Skriptum Differentielle Krankheitslehre I – Trauma 1. Allgemeines zu Traumafolgestörungen Der bekannte Traumaexperte Franz Ruppert beschreibt die Wirkung des Traumas anschaulich: Trauma ist eine Lebenserfahrung, wo man in den Zustand der Hilflosigkeit, Überforderung, Überwältigung gerät. Was man dann dagegen tut, erzeugt noch mehr Bedrohung. Eine normale Stressreaktion wie Flucht etc. hilft in der traumatischen Situation nicht mehr, sondern verschärft die noch. Beispiel: Ein weinendes Kind, dem ein erwachsener Mensch sagt, es solle sofort aufhören zu weinen, denn er ertrage das nicht. Das Kind muss also seine natürliche Reaktion des Weinens unterdrücken, um nicht in Gefahr zu geraten. Stress und Trauma sind also ganz unterschiedliche Konzepte. Bei Stress kann ich die äußere Situation durch meine Reaktion beeinflussen. Was muss ich also machen, um eine Traumasituation zu überleben? Das Äußere kann ich nicht ändern, aber mein Inneres, nämlich indem ich das, was ich erlebe, nicht mehr als solches erlebe. Ich kann meine Sinneswahrnehmung und meine Gefühl so weit herunterfahren, dass ich weniger wahrnehme, ich kann mein Denken so weit blockieren, dass ich nicht mehr wahrnehme, was mir da jemand antut. Diese Blockade hört aber nicht unbedingt auf, wenn die äußere Bedrohung vorbei ist. Nach einer Traumaerfahrung gibt es kein Zurück zum Vorher. Es gibt eine veränderte Psychosomatik. Der Organismus spaltet sich in drei verschiedene Substrukturen. Selbst wenn ich traumatisiert bin, bleibt mir meine gesunde Psyche erhalten. Die verliert nicht ihre natürliche Aufgabe, nämlich den Bezug zur Realität herzustellen. Dazu muss ich wahrnehmen, fühlen, denken. Dass die verschwindet, kann nicht passieren. Selbst Schwersttraumatisierte haben gesunde Strukturen, an die man anknüpfen kann, um in die Traumaheilung zu gehen. Aber es gibt auch die traumatisierten Anteile, in denen der ganze Horror, die Überwältigung stecken. * Das wird eingekreist, gepuffert durch Betäubungsringe. Wir haben Narkotika in uns, die dafür benutzt werden. Es geht ganz schön viel Energie in die Erzeugung und Pufferung dieses wabernden Ringes. Gelöst wird das Problem dadurch nicht, sondern es arbeitet innen weiter. Das passiert vor allem mit den traumatisierten Gefühlen von Ekel, Panik etc. Was das wegpackt, ist Abteilung 3, die Überlebensanteile, die uns glauben machen wollen, da sei nichts passiert und wenn, dann war es nicht so schlimm. Da kann ein ganzes Lebensprogramm entstehen, das darin besteht, so zu tun, als sei nichts passiert. Das sind Vermeidungsstrategien, bestimmte Bücher nicht zu lesen, bestimmte Filme nicht zu sehen etc. Denn sonst könnte etwas angetriggert werden, was sonst hochkommen könnte. Dazu gehören auch Drogen, Alkohol etc. Zu Trauma gehört also auch, dass diese Strukturen uns bleiben.“ Eine andere Traumaexpertin, Angela Kühner beschreibt das zentrale Erleben im Trauma folgendermaßen: „Eine der zentralen Metaphern, mit der Traumata beschrieben werden, ist die der Erschütterung. Durch ein traumatisches Erlebnis werden menschliche Grundüberzeugungen erschüttert: der Glaube an eine im Prinzip gute Welt, das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit, d. h. in das Gefühl, äußeren Umständen nicht hilflos ausgesetzt zu sein, sondern aktiv handelnd wirksam sein zu können. Für die amerikanische kognitive Psychologin Ronnie Janoff-Bulmann sind diese „erschütterten Grundüberzeugungen“ 1 (shattered assumptions) nicht nur ein Phänomen von vielen, sondern der Kern jeden Traumas (Janoff-Bulmann, 1992). Zentral ist für sie neben dem Glauben an eine halbwegs „heile Welt“, dass die Vorstellung der Unverletzbarkeit der eigenen Person radikal in Frage gestellt werde. Um ihre Thesen zu differenzieren, hat sie ausführlicher untersucht, welche Grundannahmen bei verschiedenen Traumatisierten konkret erschüttert wurden und wie sich vorausgegangene vergleichbare Erfahrungen auswirken. Tatsächlich konnte sie feststellen, dass für Menschen, deren Vertrauen in die gute Welt schon durch vorherige traumatische Erfahrungen in Frage gestellt worden waren, die unmittelbare Erschütterung direkt nach einem traumatischen Ereignis geringer war als bei Menschen, die bis dahin an eine gute Welt geglaubt hatten. Allerdings erholten sich die „Gutgläubigeren“ in Janoff-Bulmanns Untersuchungen langfristig trotzdem schneller (was sie mit besseren Coping-Mechanismen erklärt). Auch wenn vielleicht nicht alle Theoretiker die Erschütterung von Überzeugungen ins Zentrum des Trauma-Verständnisses rücken würden, so ist doch die Reorganisation und Restitution von Selbst- und Weltverständnis wesentlicher Bestandteil der spezifisch menschlichen Traumaverarbeitung. Gerne werden für Traumverarbeitung spektakuläre Analogien aus der Tierwelt herangezogen, etwa die Tatsache, dass das Beutetier oft schon aus psychischer Lähmung stirbt, bevor das Raubtier zubeißt. Diese Analogien helfen, den physiologischen Teil der Traumareaktion und -verarbeitung nicht zu unterschätzen.“ Diese zwei Schilderungen vermitteln schon einen Eindruck davon, wie sehr und wie unterschiedlich über Traumafolgestörungen diskutiert wird. - Posttraumatische Belastungsstörung - Post Traumatic Stress Disorder FR: Man beachte den Bedeutungsunterschied in der deutschen und englischen Bezeichnung. Im täglichen Sprachgebrauch unterscheiden wir zwischen Belastung, Stress und Trauma. Belastung ist etwas Alltägliches. Stress ist ebenfalls nichts Außergewöhnliches. Jeder leidet bisweilen darunter und kommt doch irgendwie mehr oder weniger gut damit zurecht. Trauma wird dagegen als eine seelische Verletzung verstanden und vermittelt die Konnotation von Leiden und Kranksein. Stress und Trauma werden in der englischen Bezeichnung im Gegensatz zur deutschen Definition miteinander verbunden. Ist das nur ein Übersetzungsproblem, oder stecken dahinter unterschiedliche Auffassungen? Mit Fischer und Riedesser bin ich der Meinung, dass das ‚Stress’-Konzept, so große Verdienste es in Psychologie, Psychosomatik und innerer Medizin hat, nicht ausreicht, um das zu bezeichnen, was speziell den Gegenstand einer psychosozialen und psychosomatischen Traumatologie bildet, nämlich die Störung bzw. Zerstörung psychischer Strukturen und Funktionen, die in gewissem Sinne analog zu jenen Zerstörungen gesehen werden kann, mit denen sich die chirurgische Traumatologie befasst.In deutschen KZ-Gutachterverfahren der Nachkriegszeit wurde der Stressbegriff beispielsweise dazu verwendet, ein Trauma auszuschließen. Einige Gutachter gestanden zwar zu, dass der Aufenthalt in einem KZ für die Betroffenen ‚Stress’ bedeutet habe. Jetzt noch anhaltende Symptome seien auf konstitutionelle biologische Faktoren zurückzuführen. Tatsächlich sah die klassische Stresstheorie keine irreversiblen Symptome und Langzeitschäden vor. Auch besteht Grund zur Annahme, dass sich die Physiologie der Stressreaktion von der der traumatischen Reaktion qualitativ unterscheidet. Unter Stressreaktion verstehen wir demgegenüber die Antwort des Organismus auf eine kritische Belastungsreaktion und kritische Ereignisse, wobei es in der Regel nicht zu der für die Traumareaktion charakteristischen qualitativen Veränderung psychischen und/oder organischen Systemen kommt. 2 Es gibt in der Chirurgie schon länger eine Traumatologie, die sich mit körperlichen Verletzungen befasst. Dort handelt es sich um die Lehre von den Folgen körperlicher Verletzungen. Das jüngere Gebiet der Psycho-Traumatologie soll die Aufmerksamkeit auf die menschliche Erlebnissphäre richten. Aber inwieweit hält die Analogie zu psychischen Wunden? Eine erste Frage stellt sich, wenn wir nach dem Begriff des Traumas fragen. Ist ‚Trauma’ nun eigentlich ein Ereignis oder ein Erlebnis? Handelt es sich um eine subjektive oder eine objektive Kategorie? Der Terminus ‚post-traumatische’ Belastungsstörung in den gegenwärtigen Diagnostikmanualen legt nahe, ‚Trauma’ sei ein Ereignis, das bereits vergangen ist, wenn sich die Symptome der Störung auszubilden beginnen. Nach dem Trauma (= post-traumatisch) bildet sich die Störung aus. Offensichtlich werden hier die Begriffe „Trauma“ und „traumatisches Ereignis“ miteinander vermischt. Denn vergangen ist ja streng genommen nur das traumatische Ereignis: eine definitorische Nachlässigkeit, die für eine sich entwickelnde Wissenschaft nicht folgenlos bleibt. Dagegen ist festzuhalten, dass der Begriff Trauma nicht koextensiv mit „traumatischem Ereignis“ zu verstehen ist. Wenn das Trauma also kein Ereignis ist, also kein „objektiver“, äußerlicher Vorgang, sollte „Trauma“ dann nicht subjektiv definiert werden? Etwas so: Trauma ist ein unerträgliches Erlebnis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten überschreitet. Darin liegt aber eine Gefahr subjektiver Willkür und Beliebigkeit, sobald der Bezug des Erlebens auf das Ereignis außer acht gelassen wird. Es gibt also keine einfachen Lösungen nach Art des Entweder-oder-Denkens. Entweder lässt sich das Trauma ganz objektiv definieren (als objektives Ereignis) oder der Traumabegriff wird völlig unscharf, da er nur subjektiv ist und damit auch willkürlich verwendet werden kann. Dieses Dilemma wird gelöst, indem traumatisch nicht als eine Qualität verstanden wird, die einem Ereignis inhärent ist, und Trauma nicht gleichgesetzt wird mit einem Ereignis. Entscheidend ist vielmehr die Relation von Ereignis und erlebendem Subjekt. Dieser ökopsychologische Gesichtspunkt ist für die Traumaforschung zentral, wird aber oft vernachlässigt. Die ‚traumatische Situation’ ist aus diesem Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung, von Erleben und Verhalten zu verstehen. Wer sich nicht in die ‚Situation’ der Betroffenen hineinversetzt, kann eine traumatische Erfahrung nicht verstehen. Traumatische Situationen sind solche, auf die keine subjektiv angemessene Reaktion möglich ist. Sie erfordern dringen, z. T. aus Überlebensgründen, eine angemessene und ‚notwendige’ Handlung und lassen sie doch nicht zu. Wie reagieren wir auf Situationen, die eine angemessene Reaktion nicht zulassen? Wie verarbeitet das betroffene Individuum oder die soziale Gruppe eine Situationserfahrung, die ihre subjektive Verarbeitungskapazität oder vielleicht die von uns allen massiv überschreitet? Das ist die leitende Frage im Hinblick auf die traumatische Reaktion. Noch ein dritter Gesichtspunkt ist in der Paradoxie der traumatischen Situation und Reaktion enthalten und leitetüberzum dritten Moment des Verlaufsmodells, nämlich dem traumatischen Prozess. Da PTBS auch nach Monaten, manchmal erst nach Jahren in Erscheinung treten kann, spricht vieles dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Das Paradoxon der traumatischen Reaktion ist hier gewissermaßen auf Zeit gestellt. In der weiteren Lebensgeschichte, manchmal ein volles Leben lang, bemühen sich die Betroffenen, die überwältigende, physisch oder psychisch existentiell bedrohende und oft unverständliche 3 Erfahrung zu begreifen, sie in ihren Lebensentwurf, ihr Selbst- und Weltverständnis zu integrieren. Dies geschieht häufig in einem Wechselspiel von Zulassen der Erinnerung und kontrollierender Abwehr oder Kompensation, um erneute Panik und Reizüberflutung zu vermeiden. Auch hier ist die Dialektik von Innen- und Außenperspektive für die psychotraumatologische Forschung grundlegend. Von der Außenperspektive des unbeteiligten Beobachters aus lässt sich die Zerstörung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche traumatische Erfahrungen bewirken, oft nicht einmal ahnen. FR: Wir halten die Vorsilbe ‚post’-traumatisch für zweifelhaft, da sie eine Gleichsetzung von Trauma und traumatischem Ereignis suggeriert, während Trauma nach unserem Verständnis und auch im üblichen Sprachgebrauch eher einen prozessualen Verlauf nahelegt. Das ‚Trauma’ ist nicht vorbei, wenn die traumatische Situation oder traumatische Ereignis vorüber ist. Weiterhin halten wir die Wortverbindung von Trauma und Stress für problematisch. FR 45 Faszinierend ist die Beobachtung, dass Forschungsrichtungen mit zunächst völlig unterschiedlichem Ausgangspunkt und unterschiedlichen Begriffssystemen sich zunehmend auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt zu konzentrieren beginnen, sobald sie sich mit Phänomenen der Traumatisierung befassen. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist die bekannteste Traumafolgestörung. Sie ist jedoch nur eine spezifische Form davon. Weitere und verwandte Störungsbilder sind: Akute Belastungsreaktion ICD10: F 43.0 Anpassungsstörung ICD10: F 43.2 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD10: F 62.0 Die umfangreichen Folgen, einer durch Traumatisierung gestörten Persönlichkeitsentwicklung, werden aktuell unter den Begriffen „Komplexe Traumafolgestörung“, „Developmental Trauma Disorder“ oder „Komplexe Präsentation einer Posttraumatischen Belastungsstörung“ diskutiert. Traumatische Ereignisse können sein: - das Erleben von körperlicher und sexualisierter Gewalt, auch in der Kindheit (sogenannter sexueller Missbrauch), - gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, - Entführung, - Geiselnahme, - Terroranschlag, - Krieg, - Kriegsgefangenschaft, - politische Haft, - Folterung, - Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, - Natur- oder durch Menschen verursachte Katastrophen, - Unfälle - oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit. Diese nicht umfassende Aufzählung zeigt, um wie verschiedenartige Ereignisse es sich handeln kann. All dies kann zudem an der eigenen Person, aber auch an fremden Personen 4 erlebt werden. In vielen Fällen kommt es zum Gefühl von Hilflosigkeit und durch das traumatische Erleben zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Je näher die Beziehung zur betroffenen Person ist, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten einer Traumafolgestörung und desto gravierender wird sie ausfallen. Das syndromale Störungsbild ist geprägt durch: sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma (Intrusionen wie Flashbacks, Bilder oder Alpträume) oder aber Erinnerungslücken (partielle Amnesie, Dissoziation), Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen) Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli) und emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interessensverlust, innere Teilnahmslosigkeit) im Kindesalter teilweise veränderte Symptomausprägungen (z.B. wiederholtes Durchspielen des traumatischen Erlebens, Verhaltensauffälligkeiten, z. T. aggressive Verhaltensmuster) Die Symptomatik kann unmittelbar oder auch mit (z. T. mehrjähriger) Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten (verzögerte PTBS). Epidemiologie: Die Häufigkeit von PTBS ist abhängig von der Art des Traumas. Die folgenden Zahlen geben an, bei wie viel Prozent der Menschen, die folgendes Trauma erlebt haben, danach eine Traumafolgestörung auftrat. Ca. 50% Prävalenz nach Vergewaltigung Ca. 25% Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen Ca. 50% bei Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern Ca. 10% bei Verkehrsunfallopfern Ca. 10% bei schweren Organerkrankungen, (Herzinfarkt, Malignome) Die lebenszeitliche Prävalenz für PTBS in der Allgemeinbevölkerung mit länderspezifischen Besonderheiten liegt zwischen 1% und 7% (Deutschland 1,5 – 2 %). Die Prävalenz subsyndromaler Störungsbilder ist wesentlich höher. Es besteht eine hohe Chronifizierungsneigung.