Zur Interpretation des zweiten Buches II. Die Definition der ethischen

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 1) Der Handelnde vollzieht die Handlung „wissentlich“. 2) Er handelt „auf Grund einer klaren Willensentscheidung“ [Prohairesis], und zwar auf Grund „einer Entscheidung, die um der Sache selbst willen gefällt ist“. 3) Er handelt „mit fester und unerschütterlicher Sicherheit“ [wir können schon jetzt präzisierend hinzufügen: auf Grund einer „gefestigten Grundhaltung“, einer Hexis]. ZurInterpretationdeszweitenBuches
I.DieEntstehungderethischenAreté(II1undII3)
Sie entsteht „in uns weder mit Naturzwang noch gegen die Natur, sondern es ist unsere Natur, fähig zu sein, sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung“. Daher ist „keiner der Charaktervorzüge uns von Natur eingeboren“, sondern er ist immer „das Ergebnis von Gewöhnung“: das Ēthos (der Charaktervorzug) stammt aus dem Ĕthos (aus der Gewöhnung oder Einübung). So werden wir „gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen, indem wir besonnen, und tapfer, indem wir tapfer handeln“. Aber andererseits setzt gerechtes, besonnenes und tapferes Handeln offenbar jeweils bereits voraus, dass man gerecht, besonnen bzw. tapfer ist. So taucht hier jedoch ein zumindest scheinbares Paradox auf (siehe Buch II, Kap. 3). Es kann gegen das Gesagte ein „Zirkeleinwand“ erhoben werden: Es hat alles den Anschein, als könne man einerseits nur dann gerecht, besonnen oder tapfer werden, wenn man gerecht, besonnen bzw. tapfer handelt, andererseits aber nur dann gerecht, besonnen oder tapfer handeln, wenn man bereits gerecht, besonnen bzw. tapfer geworden ist. Das sieht wie ein böser Zirkel, ein circulus vitiosus aus! Aristoteles löst dieses Paradox auf, indem er eine Parallele zwischen der ethischen Areté und dem technischen („poetischen“) Können zieht. Denn ein ähnlicher Zirkel scheint z. B. auch im Bereich des gekonnten Sprachgebrauchs (der „Grammatik“) zu bestehen. Näher besehen handelt es sich hier jedoch nur um eine einseitige Abhängigkeit der sprachlichen Fähigkeit von der Einübung in den richtigen Gebrauch der Sprache. Eine umgekehrte Abhängigkeit der einzelnen sprachlichen Äußerungen vom sprachlichen Können besteht nicht in allen Fällen: „Es ist ja immerhin möglich, in der Grammatik etwas zustande zu bringen aus Zufall oder mit fremder Hilfe, so dass man als wirklicher Könner erst dann gelten darf, wenn man (selbstständig) auf grammatischem Gebiet etwas geleistet hat und zwar in sachgerechter Weise.“ Doch taucht hier die Frage auf, ob eine derartige Parallelisierung von ethischer Areté und technischem Können berechtigt ist. Tatsächlich besteht eine derartige Parallelität nicht in jeder Hinsicht. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen ethischer Areté und technischem Können: Ein „Werk“ oder Produkt, das durch fachliches Wissen hervorgebracht wurde, hat seinen Wert in sich selbst; dagegen ist eine ethische Handlung dadurch noch nicht im vollen Sinne des Wortes eine gerechte Handlung, dass sie so beschaffen ist, wie ein Gerechter sie tun würde, sondern damit sie im vollen Sinne des Wortes eine gerechte Handlung ist, „muss auch der handelnde Mensch selbst in einer ganz bestimmten Verfassung wirken“ (II 3, 1105 a 30‐31). Die erforderliche Verfassung kann als eine bestimmte Gesinnung aufgefasst werden, die – allgemein gesprochen – dann vorhanden ist, wenn drei Bedingungen erfüllt sind (II 3, 1105 a 31‐33): Diese drei Bedingungen geben der aristotelischen Ethik den Charakter einer Gesinnungsethik, einer Ethik, in der es nicht einfach darum geht, richtig zu handeln, und auch darum, gerechte und besonnene Handlungen „auch im selben Geiste zu vollbringen wie die gerechten und besonnenen Menschen“ (II 3, 1105 b 8‐9). So können wir im Gedankengang der aristotelischen Ethik drei verschiedene Stränge voneinander unterscheiden: a) einen anthropologischen, der die Auffassung von Areté und Eudaimonia definitorisch begründet (vgl. I 6); einen b) politisch‐philosophischen, der das Gut für den einzelnen Menschen dem Gut für die Polisgemeinschaft unterordnet; und c) einen gesinnungsethischen, der einen besonderen Wert darauf legt, wie in welcher inneren Verfassung und in welchem Geist der Einzelne die ethische Handlung vollzieht. Es bleibt eine Grundfrage der Werkinterpretation, wie diese verschiedenen Stränge des Gedankengangs miteinander zu einem einheitlichen Ganzen verflochten werden. Zunächst genügt es aber zu zeigen, dass Aristoteles den Zirkeleinwand abwehrt, indem er sagt, dass die Menschen – zum Beispiel unter Anleitung – doch schon gerechte und besonnene Handlungen vollziehen können, selbst wenn sie noch nicht „mit fester und unerschütterlicher Sicherheit“ handeln (1105 b 6‐8). Dazu reicht aus, wenn sie – etwa unter Anleitung – so handeln, wie der Gerechte oder der Besonnene handeln würde, selbst wenn sie noch nicht selbst Gerechte oder Besonnene sind (also noch nicht die entsprechende „feste Grundhaltung“, Hexis, besitzen). In ihrem Fall ist also die dritte Bedingung ethischer Areté noch nicht erfüllt. Trotzdem handelt es sich bereits um ethisch richtige Taten, wenn die beiden anderen Bedingungen (Wissen und Willensentscheidung um der Sache selbst willen, das heißt um der entsprechenden Areté willen) erfüllt sind. II.DieDefinitionderethischenAretéinihrerVollständigkeit(II6)
„So ist die sittliche Werthaftigkeit [Areté] eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in Bezug auf uns ist, jener Mitte, die durch den richtigen Plan [besser: durch die richtige Überlegung, Logos] festgelegt ist, durch jenen [Logos], mit dessen Hilfe der Einsichtige [Phronimos] (die Mitte) festlegen würde.“ (1106 b 36–1107 a 2). Wir müssen die kompakte Formel in ihre Elemente zerlegen. Wir trennen in ihr A) die Bestimmung der nächsten Gattung (genus proximum) und B) die Bestimmung des artbildenden Unterschieds (differentia specifica) voneinander. 2 
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