bloch 1975). Anschauen, was wir da machen? Wieso wir? Weil Computerlinguistik ein gewachsener Teil unserer gemeinsamen Kultur ist. Computerlinguistik
setzt alte abendländische Grundhaltungen fort. Wenn wir das begreifen, können
wir uns, wo nötig, vielleicht davon lösen.
Computerlinguistik sagt weniger über Sprache als vielmehr über unsere Vorstellungen von Sprache. Computerlinguistik fußt auf einem bestimmten Bild von
Sprache, das in Wissenschaft und Alltag gleichermaßen verbreitet ist. Oft stellt
man sich Sprache wie ein Werkzeug vor, das wie ein Gegenstand herumliegt, bis
einBenutzerkommtundeszueinembestimmtenZweckanwendet...Man p12 führt
sie irgendwie mit sich im Kopfe, und wenn ein Problem auftaucht, zieht man die
sprachlichen Stücke und redet, bis das Problem gelöst ist, bis die oder der andere
das tut, was ich will, bis er mich so versteht, dass ich zufrieden bin. Wer so denkt,
denktvomIndividuumher.DerEinzelnesiehtsichanderenIndividuengegenüber
und benutzt das Instrument Sprache, um Kontakt herzustellen und sich abzugrenzen. ‘Sprache’ wird hier zu einem bestimmten Zweck ‘verwendet’.
Eben das kann man in einer technischen Welt nachbauen: Instrumente zur Erfüllung vorausgesetzter Zwecke. Das strebt die Computerlinguistik für die Sprache an. Stets geht es um die möglichst genaue Beschreibung eines oft wiederkehrenden Problems und die Erfindung einer Technik zu seiner Lösung.
Tatsächlich kommen solche Fälle im wirklichen Leben oft vor... Wo derart schematische Umgangsweisen freilich vorherrschen, sind sie Anzeichen einer blinden,
lauten, eingeschränkten Lebensweise, die mit Herrschaft, Aggression und Zerstörung einhergeht.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3

Li-42
2000 Werner Schneider u.a.
Schaut und vor allem hört man genau hin, so entdeckt man mehr. Wieso ist
Sprache vor den Individuen da und nur intersubjektiviv? Wieso ändern wir sie unablässig? Wie schaffen wir es, trotz aller verbindlicher Regeln von Fall zu Fall, von
Situation zu Situation, uns auf Neues einzulassen, Neues zu sagen und Altes auf
neue Weise? Sprache dient unserer Verständigung in einer viel umfassenderen als
bloß instrumentellen Sinne. Sprechen heißt einander verständigen, sich aufeinander einlassen, sich auseinandersetzen. Ohne Verständigung keine Tradition und
keingesellschaftlichesLeben.SolcheVerständigungkanntechnischnichtnachgebaut, sondern an bestimmten Punkten bestenfalls unterstützt werden.”
p13
“ComputerkönnendieWiederholungdesimmerGleichenrationalisieren.Leider
(439 )
benutzen wir Technik insgesamt und also auch Computer oft dazu, die anarchisch
produktive Vielfalt des Lebens gleichartigen Schemata zu unterwerfen, so dass
der einzelne Fall hinter dem allgemeinen Verfahren verschwindet.
Das scheint mir ein Grundzug moderner Zivilisation zu sein, den wir an computerlinguistischen Denkweisen im Kleinformat ablesen können. Quid rides? Mutato
nomine de te fabula narratur! (Horaz) ...
Ichmöchtedazueinladen,dasswirFreundederTechnikwerden,unddasgehtnur,
indem wir Menschenfreunde werden, Erkenntnis und Technik nicht aggressiv gegen unsere Lebensgrundlagen richten, sondern so einrichten, dass sie uns dabei
helfen können, unsere Lebensweise menschlicher zu gestalten.”
Geisteswissenschaft und Technik
Eine Neustellung der alten Frage nach dem Verhältnis von Geisteswissenschaft
(439p20)
undTechnik:wieweitkönnemanmenschlicheSpracheundKommunikationüberhaupt technisch nachbauen? “Denn Computer können genausowenig selbst sprechen, wie ein Plattenspieler Beethovens Violinkonzert selbst aufführt. Doch gut
programmierte Rechner, um im Bild zu bleiben, folgen nicht einfach einer ein für
allemalvorgegebenenRille,sondernerzeugenofteineneigenen,nichtseltenauch
noch nie begangenen Weg. Allerdings tun sie das, indem sie eindeutigen Regeln
folgen, die ihnen vorgegeben wurden, unter Umständen auch solchen Regeln, die
sie selbst aus jenen vorgegebenen Regeln abgeleitet haben. Anders als beim Menschen handelt es sich aber um fixe Regeln, denen man strikt folgen muss. Computer können sich nicht entscheiden, gegen die Regeln zu verstoßen, und sie können
ihre Regeln nicht intersubjektiv aushandeln.
Maschinenarbeiten,grobgesagt,unfreier,beschränkter,eindeutigerundstrenger
alsMenschen.Fehlerbeispielsweise,schlampigesSprechen,nachdenklicheRedeweise, Ungenauigkeit, Doppeldeutigkeit, Hintersinn, Ironie, zwischen den Zeilen
etwas mitteilen, all das kommt in menschlicher Kommunikation ständig vor, gilt
dem Computerlinguisten aber nicht als Normalfall, sondern als ganz besondere
Schwierigkeit, vor der man sich eher drückt (das ist in der Linguistik überhaupt
nicht anders).
Es ist natürlich ein sehr interessanter Ansatzpunkt, darüber nachzudenken, was da
beim Menschen wirklich anders ist. Das nach wie vor herrschende kausalmechanistische Weltbild lässt keinen freien Willen zu, und für die wissenschaftlichen Hartnasen
reduziert sich alles auf den Grad der Komplexität. Dinge geschehen entweder aufgrund
von Logik oder aufgrund von quantenmechanischem Zufall. Wir müssen noch nicht
einmal letzteren bemühen, seitdem wir das determistische Chaos kennen; und es ist
natürlich technisch überhaupt kein Problem, dem Rechner entweder über die Quantenmechanik oder noch einfacher über deterministisches Chaos Wahlmöglichkeiten
zu beschaffen.
Man sollte mit der Menschlichkeit vorsichtig, ganz vorsichtig umgehen und sich hüten,
sie an derartigen prinzipiellen Unterscheidungen, die nur allzu leicht aufgeweicht werden können, festzumachen.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3
Wissensbasierung
(439p25)
(439p25-26)
XXX

Li-43
2000 Werner Schneider u.a.
Wissensbasierung–symbolischeDarstellungvonWeltwissen –unterscheidetK.I.Forschung von reiner Informationsverarbeitung:
“K.I.-Forschung ...unterscheidetsichvonklassischenAnsätzenvorallemauchdadurch,dasssiekognitiveProzessenichtnuralsinformationverarbeitende,sondern
auch als wissensbasierte Prozesse ansieht. Wege, Art und Ergebnis der Informationsflüsse werden also weitgehend von Kontrollwissen gesteuert, das vorab schon
bereitliegt und sich weiter verändert als Wissen über allgemeine Beziehungen in
der Welt, über bestimmte Sachverhalte und über einzelne Erfahrungen. Denken
wir etwa daran, wie verschiedene menschen eine gleiche Situation unterschiedlich
wahrnehmen und unterschiedlich mit ihr umgehen, je nach kulturellem Hintergrund, Vorwissen und Lebenserfahrung. Über die Denkweisen der K.I. rückt also
einwichtigerAspektindenBlickpunkt,dendieklassischeLinguistikausklammerte: Wissen über die Welt im Gegensatz zu Wissen über die Sprache. Wie Weltwissen und sprachliches Wissen sich zueinander verhalten, ist eine ebenso schwierige
wie spannende philosophische Frage, die angesichts der technischen Zwecke leider meist allzu pragmatisch oder gar nicht bedacht wird.
Überhaupt setzen meistens die technisch orientierten Anwendungsinteressen von
Computerlinguistik und sprachorientierter K.I.-Forschung den klassischen Geisteswissenschaften ein paar Läuse in den Pelz. Alte Paradigmen (Erklärungsmuster)wanken.EtablierteDisziplingrenzenverlierenanordnenderundeinengender
Kraft. Geisteswissenschaften neigten immer schon dazu, ihre Geburt aus gesellschaftlichen Bedürfnissen zu verleugnen und lieber in weltfernen Theoriegebäuden einzuschlafen. Diesmal klopft die alte Verpflichtung auf Praxisbezug auf unerwartete Weise an die Tür des Elfenbeinturms, nämlich technisch-apparativ vermittelt. p26 Und auf einmal gruppieren sich die alten geisteswissenschaftlichen
Themen nach neuen Ordnungen. Neue Magnetfelder wollen an die Stelle der alten treten.
Wie immer die neuen Ordnungen aussehen werden, die Hauptorientierung ist dabei, sich gründlich zu verändern. War im 19. JH das einigende Band ein wie auch
immerverstandenerphilosophischerBegriffvon‘Geist’,soistesheuteeinäußerer
Zweck,nämlichdietechnischeSimulationgeistigerLeistungen.IndieserFluchtlinie saugen Computerlinguistik und sprchorientierte K.I.-Forschung tendenziell
den gesamten Bereich dessen auf, was auf irgendeine Weise mit Wahrnehmung,
Denken, Sprache, Sprechen und Kommunikation zu tun hat – kurz: den gesamten
Bereich der klassischen Geisteswissenschaften ohne die Künste. Denn die maschinelle Simulation des menschlichen Sprachverhaltens ‘lässt sich nicht isoliert
von anderen Bereichen der Wahrnehmung, von der Akquisition, Repräsentation
und Verarbeitung von Wissen über die Lebenswelt und von den verschiedenen
Formen der Schlussfolgerung bearbeiten. Erwerb und Gebrauch der Sprache sind
integrale Bestandteile des sozialen Handlungszusammenhangs’ (Görz 1989). In
einer idealen Einführung in Computerlinguistik und sprachorientierte K.I.-Forschung stünden mathematische und logische Formalismen neben sprachphilosophischen und psychologischen Problemen, sämtliche Gebiete der Linguistik,
Kommunikationswissenschaft und Nachbardisziplinen kämen vor, und zwar alles
in unmittelbarer Nachbarschaft zur technisch-informatischen Problemen der maschinellen Rekonstruktion geistiger Fähigkeiten.”