“ Diese Zahlen sind aber vermutlich zu niedrig, weil es eine hohe Dunkelziffer gibt. Häufig werden Traumafolgestörungen falsch diagnostiziert, entweder als Depressionen, als Angststörung, Suchtproblematik u. Ä. FR: Traumafolgestörungen bilden also eine der wenigen nosologischen Einheiten, deren Verursachung bekannt ist. Aus Forschungen zur Kriegstraumatisierung beispielsweise geht hervor, dass PTBS umso eher auftritt, je enger ein Soldat am Zentrum des Kampfgeschehens eingesetzt wird. Erbfaktoren üben dabei allenfalls einen geringfügig modifizierenden Einfluss aus. Neben einer spezifischen Ätiologie weisen Traumafolgestörungen eine spezifische Pathogenese (von altgr, pathogenesis = 5 Entstehungsverlauf eines Störungsbildes) auf, die sich u. a. aus der Dynamik von dem sogenannten Traumaschema und dem traumakompensatorischem System ergibt. 2. Geschichte der Psychotraumatologie 2.1. Anfänge Die Geschichte der Psychotraumatologie zeigt, wie sich das psychotherapeutische Denken zu diesem stark diskutierten Thema entwickelt hat. Viele dieser Gedanken spielen noch heute eine mehr oder weniger offensichtliche Rolle, zum Teil in neuem Gewand. Immer wieder aktuell, nicht zuletzt bei den Flüchtlingen, sind die Fragen nach Anerkennung von psychischem, häufig von Menschen verursachten Leid, aber auch nach Täterschaft, insbesondere bei ehemaligen Soldaten. Außerdem ist die Diagnose einer PTSD häufig in Versicherungsfragen relevant für eine Entschädigungspflicht. Auch die Frage nach rein psychischen oder (auch) organischen Ursachen der posttraumatischen Belastungsstörung taucht immer wieder auf. Außerdem zeigt diese Geschichte, wie sehr psychotherapeutisches Denken auch von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren geprägt wird. Die Symptome der PTBS gab es in der Menschheitsgeschichte schon immer. FR An der ‚Ilias’, dem Bericht vom Trojanischen Krieg, kann man sehen, dass Homer, der ‚Geschichtsschreiber’ und Dichter, traumatische Reaktionen und Wege zu ihrer Überwindung eindringlich zu schildern verstand. Der bedeutendste Held der Griechen, Achilles, entwickelt im Kampf vor Troja psychotraumatische Symptome, die recht genau denen entsprechen, die wir auch heute noch von kämpfenden Soldaten kennen. Dazu gehören ein Erlebnis von Verrat und Verstoß gegen das, was der Soldat als sein gutes Recht betrachtet; enttäuschter Rückzug auf einen kleinen Kreis von Freunden und Kameraden; Trauer- und Schuldgefühle wegen des Todes eines besonders befreundeten und nahestehenden Kameraden; Lust auf Vergeltung, nicht mehr Heimkehren Wollen; Sich wie tot Fühlen; dann eine berserkerhafte Raserei mit Entehrung des Feindes und extremen Grausamkeiten. Dieser berserkerhafte Ausnahmezustand wird in der Literatur (Shay) als Verlust von Furcht und von jedem Gefühl eigener Verletzlichkeit beschrieben. Es wird keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit genommen; eine übermenschliche Kraft und Ausdauer entwickeln sich; Wut und Grausamkeit ohne Einhalten oder Unterscheidungsfähigkeit treten zu Tage. Es kommt zu einer Übererregtheit des autonomen Nervensystems, die von den Betroffenen oft beschrieben wird als „Adrenalinrausch“ oder „als käme Elektrizität aus mir heraus.“ (Blutrausch?) (Trojafilm 1:40 – 2:05) Einzelne Symptome oder auch das gesamte Syndrom finden sich gehäuft in den Berichten von Kriegsteilnehmern, die nach ihrem Einsatz eine psychotraumatische Belastungsstörung entwickeln. Samuel Pepys, der 1666 das große Feuer von London miterlebte, schrieb sechs Monate nach der Katastrophe in sein Tagebuch: „Wie merkwürdig, dass ich bis zum heutigen Tag keine Nacht schlafen kann, ohne von großer Angst vor dem Feuer erfasst zu werden; und in dieser Nacht lag ich bis fast zwei Uhr morgens wach, weil mich die Gedanken an das Feuer nicht losließen.“ 6 Verfolgt man die Anfänge dessen, was heute als komplexes Wissen über die Dynamik von Traumata, Traumafolgestörungen und Traumaheilung bekannt ist, gerät man in eine wechselvolle Geschichte, in der überraschend früh erforschtes Wissen immer wieder in Vergessenheit geraten ist und neu entwickelt wurde, um dann wieder in Vergessenheit zu geraten und erneut aus der Vergangenheit aufzutauchen. Zum Zweiten schwankte die Lehrmeinung extrem zwischen der Annahme von organischen Erkrankungen nach Extrembelastungen und psychischen beziehungsweise neurotischen Folgen, zwischen der Annahme einer Krankheit und der Vermutung von Simulation zur Erreichung bestimmter Ziele, z. B. finanzieller Entschädigung in der Folge von Unglücken, insbesondere Eisenbahnunfällen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem, was wir heute posttraumatische Belastungsstörung nennen, begann 1766, als ein französischer Arzt bei einem seiner Patienten, dem Conte de Lordat, nach einem Postkutschenunfall Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Alpträume und Ängste diagnostizierte, obwohl der Patient keine körperlichen Verletzungen davongetragen hatte. 1866 stellte der Londoner Chirurg John Eric Erichsen bei Menschen, die Eisenbahnunglücke ohne körperliche Verletzungen überlebt hatten, ähnliche Symptome fest. Erichsen ging davon aus, dass diese Beeinträchtigungen durch eine Erschütterung der Wirbelsäule hervorgerufen worden waren, und nannte die nach Unfällen immer wieder ähnlich diagnostizierten Störungen »Railroad Spine Syndrome«. Der Begriff spine syndrome, also Rückenmarkssyndrom wurde deswegen gewählt, da all diese Symptome auf eine angenommene Rückenmarksschädigung durch Erschütterung aufgrund von Zugunfällen zurückgeführt wurden. Die in dieser Zeit schon diskutierte Krankheit der ‚Hysterie’ mit ganz ähnlich beschriebenen Symptomen, wollte Erichson aufgrund der Annahme, dass Hysterie nur bei Frauen vorkomme, in Abgrenzung zu seinem „railroad spine syndrome“ (van der Kolk et al. 2000c S. 72) verstanden wissen. 19 Jahre später, also 1895, postulierte sein Kollege Page psychologische ‚nervöse’ Ursachen dieser Reaktionen auf Zugunfälle und kennzeichnete diese Symptome als ‚traumatische Hysterie’“ (Liebermann et al. 2001, S. 14) Sein Kollege Knapp veröffentlichte 1888 im Boston Medical And Surgical Journal einen Artikel mit der Überschrift Nervous Affections Following Injury – Concussion of the Spine, Railway Brain. Dabei wählte er einen Begriff, den ein anderer Londoner Chirurg, John Putnam, schon 1883 geprägt hatte, nachdem er in insgesamt 234 Fällen als Gutachter für britische Eisenbahngesellschaften tätig war: »Eisenbahn-Gehirn«. 1871 wurde in Preußen ein Gesetz über die Entschädigung bei Eisenbahnunfällen erlassen und 1884 die gesetzliche Unfallversicherung eingeführt. In der Folge davon kam es zu Prozessen um Entschädigungen bei Unfällen. Bei einem Prozess wegen Schäden nach einem Eisenbahnunfall und dann auch in seiner Habilitationsschrift berief sich der deutsche Neurologe Hermann Oppenheimer auf französische Studien. In ihnen wurden Zweifel an den organischen Ursachen für die Symptome bei den Überlebenden von Unfällen geäußert. Oppenheimer nannte die Störungen, denen er in seiner Aufgabe als Unfallfolgen-Begutachter begegnete, »psychische Erschütterungen« und sprach schließlich in Anlehnung an Page als erster von »traumatischer Neurose«. Er berief sich dabei auf die Bedeutung des Schreckens für Nervenkrankheiten, in der das seelische Erleben als 7 auslösendes Moment von Traumafolgestörungen anerkannt wurde. Oppenheim beschrieb „Desorientiertheit, Aphasie, Unfähigkeit zu stehen, sowie Schlafstörungen nach Eisenbahnund Arbeitsunfällen“ (Liebermann et al. 2001, S. 14). Oppenheim postulierte zudem eine organische Ursache als Folge der Erschütterung während eines Unfalls. Oppenheim nahm „funktionelle Probleme [als] durch subtile molekulare Veränderungen im zentralen Nervensystem hervorgerufen“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 72) an. Das Erschrecken eines Menschen bei solch einem extremen Ereignis spiele die Hauptrolle bei der Entstehung einer solchen hirnphysiologischen Veränderung. Allein die Behauptung, dass physiologische Veränderungen durch ein Erschrecken hervorgerufen werden könnten, stieß auf massiven Widerstand, auch weil Oppenheim eine Entschädigungspflicht gegenüber den Opfern von Zugunfällen mit einer solchen Symptomatik wissenschaftlich stützte. GegnerInnen einer Entschädigung für die Unfallopfer wiesen diese Beschwerden als ein „pathologisches Rentenbegehren“ (Liebermann et al. 2001, S. 14) zurück. Schultze und Seeligmüller verdächtigten dagegen einen Großteil der Unfallopfer, die die Symptome einer traumatischen Neurose zeigten, der Simulation und des Versicherungsbetruges. Eine andere Meinung vertrat Theodor Ziehen. Er schrieb 1911: » ... dass neben jedem Trauma der psychische Faktor des Schreckens neben dem mechanischen Faktor eine Rolle spielt ... Dazu kommen die chronischen Affektstrapazen, welche mit der Sorge um die Folgen des Unfalls und dem Rentenkampf verbunden sind.« Parallel dazu fand in den USA eine Diskussion zu den Beschwerden von Soldaten des amerikanischen Bürgerkrieges statt. Hawthorne (1863) sowie Da Costa (1871) beschrieben „psychovegetative Veränderungen“ (Liebermann et al. 2001, S. 14) bei aus dem Gefecht zurückgekehrten Soldaten. Da Costa nannte dieses Phänomen „‚irritable heart’ ein Ergebnis von Überanstrengung durch die belastenden Bedingungen wie Fieber und Diarrhöe, denen die Soldaten unterlagen“ (Liebermann et al. 2001, S.14). Die Zuschreibung eines organischen Ursprunges für die psychischen Leiden bot „eine ehrenhafte Lösung für alle Parteien, die durch das Zusammenbrechen von Personen unter Belastung bloßgestellt werden konnten: Der Soldat bewahrte seine Selbstachtung, der Arzt brauchte nicht persönliches Versagen oder Fahnenflucht zu diagnostizieren, und die militärischen Autoritäten brauchten nicht den psychologischen Zusammenbruch von zuvor tapferen Soldaten erklären“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 72). Die Beschäftigung mit Kindesmisshandlung und sexualisierter Gewalt gegen Kinder begann in Frankreich. Ambroise Tardieu, Professor für Rechtsmedizin an der Pariser Universität, belegte in seinem Werk, dass in Frankreich zwischen den Jahren 1858 und 1869 11576 Menschen wegen Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung angeklagt worden waren, davon nicht weniger als 9125 wegen solcher Delikte an Kindern, fast immer Mädchen. Zugleich entstand eine intensive Diskussion, inwieweit die Aussagen junger Mädchen glaubhaft oder erlogen seien. Man nahm an, diese Kinder hätten ihre Eltern fälschlicherweise des Inzests beschuldigt. Ähnliche Reaktionen traten auf, als die ersten systematischen Untersuchungen der Beziehung zwischen Trauma und psychiatrischer Erkrankung an der „Salpetrière“ in Paris durchgeführt wurden. Der Neurologe Jean Martin Charcot beschrieb als Erster Hysterie, jenes rätselhaften Verhaltens von jungen Frauen, welches z. B. durch ekstatische Körperverrenkungen, Lähmungserscheinungen, Erstickungsanfälle, Verlust der Sprechfähigkeit und Empfindungslosigkeit der Haut schlagartig in Erscheinung trat und auch ebenso schnell wieder verschwand. Er meinte, dass hysterische Anfälle dissoziative Zustände, also das Ergebnis erlebter unerträglicher Erlebnisse, darstellten. 8 Dadurch wurde Pierre Janet inspiriert, das Phänomen der Dissoziation für die Bewältigung traumatischer Erfahrungen zu untersuchen. 1887 wies Janet zum ersten Mal auf die Bedeutung realtraumatisierender Erfahrungen für die Entstehung hysterischer und dissoziativer Symptome hin. Laut Janet ergeben sich Dissoziationen als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. In seiner Arbeit ‚L’automatisme psychologique’ (1889) führt er aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: Sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren. Der ‚unaussprechliche Schrecken’, den das Trauma hinterlässt, entzieht sich den höheren kognitiven Organisationsebenen, hinterlässt aber seine Spuren auf elementaren Repräsentationsstufen. Fischer und Riedesser bezeichnen diese psychische Struktur mit Erinnerungsfragmenten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen und der charakteristischen Spaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsteil als Traumaschema. Besonders bedeutsam ist Janets Konzept einer Dissoziation unterschiedlicher Bewusstseinszustände, die in extremen Fällen zu sich verselbständigenden Teilpersönlichkeiten führen kann. Janets wichtigster Verdienst war also zu erklären, wie traumatische Erfahrungen als abgespaltene Anteile der Persönlichkeit im Unterbewusstsein überdauern, sich dem Bewusstsein über lange Jahre entziehen und zu Auslösern für spätere Erkrankungen werden können. Wegen seiner Annahme, dass die Leiden der ‚hysterischen’ Patientinnen in der Salpêtrière auf real erlebten ‚traumatischen’ Erfahrungen wie sexualisierten Gewalterfahrungen beruhten, wurde Janet in der wissenschaftlichen Community ausgegrenzt, und seine wissenschaftlichen Arbeiten gerieten jahrzehntelang in Vergessenheit (vgl. Lewis Herman 1994). Andere Forscher richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle der Suggestibilität bei der Hysterie, so dass bald ein größeres Interesse an der Behandlung der Simulation bestand als an der Linderung der traumatischen Erinnerungen der Patienten. Stattdessen kam es zu einer Umwertung der Aussagen von Frauen, die über früheren sexuellen Missbrauch berichtet hatten, und es wurde behauptet, es handele sich um eine „Pseudologia phantastica auf hysterisch-degenerativer Grundlage“, um eine kindliche Lügensucht oder um „genitale Halluzinationen“. Auch Sigmund Freud hatte Charcot zu einem Studienaufenthalt in Paris besucht und Janet dort gehört. Er war mit deren Sichtweisen und Behandlungsformen der Hysterie konfrontiert worden. Zurück in Wien begann Freud zusammen mit Josef Breuer seine Studien zur Entstehungsgeschichte hysterischer Störungen. 1896 hielt er einen Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“ vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie. Darin beschrieb er Hysterie als Folge sexueller Traumatisierungen: „Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich – durch die analytische Arbeit reproduzierbar trotz des Dezennien umfassenden 9 Zeitintervalls – ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung.“ (Freud, 1952). Im selben Jahr schrieb er in Ätiologie der Hysterie: »Jedem Fall von Hysterie liegt eine sexuelle Erfahrung zugrunde, wobei Kinder weit häufiger sexuellen Angriffen – auch durch nahe Verwandte – ausgesetzt sind, als man erwarten sollte.