Forschungsgebiete der Computerlinguistik (439p27)
1) mensch-Maschine-Kommunikation: Anwenderbilder und Maschinenmodelle
2) Wissenrepresentation: maschinengerechte Nutzung und Weiterverarbeitung von
‘Weltwissen’
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
LINGUISTIK 15.10.2000 Version 6.3

Li-44
2000 Werner Schneider u.a.
3) Analyse / Synthese von Texten: Parser, synthetische Grammatik
4) Architektur ‘natürlich’-sprachlicher Systeme
5) Entwurf spezieller natürlichsprachlicher Systeme: Dialoge, ExpertensystemSchnittstellen, Übersetzung, Textanalyse und -erzeugung
6) Evaluation geplanter oder fertiger Systeme.
Problembereiche der Computerlinguistik
–
–
–
–
–
–
–
menschliche Sprachkompetenz und ihre Formalisierbarkeit
Erkennung von Sprachschall
Unterschiede zwischen Hören und Lesen
Aktivitäten beim Textverständnis bei mensch bzw. Maschine
Rolle des Vorwissens bzw. der Repräsentation im Rechner
Explizite und implizite Übermittlung; alltägliche Schlussregeln
Klassifikation von Sprachhandlungen (Voraussage, Scheinfrage, Argumentation); wie erkennen wir z.B. einen Vorschlag?
Curriculum der Computerlinguistik (439p29)
Linguist
empirischemethoden,deskriptive,quantitative,strukturelle,logischeEigenschaften der Sprache;
Phonetik, Phonologie, Morphologie, Lexikologie, Syntax, Semantik, Pragmatik,
konkurrierende Grammatiktheorien.
Algebra, Grafentheorie, formale Logik, Modelltheorie, Grundlagen der Statistik,
Rechnerarchitektur, Betriebssysteme, Programmiersprachen, Compilerbau, Algorithmentheorie, Datenstrukturen, Software Engineering;
Formale Sprachen, Automatentheorie, Komplexitätstheorie, Informations- und
Datenbanksysteme, Problemlösungsverfahren, Software-Validierung.
Gute Kenntnisse und hohes Reflexionsniveau bzgl. wissenschafter, bildungs- und
gesellschaftspolitischer Probleme computerorientierten Arbeitens.
möglich an 20 Hochschulen als Haupt- oder Nebenfach in Informatik oder Linguistik (Diplom, Magister)
Informatik
Allgemein
Studium
Lexikalisch-syntaktische Analyse (439p40-41)
Analyse
Ergebnis
–
–
–
–
–
–
–
–
Lemmatisierung (Rückführung der Wortform auf Grundform)
Kontraktion diskontinuierlicher Konstituenten (schätzt ... ein → einschätzen)
Expansion kontrahierter Formen (im → in dem)
Streichen von Füllwörtern (Partikeln)
mehrwortlexeme durch ein Wort darstellen an Hand eines ‘Syntagmenlexikons’
Extraktion grammatischer Information
Lexikoninformation verfügbar machen; evtl Synonymisierungspfade abschreiten
falls nicht eindeutig, disambiguieren und Analyse so oft wiederholen, bis Gesamtergebnis stimmig
⇒ Kette von Satzbestandteilen, denen jeweils eine menge grammatisch-semantischer Information zugeordnet ist.
z.B. ‘Wie’ erwartet Adjektiv, Adverb oder Verb. Verb liefert via Kasusrektionen ‘Valenzen’; auszufüllende Leerstellen im Satz
Stimulation der Linguistik durch die Computerlinguistik
(439p32)
“Die lebendigsten Dikussionen finden auf Gebieten statt, die von der klassischen
Systemlinguistik vernachlässigt oder gar nicht gesehen wurden. dazu zählen insbesondere die Behandlung satzübergreifender Zusammenhänge, von Diskursinterpretation und automatischer Texterzeugung, von Wechselbeziehungen zwischen
semantischenundpragmatischenAspektenmenschlichenSprachgebrauchssowie
des Zusammenhangs des Wissen über die Sprache und Wissen über die Welt.”
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1.
2.
3.
4.
5.
(439p33)
(439p44)
(439p44-45)
2000 Werner Schneider u.a.
“Den Wissenschaften, die sich mit menschlicher Sprache beschäftigen, liefert der
Versuch, menschliche Sprachfähigkeiten auf Computern zu simulieren, eine forschungsleitendes Paradigma (im Sinne von Kuhn), das einerseits
einigeMängelundGrenzenherkömmlicherMethodenundDenkweisenaufzeigt,
einer Reihe alter sprachwissenschaftlicher Probleme in einem neuen Licht
erscheinen lässt,
viele vernachlässigte oder unbeachtete Aspekte menschlicher Sprechtätigkeit
stärker in den Vordergrund rückt, andererseits aber
z.T. auch nur modische Verschiebungen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit
ausdrückt und vor allem
neue Einengungen im Blick auf Sprache mit sich bringt, die leicht zur dogmatischen Blindheit führen können. Die Karten werden sozusagen neu gemischt und
man muss höllisch aufpassen, dass nicht eine Denkweise unter der Hand zum Joker wird, der die anderen sticht.”
Hausregel: “Je kleiner der Anspruch, desto größer die tatsächliche Leistungsfähigkeit” und “Je standardisierter der von Menschen erzeugte oder erwartete
Text, desto erfolgreicher die maschinelle Simulation. Kein verfügbares Programmsystem erfasst oder simuliert auch nur annähernd die Fülle menschlicher
Produktivität im Umgang mit Sprache. Die Eigenarten der Maschine stehen oft
quer zu den menschlichen Gewohnheiten beim Sprechen.”
“Wissenschaft hat eine besondere Art, Geschichten über die Menschen und ihre
Umgebung zu erzählen. So und so stellen wir uns die Welt vor. Mythos, Religion,
Aberglaube, Kunst, Belletristik, Regenbogenpresse – alle liefern mehr oder weniger zusammenhängende Kollektionen von Weltverständnis. Auf ihre Weise tun
dies auch die Wissenschaften. Sie sind heute besonders angesehen. Viele glauben
an ihre objektive Wahrheit, Unbestechlichkeit, Autorität, Genauigkeit, Erklärungs- und Vorhersagekraft. Das birgt Gefahr. Wissen ist Macht, weiß der Volksmund, und Foucault: (K34) der Wille zur Wahrheit neigt in unserer Gesellschaft
dazu, ‘auf die anderen Diskurse’ Druck und Zwang auszuüben, oder mit Karl
Kraus: ‘Die Wissenschaft überbrückt nicht die Abgründe des Denkens, sie steht
bloß als Warnungstafel davor. Die Zuwiderhandelnden haben es sich selbst zuzuschreiben.’
Wissenschaft ist eine furchterregende Institution. Als einzige von allen WelterklärungsweisenhatsiedenZweifeldiszipliniertundinsicheingebaut.Solässtman
sich immer wieder von ihr einsaugen; je disziplinierter man arbeitet, desto mehr.
Die Stärke eines Gelehrten besteht in der Einschränkung aller Zweifel auf sein
Spezialgebiet (Canetti 1988). Es ist schwer, Wissenschaft von außen zu befragen,
ohre Grenzen zu sehen und ihr Grenzen zu setzen. Gerade das aber ist nötig: ihre
Grenzen sehen und ihr Grenzen setzen. Sie vegetiert ja nicht im abgetrennten Elfenbeinturm, p45 sondern sie hat eine Machtposition und eine Funktion in unserer
Lebenswelt. Doch sie darf unseren Alltag nicht eigenmächtig überwuchern, also
mit Bourdieu (1989): ‘Man muss zu jeder wissenschaftlichen Beschreibung noch
eine Beschreibung der Grenzen der wissenschaftlichen Beschreibung fügen.’”
Von Kempelens Sprechmaschine – ein frühes Exempel
(439p50)

Li-45
Wolfgang von Kempelen zu seiner ‘Sprechmaschine’: “Man kann in einer Zeit von
drei Wochen eine bewundernswerte Fertigkeit im Spielen erlangen, besonders,
wenn man sich auf die lateinische, französische oder italienische Sprache verlegt;
denndieDeutscheistwegenderhäufigzusammenkommendenMitlautern,wegen
ihren Hochlauten und am Ende der Wörter so oft angebrachten stummen Buchstaben um sehr vieles schwerer. Ich spreche ein jedes italienisches oder französisches Wort, das man mir vorsagt, auf der Stelle nach; ein deutsches, etwas langes
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hingegen kostet mich immer Mühe und gerät mir nur selten ganz deutlich. Ganze
Redensarten kann ich nur wenige und kurze sagen, weil der Blasebalg nicht groß
genug ist, den erforderlichen Wind dazu herzugeben; z.B. vous etes mon ami, je
vous aime de tous mon coeur oder in der lateinischen Sprache leopoldus secundus
romanorum imperator semper augustus und dergl.”
“Soweit kam er und hoffte, wie jeder Ingenieur, auf nachfolgende Vervollkommnung seiner Erfindung: ‘Allein da einmal die ersten Schwierigkeiten eines solchen
Instrumentes überwunden sind, so wird es nur noch darauf ankommen, dasselbe
durch Zusätze und Verbesserungen der Vollkommenheit näher zu rücken.’”
p51
Um seinem Ziel näher zu kommen, setzt von Kempelen “wie in Technik und K.I.
(439 )
bis heute üblich, auf Nachahmung des Nichttechnischen. Empirische Beobachtung, Theoriebildung und Maschinenbau zeigen einander den Weg.”
v. Kempelen:
‘Um also in meinen Versuchen weiter fortzukommen, war vor allem nötig, das ehe
vollkommen zu kennen, was ich nachahmen wollte. Ich musste die Sprache förmlich studieren und neben meinen Versuchen auch immer die Natur zu Rat ziehen.
Daher ist meine Sprechmaschine und meine Theorie von der Sprache beständig
nebeneinander fortgeschritten und hat eine der anderen zur Wegweiserin gedienet.’
Erkenntnis und Simulation sind voneinander abhängig.
Am Ende ist unsere Technikwissenschaft also ziemlich fantasielos. Von den drei
kindlichen Aktivitäten, die Piaget Nachahmung, Spiel und Traum nennt, lebt nur
die erste: man findet etwas vor und baut es nach...
Physikalismus setzt die Wiederholbarkeit des immer Gleichen voraus.”
Von Kempelen könne als früher Vorläufer der Computerlinguistik aufgefasst
(439p52)
werden, und zwar “in siebenerlei Hinsicht:
1. Wissenschaftliche Erkenntnis lässt sich vom Ziel technischer Simulation leiten.
2. Das technische Ziel zieht einen instrumentellen Begriff von Sprache nach sich.
3. Man beginnt mit winzigen Anwendungsbereichen und hofft auf stetige Verbesserung, ohne das ursprüngliche Paradigma zu verlassen.
4. Menschliche Fähigkeiten werden nur soweit bedacht, wie sie technisch simuliert
werden können.
5. Man ist in dem Maße zufrieden, wie die Maschine technisch funktioniert.
6. Inwieweit diese Funktionsweise in das gesellschaftliche Leben hineinspielt, davon
abhängt und es verändert, steht außerhalb des Interesses.
7. Diese sechs Denkweisen werden nicht offen reflektiert, sondern sie wirken als inhärenter Dogmatismus, als eine kulturelle Selbstverständlichkeit.”
Der naive Rationalismusdes lingustische Elementarbaukasten
(439p60)
Einfache Grundlage des rationalistischen Weltbildes ist die Wiederholbarkeit des
immergleichen: “Was sich gleichbleibt, ist beherrschbar und reproduzierbar. Diese strategische, konstruktivistische [?] Weltauffassung verkörpern wir in unseren
Maschinen und lassen uns durch deren Effizienz darin bestätigen... Allein materieller Verfall wirkt als Störung; doch sein identischer Plan, die eingebaute Idee,
sein Programm, ist mit anderer Materie jederzeit reproduzierbar. So beweisen wir
inMaschinendieIdentität derimmergleichen(durchausauchsehrkomplizierten,
kaum überschaubaren) Funktionsweise, und nach dem Vorbild dessen, was wir
technischgebauthaben,stellenwirunsdanndieganzeWeltvor.Identität(wassich
immer gleich bleibt) wird in der materiellen Wirklichkeit erwartet. In der Maschine kann man sie nachbauen.
p60-61
(439
)
Nun passt diese Vorstellung von der technischen Reproduzierbarkeit der Welt exakt zur ... instrumentalistischen Sprachauffassung. Es sind zwei Seiten derselben
Medaille: Identisches kann wiederholt werden, einmal technisch-materiell, ein-
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mal geistig-symbolisch. Wie das zusammenpasst, p61 wird in der KorrespondenztheoriederSprachedargelegt.DingeundSachverhaltederWeltfindeninAusdrucken und Sätzen der Sprache ihre eindeutige Entsprechung. Die Bedeutungen der
Wörter und Sätze stehen fest, sind unabhängig von ihrem Verwendungszusammenhang mit sich identisch...
Technik und Sprachtheorie arbeiten also Hand in Hand. Wir sahen das schon am
einfachenFalldesWolfgangvonKempelen.ErwarkeinskurrilerSonderling,sondern ein repräsentativer Träger der vorherrschenden abendländischen Tradition.
Nur Wiederholbares kann reproduziert werden; das setzt der Begriff der Identität
voraus. Sprache stellt man sich als ein vorab bereitliegendes Instrument zur ÜbertragungvonInformationenvor,dieesnacheindeutigenundfeststehendenRegeln
aus letzten Endes immer gleichen, kleinsten Einheiten zusammenzusetzen gilt.
Eben diesen Vorgang kann man technisch nachbauen. Computerlinguistik ist
abendländisch-rationalistische Sprachwissenschaft in der ihr angemessenen modernen technischen Realisierung.
Der Identitätsdenker als Hinterweltler
Tun wir noch einen letzten Schritt diskutieren die Grundlagen des Identitätsbegriffs. Weder Technik noch Philosophie kommen ohne ihn aus. Technisch
realisiert finden wir im immer gleichen Ablauf der Maschine, im Programm (z.B.
des jacquardschen Webstuhls). In mathematischer Denkweise heißt das Gleiche
Algorithmus, das formale(und damit als wesentlich gedachte) Gerüst des immer
gleichen Ablaufs, und philosophisch lässt sich Identität nicht ohne Idee denken, als
gäbe esetwashinter,unter,jenseitsderDinge,einblassesWesen,dasmanvonden
farbenprächtigen und wechselvollen Erscheinungen wie ein Häutchen oder
Häuchlein ablösen könnte: die unveränderliche Seele, das Einfache.
Methodische Manichäismus
(439p61-62)
All diese Denkweisen beruhen auf einem abstrakten Gedankenschritt. Man sieht
vonetwasab,um dahinter etwaserahnenzukönnen.DersichtbareWechsel(Heraklit) gilt als flüchtig und nebensächlich. Jenseits werden letzte unveränderliche
Einheiten oder eine letzte Einheit p62 behauptet (Parmenides), je nach Denkzusammenhang natürlich verschiedene, von semantischen Merkmalen über logische
FunktorenbiszuIdeenundGott.UnsereDenkweltwirdinzweiReicheaufgespalten: hier das abstrakte Vorbild, dort die mangelhafte Wirklichkeit, hier der vollkommenePlan, dort die Widerstände gegenseineRealisierung,hierdieuniversell
gültigen Regeln, dort die zahllosen Sonderfälle, hier das überschaubare Modell,
dort das tatsächliche Durcheinander, hier das ‘reine’ Ideal, dort die ‘schmutzige’
Realität (Waschmittelreklame aktiviert diese Denktradition sehr sinnlich), und
hier das technisch Beherrschbare, dort der widerspenstige Alltag.
Gründlichdamit gebrochen hat Ludwig Wittgenstein.(565) Er wirft das Denken in
Ideen, Abstraktionen und Identitäten so radikal über Bord, wie es vorher nur
Heinrich Heines ‘Eidechsen von Lucca’ getan haben, und er zeigt im selben, langen Argumentationsgang, dass Regeln nicht unabhängig von ihrer Verwendung
existieren und dass wir sie in ihrem Gebrauch verändern. Außerhalb ihrer Anwendungen können wir nicht über sie verfügen. Wenn wir also die menschliche Sprache in ihrer ‘bunten Bedeutsamkeit’ (Heine) sprechen und verstehen wollen, so
müssen wir uns in die lebendige, reale, stets veränderliche Situation begeben.
Eben das können Computer nicht. Weil sie Instrumente sind, kann Sprache mit
ihnen auch nur auf instrumentelle Weise verwendet werden. Werkzeuge verkörpern ja abstraktes technisches Wissen; sprachfähige Computer sind verkörperte Abstraktionen von menschlichem Regelwissen. Es wartet auf seine Anwendung, ohne sich in der Anwendung grundsätzlich ändern zu können. Die Ge-
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Görtz:
NB
(439p63)
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brauchsweisemussvorabeindeutigfestgelegtsein.M.a.W.:Sprachfähigkeitenlassen sich nur soweit ins Werkzeug einbauen, wie man sie als vollständig überschaubar und also beherrschbar unterstellt. Von allem anderen muss abgesehen werden.”
‘Abstraktion ist das entscheidende Mittel zur Reduktion der Komplexität des
sprachlichen Verarbeitungsproblems.’
So wird Klarheit geschaffen.
Vorsicht. So paradox das klingt: Computer kann man nicht-algorithmisch programmieren, sozusagen metagrammieren. Die aufgezeigten Unterschiede sind in unserer
Computerkultur tatsächlich vorhanden, wobei der Ton aber auf Kultur liegt, nicht auf
Computer. Entgegen der landläufigen Hermeneutik sind Computer mehr als ein Instrument, nämlich ein regelrechtes Medium, dem ein gewisses Eigenleben, eine Entwicklung, eine Geschichte, eine quasi-autonome Teilhabe am Leben, zukommt – ganz
wie Schrift, Sprache, Literatur ...
M.a.W.: die aufgezeigten Einschränkungen sind weder technisch noch gar prinzipiell,
sondern vor allem kulturell bedingt. Computer sind die Inkarnation des Rationalismus, die ultimate Maschine – daher benutzen wir ihn auch so, ohne zu sehen, dass er
den Rationalismus sehr wohl zu transzendieren sich anschickt.
Miller, Galanter, Pribram bemerken: ‘Aus der Geschichte geht hervor, dass der
Mensch sozusagen alles bauen kann, was er sich klar vorstellen kann.’