« Der Nachweis zwischen traumatischer Kindheitserfahrung und späterer Pathologie wurde in den Studien zur Hysterie sorgfältig geführt. Wir können diese Schrift auch heute noch als einen differenzierten Beitrag zur Erforschung traumatischer Prozesse nach sexuellem Kindesmissbrauch lesen. Sie zeigen exemplarisch den komplexen Zusammenhang zwischen traumatischer Situation, Reaktion und Prozess. Der postulierte Zusammenhang zwischen verfrühten sexuellen Erfahrungen und den Symptomen seiner ‚hysterischen’ Patientinnen wurde jedoch schon ein Jahr später, im Jahre 1897, zugunsten der Möglichkeit einer der Phantasie der Patientin entsprungenen ‚Verführung’ relativiert. Mit seiner Entwicklung der Theorie der intrapsychischen Konflikte und der Theorie des Ödipuskomplexes wurden die Berichte von Kindern über sexuelle Übergriffe dem Bereich der unbewussten Wünsche zugeschrieben, und realtraumatische Erfahrungen wurden unterbewertet. Nun waren es also nicht mehr die Erinnerungen an ein tatsächlich stattgefundenes Kindheitstrauma, „die vom Bewusstsein abgespalten sind, sondern vielmehr die inakzeptablen sexuellen und aggressiven Wünsche des Kindes, die bedrohlich auf das Ich wirken und eine Abwehr gegen das Bewusstwerden dieser Wünsche mobilisieren“. Judith Lewis Herman führte diese Relativierung auf die „drastischen sozialen Konsequenzen, die seine Hypothese nahe legt“ zurück, die Freud „zunehmend beunruhigten“. „Weibliche Hysterie war weit verbreitet. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine Theorie stimmte, blieb nur die Folgerung, dass das, was er als ‚Perversion gegen Kinder’ bezeichnete, weit verbreitet war.“(ebd.). Für diese These spricht der defensive Aufbau des Vortrages Freuds, in dem er immer wieder Gegenargumenten vorgriff. Auch, dass Freud in einem unveröffentlichten Brief an Fließ berichtete, der Vortrag habe „eisige Aufnahme gefunden“ (Freud 2000/ 1896, S. 52) spricht für diese These . Freuds Theorien und die von ihm entwickelte Psychoanalyse traten einen Siegeszug an. Seine ursprünglichen Überlegungen zur Ursache der Hysterie ließen ihn jedoch nicht los. Im Abriss der Psychoanalyse schrieb er 1938: »Unsere Aufmerksamkeit wird zunächst von der Wirkung gewisser Einflüsse angezogen, die nicht alle Kinder betreffen, obwohl sie häufig genug vorkommen, wie der sexuelle Missbrauch durch Erwachsene.« In der Folge von Freuds Äußerung 1897 wurde allerdings den Aussagen missbrauchter Mädchen und Frauen meist nicht mehr geglaubt. 1907 schrieb Karl Abraham 1907: „...dass in einer großen Anzahl von Fällen das Erleiden des sexuellen Traumas vom Unbewussten des Kindes gewollt wird, dass wir darin eine Form infantiler Sexualbetätigung zu erblicken haben“ Damit war schließlich das Opfer zur Täterin geworden, und es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis das Trauma des sexuellen Kindesmissbrauchs sowohl in der psychoanalytischen Vereinigung wie auch gesamtgesellschaftlich anders betrachtet werden konnte. 2.2. Weltkriege und Holocaust 10 Der erste Weltkrieg brachte eine neue Form der Kriegsführung in Form des Stellungskriegs in endlos langen Schützengräben hervor. Dort verloren Tausende ihr Leben durch die verbesserte Technik der Artillerie, ohne dass nennenswerte Gewinne gemacht wurden. Dieser Stellungskrieg rief eine neue Art der traumatischen Neurose hervor, die der britische Militärpsychiater Charles Samuel Myers als Granatenschock „shell shock“ bezeichnete und im Deutschen als Schützengrabenneurose bezeichnet wurde. Der Stellungskrieg im Schützengraben, bei dem die Soldaten kaum Möglichkeiten zu Kampf oder Flucht, also den normalen Copingreaktionen, hatten, war schließlich prädestinierend für die Entwicklung von Traumata. Die Annahme, dass eine organische Ursache, hier eine durch eine molekulare Erschütterung im Gehirn, welche durch eine im Gefecht erfolgte Detonation bedingt sei, die unterschiedlichen Beschwerden der Soldaten hervorrufe, wurde zunächst noch nicht aufgegeben. „Seitdem jedoch die Kriegsneurose auch bei Soldaten, die nie direkt Gewehrschüssen ausgesetzt waren, festgestellt werden konnte, wurde langsam deutlich, dass die Ursachen häufig rein emotionaler Natur waren“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 72). Diese Beobachtung bewegte Myers dazu, eine psychische Ursache für die unterschiedlichen Beschwerden der Soldaten anzunehmen. Dabei betonte er „die große Ähnlichkeit zwischen Kriegsneurose und Hysterie“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 72). Nachdem jedoch bereits bei der Behandlung der Hysterie mehr die Behandlung der Simulation als der Pathologie im Vordergrund stand, geriet auch die Behandlung von Kriegs-Syndromen eher zu einem Kampf gegen die Simulation. Aus dem Krieg heimgekehrte traumatisierte Patienten wurden als Rentenneurotiker abqualifiziert. Man behauptete, bei Kriegsneurosen handele es sich um „abnorme Reaktionen minderwertiger oder vorbelasteter Personen“. Man bezeichnete Unfallneurosen als „Wunschreaktionen ohne Krankheitswert“, und die erkrankten Soldaten galten als moralische Invaliden, als konstitutionell minderwertig oder als Feiglinge. Die gesellschaftliche und medizinische Reaktion auf die Schrecken des Krieges war also eindeutig verleugnend. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Psychiater Emil Kraepelin, der als Begründer der modernen empirisch orientierten Psychopathologie angesehen werden kann. Er galt schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als einer der europaweit einflussreichsten Psychiater. Er schrieb 1915: »Ganz besonders reich an psychischen Ursachen des Irreseins ist der Krieg. Der Grund liegt hauptsächlich in den dauernden Schädigungen durch tiefgreifende, anhaltende gemütliche Erregung« (d.h. des Gemüts). Gleichzeitig sieht er jedoch bei einem Drittel der sogenannten »Kriegszitterer« eine Belastung vonseiten der Eltern. 1916 setzten sich Robert Gaupp und Karl Bonhoeffer bei einer Tagung der Militärpsychiater mit der Meinung durch, dass die Kriegszitterer nicht unter den seelischen Belastungen des Krieges litten (»shell shock«), sondern dass es sich bei ihnen um willensschwache Simulanten und Feiglinge handele, die konstitutionell minderwertig seien. Sie wurden in Militärkrankenhäusern so lange gequält, bis sie aufhörten zu zittern und wieder frontfähig waren. Solche »heroischen« Therapien waren in ganz Europa und auch in den USA üblich. Der britische Psychiater Lewis Yealland behandelte die »Hysteric Disorders of Warfare« mit Elektroschocks. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges betrachteten Bonhoeffer und seine Kollegen sowohl Kriegs- als auch Unfall-Neurosen als Wunschreaktionen bei asozialen, ethisch minderwertigen und psychopathischen Persönlichkeiten. Die 1926 in Kraft getretene Reichsversicherungsordnung sei die Ursache der Unfallneurosen, es handele sich demzufolge um eine »Rentenneurose«. Aussagen anderer Ärzte stützten die von Bonhoeffer geäußerten Thesen und bestimmten bis in die 1970er-Jahre, also ca. fünfzig Jahre lang, in Deutschland und Österreich die 11 Gutachterpraxis vor allem dann, wenn es darum ging, finanziellen Ausgleich für erlittenes Leid zu erhalten: Es gebe keine kausale Beziehung zwischen äußeren Ereignissen und psychischen Folgen (Dansauer u. Shellworth1939), USA; Erlebnisreaktionen klängen nach Fortfall der Belastung ab (Schneider 1946); die Belastungsfähigkeit der Seele läge im Unendlichen (Hoff 1956). Mit diesen Kernaussagen einflussreicher Psychiater entstand die Haltung, dass ein konstitutionell gesunder und normaler Mensch jede Belastung verkraftet, ohne dadurch dauerhaft geschädigt zu werden. Erst 1961 setzte sich bei einer PsychiatrieTagung in Baden-Baden ansatzweise eine neue Lehrmeinung durch: Erlebnisbedingte Persönlichkeitsänderungen seien das Resultat chronischer Belastung. Dabei waren neue Impulse zur Beschäftigung mit Traumafolgen bereits während des Zweiten Weltkriegs aus Amerika gekommen. Amerikanische MilitärpsychiaterInnen dem Thema der durch den Kampfeinsatz induzierten Beschwerden wieder verstärkt zu. Ziel war, eine schnelle und wirksame Behandlungsmethode für jene Soldaten zu entwickeln, welche mit Stressreaktionen auf das Kampfgeschehen reagierten, damit sie schnell wieder im Krieg eingesetzt werden konnten. Dabei erwiesen sich Methoden, die Stressreaktionen der Soldaten nicht als ‚Feigheit’ o. ä. stigmatisierten, als effektiver. „Erstmals wurde anerkannt, dass jeder Soldat zusammenbrechen konnte, psychiatrische Erkrankungen waren vorhersehbar in Relation zur Heftigkeit der Kämpfe, die ein Soldat mitgemacht hatte“ (Lewis Herman 1994, S. 40). Statt Soldaten zu stigmatisieren, fanden einerseits „differenzialdiagnostische Merkmale der Frontpsychiatrie, nämlich das Prinzip der Nähe, der Unmittelbarkeit und der Erwartung, an der Front Anwendung. Zum ersten mal wurden protektive Faktoren wie Training, Zusammenhalt der Gruppe, Führung, Motivation und Moral untersucht“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 83). Außerdem wurden Behandlungsmethoden in Form von Gruppentherapien entwickelt, die aber schon bald nicht mehr mit Kriegsveteranen, schon gar nicht mit anderen Gruppen weiter praktiziert wurden (vgl. ebd.). Abram Kardiner fasste die Ergebnisse der Arbeit mit Kriegsveteranen schon 1941 im Buch „The Traumatic Neuroses of War“ zusammen. Er interpretierte die Folgen der Kriegsneurosen als eine Überforderung der individuellen Anpassungsfähigkeit an die Kriegserfahrungen. So kam es zu einer Wiederauferstehung des Konzepts der traumatischen Neurose. Nach dem Ende des II. Weltkriegs wurden in den USA mehrere Konferenzen und Symposien zur Erforschung der Folgen des Holocaust sowie des Atombombenabwurfs über Japan ausgerichtet. Es zeigte sich, welche erstaunlichen Ähnlichkeiten in der Psychopathologie zwischen den Holocaust-Opfern und den Opfern des Atombombenabwurfs von Hiroshima bestanden. Dadurch festigte sich immer mehr die Überzeugung, dass massive seelische Traumatisierungen zu deutlichen und oft anhaltenden Symptombildungen sowie zu Persönlichkeitsveränderungen führen. Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine neue Richtung der ‚Trauma- Forschung’. Diese machte sich die Überlebenden der Shoa, insbesondere Überlebende von Konzentrationslagerhaft zum Gegenstand. Es konnte belegt werden, dass Überlebende von Konzentrationslagerhaft gegenüber der Normalbevölkerung eine „erhöhte Mortalität und generelle somatische und psychiatrische Morbidität“ (van der Kolk et al. 2000c, S. 84) aufwiesen. So wurde der Begriff des „Konzentrationslagersyndroms“ (ebd.) oder „Survivor-Syndrome“ (Mehari 2001) verwendet. Die unterschiedlichen Forschungen zum psychischen Schaden von (meist) jüdischen Überlebenden der Shoa haben weniger Eingang in die psychiatrischen Diagnosekriterien 12 gefunden als die Untersuchungen zu Soldaten, die unter ihrer Beteiligung am Krieg und Mittäterschaft im Krieg zusammengebrochen sind. Viele in der Arbeit mit Flüchtlingen und politisch Verfolgten entwickelte Überlegungen beziehen sich auf Forschungsansätze, die im Zusammenhang mit Shoa-Überlebenden entstanden. Als Forscher sind hier insbesondere Bruno Bettelheim und Hans Keilson zu nennen. Im deutschsprachigen Raum wurde dagegen, auch aus finanziellen Gründen wegen des deutschen Wiedergutmachungsgesetzes, über viele Jahre hinweg die Haltung vertreten, dass konstitutionell gesunde und normale Menschen jede psychische Belastung verkraften können, ohne dadurch dauerhaft geschädigt zu werden. Dahinter standen natürlich massive finanzielle Interessen angesichts der gigantischen Opferzahlen des II. Weltkriegs. So konnte Kurt Schneider, auf den über mehrere Jahrzehnte wesentliche Sichtweisen psychischer Erkrankungen zurückgingen, formulieren, dass schwere seelische Erschütterungen und Belastungen zwar vorübergehend abnorme Erlebnisreaktionen hervorrufen, die aber einige Zeit nach dem Vorfall der Belastung abklängen. Hielten diese Symptombildungen an, so müsste man von einer psychopathischen Konstitution ausgehen. Wegen dieser Verschiebung der Schuld auf das Opfer fragte 1964 schließlich der Psychoanalytiker Kurt Eissler: „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen, um eine normale Konstitution zu haben?“ 2.3. Auf dem Weg zu modernen Sichtweisen Im selben Jahr, also 1964, veröffentlichten die Psychiater Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker das Buch „Psychiatrie der Verfolgten“, in welchem sie eindrucksvoll darlegten, dass die bisher angewandten gutachterlichen Richtlinien nicht ausreichten, um die gesundheitlichen Schäden der Holocaust- Überlebenden zu erfassen. Der US-amerikanische Psychiater Robert Lifton legte 1965 eine Untersuchung von HiroshimaÜberlebenden und Korea-Soldaten vor, die gefoltert worden waren. Sie berichteten von ihrer Überlebensschuld, von einer Aufspaltung der Persönlichkeit und von einem Gefühl des »Todes mitten im Leben«. Lifton stellte große Ähnlichkeit mit Überlebenden des Holocaust fest. 1967 fand in Kopenhagen ein psychoanalytischer Kongress statt, während dessen mutige Analytiker wie der besagte Kurt Eissler, William Niederland und Henry Krystal die These Freuds von der ausschließlichen Wirkung von Kindheitstraumata ablösten und vom »Survivor Syndrome«, einer Folge von extremen Belastungen in jedem Lebensalter, sprachen. Henry Krystal 1968: »Ich hoffe, dass wir viele unterschiedliche Gruppen berücksichtigen können, so dass es möglich wird, eines Tages wertvolle Generalisierungen zu erzielen, die wir anwenden können, um traumatisierte Individuen zu verstehen« (Übersetzung AK). Krystals Hoffnung erfüllte sich tatsächlich. Die Auswirkungen des Vietnam- Krieges trugen zu einer weiteren Entwicklung bei. Eine Million junger Amerikaner hatten unter der Belastung dieses außerordentlich grausamen Krieges massive Symptome entwickelt. Gleichzeitig wuchs durch die Frauenbewegung der 1970er-Jahre eine Sensibilisierung für das enorme Ausmaß an innerfamiliärer sexueller Gewalt. Die Soziologinnen Ann Burgess und Linda Holmstrom beschrieben 1974 die Ergebnisse ihrer Erhebungen im Boston City Hospital. Darin beschrieben sie die Symptome von vergewaltigten Frauen, das „rape-traumasyndrome“ (Langkafel 2000, S.9). Sie stellten eine Ähnlichkeit fest zu den Symptomen von Kriegsveteranen, insbesondere Flashbacks und Alpträumen. Sie brachten diese in Zusammenhang mit Ergebnissen der Gerichtsmedizin aus Frankreich vom Ende des 19. 13 Jahrhunderts, der früheren Forschung zur Hysterie in der Salpêtrière sowie den frühen Arbeiten Freuds (vgl. Lewis Herman 1994; Langkafel 2000; van der Kolk et al. 2000c). 1979 beschrieb die Psychologin Leonore Walker das „Misshandlungssyndrom“ (Lewis Herman 1994, S. 50). Sarah Haley, eine der Personen, die am stärksten bei der Einführung der PTSD als diagnostische Kategorie in die dritte Ausgabe des DSM- III beteiligt war, war sowohl die Tochter eines Veteranen des Zweiten Weltkrieges, der an schwerer ‚Kriegsneurose’ litt, als auch selbst Inzestopfer und mit beiden Forschungsfeldern vertraut (vgl. van der Kolk et al. 2000c). In ihrem Buch „Die Narben der Gewalt“ von 1993 beschrieb Judith Herman detailliert die Folgen früher Vernachlässigung und sexueller Gewalterfahrung. In der Folge entwickelte sich ein Forschungsansatz, der die psychischen Folgen von sexualisierter Gewalt thematisierte. Frauen machten zum ersten Mal systematisch die psychischen Folgen sexualisierter Gewalt zum Thema. Zentral in den Diskussionen dieser Forschungstradition war die Erforschung psychischer Folgen sowohl sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, als auch von Vergewaltigung erwachsener Frauen. Es wurde versucht, die Leiden der Opfer sexualisierter Gewalt zu benennen und zu klassifizieren, therapeutische Behandlungsansätze zu entwickeln, als auch das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen. Diese Diskussionen fanden parallel zu Diskussionen um Kriegsveteranen statt (vgl. Lewis Herman 1994). Judith Herman schrieb zu der Parallelität der Symptome zwischen Kriegsneurosen und sexueller Gewalt später in „Trauma and Recovery“: »Die Hysterie ist die Kriegsneurose des Geschlechterkampfes.