... aber auch Vieles – und mir scheint, das meiste – was er sich nicht klar vorstellen
kann! Das Bauwerk überrascht den Baumeister. Der Zauberlehrling staunt. Die
Schöpfungen gewinnen ein Eigenleben.
(439p96)
Saussure
“Die vorherrschende Linie abendländischer Wissenschaft beginnt ihre Arbeit
stets mit Definition. Definieren heißt aus wirklichen Zusammenhängen ausgrenzen, für rationale Arbeit eingrenzen, intellektuelle, methodische, technischem
Zugriff verfügbar machen. Aus der scheinbar chaotischen, undurchdringlichen
Lebenswelt in die selbst strukturierte Welt der Bücher und Labore holen, beherrschbar machen...
Die GeschichtedermodernenLinguistik,sosagtman,beginntmitSaussure.Saussure, so wie er überliefert und verstanden wurde, beginnt mit einer Definition. Die
menschliche Rede (language) ‘als Ganzes genommen’, so stellt er fest , ‘ist
vielförmig und ungleichartig’. Man kann sie nicht einordnen, ‘weil man nicht weiß,
wie ihre Einheit abzuleiten sei’. Dem Identitätsdenker ist Vielfalt lästig. So klammert er etwas ein und anderes aus. Die Sprache (langue) ist ‘ein Ganzes in sich und
ein Prinzip der Klassifikation’. Nur diese – also die grammatische Form der Sprache im Gegensatz zu ihren Gebrauchsweisen (parole) – erklärt er für untersuchenswert und entwirft dafür in der Tat umwälzende Gedanken, nämlich die
Grundlagen des Strukturalismus.
Eingrenzung erzeugt Klarheit an einer Stelle und Blindheit dem ausgegrenzten
gegenüber.
Kognitive Unschärferelation
(439p97)
Chomsky:
“Je strenger die Definition, desto schärfer das Schlaglicht der Erkenntnis und die
Dunkelheitjenseits.Eindeutiger,kompromissloserundfürdiegegenwärtigeLage
derLinguistikfolgenschwereralsSaussurebegannChomsky.DurcheinenAktder
Willkür beschließt er, Sprache (language) als eine begrenzte oder unbegrenzte
Menge von endlichen Sätzen aufzufassen, die aus einer begrenzten Menge von
Elementen erzeugt wurden.”
‘From now on i will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences,
each finite in length and constructed out of a finite set of elements.’
“In dieser Tradition und gerade auch unter dem Einfluss computerorientierten
Denkens sind zahlreiche moderne Grammatiktheorien entwickelt und variiert
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Russell (K43p88f)
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worden, die die Grammatik menschlicher Sprachen wie einen mathematischen
Produktionsmechanismusauffassen und die man dementsprechend gut in der Rechenmaschine realisieren kann.”
“Die rein mathematische Zurichtung des Sprachbegriffs (so nützlich sie auch für
bestimmte, begrenzte Zwecke sein mag) isoliert Sprache hingegen von der Funktion, die sie beim Sprechen hat. Mathematisierung des Sprachbegriffs dient der
Modernisierung derjenigen sprachwissenschaftlichen Denkweise, die die Form
der Sprache unabhängig von ihrer Rolle für die Sprecher beschreibt und letztere
auch für irrelevant hält. Wer freilich, wie der Computerlinguist, menschliche
Sprachfähigkeit und sprachliche Kommunikation so authentisch wie möglich maschinell nachbauen p98 will, muss auch die Unregelmäßigkeit, Situationsabhängigkeit, Unvorhersehbarkeit, Spontaneität, Flexibilität und Unvollkommenheit oder
auch Fehlerhaftigkeit menschlicher Texte beachten.”
‘Die Welt des Seins ist unveränderlich, starr, exakt. Sie ist die Freude des Mathematikers, des Logikers, des Erbauers metaphysischer Systeme und all derer, die
die Vollkommenheit mehr lieben als das Leben.
Die Welt der Existenz ist etwas Fließendes, Vages, ohne scharf umrissene Grenzen, ohne klaren Plan und Anordnung; aber sie enthält ... alles, was für den Wert
des Lebens und der Welt von Bedeutung ist.’
“In Falle der Computerlinguistik setzt sich die List der Vernunft dann doch hinterrücks durch. Sprachliche Kommunikation ist zu widerspenstig, als dass sie logisch-mathematisch eingefangen werden könnte, ‘zu ungleichförmig und ungleichartig’ [Saussure], als dass sie sich maschinell erfolgreich und restlos rekonstruieren ließe. Die angestrebte Simulation klappt immer wieder auf ganz bestimmten Feldern für ganz begrenzte Sprachspiele, bei natürlichsprachlichen Systemen etwa innerhalb strikt eingegrenzter Anwendungsbereiche wie Telefonauskunft, Hotelzimmerreservierung u.ä.”
Computerlinguistik als Wünschelrute für ungelöste sprachwissenschaftliche Aufgaben
(439p99)
(439p100)
Li-49
“Wo etwas nicht klappt, wo die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine
nicht so reibungslos verläuft, wie der Programmierer das erwartet hatte, sitzt irgendwo der Wurm drin, und dann gibt es zwei Wege. Entweder kann man versuchen, das Modell an den entsprechenden Stellen zu flicken und immer wieder zu
flicken..., oder man kann die Künstlichkeit des gesamten Ansatzes anerkennen
und die Grenzen seiner Anwendbarkeit eindeutig herausstellen.”
“Menschen befinden sich stets in wechselnden Situationen und sind Routinen
stetsnurvorübergehendunterworfen.Siewechselnsie,durchbrechensieundhandeln oft auch unroutiniert. Immer wenn sie sich nicht so verhalten, wie das maschinell vorgesehen ist, wird die Kommunikation leer (der Benutzer empfindet sie als
öd und langweilig) oder bricht zusammen...
Wir könnten das produktiv wenden und mit Schleiermacher [Hermeneutik und
Kritik, 1938] ‘das Missverstehen’ für den Anfang der Hermeneutik halten. Damit
hätten wir uns freilich auf eine sehr tiefe Ebene begeben und betrachteten den
Menschen schon wie eine Maschine. Schleiermacher zufolge hat jede Rede eine
zweifache Beziehung, nämlich ‘auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers’. Die erste nennt er das grammatische Moment, die
zweite das psychologische. Das Verstehen sei ein ‘Ineinandersein’ beider Momente. Wir stellen nun fest, dass im Computer im Wesentlichen das ersteMoment
dargestellt werden kann, das zweite allerdings höchst ausschnittweise und künstlich.”
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IndieserDenkartdesfrühen19.JahrhundertsspiegelnsichbereitseinigeAspekte
von Wittgenstein. p101 Sprachspiele seien abhängig von den Lebensformen, und
eine Sprache vorstellen hieße, sich eine Lebensform vorstellen. (565)
“Sprachspiele aber sind heterogen, vielfältig, unvorhersehbar. Es gibt darin keine
‘Identität’. Das Sprachspiel: ‘Es steht da wie unser Leben’ – nicht begründet, weder vernünftig noch unvernünftig. (K16) Unser Leben aber (das ‘ganze Leben’
nach Schleiermacher) ist nicht mathematisierbar. Die ‘Gesamtheit der Umgebungen’ jedes einzelnen Sprechers ist nicht maschinell darstellbar; algorithmisch geleitetes Verhalten im Alltag ist ein Sonderfall unter vielen anderen Verhaltensweisen.”
(439p100-101)
Aber: der Computer als transzendente Maschine
Lemmatisierung
(439p105)
(439p106)
–
–
Diesalles gilt fürdenrealherrschenden‘algorithmischenAnsatz’.Esgibtaberdarüberhinaus führende Ansätze wie den korrelativen oder holografischen oder wie auch immer man es nennen will. Zweifellos ist ein Computer eine Maschine, ja geradezu die
perfekte Maschine; aber er ist auch prinzipiell und praktisch mehr als eine Maschine.
Er ist die Maschine, die sich selbst übersteigen kann und damit der Anfang vom Ende
der Maschinenzeit.
Mit Hilfe morphologischer Regeln “werden flektierte Formen auf Grundformen
zurückgeführt (lemmatisiert) und zugehörige sprachsystematische Eigenschaften
(Wortartenzugehörigkeit, grammatische und semantische Merkmale) werden
erkannt”. Ausgangspunkt dieser Analyse: die kleinsten bedeutungstragenden
Einheiten, Morpheme.
Der Strukturalist begreife lexikalische Bedeutung typischerweise “als eine Menge
innersprachlicher Unterschiede (semantischer Merkmale). Die Bedeutung der
Wörter ... ergibt sich aus der Menge ihrer Unterschiede zu anderen Wörtern...
Diese auf den innern systematischen Aufbau der Sprache fixierte Sicht reicht nun
nicht hin, um menschliche Verständigung zu beschreiben. Verstehen ist nicht allein über systematische Bedeutungen vermittelt. Diese im Grunde triviale Tatsachetritt offen zu Tage, wenn man menschlicheKommunikationtechnischsimulieren will. Nehmen wir diesen kleinen Dialog:
Schon wieder fallen mir die Blätter einzeln entgegen.
Dann musst du eben mal mehr Geld anlegen.
Selbst wenn man wüsste, dass von Taschenbüchern die Rede ist, wäre das Gespräch aufgrund von innersprachlichem Wissen nicht verständlich. Den zweiten
Teil könnte man auch nicht als Antwort auf den ersten maschinell erzeugen.
Man kann dies nicht algorithmisch, also maschinell im engeren Sinne; aber bei Verzicht auf Eindeutigkeit (Wiederholbarkeit pipapo) kann man dies sehr wohl, einschließlich Geistreicheleien wie ‘Tscha, so ist das geht das halt mit den Sommerbüchern im Herbst.’