« Auch der Psychoanalytiker Leonard Shengold zog 1979 die Parallele zwischen Holocaust und Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit, indem er, wie schon andere Autoren vor ihm, deren Auswirkungen als „Seelenmord“ bezeichnete. Nachdem es jedoch in der bisherigen Geschichte der Traumatologie immer zu einer Dialektik zwischen Beschäftigung mit dem Trauma und Abkehr davon gekommen war, wurde bereits im gleichen Jahr in einer Abwehrbewegung die „False Memory Syndrom Foundation“ gegründet. Dazu gleich noch mehr. 1978 erschien „Stress Disorders Among Vietnam Veterans“ von Charles Figley, einem Vietnam-Veteranen, der später Psychologie studierte und als ein Pionier der modernen Psychotraumatologie gilt. Die Erkenntnisse über die Symptome von Kriegsveteranen, aber auch von Vergewaltigungsopfern und die Symptome von Menschen, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt erleben mussten, wurden zusammengetragen, um das Diagnosebild der PTSD zu entwickeln. 2.4 Die Entwicklung der PTSD im DSM und ICD Die Impulse einer Entwicklung der PTSD als Diagnosekriterium gingen, wie wir gesehen haben, von US- amerikanischen gesellschaftlichen Entwicklungen aus. Daher schlug sich dies auch zuerst in dem US-amerikanischen Diagnostischen und Statistischen Manual (DSM) nieder und fand erst zeitverzögert im ICD Berücksichtigung . In den vorhergehenden klinischen Klassifikationssystemen existierten jedoch Diagnosenbilder, die sich dazu eigneten, auf die Reaktionen auf Erfahrungen extremen Leides angewendet zu werden. 14 Im ICD- 6 von 1948 existierte die Kategorie der ‚akuten situativen Fehlanpassung’. Darin wurden „vorübergehende situationsunabhängige Syndrome ... als akute Reaktionen auf überwältigende Belastungen definiert, die sich bei Menschen zeigten, die keine prämorbide oder komorbide Psychopathologie aufwiesen“. Im ersten diagnostischen und statistischen Manual (DSM-I), herausgegeben im Jahre 1952, existierte das Diagnosebild einer ‚Schweren Belastungsreaktion’, welche „die Reaktionen auf Kriegserfahrung und zivile Katastrophen berücksichtigte“. Dies geschah nicht zuletzt durch die Folgen des zweiten Weltkrieges. Das DSM-II (1968) orientierte sich stark an den Ausführungen zu psychischen Störungen des ICD-8 (1969), in denen eine ‚Anpassungsstörung’ beschrieben wurde. Im DSM-II wurde das Diagnosebild einer ‚schweren Belastungsreaktion’ revidiert, und stattdessen eine „Anpassungsstörung im Erwachsenenalter“ beschrieben. Hier wurde die Ursache einer Reaktion auf schwere Belastung erheblich eingeschränkt auf „unerwartete Schwangerschaft, Angst in Kampfhandlungen und das Erwarten der Todesstrafe“. Im 1977 erschienenen ICD-9 wurde das Kriterium einer ‚akuten Belastungsreaktion’ aufgenommen (vgl. Brett 2000). Erst mit der Ausgabe des DSM- III von 1980 wurde das Diagnosebild einer PTBS im heutigen Sinne eingeführt. „Damit wurde auf die Symptome der aus dem Vietnamkrieg heimgekehrten Veteranen reagiert, die über Alpträume, Flashbacks und Übererregbarkeit klagten“ (Liebermann et al. 2001, S. 13) . So wurde mit der PTBS ein psychiatrisches Diagnosebild geschaffen, dass das Vorhandensein eines äußeren‚ traumatisierenden Geschehens’ als Ursache für psychische Beschwerden wie Wiedererleben, Vermeidungsverhalten, emotionales Betäubtsein und Übererregbarkeit kennzeichnet. Politischer Druck von Vereinigungen der Vietnam-Veteranen, Kirchen, Kriegsgegnern und Gesundheitsorganisationen sowie einer Gruppe von Forschern, die sich mit Stressphänomenen in den NS-Konzentrationslagern, in Hiroshima, im Koreakrieg und im Vietnamkrieg beschäftigt hatten (u.a. auch Lifton, Niederland und Krystal), führte zu diesem Schritt. Die Diagnose PTBS im DSM-III bedeutete sowohl einen politischen Sieg als auch eine Veränderung in der Sichtweise psychischer Störungen. Zum ersten Mal haben politische Kräfte und das soziale Gewissen zur Entwicklung einer Diagnose beigetragen, die die Schrecken einschließt, die Menschen anderen Menschen bereiten können. Bei der gleichen Ausgabe des DSM wurde durch den Einfluss anderer politischer Kräfte Homosexualität von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. Es überrascht daher nicht, dass die Kritik interessierter Kreise an den Verantwortlichen des DSM aufrechterhalten wurde: Die Einbeziehung von PTBS und die Streichung von Homosexualität seien mehr ein Verdienst der Politik als der Wissenschaft. Die Einführung der PTSD als psychiatrische Diagnose initiierte eine große Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen. Es entstanden Untersuchungen zu den psychischen Folgen nach Naturkatastrophen, Banküberfällen, Schiffsunglücken, Geiselhaft, sexualisierter Gewalt, Militäreinsätzen, KZ- Haft etc. Ebenfalls Ende der Siebziger Jahre begann vor allem in den USA die Beschäftigung mit der „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ oder „Dissoziativen Identitätsstörung“, die schließlich in der Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung ihren Niederschlag im DSM-III fand. Das Konzept der dissoziativen Störung war lange Zeit in Vergessenheit geraten. Janet hatte wie gesagt schon vor über 120 Jahren erkannt, dass die unter traumatischen Bedingungen gemachten Erfahrungen nicht in den vorhandenen Erfahrungsschatz des Individuums integriert werden können, sondern anders im Gedächtnis abgespeichert werden. Diese 15 Erfahrungen werden in dissoziierter und fragmentierter Form abgespeichert und sind der willentlichen Kontrolle und Beeinflussbarkeit entzogen. Sie wirken jedoch eigendynamisch weiter und zeigten sich zu Janets Zeit als sogenannte hysterische Symptome. (Ein Beispiel dafür, wie auch Krankheitssymptome vom historischen oder kulturellen Umfeld beeinflusst werden.) Das Konzept der Dissoziation verlor ab circa 1910 seine Erklärungskraft, so u. a. durch die Einführung des Schizophreniebegriffs sowie durch die Dominanz psychoanalytischer Erklärungsbemühungen mit dem Fokus auf triebbedingten, konflikthaften intrapsychischen Prozessen anstelle realtraumatischer Erfahrungen. Erst in den 1970er Jahren wurde das Konzept der dissoziativen Störung wiederentdeckt und zwar sowohl unter der Anerkennung der epidemiologischen und klinischen Bedeutung kindlicher Traumatisierungen wie der klinischen Relevanz von traumatischem Stress bei Kriegsveteranen des Vietnamkriegs. Obwohl beide Opfergruppen sehr unterschiedlich sind, zeigen sie übereinstimmend, dass spezifische psychische und körperliche Beschwerden wie Gedächtnislücken oder Entfremdungserleben als Folgen traumatischer Erlebnisse verstanden werden können. 1992, erfolgte schließlich auch im ICD-10 die Möglichkeit, posttraumatische Belastungsstörungen und multiple Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Es wurde jedoch gerade im Zusammenhang mit der letztgenannten Diagnose deutlich, dass die Auswirkungen verschiedener Arten von Traumata sehr unterschiedlich und unterschiedlich schwer waren. So wurde zwischen Typ-1-Traumata und Typ-2-Traumata unterschieden, das heißt einmaligen oder kurz anhaltenden und mehrfache und über einen längeren Zeitraum anhaltende Traumata. Daraus ergab sich der Versuch einer weiteren, notwendigen Differenzierung. Bessel van der Kolk war einer der Vorkämpfer für die Diagnose einer komplexen PTBS, die als DESNOS (Disorder of extreme Stress not otherwise specified) 1994 Einzug in das DSM hielt. Im ICD findet sich dazu die »andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (F 62.0)«. 1993 erschien das International Handbook of Traumatic Stress Syndrome mit 84 Artikeln aus aller Welt. Trauma wurde von nun an als »inescapable shock« definiert, als unausweichlicher Schock. In Deutschland und Österreich benötigte man mehr als 50 Jahre im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, um sich mit dem Traumathema und der Erforschung von Traumafolgestörungen wissenschaftlich zu beschäftigen. Das zeigt, wie schwer es ist, insbesondere kollektive traumatische Erlebnisse bewusst wahrzunehmen, anzuerkennen und aufzuarbeiten. Dabei ist natürlich das Thema „kollektive Traumata“ eine eigene Abhandlung wert. Traumata unterliegen häufig einer Sprachlosigkeit, der Tendenz des Vergessens sowie einem Zwang der Wiederholung anstelle eines heilsamen Erinnerns. Seit Beginn der 1990er-Jahre ist wie gesagt in dem Feld der Traumafolgestörungen und ihrer Therapie seriöse Forschung und Praxis zu verzeichnen. Auch die neuere Entwicklung war und ist nicht frei von Kontroversen. Während einerseits parteiliche Opfertherapien entwickelt wurden, fand sich andererseits eine Gegenbewegung, die nachweisen wollte, in wie vielen Fällen Therapeuten durch suggestive Beeinflussung bei ihren Klienten Erinnerungen von Ereignissen sexueller Gewalt oder körperlicher Misshandlung ausgelöst hätten, die tatsächlich nie stattgefunden hätten. Vom »False Memory Syndrome« war die Rede, von falschen Erinnerungen. Oder: während einige Fachleute davon ausgingen, dass natürlich auch Kinder und Jugendliche nach extremen Belastungen eine 16 posttraumatische Belastungsstörung entwickeln können, hielten sich andere an das DSM-III, das die Störung nur bei Erwachsenen diagnostizierte. Eine dritte, derzeit aktuelle Kontroverse betrifft die methodische Frage, wie viel Stabilisierung erforderlich ist, bevor eine Auseinandersetzung mit traumatischem Material in der Therapie geschehen sollte, ganz wenig oder sehr intensive. Hilft die Theorie der Stabilisierung eher ängstlichen Therapeuten oder ist sie existenzieller Bestandteil der Unterstützung von Selbstwirksamkeit bei Klienten? Seitdem die posttraumatische Belastungsstörung in das DSM-III aufgenommen wurde, gab es wohl bis heute keinen anderen Bereich in der klinischen Praxis, der Therapeuten mehr herausgefordert hat, die Öffentlichkeit mehr fasziniert und mehr kontroverse Debatten heraufbeschworen hat als die Behandlung von Traumata. In den letzten Jahren hat es eine Vielfalt von Veröffentlichungen zu Psychotraumatologie und Traumatherapie gegeben. Aufgrund der rasend schnellen Entwicklung und der Erforschung der neurophysiologischen Hintergründe der Entstehung und Verarbeitung von Traumata werden auch immer wieder neue therapeutische und beraterische Ansätze entwickelt. Ulrich Sachsse, einer der prominentesten Vertreter der Psychotraumatologie im deutschsprachigen Raum, stellt fest: „Ein Blick in die Geschichte lehrt, nicht ungeduldig auf schnelle Lösungen zu hoffen, sondern sich darauf einzustellen, auf welchen Konfliktfeldern man sich wird bewegen müssen, wenn man sich diesem Themenkomplex widmet. Die Auseinandersetzung mit Traumatisierung ist längst eine teils wissenschaftlich, teils engagiert-politisch, teils polemisch, teils interessenbestimmt-tendenziös geführte Diskussion geworden – eine Diskussion allerdings, die inzwischen niemand mehr nicht führen kann“. In Gruppenarbeit die Diagnosekriterien nach ICD-10 DSM-IV und DSM-V vergleichen lassen. Diagnostische Kriterien für eine PTBS nach ICD-10 FürdieDiagnosenachICD‐10müssenfolgendeKriterienerfülltsein: 1 DerBetroffenewar(kurzoderlanganhaltend)einembelastendenEreignisvon außergewöhnlicherBedrohungodermitkatastrophalemAusmaßausgesetzt,das beifastjedemeinetiefeVerzweiflunghervorrufenwürde. 2 EsmüssenanhaltendeErinnerungenandastraumatischeErlebnisoderdas wiederholteErlebendesTraumasinsichaufdrängendenErinnerungen (Nachhallerinnerungen,Flashbacks,TräumenoderAlbträumen)odereineinnere BedrängnisinSituationen,diederBelastungähnelnoderdamitin Zusammenhangstehen,vorhandensein. 3 DerBetroffenevermeidet(tatsächlichodermöglichst)Umstände,diederBelastung ähneln. 17 4 MindestenseinesderfolgendenKriterien(1.oder2.)isterfüllt: 1 eineteilweiseodervollständigeUnfähigkeit,sichaneinigewichtigeAspektedes belastendenErlebnisseszuerinnern;oder 2 anhaltendeSymptomeeinererhöhtenpsychischenSensitivitätundErregung,wobei mindestenszweiderfolgendenMerkmaleerfülltseinmüssen: 1 Ein‐undDurchschlafstörungen 2 erhöhteSchreckhaftigkeit 3 Hypervigilanz 4 Konzentrationsschwierigkeiten 5 ReizbarkeitundWutausbrüche 1 DieSymptomemüsseninnerhalbvonsechsMonatennachdembelastendenEreignis (oderderBelastungsperiode)aufgetretensein. HäufigsindzudemsozialerRückzug,einGefühlvonBetäubtseinundemotionaler Stumpfheit,GleichgültigkeitgegenüberanderenMenschensowieeineBeeinträchtigung derStimmung. NimmtdieStörungübervieleJahreeinenchronischenVerlauf,isteineAndauernde PersönlichkeitsänderungnachExtrembelastung(F62.0)zudiagnostizieren. DSMIVKriterienvonPTBS A.DiePersonwurdemiteinemtraumatischenEreigniskonfrontiert,beidemdiebeiden folgendenKriterienvorhandenwaren: 1. DiePersonerlebte,beobachteteoderwarmiteinemodermehrerenEreignissen konfrontiert,dietatsächlichenoderdrohendenTododerernsthafteVerletzung odereineGefahrderkörperlichenUnversehrtheitdereigenenPersonoder andererPersonenbeinhalteten. 2. DieReaktionderPersonumfassteintensiveFurcht,HilflosigkeitoderEntsetzen. Beachte:BeiKindernkannsichdiesauchdurchaufgelöstesoderagitiertes Verhaltenäußern. B.DastraumatischeEreigniswirdbeharrlichaufmindestenseinederfolgendenWeisen wiedererlebt: 1. WiederkehrendeundeindringlichebelastendeErinnerungenandasEreignis,die Bilder,GedankenoderWahrnehmungenumfassenkönnen. Beachte:BeikleinenKindernkönnenSpieleauftreten,indenenwiederholt ThemenoderAspektedesTraumasausgedrücktwerden. 2. Wiederkehrende,belastendeTräumevondemEreignis.Beachte:BeiKindern könnenbeängstigendeTräumeohnewiedererkennbarenInhaltauftreten. 3. HandelnoderFühlen,alsobdastraumatischeEreigniswiederkehrt(beinhaltet dasGefühl,dasEreigniswiederzuerleben,Illusionen,Halluzinationenund dissoziativeFlashback‐Episodeneinschließlichsolcher,diebeimAufwachenoder beiIntoxikationenauftreten). Beachte:BeikleinenKindernkanneinetraumaspezifischeNeuinszenierung auftreten. 18 4. IntensivepsychischeBelastungbeiderKonfrontation mitinternalenHinweisreizen,dieeinenAspektdestraumatischenEreignisses symbolisierenoderanAspektedesselbenerinnern. 5. KörperlicheReaktionenbeiderKonfrontationmitinternalenoderexternalen Hinweisreizen,dieeinenAspektdestraumatischenEreignissessymbolisieren oderanAspektedesselbenerinnern. C.AnhaltendeVermeidungvonReizen,diemitdemTraumaverbundensind,odereine AbflachungderallgemeinenReagibilität(vordemTraumanichtvorhanden). MindestensdreiderfolgendenSymptomeliegenvor: 1.BewusstesVermeidenvonGedanken,GefühlenoderGesprächen,diemitdemTrauma inVerbindungstehen 2.BewusstesVermeidenvonAktivitäten,OrtenoderMenschen,dieErinnerungenandas Traumawachrufen 3.Unfähigkeit,einenwichtigenAspektdesTraumaszuerinnern 4.DeutlichvermindertesInteresseoderverminderteTeilnahmeanwichtigen Aktivitäten 5.GefühlderLosgelöstheitoderEntfremdungvonanderen 6.EingeschränkteBandbreitedesAffekts(z.B.Unfähigkeit,zärtlicheGefühlezu empfinden) 7.GefühleinereingeschränktenZukunft(z.B.erwartetnicht,Karriere,Ehe,Kinderoder normallangesLebenzuhaben) D.AnhaltendeSymptomeerhöhtenArousals(vordemTraumanichtvorhanden). MindestenszweiderfolgendenSymptomeliegenvor: 1.Schwierigkeitenein‐oderdurchzuschlafen 2.ReizbarkeitoderWutausbrüche 3.Konzentrationsschwierigkeiten 4.ÜbermäßigeWachsamkeit(Hypervigilanz) 5.ÜbertriebeneSchreckreaktion E.DasStörungsbild(SymptomeunterKriteriumB,CundD)dauertlängeralseinen Monat. F.DasStörungsbildverursachtinklinischbedeutsamerWeiseLeidenoder Beeinträchtigungeninsozialen,beruflichenoderanderenwichtigen Funktionsbereichen. Bestimme,ob: Akut:WenndieSymptomewenigeralsdreiMonateandauern. Chronisch:WenndieSymptomemehralsdreiMonateandauern. Bestimmeob: MitverzögertemBeginn:WennderBeginnderSymptomemindestenssechsMonate nachdemBelastungsfaktorliegt. DasStörungsbildlässtsichfrühestenseinenMonatnachdemtraumatischenEreignis diagnostizieren.ZusätzlichzudenvorgestelltendreiSymptomkomplexen(hieralsB,C, D)werdendissoziativeErlebnisweisen(B)erwähnt,diealszentraleReaktionsformin traumatischenSituationenanzusehensindundindereinoderanderenFormbeifast jederTraumatisierungauftreten. 19 DiagnostischeKriterienfüreinePTBSnachDSM‐5 FürdieDiagnosenachDSM‐5müssenfolgendeKriterienerfülltsein: A.TraumatischesEreignis: DiePersonwarmiteinemderfolgendenEreignissenkonfrontiert:Tod,tödlicher Bedrohung,schwererVerletzung,angedrohterschwererVerletzung,sexuellerGewalt, angedrohtersexuellerGewalt,undzwarineinerdernachfolgendenWeisen(mindestens eine): 5 Direktausgesetzt 6 AlsAugenzeuge 7 Indirekt;erfahren,dasseinnaherVerwandterodereinFreundeinemtraumatischen Ereignisausgesetztwar.WenndiesesEreigniseinTodesfallodereinetödliche Bedrohungwar,dannmusstedieserbzw.diesedieFolgevonGewaltodereines Unfallesgewesensein. B.Wiedererleben DastraumatischeEreigniswirdwiederkehrendwiedererlebtundzwarineinerder nachfolgendenWeisen(mindestenseine): 3 Wiederkehrende,unfreiwilligeundeindringlichebelastendeErinnerungen(Kinder älterals6JahrekönnendiesepotentiellinrepetitivemSpielausdrücken). 4 TraumatischeAlbträume(KinderkönnenAlbträumehaben,ohnedasssichderInhalt direktaufdastraumatischeEreignisbezieht). 5 DissoziativeReaktionen(z.B.Flashbacks),inDauervariierendvoneinerkurzen EpisodebiszumVerlustdesBewusstseins(Kinderkönnendastraumatische ErlebnisimSpielnachstellen) 6 IntensiveroderlanganhaltenderStress,nachdemdiePersonandastraumatische Erlebniserinnertwurde(unabhängigderUrsachefürdieErinnerung). 7 MarkantephysiologischeReaktion,nachdemdiePersoneneinemReizausgesetztwar, dereinenBezugzumtraumatischenErlebnishat. C.Vermeiden AnhaltendesstarkesVermeidungsverhaltenvontraumaassoziiertenReizennachdem traumatischenErlebnis(mindestenseines): 6 TraumaassoziierteGedankenoderGefühle 7 TraumaassoziierteexterneReize(z.B.Menschen,Orte,Unterhaltungen,Tätigkeiten, ObjekteoderSituationen). D.NegativeVeränderungenvonGedankenundStimmung DienegativenVeränderungenvonGedankenundStimmungbegannenoder verschlechtertensichnachdemtraumatischenErlebnis(mindestenszwei): 2 Unfähigkeit,sichanwichtigeMerkmaledestraumatischenErlebnisseszuerinnern (normalerweisedissoziativeAmnesie;nichtaufgrundeinerKopfverletzung, AlkoholoderDrogen) 3 Andauernde(undoftverzerrte)negativeAnnahmenvonsichselbstoderderWelt (z.B.„Ichbinschlecht“,„DieganzeWeltistgefährlich“). 4 AndauerndeverzerrteVorwürfegegensichselbstodergegenandere,am traumatischenErlebnisoderseinennegativenFolgenschuldzusein. 20 5 AndauerndenegativetraumaassozierteEmotionen(z.B.Angst,Wut,Schuldoder Scham). 6 MarkantvermindertesInteressevonwichtigen(nichttraumaassozierten)Tätigkeiten. 7 DasGefühl,anderenfremdzusein(z.B.DistanziertheitoderEntfremdung) 8 EingeschränkterAffekt:andauerndUnfähigkeit,positiveEmotionenzuempfinden. E.VeränderunginErregungundReaktionsfähigkeit TraumaassoziierteVeränderungeninErregungundReaktionsfähigkeit,dienachdem traumatischenErlebnisbegonnenodersichdanachverschlechterthaben(mindestens zwei): 1 GereiztesoderaggressivesVerhalten 2 SelbstverletzendesoderleichtfertigesVerhalten 3 ErhöhteVigilanz 4 ÜbermäßigeSchreckreaktion 5 Konzentrationsschwierigkeiten 6 Schlafstörungen F.Dauer DasStörungsbild(alleSymptomeinB,C,DundE)dauertlängeralseinenMonat. G.FunktionelleBedeutsamkeit DasStörungsbildverursachtinklinischbedeutsamerWeiseLeidenoder Beeinträchtigungeninsozialen,beruflichenoderanderenwichtigen Funktionsbereichen. H.Ausschluss DieSymptomesindnichtdieFolgevonMedikamenten,Substanzeinnahmeoderanderen Krankheiten. ZuspezifizierenbeidissoziativenSymptomen: ZusätzlichzurDiagnosekanneinePersonineinemhohenMaßeeinederbeiden folgendenReaktionenzeigen: 1 Depersonalisation:DasGefühl,außerhalbdeseigenenKörperszuseinodervonsich losgelöstzusein(z.B.dasGefühl,alsob„dasnichtmirpassiert“sei,oderin einemTraumzusein). 2 Derealisation:DasGefühlvonUnrealität,DistanzoderRealitätsverzerrung(z.B."diese Dingesindnichtreal"). ZuspezifizierenbeiverzögertemBeginndesKrankheitsbildes:Vollständige DiagnosekriteriensindindenerstensechsMonatennachdemtraumatischenEreignis nichterfüllt(einigeSymptomekönnen,abermüssennichtdirektnachdem traumatischenEreignispräsentsein). ImDSM‐IVistPTBSunterderKategoriederAngststörungen aufgeführt,dadavonausgegangenwird,dassAngsteinHauptsymptomderPTSD ausmacht.DiePTBSistinsechsdiagnostischeKriterien(A‐F)eingeteilt.Als HauptmerkmalderPTSDwirdimDSM‐IV„dieEntwicklungcharakteristischer SymptomenachderKonfrontationmiteinemextrementraumatischenEreignis“als KriteriumAbenannt(DSM‐IV1996,S.487).KriteriumB,C,undDbeschreibendiefür einePTSD„charakteristischenSymptome“(ebd.)desWiedererlebens,andauernder 21 VermeidungundAbflachungderallgemeinenReagibilitätsowieanhaltendeSymptome deserhöhtenErregungsniveaus(vgl.ebd.).EswerdeneineVielzahlantraumatischen Erfahrungen,diedirekterlebtwurden,beispielartigaufgeführt: „kriegerischeAuseinandersetzungen,gewalttätigeAngriffeaufdieeigenePerson (Vergewaltigung,körperlicherAngriff,Raubüberfall,Straßenüberfall),Entführung, Geiselnahme,Terroranschlag,Folterung,Kriegsgefangenschaft,Gefangenschaftineinem Konzentrationslager,Natur‐oderdurchMenschenverursachteKatastrophen,schwere AutounfälleoderdieDiagnoseeinerlebensbedrohlichenKrankheit.BeiKindernsind auchihremEntwicklungsstandunangemessenesexuelleErfahrungenohneangedrohte odertatsächlicheGewaltalssexuelltraumatischeErfahrungzuwerten“(DSM‐IV1996, S.487). Alsindirekte,beobachteteEreignissewerden„dieBeobachtungeinerschweren VerletzungodereinesunnatürlichenTodesbeieineranderenPersondurch gewalttätigenAngriff,Unfall,KriegoderKatastrophe“(ebd.)benannt.Auch„Ereignisse, diebeianderenMenschenauftraten,undvondenenmanerfahrenhat“(ebd.),werden aufgeführt.Dazugehören„gewalttätige,persönlicheAngriffe,schwereUnfälleoder schwereVerletzungen,dieeinemFamilienmitgliedodereinernahestehendenPerson zugestoßensind,vomplötzlichen,unerwartetenTodeinesFamilienmitgliedsodereiner nahestehendenPersonzuhörenoderzuerfahren,dassdaseigeneKindaneiner lebensbedrohlichenKrankheitleidet“(ebd.). Im‚Normalverlauf’beginnendieSymptomeinnerhalbdererstendreiMonatenachdem extrembelastendenLebensereignis.DieBeschwerdenkönnenaberauchumMonate odersogarJahreverzögerteintreten(vgl.ebd.S.490). WennderBelastungsfaktornichtalsextrembelastendeinzustufenist,wiez.B.ein VerlassenwerdenvomEhepartneroderderVerlustdesArbeitsplatzes,undeinePerson mitdemSymptombildeinerPTBSreagiert,isteineAnpassungsstörungzu diagnostizieren(vgl.ebd.).EineAkuteBelastungsstörung(F43.0)unterscheidetsich voneinerPTSDv.a.durchdieDauerderBeschwerden.DasSymptombildmuss „innerhalbvon4WochennachdemtraumatischenEreignisauftreten“(ebd.S.491)und innerhalbdieservierWochenauchwiederremittieren.HaltendieSymptomelängerals vierWochenan,„wirddieDiagnosevonakuterBelastungsstörunginPosttraumatische Belastungsstoörungumgewandelt“(ebd.S.491). Eswirdaktuelldiskutiert,obesnichtakkuraterwäre,siedendissoziativenStörungen zuzuordnenodereineeigeneKategoriederBelastungsreaktionenzuschaffen,wieesim ICD‐10erfolgtist(vgl.Liebermannetal.2001;vanderKolketal.2000 DiagnostischeKriterienfüreinePTBSnachDSM‐V FürdieDiagnosenachDSM‐5VmüssenfolgendeKriterienerfülltsein: A.TraumatischesEreignis: DiePersonwarmiteinemderfolgendenEreignissenkonfrontiert:Tod,tödlicher Bedrohung,schwererVerletzung,angedrohterschwererVerletzung,sexuellerGewalt, angedrohtersexuellerGewalt,undzwarineinerdernachfolgendenWeisen(mindestens eine): 8 Direktausgesetzt 9 AlsAugenzeuge 22 10 Indirekt;erfahren,dasseinnaherVerwandterodereinFreundeinem traumatischenEreignisausgesetztwar.WenndiesesEreigniseinTodesfalloder einetödlicheBedrohungwar,dannmusstedieserbzw.diesedieFolgevon GewaltodereinesUnfallesgewesensein. B.Wiedererleben DastraumatischeEreigniswirdwiederkehrendwiedererlebtundzwarineinerder nachfolgendenWeisen(mindestenseine): 8 Wiederkehrende,unfreiwilligeundeindringlichebelastendeErinnerungen(Kinder älterals6JahrekönnendiesepotentiellinrepetitivemSpielausdrücken). 9 TraumatischeAlbträume(KinderkönnenAlbträumehaben,ohnedasssichderInhalt direktaufdastraumatischeEreignisbezieht). 10 DissoziativeReaktionen(z.B.Flashbacks),inDauervariierendvoneinerkurzen EpisodebiszumVerlustdesBewusstseins(Kinderkönnendastraumatische ErlebnisimSpielnachstellen) 11 IntensiveroderlanganhaltenderStress,nachdemdiePersonandastraumatische Erlebniserinnertwurde(unabhängigderUrsachefürdieErinnerung). 12 MarkantephysiologischeReaktion,nachdemdiePersoneneinemReizausgesetzt war,dereinenBezugzumtraumatischenErlebnishat. C.Vermeiden AnhaltendesstarkesVermeidungsverhaltenvontraumaassoziiertenReizennachdem traumatischenErlebnis(mindestenseines): 8 TraumaassoziierteGedankenoderGefühle 9 TraumaassoziierteexterneReize(z.B.Menschen,Orte,Unterhaltungen,Tätigkeiten, ObjekteoderSituationen). 10 D.NegativeVeränderungenvonGedankenundStimmung DienegativenVeränderungenvonGedankenundStimmungbegannenoder verschlechtertensichnachdemtraumatischenErlebnis(mindestenszwei): 9 Unfähigkeit,sichanwichtigeMerkmaledestraumatischenErlebnisseszuerinnern (normalerweisedissoziativeAmnesie;nichtaufgrundeinerKopfverletzung, AlkoholoderDrogen) 10 Andauernde(undoftverzerrte)negativeAnnahmenvonsichselbstoderder Welt(z.B.„Ichbinschlecht“,„DieganzeWeltistgefährlich“). 11 AndauerndeverzerrteVorwürfegegensichselbstodergegenandere,am traumatischenErlebnisoderseinennegativenFolgenschuldzusein. 12 AndauerndenegativetraumaassozierteEmotionen(z.B.Angst,Wut,Schuldoder Scham). 13 MarkantvermindertesInteressevonwichtigen(nichttraumaassozierten) Tätigkeiten. 14 DasGefühl,anderenfremdzusein(z.B.DistanziertheitoderEntfremdung) 15 EingeschränkterAffekt:andauerndUnfähigkeit,positiveEmotionenzu empfinden. E.VeränderunginErregungundReaktionsfähigkeit TraumaassoziierteVeränderungeninErregungundReaktionsfähigkeit,dienachdem traumatischenErlebnisbegonnenodersichdanachverschlechterthaben(mindestens zwei): 7 GereiztesoderaggressivesVerhalten 8 SelbstverletzendesoderleichtfertigesVerhalten 23 9 ErhöhteVigilanz 10 ÜbermäßigeSchreckreaktion 11 Konzentrationsschwierigkeiten 12 Schlafstörungen F.Dauer DasStörungsbild(alleSymptomeinB,C,DundE)dauertlängeralseinenMonat. G.FunktionelleBedeutsamkeit DasStörungsbildverursachtinklinischbedeutsamerWeiseLeidenoder Beeinträchtigungeninsozialen,beruflichenoderanderenwichtigen Funktionsbereichen. H.Ausschluss DieSymptomesindnichtdieFolgevonMedikamenten,Substanzeinnahmeoderanderen Krankheiten. ZuspezifizierenbeidissoziativenSymptomen: ZusätzlichzurDiagnosekanneinePersonineinemhohenMaßeeinederbeiden folgendenReaktionenzeigen: 3 Depersonalisation:DasGefühl,außerhalbdeseigenenKörperszuseinodervonsich losgelöstzusein(z.B.dasGefühl,alsob„dasnichtmirpassiert“sei,oderin einemTraumzusein). 4 Derealisation:DasGefühlvonUnrealität,DistanzoderRealitätsverzerrung(z.B."diese Dingesindnichtreal"). ZuspezifizierenbeiverzögertemBeginndesKrankheitsbildes:Vollständige DiagnosekriteriensindindenerstensechsMonatennachdemtraumatischenEreignis nichterfüllt(einigeSymptomekönnen,abermüssennichtdirektnachdem traumatischenEreignispräsentsein). PosttraumatischeBelastungsstörungnachICD‐10 FürdieDiagnosenachICD‐10müssenfolgendeKriterienerfülltsein: DerBetroffenewar(kurzoderlanganhaltend)einembelastendenEreignisvon außergewöhnlicherBedrohungodermitkatastrophalemAusmaßausgesetzt,das beifastjedemeinetiefeVerzweiflunghervorrufenwürde. EsmüssenanhaltendeErinnerungenandastraumatischeErlebnisoderdas wiederholteErlebendesTraumasinsichaufdrängendenErinnerungen (Nachhallerinnerungen,Flashbacks,TräumenoderAlbträumen)odereineinnere BedrängnisinSituationen,diederBelastungähnelnoderdamitin Zusammenhangstehen,vorhandensein. DerBetroffenevermeidet(tatsächlichodermöglichst)Umstände,dieder Belastungähneln. MindestenseinesderfolgendenKriterien(1.oder2.)isterfüllt: ‐eineteilweiseodervollständigeUnfähigkeit,sichaneinigewichtigeAspektedes belastendenErlebnisseszuerinnern;oder 24 ‐anhaltendeSymptomeeinererhöhtenpsychischenSensitivitätundErregung, wobeimindestenszweiderfolgendenMerkmaleerfülltseinmüssen: ‐Ein‐undDurchschlafstörungen ‐erhöhteSchreckhaftigkeit ‐Hypervigilanz ‐Konzentrationsschwierigkeiten ‐ReizbarkeitundWutausbrüche ‐DieSymptomemüsseninnerhalbvonsechsMonatennachdembelastenden‐ Ereignis(oderderBelastungsperiode)aufgetretensein. HäufigsindzudemsozialerRückzug,einGefühlvonBetäubtseinundemotionaler Stumpfheit,GleichgültigkeitgegenüberanderenMenschensowieeineBeeinträchtigung derStimmung. NimmtdieStörungübervieleJahreeinenchronischenVerlauf,isteineAndauernde PersönlichkeitsänderungnachExtrembelastung(F62.0)zudiagnostizieren. UnterscheidungenzwischenDSM‐IVundDSM‐V PTSDbeginswithastressor.Previously,thatstressorwasnarrowlydefinedashavingto havebeenexperiencedorwitnessed.IntheDSM‐V,however,thestressorcriteriahave beenbroadenedtoinclude: Learnsthatthetraumaticeventoccurredtoaclosefamilymemberorclosefriend (withtheactualorthreateneddeathbeingeitherviolentoraccidental) Experiencesfirst‐handrepeatedorextremeexposuretoaversivedetailsofthe traumaticevent(notthroughmedia,pictures,televisionormoviesunlesswork‐related) MoreattentionintheDSM‐VisplacedonthesymptomsofPTSDratherthanonthe immediatereactionoftheindividualuponexperiencingthestressor.Forthisreason,the DSM‐Vhasoutlinedfourdistinctdiagnosticsymptomclustersinsteadofthree.The symptomclustersofPTSDare: Re‐experiencing(previouslycalled“intrusiverecollection,”)–involvesthe persistentre‐experiencingoftheexperiencethroughthoughtsorperceptions, images,dreams,illusionsorhallucinations,dissociativeflashbackepisodesor intensepsychologicaldistressorreactivitytocuesthatsymbolizesomeaspectofthe event. Avoidance(previouslycalled“avoidant/numbing”)–involvesavoidanceofstimuli thatareassociatedwiththetraumaandnumbingofgeneralresponsiveness.Thisis determinedbyavoidanceofthoughts,feelings,orconversationsassociatedwiththe eventand/oravoidanceofpeople,places,oractivitiesthatmaytriggerrecollections oftheevent. Negativecognitionsandmood(newintheDSM‐V)–involvesnegativealterations inthoughtandmoodascharacterizedbysymptomslike:inabilitytorememberan importantaspectoftheevent(s),persistentnegativeemotionalstate,persistent inabilitytoexperiencepositiveemotionsandothers. Arousal–(previouslycalled“hyper‐arousal”)–involvesalterationinarousaland reactivity.Examplesofthisinclude:irritablebehaviorandangryoutbursts,reckless orself‐destructivebehavior,hypervigilance,exaggeratedstartleresponse, concentrationproblems,and/orsleepdisturbance. LikeintheDSM‐IV,symptomsmustpersistforatleastamonth.UnliketheDSM‐IV, however,theDSM‐VdoesnotseparateacutefromchronicphasesofPTSD. 