(439p107)
Deshalb benutzt die K.I.-Orientierung außer Wissen über die Sprache auch Wissen über die Welt.”
“Nun wird das Weltwissen gewöhnlich nicht punktuell beim einzelnen Wort abgespeichert.VielmehrwerdendiesprachlichenEinträgeumgekehrtineinwohlorganisiertesunddynamischesNetzenzyklopädischenWissenseingehängt,dasvielfältige Beziehungen auch zwischen den Begriffen darzustellen erlaubt. In solchen
Netzmodellen wird nicht die Organisation der Sprache, sondern die Struktur von
WissenüberdieWeltdargestellt,seiesfüreinentechnischenZweck,seiesfüreine
empirische Abbildung des menschlichen Gedächtnisses. Netze sind Mengen von
Knoten(Wissenseinheiten),diedurchKanten(Verweise)miteinanderverbunden
sind. Im einfachsten Fall gibt es zwei Arten von Knoten, nämlich Konzepte und
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Eigenschaften, und zwei Arten von Kanten, nämlich is_a und has_prop. is_a
stellt eine Beziehung zwischen Teilklasse und Oberklasse dar. has_prop ordnet
Konzepten Eigenschaften zu.”
“Semantische Netzwerke gelten als einzelsprachunabhängig. Man will Wissen
(439p108-109)
über die Welt und nicht über Wortbedeutungen darstellen. Tatsächlich wird dieses Wissen in zwischenmenschlicher Kommunikation implizit benutzt, und deshalb muss es der Maschine zur Verfügung p109 stehen, wenn sie natürliche Sprache
erzeugen oder verstehen soll.”
Die ultimate Metasprache
“Wie verhalten sich sprachliches und enzyklopädisches Wissen zueinander, und
wie wird dieses allgemeine Wissen im Text aktuell verwendet? Grundsätzlich sei
die Trennung zwischen sprachlichem und enzyklopädischem Wissen fragwürdig.
Wir könnten unser Weltwissen gar nicht sprachunabhängig darstellen, selbst in
höchstformalisiertenWissensrepräsentationsspracheen(z.B.KL1,LLelog)istdie
letzte Metasprache immer noch unsere natürliche Alltagssprache. Wir menschlichen Subjekte sind die Interpreten, und wir erzeugen und verstehen Bedeutungen
in lebendigen kulturellen Zusammenhängen. Wissensrepräsentationen, zu welch
wohldefinierten technischen Zwecken sie immer gut sind, nähren die abbildtheoretische Vorstellung, dass Welt und Sprache letzten Endes und regelgerecht aufeinander bezogen werden können. Dabei wird die Welt so modelliert, als bestehe
sie aus identifizierbaren Gegenständen mit wohldefinierten Eigenschaften”.
In dieser Elementarbaukastenwelt kulminiere die rationalistische Denkweise.
(439p110)
“Wiesooft,führtauchhierdasjungecomputerlinguistischeInteressealteingefahrene linguistische Denkweisen schnell an ihre Grenzen und übersteigt sie, richtet
sich in den neueroberten, früher tabuisierten Zonen aber auf althergebrachte
Weisewiederein.WurdedortdieIdentitätundRegelmaßimsprachlichenSystem
gesucht, so hier im System des Wissens. Die technische Absicht stellt alte Fragen
neu und schließt sie auf anderer Ebene so gleich auf alte Weise wieder zu. Wer es
wagte, kulturelles und sprachliches Wissen aus gleicher Wurzel zu erklären,
nämlich aus dynamischer gesellschaftlicher Interaktion, der wäre gezwungen, auf
wissenschaftliche Weise zu tun, was Alltagsindividuen immer schon können,
nämlich Identitäten und Regeln interaktiv immer wieder ad hoc umzumodeln.
Das aber übersteigt maschinelle Möglichkeiten, weil Maschinen nicht in kulturellen Zusammenhängen leben. Sie leben gar nicht.”
*
Wir dürfen unterstellen, dass es hier nicht um einen biologischen Lebensbegriff geht; in
diesem Sinne bleiben Computer weit vom Lebendigsein. K.L. ist nicht Leben, K.I. ist
nicht Intelligenz. Hier klaffen Welten!
Wenn wir aber Leben metaphorisch verstehen – im Sinne von lebender Sprache oder
lebendiger Tradition – dann können wir diese ohne weiteres auch auf Computer anwenden, ab da nämlich, wo sie mehr sind als nur Maschinen, sagen wir mal vorläufig:
ab da, wo sie Super-Maschinen* sind.
Also: Vorsicht. Keine falsche Sicherheit. Sprache lebt durch die meen; Computer werden dies auch, in ähnlichem Sinne; und der kulturelle Zusammenhang ist am Entstehen ...
Manche selbsternannnten Sprachwächter halten Bildungen mit ‘super’ für einen Elativ. (Missverständnis Super-GAU als arabeske Steigerung von GAU). Es ist aber eher
ein Exzessiv, ein Überschreitungs-Modus. Der Super-GAU ist größer als der größte angenommene (und beherrschbare) Unfall; die Super-Maschine übersteigt die Limitationen der Maschine. Aber vielleicht ist super wg. ssssuppper nicht mehr zu gebrauchen...
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Computerorientierte Syntaxentwicklungen unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von den traditionellen:
“SieachtenmehrauftechnischeEffizienzdesProgrammsalsaufformaleReinheit
der Theorie. Quick & dirty heißt das Motto. Hauptsache, das Programm leistet,
was es leisten soll. Im Gegensatz zum Linguisten scheut der Programmierer sich
nicht, allerlei Stücke aus verschiedenen theoretischen Zusammenhängen zu kombinieren...
Darüber hinaus unterliegen sie ungleich strengeren empirischen Tests. Den traditionellen Linguisten dient fast nur die vermeintliche Kompetenz des idealen Sprechers als Prüfinstanz für die Richtigkeit seiner Theorie, und in der Praxis ist das
meist nur die Intuition des einen Wissenschaftlers selbst... Der sucht sich natürlich
die Beispiele aus, die zu seiner Theorie passen, und umgekehrt. Das intuitiv empirische Verfahren der Linguisten neigt zu einer petitio principii: man illustriert die
Richtigkeit der Theorie mit einigen empirisch korrekten Beispielsätzen, die auch
zur Beschreibung des Modells passen, und kümmert sich nicht um die anderen.
Eine maschinell implementierte Syntax hingegen soll grundsätzlich alle Sätze
nach richtig und falsch unterscheiden.”
“Testete man computerlinguistische Parsingalgorithmen gründlich aus, so hätte
da eine enorme disziplinierende Kraft für die bisher empirisch sehr freihändige
Theorieentwicklung der Linguisten.”
“So nehme man einen beliebigen Ausschnitt eines beliebigen grammatischen
Lehrbuches,setztseineRegelnineinProlog-Programmum,dasdannSätzeerzeugen oder analysieren soll. Die Ergebnisse werden gerade in den Feinheiten und
Details, auf die es im Alltag ankommt, hinten und vorne nicht stimmen, weil die
Lehrbuchregeln auch innerhalb des eingegrenzten Rahmens unvollständig
waren.”
Zweierlei Konsequenzen: Entweder sind die grammatischen Theorien noch nicht
perfekt, “oder aber das Ziel der vollständigen und widerspruchsfreien Beschreibung der Grammatik natürlicher Sprachen ist eine Fiktion, die am Charakter
natürlichsprachlicher Grammatiken vorbeigeht. Es könnte ja sein, dass die grammatischen Regeln natürlicher Sprachen ständig in Bewegung sind, sich aneinander reiben, voller Widersprüche stecken.”
“Vielleicht kann das althergebrachte Ziel wissenschaftlicher Grammatik grundsätzlich nicht erreicht werden, nämlich die Grammatik vollständig vor Augen zu
haben. Wittgenstein (565) sagt: ‘Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen.’ Sein imaginärer Gegenredner wendet ein: ‘Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit.’ Wenn
Wittgensteindann eine ‘übersichtliche Darstellung’ fordert, dann gerade nicht ein
widerspruchsfreies System, sondern im Gegenteil ein Verständnis der Art und
Weise, wie wir uns in unseren Regeln verfangen. ‘Die fundamentale Tatsache ist
hier, dass wir Regeln, eine Technik für ein Spiel festlegen und dass es dann, wenn
wir den Regeln folgen, nicht zugeht, wie wir angenommen hatten.’ Wir folgen Regeln, aber sie sind ständig im Fluss, sie bilden kein System, und wir können sie uns
jeweils nur partiell vor Augen führen.
Wir können noch nicht einmal ein System von Regeln der Regeln finden, etwa
UniversalienderSprachveränderung.HermannPaulversuchtedas,alserinseiner
Sprachgeschichte nach ‘den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich
sich entwickelnden Objektes’ fragte. Auch er war ein Identitätsdenker. Er suchte
nach ‘den allem Wechsel gleichmäßig vorhandenen Faktoren’.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
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2000 Werner Schneider u.a.
Syntax und Pragmatik
(439p119)
“Die Grenzen zwischen Syntax, die Normen beschreibt, und Pragmatik, die deren
Anwendung beschreibt, sind künstlich gezogen. Das mag für bestimmte Zwecke
seinenSinnhaben;dochwernatürlichenSprachgebrauchnachbauenwillundSyntax von Pragmatik trennt, wird nur sehr künstlich wirkende Texte erhalten von der
agricola art-Art, wie man sie eben auch als Beispielsätze aus grammatischen Lehrbüchern kennt. Kurzum: mit der strikten Trennung zwischen ‘richtig’ und ‘nicht
dergrammatischenNormentsprechend’tauchendiebekanntenProblemeauf;die
klinisch reine Realisierung einer unterstellten, mit sich identischen Norm wirkt
künstlich und abgehoben, wenn man sie, wie jeder Nichtlinguist, an gewöhnlichen,
stets variierendem Sprachgebrauch misst. Umgekehrt: in der sprachlichen Wirklichkeit kommen oft Äußerungen vor, die der Linguist nicht zuließe und die den
Computer verwirren würden.”