25 TheDSM‐Vwillalsoincludetwonewsubtypes: Preschoolsubtype–forchildrenlessthan6yearsold PTSDwithprominentdissociativesymptoms–suchasbeingdetachedfromone’smind orbody,orexperiencesinwhichtheworldseemsunreal,dreamlikeordistorted 3.1. Grundsätzliche Überlegungen zu den Diagnoseschemata Mit der Aufnahme der PTSD in die klinischen Klassifikationssysteme für psychiatrische Erkrankungen wird ein Symptombild beschrieben, welches den Zusammenhang von Gewalt und menschlichem Leid anerkennt. Die Einführung der PTSD als Diagnosebild eröffnet die Möglichkeit einer rechtlichen Anerkennung des Leides. Dieses beinhaltet die Möglichkeit, Versicherungsleistungen, Behandlungskosten, Rentenansprüche und Entschädigungsleistungen durchzusetzen. Mit der PTSD im DSM-V wurde eine psychiatrische Diagnose erschaffen, die mit dem Kriterium A eine ätiologische Grundvoraussetzung beinhaltet, nämlich das den Beschwerden vorangehende traumatische Ereignis. Darin werden alle möglichen ‚traumatisierenden’ Lebensereignisse zu Ungunsten einer Berücksichtigung der unterschiedlichen Kontexte nebeneinandergestellt. Im DSM- IV existiert lediglich ein einführender Hinweis auf unterschiedliche ‚traumatisierende Lebensereignisse’, die einen kleinen gemeinsamen Nenner haben. Gemeinsam ist diesen Erlebnissen, dass ein traumatisches Ereignis „eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit für sich oder Andere“ (ICD- 10 1993, S. 22) darstellt. Unterschieden wird aber in beiden klinischen Klassifikationssystemen nicht, ob eine Person ein Erdbeben überlebt hat, eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert bekommt, jahrelang von einer nahestehenden Person, zu der sie in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, sexualisierte Gewalt erfahren- oder im Kontext von Krieg Haft, Folter und Vertreibung erlebt hat. Die im ICD-10 und im DSM-IV formulierten Klassifikationskriterien der PTBS decken nicht das Spektrum traumainduzierter Störungen ab. Es ist auch innerhalb der klinischen Diskussion unumstritten, dass keineswegs alle Opfer extrem belastender bzw. lebensbedrohender Lebensereignisse die Kernsymptomatik einer PTBS entwickeln, sondern andere Symptombildungen im Vordergrund einer klinischen Diagnose stehen können. „Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse“ (Langkafel 2000, S. 3, Herv. K.R.). Es besteht keine für alle Menschen gleichermaßen geltende Reaktion auf extrem stressauslösende Lebensereignisse. Mindestens für folgende Diagnosebilder wird diskutiert, dass sie zusätzlich zu einer PTBS oder auch anstelle von einer PTSD mit einem extrem belastenden Lebensereignis in enger Verbindung stehen bzw. von solchen Ereignissen ausgelöst werden: „Akute posttraumatische Belastungsreaktion, dissoziative Störungen, dissoziative Amnesie, dissoziative Fugue, Depersonalisierungsstörung, Dissoziative Identitätsstörung (“Multiple Persönlichkeitsstörung”), Somatisierungsstörungen bzw. Konversionsstörungen, insb. somatoforme Schmerzstörungen, posttraumatische Depression, Zwangserkrankungen, Borderline Persönlichkeitsstörung, Angsterkrankungen, Essstörungen, insb. Bulimia nervosa, Substanzmissbrauch“ (Wöller et al. 2001 et al. S. 25) Diese werden bei den Komorbiditäten näher erläutert. 26 Die in anderen Kontexten getroffene Unterscheidung zwischen Man- Made- Desaster und bspw. Naturkatastrophen, welche die Qualität der Leiden von Personen mitbestimmen, finden keine Entsprechung im DSM- IV, auch nicht im ICD-10. Dieses erschwert die Benennung gesellschaftlicher Implikationen unterschiedlicher Ursachen für das Leiden der Menschen. In beiden Klassifikationssystemen wird nicht zwischen von (evtl. nahestehenden) Menschen verursachten Traumatisierungen und ‚schicksalhaften’ Ereignissen (Naturkatastrophen, Unfällen etc.) unterschieden. So bewegt sich das PTSD- Diagnosebild in einem Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von Leiden und einer Pathologisierung und Stigmatisierung derer, die an durchaus bestimmbaren und benennbaren Verhältnissen in einer Gesellschaft leiden. Die Posttraumatische Belastungsstörung wird in den aktuellen Klassifikationssystemen zu einer individualistischen Reaktion der betroffenen Person. Eine andere Umgangsweise wäre, sich mit den auslösenden äußeren Ereignissen, sowie deren Bedeutung und gesellschaftlichem Hintergrund auseinander zu setzen und so den konkreten Bezug des Individuums zur konkreten Belastung herzustellen. Traumatische Ereignisse und Erfahrungen führen beim Menschen zu einer nachhaltigen Erschütterung seines Welt- und Selbstverständnisses (> Trauma). Die Reorganisation und Restitution von Selbst- und Weltverständnis ist wesentlicher Bestandteil der spezifisch menschlichen Traumaverarbeitung. Dieser Prozess folgt Gesetzmäßigkeiten, die sich bei Tieren nicht identisch beobachten lassen, obgleich traumatogene Situationen im Tiermodell in erstaunlicher Weise den menschlichen gleichen. Die PTBS zeichnet sich insgesamt durch ein relativ klares und einfaches Zuordnungssystem aus, was diagnostisch ein Vorteil ist. Aber es ist wohl eher zu eng als zu weit gefasst. Kritik wurde wiederholt am Algorithmus (= Verrechnungssystem) des Syndroms geübt, z. B. an dem Kriterium, dass für die Diagnose sowohl Intrusions- als auch Vermeidungssymptome vorhanden sein müssen. In der Verlaufsbetrachtung der traumatischen Reaktion, erst recht aber im traumatischen Prozess können die Phasen von Verleugnung und Intrusion zeitlich alternieren. Manche Patienten sind vorübergehend sogar symptomfrei und entwickeln Symptome erst bei einer situativen Neuauflage der traumatischen Erfahrung. 4. Neurophysiologische Erklärung widersprüchlicher Symptome Offensichtlich gibt es bei den Symptomen des Psychotraumas scheinbar widersprüchliche Symptome, nämlich die der Übererregung und die der Amnesie und Dissoziation. Zu den Symptomen der Übererregung zählen Alpträume und Flashbacks, die zu den quälendsten Traumasymptomen gehören. Sie können so weit gehen, dass sich der Betroffene wieder in die Situation zurückversetzt fühlt und entsprechend agiert. Sie können zu erheblichen Störungen im sozialen Funktionsniveau des Betroffenen führen. Dissoziation und Amnesie 27 Dissoziation und Amnesie dienen dagegen der Abspaltung und Unterdrückung der quälenden Erinnerung. Innerhalb der Dialektik von Auseinandersetzung und Abwehr kommt dem Phänomen der Dissoziation eine herausragende Bedeutung zu. Dissoziation ist ein „TraumaCoping-Mechanismus“, der, wie Reddemann und Sachsse betonen, eingesetzt werde, wenn es keine Möglichkeit zu Kampf oder Flucht gebe. („Coping“ ist ein Ausdruck aus der Stresstheorie und bezeichnet Strategien zur Bewältigung von Stressphänomenen) Wilson definiert Dissoziation als einen „Prozess, durch den bestimmte Gedanken, Einstellungen oder andere psychische Aktivitäten ihre Relation zu anderen psychischen Aktivitäten bzw. zur übrigen Persönlichkeit verlieren, sich abspalten und mehr oder minder unabhängig funktionieren.“ (zit. nach Reddemann/Sachsse, 1997, S. 118). Am bekanntesten ist die Form der Dissoziation, die manche Opfer als ein Heraustreten aus dem eigenen Körper beschreiben, wodurch sie sich selbst von außen beobachten. Erich Fromm nannte die Dissoziation dementsprechend eine „Spaltung zwischen beobachtendem Ich und erlebendem Ich“ (Fromm 1965). Vor allem missbrauchte oder misshandelte Kinder nutzen die Dissoziation als eine Möglichkeit, unerträgliche Realitäten zu verlassen. Wie alle Traumasymptome kann sich auch dieser ursprünglich schützende Mechanismus verselbständigen und zu dauerhaften Problemen führen, indem jemand etwa später nach bestimmten Auslösereizen (den so genannten „Triggern“) unwillkürlich die Realität verlässt und „dissoziiert“. Kühner: Luise Reddemann und Ulrich Sachsse sehen diese entgegengesetzten Tendenzen als funktionalen Bewältigungsprozess, durch den das Trauma „integriert“ werde. Wenn dieser Bewältigungsprozess durch verschiedene externe oder interne Faktoren (z.B. der Persönlichkeitsstruktur) erschwert oder gestört wird, komme es zu länger anhaltenden Schwierigkeiten (vgl. Reddemann/Sachsse, 1997). Interessant ist, dass die Autoren dabei dem sozialen Umfeld eine entscheidende Rolle zuweisen. In den Reaktionen der Umwelt, so Reddemann und Sachsse, spiegeln sich meist ebenfalls die gleichen Impulse, nämlich entweder zur aktiven Auseinandersetzung zu ermutigen („Sprich drüber, lass es raus“) oder zur Verleugnung („Lenk dich ab“). In diesem Sinne kann man die unterschiedliche Intensität von Auseinandersetzung bzw. Intrusion oder Verleugnung auch als Folge dessen interpretieren, was ein bestimmtes soziales Umfeld nahe legt oder sogar ermöglicht. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil es der spontanen, naiven Annahme Außenstehender widerspricht, ein Trauma sei umso schlimmer einzuschätzen, je deutlicher eine Person an Intrusionssymptomen leidet. Das Gegenteil kann der Fall sein, nämlich, dass jemand sich durch ein verlässliches Umfeld vorübergehend mehr „Intrusion“ leisten kann und sich dann schneller erholt. Insgesamt gibt es dafür jedoch kaum feste Regeln. Reddemann und Sachsse weisen darauf hin, dass es dann zu einer Störung des Bewältigungsprozesses kommen kann, wenn dem Betroffenen von relevanten Anderen die eigene Wahrnehmung abgesprochen wird. Insgesamt zeigen zahlreiche Untersuchungen die eminente Bedeutung, die „soziale Unterstützung“ für die Erholung von einem traumatischen Erlebnis hat. Diese gegensätzlichen Phänomene erklären sich aber vor allem aus dem neurophysiologischen Geschehen während der Traumatisierung. In einer gefährlichen und potentiell traumatischen Situationen kommt es zu der Copingkaskade des: „Freeze, Flight, Fight, Fright, Flag und Faint“, also des Erstarrens (Innehaltens), Flüchtens, Kämpfens, Schreckens, Erschlaffens und der Ohnmacht. (Zunächst erlaubt das „Halt-Schau-Horch“ (stop-look-listen) (Freeze) eine genaue Wahrnehmung und Einschätzung der Bedrohung. 28 Pavlov bezeichnete diese spontane Reaktion 1927 als „Shto Eta) (Was ist es?) – ein Reflex, der die Sinne auf die Reizquelle lenkt und der als Sammlung der körperlichen Reaktionen betrachtet werden kann, die bei der Verarbeitung des Reizes helfen können. Dazu gehören die Weitung der Pupillen, ein sinkender Hautwiderstand und ein vorübergehende Verlangsamung des Herzschlags. Wenn der Reiz als Bedrohung wahrgenommen wird, wird eine Alarmreaktion ausgelöst mit Erregung des Sympathikus. Das ermöglicht es dem Organismus, der Gefahr entgegenzutreten. Der Herzschlag wird beschleunigt, der Blutdruck steigt, und die Gefäße ziehen sich zusammen. Es kommt zur Flucht (Flight) oder zum Kampf (Fight). Dabei ist zu beachten, dass hochgradig aversive Stimuli, die nahe beim Organismus auftauchen, keine Orientierungsreaktion, sondern eher einen Abwehrreflex auslösen. Zum Beispiel kommt eine sehr lautes und plötzliches Geräusch höchstwahrscheinlich von einer nahen Gefahr und ruft eine erschreckte Reaktion hervor – die Pupillen ziehen sich zusammen, und der Herzschlag beschleunigt sich. Dieser Verteidigungsreflex beinhaltet Reaktionen, die dabei helfen, das Ereignis zu blockieren. Die peritraumatische Panik erreicht ihren Höhepunkt in der Schreckensreaktion (Fright). Wird die Angst überwältigend, bzw. kommt das Opfer in direkten Kontakt mit dem Täter oder seinen Körperflüssigkeiten, kann das zu einer parasympathetischen Dominanz (Bradykardie (= Herzfrequenz von < 60/Minute)führen, die einen Abfall des Blutdrucks und eine Weitung der Blutgefäße bewirkt. Es kommt also zu einer vasovagal bedingten Reaktion der tonischen Erschlaffung bzw. Immobilität (Flag), in der die Kontrolle über die äußeren Gliedmaßen und die Stimme verloren geht. Dieser Zustand kann sogar übergehen in eine Ohnmacht (Faint). Die Erschlaffungsreaktionen vergrößern die Überlebenschancen, wenn es scheinbar keine Möglichkeit mehr gibt, zu entkommen oder den Kampf zu gewinnen. Die tatsächliche Sequenz der traumabezogenen Reaktionen in extreme gefährlichen Situation hängt vom subjektiven Gefühl der Bedrohung im Verhältnis zum eigenen Handlungsvermögen ab. Da spielen Alter, das Geschlecht und Körperbau eine Rolle sowie die vermeintlichen Eigenschaften des Angreifers bzw. der Gefahr. Daher variiert der Ablauf dieser Kaskade von Mensch zu Mensch. Der Körper, einschließlich des Gehirns, kann also mit Gefahr auf flexible und angepasste Art umgehen. Im Gegensatz zur Homöostase, i. d. h. Der Fähigkeit des Organismus, einen stabilen inneren Zustand zu erhalten, gibt es bei der Anpassung an Stresssituationen eine erhebliche Flexibilität. Die Stresssituationen können eine Reihe von physischem Mangel wie Kälte, Lärm, Nahrungs- oder Schlafentzug und Ähnliches enthalten oder sich auf wirkliche oder vorgestellte Situationen von Angst beziehen und eine Alarm- oder Herunterschaltreaktion auslösen. Diese können in einer entsprechenden Störung im Traumaspektrum führen. Säugetiere und damit auch Menschen haben zur Abwehr unangenehmer Reize ein Arsenal von Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten. Selbst mit kleinen Schlüsselreizen kann das Gehirn eine geeignete Möglichkeit aus der Kampf-FluchtEinfrieren-Ohnmachts-Verteidigungsskala (flight-fight-freeze-faint defense cascade) aktivieren. Eine evolutionäre Sichtweise legt nahe, dass diese Herunterschaltung (shutdown) das Überleben in folgenden Situationen ermöglicht: - Wenn der Organismus in direktem oder ganz naher Begegnung mit einem gefährlichen Täter ist, bzw. wenn schon Hautkontakt besteht; - In der Gegenwart von Körperflüssigkeiten und der Gefahr der Kontamination, z. B. mit Blut oder Sperma; 29 - Wenn die körperliche Unversehrtheit schon verletzt ist oder bei drohender Verletzung, z. B. sexueller Penetration, scharfen Gegenständen wie Zähne oder ein Messer an der Haut oder bei medizinischen Prozeduren. Diese Situationen erfordern physiologische Anpassungen wie Immobilität und Betäubung gegenüber Schmerz, damit man sich tot stellen und weitere Verletzungen des eigenen Gewebes vermeiden sowie totale Unterwerfung signalisieren kann. Damit einher geht ein Umschalten im Bewusstsein, in der Informationsverarbeitung und im Verhalten, das von außen seltsam erscheinen mag, weil es außerhalb des gewöhnlichen Erfahrungsbereichs liegt. Evolutionsbiologisch macht dieser Totstellreflex Sinn, weil man bei Raubtieren und Opfern beobachten kann, dass die Attacken des Angreifers nachlassen, wenn sich das Opfer nicht mehr wehrt. Oft lässt es dann sogar von ihm ab. Gegenwehr in einer Lage, in der man offensichtlich schon besiegt ist, wäre also in der Regel kontraproduktiv. Deswegen sorgt der Organismus dafür, dass diese nicht stattfinden kann. Die Art der Traumafolgestörung, bzw. ihre Symptome, hängen wiederum von der Art der Traumatisierung ab bzw. lassen darauf schließen, wie groß die gefühlte Bedrohung war, ob die Gefahr als „hautnah“ erlebt wurde, ob die Körperbarriere verletzt wurde, bzw. der Täter in irgendeiner Form in den Opfer des Körpers eingedrungen ist oder nicht. 5. Prävalenz Mit welcher Vorsicht Angaben zur Prävalenz zu genießen sind, zeigt folgende Geschichte. Zwischen dem DSM III und dem DSM IV hat man versucht, die Definition für Trauma, die es da gab, zu verändern. Zur Überprüfung einer ersten Veränderung wurde ein Test in einer amerikanischen Großstadt gemacht, und es wurde festgestellt, dass nach der neuen Definition 55 Prozent der Leute in dieser Stadt traumatisiert waren. Man folgerte aus dieser hohen Prävalenz, dass diese Traumadefinition nicht benutzt werden konnte. Also wurden die Kriterien wieder eingeengt, damit es nicht mehr 55 Prozent sind. Das Problem ist also eines der Definition. 