Semantik und Pragmatik
(439p120)
(K21p125)
Bedeutung
“All das zur Beweglichkeit der Syntax Gesagte gilt nun noch mehr für die Semantik.”
“Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks existiert nicht unabhängig von seiner kommunikativen Funktion, seinem Sitz im Leben.”
“Computer haben keinen eigenen ‘Sitz im Leben’. Wir können sie zwar so dressieren, wie den Elefanten, der scheinbar bis fünf zählen kann; er reagiert auf einen
verborgenenReizdesDompteurs,erweißnichtsvon‘Fünf’;dochihrenSinnerhalten Sprachspiele mit Computern erst durch menschliche Interpretation, dadurch,
dass wir ihnen erst einen bestimmten Sitz in unserem Leben zuweisen; welchen,
das hängt von uns ab.”
verstanden als “Berechnung über symbolische Repräsentationen”. Technisch
Kognition
orientierte Auffassung geistiger Prozesse. Zentrierung auf das Instrument “Computer” – lebendige Metapher, höchst lebendig, fürwahr... methodenzentrierte
Forschung at its best.
Naive Semantik(Kathleen Dahlgren)
(439p125)
Die naive Semantik (K20) “wurde für einen konkreten Anwendungszweck entworfen. Aus großen Mengen von Zeitungsartikeln sollen automatisch diejenigen
ausgesucht werden, die zu definierten Interessensgebieten bestimmter Leser passen.
(439p125-126)
Der theoretische Ansatz der naiven Semantik sieht von vornherein keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen enzyklopädischem Wissen und lexikalischer Semantik. Wortbedeutungungen können als Teilmengen von Alltagswissen (commonsense knowledge) dargestellt werden. Dieses wiederum besteht aus naiven,
teilweise vagen und ungenauen Annahmen über die Welt. Wortbedeutungungen
sind prototypische Beschreibungen von Klassen von Objekten. Statt also nach
kleinsten linguistischen oder psychologischen Elementen von Bedeutung zu suchen,sollendienaiven Commonsense-Theorienbeschriebenwerden,dieüblicherweise jeweils mit Wörtern assoziiert werden. Anders gesagt: Wörter sind Namen
von Konzepten, also von naivem Wissen, das Sprecher mit diesen Wörtern verbinden. Zum ‘Hemd’ gehört etwa, dass es wahrscheinlich (d.h., solange nicht p126 Gegenteiliges gesagt oder impliziert wird) Knöpfe, einen Kragen, ein Vorderteil,
einen Rücken, zwei Ärmel etc. hat, meistens weiß ist, von Menschen getragen und
als warm und weich empfunden wird usw. (K20p31f)
Für die computerlinguistische Modellierung soll derlei Wissen empirisch erkundet werden. Es braucht und soll nicht zu einemkohärentemSystemvereinheitlicht
werden. Um es aber doch möglichst geordnet und ökonomisch darstellen zu
(439p120)
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können, greift man in der Praxis für den Entwurf einer naiven Ontologie doch in
erheblichem Ausmaß auf mehr oder mindereinheitlicheklassifikatorischeTermini zurück, die sich stark an die althergebrachten philosophischen und lingusistischen Standards anlehnen (‘abstract’, ‘real’, ‘concrete’, ‘event’) und von denen
‘psychologische Evidenz’ behauptet wird. Ein Wort repräsentiert dann einen terminalen Knoten, der am Ende eines Pfades durch die hierarchisch geordnete Ontologie steht, z.B.:
(439p126)
(439p126)
XXX
1.
building SOCIAL_PLACE ← INDIVIDUAL & SOCIAL & STATIONARY & NONLIVING
wheat DOMESTIC_PLANT ← INDIVIDUAL & SOCIAL & STATIONARY & LIVING
“Die Wörter in Kapitälchen sind aber keine semantischen Primitive, aus denen
sichdieWortbedeutungenvollständigzusammensetzenwürden.Vielmehrdienen
sie der möglichst ökonomischen Anordnung allgemeinerer Teile des gesamten
naiven Wissens.
Die sprachtheoretische Grundlage der naiven Semantiktheorie ist erklärtermaßen realistisch. Danach dient Sprache dazu, sich über Realität zu unterhalten, und
Realität besteht aus stabilen (i.e. mit sich identischen) realen Objekten, die unabhängig von menschlicher Wahrnehmung existieren... Genau deshalb ist es, salopp
gesprochen,nichtsoschlimm,dassWortbedeutungenvageundungenausind.Letzten Endes referieren sie ja doch nur auf fixe Klassen von Objekten (im Fall von
Nomen) oder Ereignissen (das sind Relationen zwischen jenen Objekten im Falle
von Verben).
Die Naivität dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Fraglos unveränderliche Identität wird nicht in die Wortbedeutungen, sondern in die außersymbolische Wirklichkeitprojiziert. Die Realität besteht hier aus klaren und festen Elementen,aber
im Alltag haben wir eben doch nur etwas ungenaue Vorstellungen von ihnen.
Wortbedeutungen gelten demnach als wenig perfekte Abbilder der sprachunabhängig existierenden Objekte. Letzten Endes garantiert diese immanente Übersichtlichkeit der Welt, dass wir uns gegenseitig verstehen, und so brauchte Dahlgren sich nicht extra um eine möglichst logische Grammatik von Bedeutungselementen zu bemühen. Wortbedeutungen sind Kollektionen von Abbildern allerlei
Eigenschaften von Objekten.
Es ist klar, dass zumindest bis auf weiteres nur sehr kleine Teilmengen derartigen
‘naiven’ Wissens modelliert werden können. Dahlgren selbst weist auf das Massenproblem als ein vorläufiges hin. Doch können wir überhaupt das gesamte
menschlicher Alltagswissen auf Computern abbilden? Wie ist es empirisch zu erkunden?Wieschnellwandeltessich?(Beispiel:Computer1980vs.1990)Wiesehr
hängt es von spezifischen (subkulturellen) Kontexten ab (Beispiel Computer auf
derHightechmessevs.beiderBausparkassenberatung).Wiesehrauchvoneinzelnen Situationen – und: kann die maschinelle Verdopplung menschlichen Alltagswissens, selbst wenn sie technisch möglich wäre, überhaupt ein lohnenswertes Ziel
sein?WiemanchanderecomputerlinguistischeAnsatzistauchdienaiveSemantik
von Dahlgren für bestimmte, wohldefinierte Anwendungszwecke technisch begrenzt erfolgreich, taugt aber nicht für umfassende Modellierung von menschlicher Sprache und Kommunikation.”
Barwise/Perry, Allen, Dahlgren “gehen von verschiedenen Fragen aus und folgen
unterschiedlichen Wegen; aber sie teilen die typischen Ansichten der meisten
computerlinguistischen Ansätze:
Alle drei unterstellen irgendeine mehr oder minder genaue Korrespondenz von
objektiver Weltstruktur und symbolischer Wissensstruktur.
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(439p128)
2.
3.
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Alle drei suchen irgendwo invariante Einheiten als kleinste Bestandteile, sei es in
der nichtsymbolischen Wirklichkeit (Dahlgren), sei es in der Sprache (Allen), sei
es in den pragmatischen Kontexten/Situationen (Barwise/Perry).
Und alle drei folgen unter der Hand der Zwei-Reiche-Theorie; jeder arbeitet an
der selbsterzeugten Kluft zwischen rein Abstraktem und unrein Konkretem. Bei
Barwise/Perryerscheintsieals abstract vs. actual,beiAllenalskontextfreieSatzbedeutung vs. Kontextwissen und bei Dahlgren als eindeutige Realität vs. vages Alltagswissen.
Naiver Rationalismus
(439p128-129)
Textkohärenz
(439p130)
Alledreifolgen...dem...rationalistischenWeltverständnis.SiebeschreibenWirklichkeit so, als setze sie sich aus identifizierbaren Gegenständen mit wohldefinierten Eigenschaften zusammen, und als folge jede Bewegung (z.B. jede sprachliche
Äußerung) allgemeingültigen Regeln. Einzelfälle sind nur als wiederholte und
wiederholbare Realisierungen von vorab Gedachtem zugelassen. Sie müsse von
vornherein unter das vorab definierte Allgemeine subsummiert werden können;
und sie folgen dem entsprechenden rationalistischen Sprachverständnis, Sprache
bilde Wirklichkeit ab und diene zur Übertragung von Informationen (nicht etwa
zur Konstrukt ausgedachter Welten, zur Herstellung sozialer Zusammenhänge,
zur Ausübung von Macht etc).
So liefern alle drei Variationen über das dasselbe unlösbare Problem, nämlich
überdieGrenzenderSimulation.ErstdieIsolationmenschlicherSprachevonden
veränderlichen Bedingungen ihrer Verwendung erlaubt die technische Simulation menschlichen Sprachgebrauches...
Wie praktisch sämtliche computerlinguistische Versuche schlagen sich alle drei
Positionen also mit dem gleichen Problem herum, dass Menschen nämlich einander verstehen und missverstehen, obwohl sie die Regeln dafür während der Kommunikation sozusagen aushandeln, ohne sie klar vor Augen haben zu können. Die
Beziehung von Sätzen und Sachverhalten wird nicht unabhängig von Verwendungszusammenhängen in menschlichen p129 Lebensformen geregelt. Wittgenstein (565) zeigte, wie erst der besondere Gebrauch einer Regel in Situationen
SinnundVerstehenermöglicht.EbendieseGrundlagefürdieFlexibilitätmenschlicher Kommunikation kann technisch nicht nachgebaut werden; deshalb muss
technisch simulierte Kommunikation selbst in ihren raffiniertesten Versionen immer etwas Restringiertes, Künstliches, Primitives haben. Gerade in dieser Beschränktheit kann sie freilich – wie jedes technische Werkzeug – wohldefinierte
Zwecke u.U. effizienter erfüllen, als das ohne das Werkzeug möglich wäre.
menschliche Verständigung funktioniert aber nicht wie das maschinelle Konstrukt.”
a) Der innere Zusammenhang von Texten beruht auf pragmatischen und semantischenBedingungen.ErgehtausAbsichtenderSprecherundausmehroderweniger homogener Entwicklung ihrer Themen hervor. Was der menschliche Sprecher
im Alltag längst beherrscht, wirft für die Wissenschaft freilich eine schier unüberschaubare Problemen auf, die sämtliche Disziplingrenzen sprengen. Der ComputerlinguistundK.I.-ForscherhältsievorerstdadurcheinigermaßenunterKontrolle, dass seine Modelle jweils nur für einen oder mehrere sehr beschränkte und
wohldefinierte Weltausschnitte (Domänen) und Benutzungsmöglichkeiten gelten soll (z.B. Fahrplanauskunft, Hotelzimmerreservierung) ...
b) Die sprachlichen Einheiten, mit denen man sich explizit auf Vorgesagtes bzw. auf
noch zu Sagendes beziehen kann, heißen Anaphern bzw. Kataphern. Dazu gehört
beispielsweise das erste Wort dieses Satzes. ‘Dazu’, ein Proadverbial, zeigt auf die
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(439p131)
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zuvor erwähnte Menge der Anaphern bzw. Kataphern. dazu gehören auch alle
Pronomen; sie sind Stellvertreter für andern Orts genauer Bezeichnetes.”
“Die pragmatischen und semantischen Kohärenzbedingungen” folgen “nicht einfach sprachlichen Regeln”, sonder sie hängen “teils von kulturellen und subkulturellen Erwartungen und teils auch vom einzelnen Fall” ab.
Gegen alle Erwartungen hänge auch “die Grammatik der expliziten textexternen
Bezüge” nicht allein von innerlinguistischen Regeln ab.
Pragmatik als Residualkategorie
(439p134)
“PragmatikerscheintzunächstalsderPapierkorbderSprachwissenschaft.Alldas,
wasdieSystemlinguistiknichtuntersuchte,verbleibtalsFeldpragmalinguistischer
Betrachtungen. Das ist nun der tatsächliche Sprachgebrauch, Saussure zufolge
chaotisch, ungeregelt. Pragmalinguisten gehen der Frage nach, wie sprachliche
Regeln wirklich gebraucht werden. Auf diese Weise erkennen sie die missliche
Trennung zwischen (allgemeiner) Regel und (einzelner) Anwendung gerade an,
sozusagen vom anderen Ufer her. Der Systemlinguist soll das intuitive Regelwissen des (idealen) Sprechers notieren, und der Pragmalinguist dessen alltäglich beobachtbare Anwendung beschreiben. Da taucht nun die Frage auf: folgt der Gebrauchsprachlicher Regeln seinerseits Regeln (ist also das Gebiet der Grammatik
größer,alsmandachte),odermussjedereinzelneFall,jedeseinzelneSprechereignis, gesondert gewürdigt werden? Beide Wege werden verfolgt. Die Unterscheidung in regelmäßig und regellos wiederholt sich also bei der Untersuchung des
Sprachgebrauchs.”
Sprechhandlungen (illokutionäre Akte)
(439p135)
(439p135-136)
Diese Sprechakte sind nach Austin und Searle “die grundlegenden Einheiten
menschlicher Kommunikation... Die systematische Beschreibung solcher Sprechakte soll helfen, eine umfassende pragmatische Handlungstheorie zu begründen.”
Searle suche “univerale Regeln des Sprachgebrauchs” und “postuliert ... hinter allen sprachlichen Äußerungen eine ideale Sprache, deren universale Grammatik
formal dargestellt werden soll”, geht aber am Ende wieder nur von seiner privaten
Intuition aus “und nicht von der empirischen Beobachtung realen Sprachgebrauchs. Er ist Sprachphilosoph und nicht Empiriker. Er will aus der Sprache heraus, um ihre Regeln formulieren zu können. Seit Wittgenstein wissen wir, dass
eben das nicht möglich ist.”
Wir kommen immer wieder an denselben Punkt. Wir können Regeln formulieren
und dann programmieren. Der Computer, der ihnen folgt, spricht dann künstlich,
außerhalb von Situationen. Im natürlichen Sprachgebrauch dagegen folgen MenschennichtvorabfestgelegtenRegeln. p136 Computerkennensichschonaus,bevor
sie sprechen; Menschen oft nicht einmal hinterher.
Diesen Unterschied übersieht man in der Computerlinguistik gern. Betrachten
wir Cohen / Perrault (1979). Sie haben die Sprechakttheorie erstmals und sehr
einflussreich für computerlinguistische Anwendungen verfügbar gemacht. In
technischer Umkehrung der Maschinenmetapher fassen sie Menschen als die lebendige Form eines mathematisch-logischen Problemlösungsalgorithmus auf.
Ein menschlicher Problemlöser ... folgt einem vorab bereitgestellten Plan, der die
Reihenfolge der auszuführenden Handlungen festlegt. Diese Handlungen werden als Operatoren aufgefasst, für deren Modellierung Anwendbarkeitsbedingungen formuliert werden, nämlich Vorbedingungen, Art und Ergebnis des jeweiligen Handlungstyps. Diese Bedingungen hängen mit dem Weltmodell des
Problemlösers zusammen. Sprechakte sind demzufolge Operatoren, die vor allem
die wechselseitigen Bilder von Sprecher und Hörer beeinflussen.
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(439p137)
Metaphern
(439p146)
(439p146)
Bremer 1980:
(439p147-148)
Umberto Eco:
Kurz 1988:
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FüreinengbegrenztesFelddefinierenCohen / PerraultnunsolcheSprechakteals
Operatoren und entwerfen ein Planungssystem, innerhalb dessen sie funktionieren. Dazu gehören insbesondere eine formale Sprache zur Beschreibung von
Weltzuständen und eine Beschreibung der zugelassenen Pläne. Geht man dann
von einer Menge anfänglicher Überzeugungen und Ziele aus, so erzeugen die
Sprechaktoperatoren und Planungsinferenzen eben die Pläne, die ein Mensch unter den gleichen Bedingungen ausführen würde...
Auch hier treffen wir also auf das durchgängige Muster computerlinguistischer Simulationsmodelle. Der alltäglichen Realität wird ein idealisiertes, vorab zu definierendes Modell abstrakter Regelkompetenz zugrundegelegt, dessen Programm dann technisch abläuft. Wirklichkeit erscheint als die technische Ausführung formaler Modelle, der Mensch als informatische Maschine.”
Dazu kommt noch das Problem der zahlreichen, völlig als normal empfundenen
Regelverstöße ... Anakoluth, Versprecher. Alles in allem “könnte die Computerlinguistik mit der traditionellen, strikten Ausgrenzung der parole (Sprachgebrauch) gegenüber der langue (Sprachnorm) nicht ohne weiteres glücklich werden. Gerade wenn sich die Leistung natürlichsprachlicher Systeme möglichst wenig vom alltäglichen Sprachgebrauch unterscheiden soll, müsste jener rationalistische Unterschied zwischen reiner Lehre und alltäglicher Realität, zwischen (wesentlicher) Norm und (nachgeordneter) Anwendung, zwischen Identitätsdenken
und dem Blick aufs Einzelne aufgegeben werden. Dass es bisher aber nicht der
Fall. Wenn der Computerlinguist natürlichsprachliche Systeme für jedermanns
Gebrauch baut, pflegt er diese Unterscheidung grundsätzlich nachzuvollziehen
und nachträglich zu verwischen.”
Computerlinguisten gingen mehr oder weniger stillschweigend davon aus, “dass
maschinell analysierte bzw. erzeugte Texte wörtlich zu verstehen seien, ohne Hintersinn, nicht ironisch, nicht metaphorisch... Wie viele andere hat sich auch diese
vereinfachende Annahme nicht erst durch die beschränkten Sprachfertigkeiten
von Computern in die Sprachwissenschaft eingeschlichen. Vielmehr geht sie aus
dem ... rationalistisch-instrumentellen Sprachbegriff hervor, demzufolge Sprache
identifizierbare Einheiten der Realität abbildet und als Werkzeug zur Informationsvermittlung dient. Metaphern stö- ren da nur.”
“DiesprachlicheFormderMetapheruntergräbtdasnachSicherheitundOrdnung
strebende Identitätsdenken. Metaphern sind produktive Anarchisten der Sprache; sie artikulieren Erkenntnis, indem sie eingefahrene Regeln verwirren.”
“Man muss den Kontexthorizont einer Metapher kennen, um sie in ihrerErkenntnisleistung umfassen beurteilen zu können.”
Der Kontexthorizont sei abhängig vom Sitz um Leben und “unendlich groß, da
metaphorisch grundsätzlich zwei beliebiege Konzepte in einer Metapher aufeinander bezogen werden können. Man müsste also das gesamte kulturelle (enzyklopädische) Wissen einer Verstehensgemeinschaft computerlinguistisch modellieren – ein aussichtsloses Unterfangen.”
“Es gibt keinen Algorithmus für eine Metapher, und sie kann auch nicht mit Hilfe
eines Computers produziert werden, gleichgültig, welche Mengen organisierter
Informationen oder präziser Instruktionen ich eingebe. Der Erfolg einer Metapher ist eine Funktion des soziokulturellen Formats der Enzyklopädie des interpretierenden Subjektes.”
“Der ikonoklastische Versuch einer metaphernfreien Sprache muss scheitern.”
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Metaphern als Denknotwendigkeit:
Metaphern sind in der natürlichsprachlichen Rede also unentbehrlich, denn sie
entsprechenden “Prinzip jeglichen Denkens und Redens”, indem sie eine “Transaktion zwischen Kontexten” vornehmen.
Goodman (1973) “Eine Metapher ist eine Affäre zwischen einem Prädikat mit Vergangenheit und
einem Objekt, das sich unter Protest hingibt.”
Ricoeur 1986:
“Erst in der Erzeugung eines neuen Satzes in einem Akt unerhörter Prädizierung
entsteht die lebendige Metapher wie ein Funke, der beim Zusammenstoß zweier
bisher voneinander entfernter semantischer Felder aufblitzt.”
“Just diese lebendige Denkbewegung – schöpferischer Übergang von alt zu neu –
kann man maschinell zwar für jeden einzelnen Fall nachstellen, nicht aber grundsätzlich simulieren, denn sie schöpft ihre Kraft aus ihrem Sitz im Leben und nicht
aus einem autonomen Regelsystem.
Dieser Punkt wird auch sehr klar, wenn man den bisher anspruchsvollsten Versuch, Metaphern computerlinguistisch zu erfassen, kritisch liest. Way (1991) zeigt
überzeugend, wie konkurrierende Ansätze den Kern des metaphorischen Prozesses verfehlen. Und sie entwickelt ihren eigenen Weg... aus einer vergleichsweise sehr gründlichen Diskussion wichtiger Metapherntheorien.”
p148-149
)
Way modelliert Wissen in Typhierarchien, “also in Netzwerken von Begriffen, die
(439
wie in porphyrischen Bäumen p149 nach Allgemeinheitsgraden geordnet sind”.
Diese müssten aber dynamisch gestaltet werden, abhängig von Zeit und Kontext.
“Wenn nun der metaphorische Prozess ... das Grundprinzip des lebendigen Den(439p151)
kens und Sprechens überhaupt ist, so markieren die Grenzen maschinellen Umgangs mit Metaphern auch die Grenzen maschinellen Umgangs mit Sprache überhaupt.”
“Technisch in den Griff bekommen wir nur, was ohne unberechenbare Subjekte
funktioniert. Das trifft beim Sprechen freilich nur auf bestimmte, restringierte,
schematische Sprachspiele zu. Auf die sollte der Computerlinguist sich beschränken und stets die engen Grenzen seiner Modelle bewusst lassen. Ein aktiv
verstehender, um es zuletzt noch einmal in hermeneutischer Perspektive zu formulieren, ‘immer schon Horizont haben, um sich dergestalt in eine Situation setzen zu können; in diese andere Situation muss man sie selber gerade mitbringen’
[Gadamer] (K72p288).
Computer aber haben p152 kein ‘sich selber’, keinen eigenen Sitz im Leben, kein
(439p151-152)
Verständnis. Computerkommunikation funktioniert nur in einem künstlichen
Rahmen, nämlich soweit Situation und Kontext vorab eindeutig festgelegt wurden. Artificial intelligence is an artefact. Kommunikation mit Computern ist gekünstelt. Sprache ohne Metaphern ist tot.”
(439p152)
Groß u.a. (1986): “Die große Herausforderung der maschinellen Verarbeitung
natürlicher Sprache besteht darin, dass ein Text für sein Publikum viel eindeutiger
ist, als es seine einzelnen Teile sind, wenn man sie für sich betrachtet. Nicht ambigue Ganzheiten setzen sich nämlich aus Einzelteilen zusammen, die lexikalischgrammatisch oder referenziell jeweils mehr- oder vieldeutig sein können. Deshalb
muss ein sprachverarbeitendes System Mehrdeutigkeiten auflösen, und zwar dadurch,dassesdenKontextzuHilfenimmt,umausdeninLexikon,Grammatiku.a.
Systembestandteilen vorgesehen Möglichkeiten das aktuell Treffende auszuwählen.”
“Heißt das nicht das Pferd vom Schwanz aufzäumen? So geht der Linguist vor,
(439p152-153)
aber nicht der alltägliche Sprecher. Der Linguist will zu eindeutigen. methodisch
zuverlässigen Ergebnissen kommen. Zu diesem Zweck will er erst einmal Klarheit
in seinem unaufgeräumten, vielförmigem, ungleichartigen Gegenstand schaffen.
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NB
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Ertrenntdie‘grammatische’vonder‘psychologischen’Seite.ErtrenntdieSprachform vom Sprachgebrauch und sucht notfalls auch noch im Sprachgebrauch nach
möglichst eindeutigen Regeln für die Anwendung der grammatischen Regeln. Er
sucht nach p153 Identität, nach einer begrenzten Menge von Elementen, aus der
nacheindeutigenRegelneineunbegrenzteMengeendlicherSätzeerzeugtwerden
kann. Er hat den Menschen schon als sprechende Maschine gedacht, als es noch
keine sprechenden Maschinen gab.
Der menschliche Sprecher hat gar keinen Überblick über seine Sprache und
braucht ihn auch nicht. Weder sind ihm die grammatischen Regeln klar, denen er
folgt,... nochsiehtersichüberhauptdenkbarenMehrdeutigkeitengegenüber(von
interessanten Ausnahmen abgesehen). Denn er wendet nicht ein System von
Möglichkeiten an, sondern er spricht im Zusammenhang seines Lebens, also des
gesellschaftlichen Lebens. Wie eine sprachliche Äußerung zu verstehen sei, geht
nicht aus ihrem Text hervor, sondern aus der Art seiner Verwendung in der Situation.
Was bedeutet ‘Zeig mal’?
1. Zeige mir das Ding, das du da in der Hand hältst.
2. Gib her!
3. Zeige bitte auf die richtige Stelle auf dieser Landkarte, an der die Hauptstadt von
Honduras eingetragen ist – wir sprachen ja gerade darüber!
4. Ich wüsste gerne, wie man diesen Computer bedient.
5. Führ mir doch mal vor, ob du einen Klimmzug kannst.
6. So heißt das Aufklärungsbuch für Kinder, nach dessen Titel du mich gerade fragtest.
7. Dieses Buch möchte ich gerne kaufen.
8. Ich bin Kontrolleur und glaube nicht, dass du einen Busfahrschein gekauft hast.
9. Ich nenne dir diesen Satz als Beispiel für einen elliptischen Imperativsatz.
10. Ja, es gibt einen Satz ohne explizites Subjekt. Hier ist ein Beispiel.
11. Ah – Sie lesen gerade Ihre Gehaltsabrechnung. Wieviel verdienen Sie denn?
Und so weiter. Die Menge der Möglichkeiten ist unbegrenzt und unüberschaubar.
(Es ist sinnlos, von ‘allen Möglichkeiten’ zu sprechen.) So steht es mit jedem Satz.
Einmal ins Meer der Sprachspiele geworfen, wird er quicklebendig. Eben noch
Chamäleon, gleich schon Elefant im Porzellanladen... Ambigue erscheint der Satz
nur, wenn man ihn aus der Situation herausnimmt und darüber nachdenkt. Solche
Ambiguität im Nachhinein dann wieder aufzulösen, ist ein p154 selbsterzeugter
Kampf gegen Windmühlen. In technischen Systemen wird man sich also auch in
dieser Hinsicht auf strikt restringierte Sprachspiele beschränken und im Vorhinein festlegen müssen, welche Verwendungszusammenhänge überhaupt ‘erlaubt’
sind. Die konstruierten ‘Welten’ der Computer sind sehr klein und überschaubar,
andersalsdaswirklicheLeben.Computermüssenklaren,definierten,eindeutigen
Regeln folgen; sie haben keine Wahl. Menschen entwickeln ihre Regeln im Gebrauch.”
Alles richtig, solange man, der herrschenden Ideologie zufolge, den Computer als klassische Maschine betrachtet und behandelt, nicht aber als die Super-Maschine, die er
sein kann und tendenziell schon ist. Elemente von Willkür sind ja noch das kleinste
Problem.
Am einfachsten ist die dialogische Spiegelung des Gegenüber: Sitz im Leben, Spontaneität, Geschichte werden automatisch mitgeliefert und müssen nur in der geeigneten,
nicht-algorithmischen Weise verarbeitet werden.
WISSENSCHAFT UND ABERGLAUBEN – DIE DOSSIERS
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
Li-60
2000 Werner Schneider u.a.
Zur sprachorientierten K.I.-Forschung →Ko-1
Die Anekdote von der realistischen Karte
(439p212)
Folgende Anekdote, will “Borges 1982 bei Juarez Miranda (1658) gefunden haben”:
Die Kartografen wollten ihre Karten immer mehr dem Original annähern und erstellten schließlich “eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und
sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem
Studium der Kartografie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese
ausgedehnte Karte sei unnütz und überließen sie nicht ohne Verstoß gegen die
Pietät den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern. Im
ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geografischen Lehrwissenschaften.”
Zeit im Plural? WS 19.03.2002
Zeit als χρονος
Zeit als καιρος
Die Zeit als Quantität, also ausgedehnte, eindimensionale Zeit ist ein singulare
tantum, kann also nicht in den Plural gesetzt werden. Sie ist sozusagen eine Kategorie, eine Urform, wie der Raum, den erst die modernen Mathematiker in den
Plural setzten.
Die Zeit als besondere Qualität, als “Moment”, der durch viele Dimensionen und
Eigenschaften beschrieben werden kann, besitzt individuelle Eigenschaften “Instanzen”) und nimmt also sehr wohl einen Plural an.
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