50 bis 90 Prozent der Erwachsenen und Kinder in den USA erleben in ihrem Leben ein Trauma, zumeist im Kontext eines Verkehrsunfalls, welches aber nicht unbedingt zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen muss. Die lebenszeitliche Prävalenz einer PTBS liegt bei etwa 8 %, kann aber bei exponierten Personen wie Rettungskräften, Ärzten, Polizisten, Soldaten oder Flüchtlingen auf über 50 % ansteigen. Missbrauch führte laut einer deutschen Stichprobe in 30 % der Fälle zur Entwicklung einer PTBS, Vergewaltigung bei jedem zweiten davon Betroffenen. Nach Guido Flatten und Arne Hofmann 2001 liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine PTBS nach politischer Haft und Verfolgung deutlich höher als hier angegeben, nämlich bei 50–70 %. Allerdings legen diese Autoren andere Kriterien für die Diagnose an, als von der Weltgesundheitsorganisation gefordert. Laut einer Studie von 2004 führen Kampfsituationen bei Soldaten zu 38,8 % zu der Ausbildung einer PTBS. Nach den Erfahrungen des Vietnamkrieges musste man mit Quoten von mehr als 30 % der Kombattanten rechnen. 30 6. Differenzialdiagnostik Es soll beachtet werden, dass komorbide Störungen bei der Posttraumatischen Belastungsstörung eher die Regel als die Ausnahme sind. Deswegen wird die PTBS häufig übersehen, insbesondere wenn das traumatische Ereignis schon länger zurückliegt. Das ICD- 10 weist eine größere Variationsbreite des Diagnosebildes der posttraumatischen Störungsbilder auf, als das DSM-IV. Diagnostiziert werden kann, wie nach DSM- IV eine Akute Belastungsreaktion (F.43.0) , eine Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), darüber hinaus aber auch eine Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0) (vgl. ICD- 10, Kap. V. 1993). Ebenfalls sind im ICD-10 die PTBS und die akute Belastungsreaktion gemeinsam mit einer Anpassungsstörung (F 43.2), die ähnliche Symptome beschreibt, aber kein ‚traumatisches Ereignis’ voraussetzt unter „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“ ( ICD- 10, Kap. V, 1993 S. 22) klassifiziert worden. In der Einleitung zu dieser Kategorie wird darauf verwiesen, dass sich die „Störungen dieses Abschnittes [...] von den übrigen nicht nur aufgrund der Symptomatologie und des Verlaufs [unterscheiden, K.R.], sondern auch durch die Angabe von ein oder zwei ursächlichen Faktoren: ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft“ (ebd.). Weiter wird darauf hingewiesen, dass schwere Lebensereignisse oder Situationen auch den Beginn und Verlauf „zahlreicher anderer Störungen [...] auslösen und beeinflussen können“ (ebd.), die Ursache der Entwicklung von psychiatrischen Störungen sei allgemein „nicht immer ganz klar“ (ebd.). Hier taucht die von PraktikerInnen immer wieder aufgeworfene Frage danach auf, was eigentlich traumatisch sein kann und was nicht. Verwandte Störungsbilder sind also: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) Akute Belastungsreaktion ICD10: F 43.0 Anpassungsstörung ICD10: F 43.2 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD10: F 62.0 Dissoziative Störungsbilder F 44 Die Unterscheidung zur PTBS liegt im katastrophischen Ausmaß des Ereigniskriteriums begründet, das bei der PTBS am stärksten ausgeprägt ist. Bei den beiden anderen Störungsbildern ist die subjektive Disposition der Patienten stärker ausgeprägt. 6.1. Verwandte Störbilder Akute Belastungsstörung Bei einer akuten Belastungsreaktion handelt es sich um: „Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die 31 individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping- Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad der akuten Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von ‚Betäubung’, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiterer Rückzug aus der Umweltsituation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor, siehe F44.2) oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue). Wir finden hier also ganz ähnliche Symptome wie bei der PTBS. Vegetative Zeichen panischer Angst wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten treten zumeist auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie (siehe F44.0) bezüglich dieser Episode kann vorkommen. Wenn die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung gezogen werden. [...]“ (ICD- 10, Kap. V, 1993, S. 22), nämlich in PTBS. „Bei der akuten Belastungsreaktion handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder soziale Werte (wie bei Emigration oder nach Flucht). Sie kann auch in einem größeren Entwicklungsschritt oder einer Krise bestehen (wie Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten Zieles und Ruhestand). Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielen bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle – genau wie bei der PTBS - ; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Symptom sein. Hervorstechendes Merkmal kann eine kurze oder längere depressive Reaktion oder eine Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens sein“ (ICD- 10, Kap. V, 1993, S. 22). Anpassungsstörung Im DSM wird zwischen akuter und chronischer Anpassungsstörung unterschieden. Bei ersterer dauert die Störung weniger als sechs Monate, bei letzterer sechs Monate oder länger. Die Anpassungsstörung kann einhergehen entweder mit einer depressiven Stimmungslage oder einer ängstlichen, ferner mit einer Mischung aus Angst und Depression, mit Verhaltensstörungen oder einer Mischung von Verhaltens- und emotionalen Störungen. Personenverluste bilden eine Ausnahme, wenn die Reaktion eine über das erwartbare Maß an Trauer und Bedrückung hinaus, so kann eine Anpassungsstörung im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion diagnostiziert werden. Differentialdiagnostisch zum PTBS ist der Zeitraum bedeutsam, in dem sich die Störung manifestiert. Während PTBS Monate oder auch Jahre nach dem belastenden Ereignis auftreten kann, tritt die Anpassungsstörung innerhalb von drei Monaten im Anschluss darauf auf und dauert nicht länger als 6 Monate an, gerechnet ab dem Zeitpunkt der traumatischen 32 Erfahrung. Nach diesem Kriterium können sich beide Störungsbilder zeitlich überschneiden. So kann es sein, dass eine gegenwärtige Anpassungsstörung in Wirklichkeit die Reaktion auf eine längere Zeit zurückliegende traumatische Erfahrung darstellt und so den Kriterien des PTBS entspricht. Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ICD10: F 62.0 Die umfangreichen Folgen, einer durch Traumatisierung gestörten Persönlichkeitsentwicklung, werden aktuell unter den Begriffen „Komplexe Traumafolgestörung“, „Developmental Trauma Disorder“ oder „Komplexe Präsentation einer Posttraumatischen Belastungsstörung“ diskutiert. Eine Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (F62.0) wird definiert als: „Eine andauernde, wenigstens über zwei Jahre bestehende Persönlichkeitsänderung kann einer Belastung katastrophalen Ausmaßes folgen. Die Belastung muss extrem sein, so daß die Vulnerabilität der betreffenden Person als Erklärung für die tiefgreifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Die Störung ist durch eine feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt, durch sozialen Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, ein chronisches Gefühl der Anspannung wie bei ständigem Bedrohtsein und Entfremdungsgefühl, gekennzeichnet. Eine Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) kann dieser Form der Persönlichkeitsänderung vorausgegangen sein. Persönlichkeitsänderungen nach: • andauerndem Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, etwa als Opfer von Terrorismus; • andauernder Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr; • Folter; • Katastrophen; • Konzentrationslagererfahrungen [...]“ (ICD 10, Kap. V 1993 S. 33)“ Dissoziative Störungsbilder F 44 Dissoziative Störungen gelten heute als typische Folge schwerer komplexer Traumatisierung, ein Zusammenhang, den wie gesagt schon Pierre Janet erkannt hatte. Bei ‚Dissoziation’ wird allgemein zwischen Gelegenheitsdissoziation, peritraumatischer Dissoziation und dissoziativen Störungen unterschieden. Gelegentliche ‚Geistesabwesenheit’ wie Fehlleistungen zählen zur ersten Kategorie, peritraumatische Dissoziationen, wie Derealisation, Depersonalisation oder Veränderung des Zeiterlebens treten in der traumatischen Situation auf, während die dissoziativen Störungen als Folge traumatischer Prozesse zu verstehen sind. Bei den dissoziativen Störungen werden neuronalen Netzwerke unterbrochen, welche Emotion, Kognition und Erinnerung verknüpfen. So entsteht das Phänomen von abrupten Zustandswechseln (Switching), das für Außenstehende und die Betroffenen selbst mit dem Effekt einer Drehbühne vergleichbar ist. Das „Switchen“ der Erlebniszustände, der abrupte Wechsel, kann auf die Reizüberflutung in der traumatischen Situation zurückgeführt werden. Es dient einer Segmentierung des traumatischen Erlebens in gerade noch erträgliche Einheiten und ist insofern als Überlebenstechnik zu verstehen. Psychogene Amnesien (F.44.0) unterbrechen die Erinnerung, bei dissoziativen Fuges (F44.1) wird die Fluttendenz der ‚unterbrochenen’ Fight-Flight-Reaktion reaktiviert, und die Patienten 33 finden sich an einem anderen Ort wieder, oft ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind. Der ‚dissoziative Stupor’ (F44.2) entspricht dem Totstellreflex, der in der traumatischen Situation ausgelöst wurde, im Traumaschema gespeichert ist und durch Stimuli reaktiviert werden kann, die an die traumatische Erfahrung erinnern. Dissoziative Krampfanfälle (F44.4) reaktivieren nach Robert Bering die Gegenwehr in der traumatischen Situation. Durch Bewusstlosigkeit ist der sensorische Flügel des Traumaschemas abgekoppelt, und der motorische Flügel automatisiert die Abwehrreaktion. Das Vorhandensein eines psychotraumatischen Hintergrundes muss differenzialdiagnostisch zur Abgrenzung von Epilepsie beachtet werden. Bei den dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6) sind neben psychogenen Sehstörungen auch dissoziativer Tinnitus und Schmerzsyndrome zu erwähnen. Beides kann hypothetisch auf die Reaktivierung des Traumaschemas zurückgeführt werden. Die Voraussetzungen zum Verständnis der geheimnisvoll anmutenden, diagnostisch lange Zeit übersehenen ‚dissoziativen Identitätsstörung’ (F44.7) wurden in diesem Kapitel schon ausführlich erarbeitet. Sie tritt in der Folge von schwerer fortgesetzter körperlicher und sexueller Misshandlung und Folter auf, häufig verbunden mit Ritualisierung in einer Sekte. Obwohl die Betroffenen selbst oft von Teilpersönlichkeiten sprechen, die abwechselnd ihr bewusstes Erleben und Verhalten beherrschen, handelt es sich nicht um wirkliche Teilpersönlichkeiten, sondern verselbständigte und aus ihrer gegenseitigen Verbindungen ‚entkoppelte’ Erlebniszustände. Obwohl deren gegenseitiger Zusammenhagn subjektiv unbewusst geworden ist, lässt er sich als ‚unbewusst-intentional’ rekonstruieren. 6.2. Komorbiditäten Differentialdiagnostische Kriterien sind vor allem gegenüber solchen Störungen von Interesse, die Ähnlichkeit oder Überschneidungen mit den psychotraumatischen Syndromen aufweisen. Gleichzeitig kann ein Patient jedoch auch unter beiden Störungen leiden. Diesen letzteren Fall bezeichnen wir als Ko-Morbidität, als gleichzeitiges Auftreten zweier Krankheiten. Neben der schon erwähnten Anpassungsstörung überschneidet sich das PTBS jeweils in einigen Symptomen mit Depression, Schizophrenie, Angststörungen, antisozialer und Borderline- Persönlichkeitsstörung. Die Ähnlichkeit einiger Symptome mit psychotischem Erleben hatte nach Arnold (1985) dazu geführt, dass nicht wenige Vietnamveteranen mit PTBS die Diagnose ‚paranoide Schizophrenie’ erhielten. Ihre intrusiven Erinnerungsbilder wurden als Halluzinationen bewertet und die erhöhte Wutbereitschaft der ehemaligen Soldaten auf paranoide Ideen zurückgeführt. Das Beispiel kann verdeutlichen, wie häufig vor Entwicklung der Psychotraumatologie Traumaopfer als schwer ‚gestört’, evtl. als psychotisch eingestuft wurden. Wegen der Dissoziationen und der Flashbacks wird, wie gesagt, mitunter fälschlich Schizophrenie diagnostiziert. Ein differenzialdiagnostistisches Kriterium dazu ist jedoch der Inhalt der dissoziierten Rückblenden und Erinnerungsbilder. Während diese beim PTBS die traumatischen Erfahrungen ausdrücken, lassen sich die schizophrenen Halluzinationen meist mit keiner konkreten Erfahrung in Zusammenhang bringen. Andererseits kann eine psychotische Episode selbst ein traumatisches Ereignis für den Betroffenen im Sinne der DSM IV-Kriterien darstellen. Eine Studien konnte bei annähernd der Hälfte von 36 stationär behandelten Patienten ein PTBS nachweisen, das sich in der Erholungsphase nach dem psychotischen Erleben entwickelte. 34 Da sich eine PTBS mit möglicherweise sogar jahrzehntelanger Verspätung zeigen kann, sind häufiger komorbide Pathologien früher sichtbar. Das kann in der Form einer Drogensucht oder einer Depression sein. Zu den häufigen Komorbiditäten zählen: Affektive Störungen F 32, 33, 34 Bei den affektiven Störungen (F3 nach ICD) stehen Manie und Depression im Vordergrund. Vor allem bei ‚bipolarem’ Wechsel von Manie und Depression kann das ‚Drehbühnenmodell’ zum Verständnis beitragen. Soweit traumatische Belastungen im Hintergrund stehen, hat sich vor allem sexueller Kindesmissbrauch durch nahestehende Personen als bedeutsam erwiesen. Dabei spiegeln die manischen Erlebniszustände z. T. die Stimmungslage des ‚Allmächtigen’, grenzüberschreitenden Erwachsenen wieder, einen ‚Täter-state’, während in den depressiven zuständen vor allem die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe dominieren, die sich das missbrauchte Kind für seinen Missbraucht macht (Selbstbeschuldigung der Opfer). Mit der Major Depression im DSM IV überschneiden sich folgende Symptome: Verlust von Interesse an Aktivitäten, Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen. Die Differenzialdiagnose ist hier schwierig, da sich eine depressive Stimmungslage auch aus den verbreiteten Phänomenen des Schuldgefühls, evtl. der Überlebendenschuld bei Traumaopfern ableiten lässt. Ein differenzielles Kriterium ist das Vorkommen prätraumatischer depressiver Episoden. Co-Morbiditäten zwischen Depression und psychotraumatischen Störungsbildern werden relativ häufig diagnostiziert. Typische disponierende Belastungsfaktoren für schwere Depressionen sind Vertreibung und Migration sowie die Schwerstpflege und Sterbebegleitung naher Angehöriger. Heimatverlust, Gefühle der ‚Entwurzelung’ und Schuldgefühle wegen des Todes der Pflegeperson scheinen besonders die suizidalen Tendenzen zu fördern. Belastungen in der Kindheit, wie Gewalt oder Missbrauch , bringen vor allem dann eine depressive Entwicklung im späteren Leben hervor, wenn sie bei den Kindern und Jugendlichen mit dem Gefühl von schutzloser Preisgabe einhergingen. Substanzabhängigkeit F 1 Der Alkohol- oder anderer Suchtmittelgenuss soll die traumatische Angst und die intrusiven Erinnerungsbilder unter Kontrolle bringen, was sich als eine Form der Selbstmedikation verstehen lässt. Des weiteren stellt die Einnahme von Drogen oder Alkohol eine Möglichkeit dar, Kontakt mit der Umgebung aufzunehmen, ohne jedoch zu große beängstigende Nähe entstehen zu lassen. Die Suchtmittel werden also im Sinne eiiner Wiederherstellung von Wahrnehmungs- und/oder Handlungskontrolle verwendet. Oft findet sich in der Familie solcher Menschen bereits ein Suchthintergrund, der die Bevorzugung dieser Form der Traumaverarbeitung begünstigt. Auch mit Alkoholabusus ist eine erhöhte Co-Morbiditätsrate gegeben, die u. a. auf die Versuche von Traumapatienten zur Selbstmedikation zurückzuführen ist. Alkohol kann 35 Alpträume unterdrücken, das Erregungsniveau des autonomen Nervensystems reduzieren und nichttraumatische Phantasien fördern. Alkoholgenuss in begrenzter Menge kann als am Beginn der traumatischen Erfahrung die psychische Abwehr stärken. Es besteht jedoch die Gefahr der Gewöhnung, wenn keine anderen Verarbeitungsmöglichkeiten gefunden werden. Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit ist häufig ein Grund, weshalb sich Traumapatienten später in Behandlung begeben. Somatoforme Störungen F45 Bei den somatoformen Störungen unterscheidet das ICD die Somatisierungsstörungen (F45), undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1), die hypochondrische Störung (F45.2), die somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) und die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4). Der psychotraumatische Anteil an diesen Störungsbildern ergibt sich meist aus einer Kombination von Übererregung, Intrusionen und Phänomenen des ‚Körpergedächtnisses’, das einer somatischen Repräsentation des Traumaschemas entspricht. Das Traumaschema als ‚unterbrochene Handlung’ wird gewissermaßen im Körper ‚eingefroren’ und verursacht an der betreffenden Stelle oft anhaltende Schmerzen. Ich habe es immer wieder erlebt, dass sich die somatischen Symptome auch am Ort der Traumatisierung ausbilden, also Kopfschmerzen nach Schlägen auf den Kopf, Unterleibsschmerzen nach einer Vergewaltigung etc. Chronifizierte posttraumatische Belastungen können über die traumaassoziierte Stressaktivierung den Verlauf körperlicher Erkrankungen mitbedingen oder beeinflussen. Insbesondere ist dies belegt für Herz-Kreislauferkrankungen und immunologische Erkrankungen. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6): In diese diagnostische Kategorie sind die in der klassischen Psychiatrie so genannten ‚Psychopathen’ eingegangen, von psychoanalytischer Seite die sogenannten ‚Charakterneurosen’ oder ‚neurotischen Charaktere’. Der psychoanalytische Terminus steht im Kontrast zum Begriff der ‚Symptomneurose’. Die diagnostische Fastregel lautet: Unter einer Symptomneurose bzw. neurotischen Symptomen leidet die betreffende Persönlichkeit selbst, unter einer Charakterneurose ihre soziale Umgebung. Das trifft für das Konstrukt ‚Persönlichkeitsstörung’ nach ICD nur noch vereinzelt zu. So kann etwas die Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) subjektiv frei von Leidensdruck sein, desto mehr leidet jedoch ihre soziale Umgebung. FR 56: Überschneidungen mit der antisozialen Persönlichkeit bestehen in Impulsivität, feindseliger Haltung, unverantwortlichem Finanzgebaren und sexuellen Funktionsstörungen als Symptomen, die sich auch bei Traumapatienten finden. Unterschiede lassen sich vor allem an der Biographie der beiden Patientengruppen feststellen. Bereits in der Kindheit und Jugendzeit auftretende antisoziale Verhaltensweisen sind ein verlässlicher Hinweis auf die antisoziale Persönlichkeit. Co-Morbidität besteht jedoch häufig, da antisoziale Persönlichkeiten einen Lebensstil pflegen, der sie einem erhöhten Traumarisiko aussetzt. Bei anderen Persönlichkeitsbildern, wie etwas der Borderline-Persönlichkeit (Emotional instabile Persönlichkeitsstörung) (F60.31) 36 kurz BPS, leidet zumeist der Patient selbst wie auch sein soziales Umfeld. Der psychotraumatische Hintergrund der BPS kann heute für viele Fälle als gesichert gelten. Gleichzeitig scheint die Störung mit einem Defizit in der psychischen Strukturbildung einherzugehen, das neben der psychotraumatischen Ätiologie auch auf einen biologischen Anteil verweist, so dass nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand im typischen Fall von einer gemischten Ätiologie (traumatisch und biologisch) auszugehen ist. Kommt noch die ätiologische Komponente Untersozialisation hinzu, so treten dissoziale Züge auf, die sich als Identifkation mit dem Täter und Übernahme der Täterrolle erweisen. Diese Neigung zur Umkehr der ‚Täter-Opfer-Konstellation’ sollte therapeutisch unbedingt berücksichtigt werden, da andernfalls der Therapeut unbewusst in die Opferrolle gerät und zu aggressivem Gegenagieren neigt. Zum Zusammenhang von Borderline Persönlichkeitsstörung und Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung: In einem Review wurde die Literatur von 1995 bis 2007 gesichtet und hinsichtlich des kausalen Zusammenhangs zwischen BPS und Traumatisierung in der Kindheit untersucht. Zur Beurteilung kamen folgende Kriterien zur Anwendung: Stärke des Zusammenhangs, zeitlicher Auftreten, Dosis-Wirkungsbeziehung, Spezifität, Folgerichtigkeit, biologische und epidemiologische Plausibilität und Analogien (Hill 1984). Stärke des Zusammenhangs: Es wird ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der BPS und sexualisierter Gewalt in der Kindheit beschrieben wobei ein Review von Raten zwischen 40% und 70% bei BPS im Unterschied zu anderen Achse I Diagnosen (CSA: 19%-26%) ausgeht (Zanarini et al. 2000). Zeitliches Auftreten: Für den zeitlichen Zusammenhang ist die Evidenz schwieriger zu finden da der Großteil der Studien auf retrospektive Angaben der Betroffenen angewiesen ist. Rogosch und Cicchetti (2005) fanden bei Jugendlichen, bei denen Misshandlungserfahrungen dokumentiert waren, signifikante Prädiktoren für die Entwicklung einer BPS. Dosis-Wirkungsbeziehung: Drei Studien konnten den eindeutigen Zusammenhang zwischen der Schwere der erlebten Gewalt (2 Studien CSA) und der Ausprägung der BPS Symptome zeigen. Spezifität: Hinsichtlich der Spezifität sind die Ergebnisse weniger eindeutig, da immerhin 20-45% (Sabo et al. 1997) der Patienten mit einer BPS keine traumatischen Erfahrungen berichten. Die Autoren gehen von der multifaktoriellen Genese bei der Entwicklung einer BPS aus. Die Forschung {von Nahas et al.(2005), Rinne et al.(2005), Schmahl et al.(2006)} zeigt ähnliche Veränderungen in Gehirnen von Patienten mit BPS und Patienten mit PTBS. Die epidemiologische Evidenz wird an der höheren Raten von Frauen mit BPS und der gleichzeitig höheren Missbrauchsrate von Frauen gegenüber Männern abgeleitet. Analogien: 37 Es wurden verschiedene multifaktorielle Modelle in der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen untersucht, doch bislang noch keine mit empirischer Evidenz für BPS. Schlussfolgerung: Die Ergebnisse des Reviews weisen auf einen kausalen Zusammenhang zwischen kindlicher Traumatisierung und der Entwicklung einer BPS hin, insbesondere dann wenn eine multifaktorielle Genese ätiologisch in Betracht gezogen wird. Weitere Störungen, bei denen traumatische Belastungen maßgeblich mitbedingend sind: Verhaltensauffälligkeiten bei körperlichen Störungen und Faktoren (F5): Hierunter fallen Anorexia nervosa, Schlafstörungen, Bulimie, sexuelle Funktionsstörungen, Verhaltensstörungen im Wochenbett und Missbrauch von nicht Abhängigkeit erzeugenden Substanzen. Adipositas bei Frauen hat vor dem Hintergrund von sexuellem Missbrauch oft die Funktion, nach außen hin zu schützen und den weiblichen Körper unattraktiv zu machen. Schlafstörungen lassen sich hypothetisch auf Übererregung zurückführen, in Alpträumen kehren die Intrusionen wieder. Parasomnien wie Sprechen im Schlaf, Zähneknirschen, Schlafwandeln oder andere nächtliche Handlungen können mit dem traumatischen Erlebniskomplex in Verbindung stehen. Besonders auffällig ist der Zusammenhang zwischen sexuellen Funktionsstörungen und Erfahrungen negativer Intimität in der Lebensgeschichte. Bei Robert Bering findet sich die Hypothese, Promiskuität nach Erfahrungen von sexuellem Missbrauch in der Kindheit als ‚dysfunktionales reparatives Schema’ zu betrachten. Die reparative Wiederaufnahme der unterbrochenen Handlung scheitert immer von neuem. Gleichzeitig verbindet sich mit jedem neuen Kontakt die Hoffnung, die frühere traumatische Überforderung endlich kontrollieren zu können. Auch bei den klassischen Neurosen liegt es aus psychotraumatologischer Sicht nahe, nach einer Erklärung im Sinne der Traumadynamik zu suchen. Dabei handelt es sich um Angstund Zwangsstörungen. Die Angststörung entsteht bei Dominanz der Erregungskomponente in der PTBS. Traumabedingte Angststörungen werden jedoch meist relativ früh behandelt, allerdings unter der Diagnose einer Angststörung. Bei Phobien z. B. wird die häufig zu beobachtende Angstausbreitung verständlich aus der präventiven Komponente dessen, was Fischer und Riedesser das Traumakompensatorische Schema nennen. Dabei handelt es sich um eine Basisstrategie und individuelle Ausprägung der traumakompensatorischen Maßnahmen. Während sich in der peritraumatischen Erfahrung spontane Selbstschutzmechanismen bilden, werden diese während der weiteren traumatischen Reaktion und im traumatischen Prozess elaboriert. Das kompensatorische Schema umfasst drei Komponenten: eine ätiologische Theorie (wodurch ist das Trauma entstanden?), die Heilungstheorie (wie kann das Trauma geheilt werden?), die präventive Theorie (was muss geschehen, um eine Retraumatisierung zu vermeiden?). Diese Komponenten sind logisch 38 aufeinander bezogen, basieren aber schon auf einer traumatischen Erfahrung, die entsprechend ihrer Speicherung im Traumaschema nur unvollständig zugänglich ist und in wichtigen Teilaspekten oft nur implizit erinnert werden kann. Von daher erwecken die traumakompensatorischen Maßnahmen eine – von außen – betrachtet – irrationalen, unzweckmäßigen Eindruck, während es sich, gemessen am gegebenen Informationsstand, um subjektiv sinnvolle Maßnahmen handelt. Bei Kindheitstraumen wird das Traumakompensationsschema auf dem entsprechenden Niveau der kognitiven Entwicklung und der dadurch gegebenen Begrenzung ausgearbeitet. Daher sind das Schema und seine Komponenten oft durch eine magisch anmutende, egozentrische Denkweise bestimmt, die dem frühen kognitiven Egozentrismus des Kindes entspricht. Nach einem Autounfall beispielsweise wird zunächst der Autotyp phobisch gemieden, der in den Unfall verwickelt war. Bei weiterer Ausbreitung des Traumaschemas kann der weitere kompensatorische Schritt stattfinden, den Straßenverkehr überhaupt zu meiden. Schließlich kann sich das präventive Teilschema des TKS zu einer ‚Agoraphobie’ generalisieren, Straßen und freie Plätze überhaupt zu vermeiden. Trauma (im Modell der ‚unterbrochenen Handlung’) kann die zwanghafte, ritualisierte Wiederholung bestimmter Handlungen erklären, die für die Zwangsneurose charakteristisch ist. Nicht nur in der Phantasie, sondern auch im Handeln muss der Unfall immer wieder durchgespielt werden. Manche vergewaltigte Frauen unterliegen einem Duschzwang, der zumindest für Dritte als Versuch erkennbar ist, die ‚Beschmutzung’ abzuwaschen, die mit der erzwungenen Intimität verbunden wird. Für die betroffenen selbst bleibt dieser Zusammenhang allerdings oft dynamisch unbewusst. Daher führt die zwanghafte Reinigung meist keine Heilung herbei. Vielmehr imponiert sie als zusätzliches Symptom. Eine an den Ursachen orientierte Psychotherapie von Zwangsstörungen und Phobien sollte sich, einen psychotraumatischen Hintergrund der Ätiopathogenese vorausgesetzt nicht mit Symptombeseitigung begnügen, sondern sollte zum Punkt geführt werden, an dem das Traumaschema emotional durchgearbeitet werden kann. Welche komorbiden Bilder sich im Einzelnen entwickeln, hängt von den Symptomen ab, die bei der anfänglich auftretenden PTBS im Vordergrund stehen Handelt es sich dabei um Übererregung, so kommt es möglicherweise zusätzlich zur Selbstmedikation und Suchtproblematik (ICD-10: F1) oder zu einer Angststörung (ICD-10:; F40, F41). Steht die Vermeidung im Vordergrund sind als Komorbidität eher depressive (ICD-10: z.B. F32) oder dissoziative Störungsbilder (ICD-10: F44) zu erwarten. Studien, die sich mit psychiatrischen Krankheitsbildern und ihrer Komorbidität zu PTBS beschäftigen, kommen zu dem Ergebnis, dass ein hoher Prozentsatz der Patienten in der psychiatrischen Regelversorgung auch die Kriterien einer psychotraumatischen Belastungsstörung erfüllt. 6.3. Prävalenz komorbider Diagnosen: Zwei große epidemiologischen Studien, die in den USA und Australien durchgeführt wurden, fanden bei 85–88% der Männer und 78– 80% der Frauen mit PTBS komorbide psychiatrische Diagnosen (Kessler et al., 1995; Creamer et al. 2001). 39 Kessler et al. (1995) bestimmen retrospektiv, wie häufig PTBS als primäre Störungen auftreten, welche dann andere Syndrome oder Erkrankungen nach sich ziehen. Sie schätzten, dass vor allem bei Depressionen und Substanzmissbrauch PTBS in der Mehrzahl der Fälle als primär anzusehen waren, während das Verhältnis bei den Angststörungen umgekehrt zu sein schien. In einer Studie mit 801 Frauen fanden Breslau et al. (1997) ein gut zweifach erhöhtes Risiko, nach einer PTBS erstmalig an einer Major Depression zu erkranken, und ein dreifaches Risiko, einen Alkoholabusus bzw. eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Gleichzeitig war bei Frauen mit bereits zuvor bestehender Major Depression sowohl die Gefahr, ein traumatisches Ereignis zu erleben, als auch die Wahrscheinlichkeit, in dessen Folge eine PTBS-Symptomatik zu entwickeln, erhöht. In der deutschen Studie von Perkonigg et al. (2000) wurde bei 87,5 % der PTBS-Patienten mindestens eine weitere psychische Störung diagnostiziert. Die Autoren vermuten, dass in etwa einem Drittel der Fälle zuvor bestehende psychopathologische Faktoren zur Entstehung einer primären Vulnerabilität oder einer bestimmten Risikokonstellation beitragen (z. B. bei bekannter Alkohol- oder Substanzabhängigkeit); auch könne beispielsweise durch phobische oder depressive Störungen die Schwelle für das Auftreten einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach einem entsprechenden Ereignis gesenkt werden. Gleichwohl entwickelten sich die komorbiden psychischen Störungen in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle sekundär nach einer PTBS; dies gelte insbesondere für somatoforme Störungen, Agoraphobien, generalisierte Angststörungen und affektive Störungen, wobei nach Ansicht einiger Autoren der Posttraumatischen Belastungsstörung die Rolle eines maßgeblichen Risikofaktors zukommt (McMillen et al. 2002; Breslau et al. 2003). Auch die Studie von Zlotnick et al. 2006 bestätigt die hohe Prävalenz komorbider Störungen und nennt vor allem affektive Störungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und Somatisierungsstörungen (Zlotnick et al. 2006). Trauma, PTBS und körperliche Erkrankungen: Herz-Kreislauf-Krankheiten: Kubansky, Koenen et al. (2007) publizierten eine prospektive Längsschnittsstudie, die ein erhöhtes relatives Risiko von 1.26 für Myokardinfarkt und letale KHK (koronare Herzkrankheit) bei PTBS fand. Mindestens 5 gut kontrollierte Studien haben retrospektiv erhöhte Risiken bei PTBS gefunden. Als pathogenetische Verbindungen werden die verlängerte endokrine Stressreaktion sowie Verhaltensveränderungen (z.B. Rauchen, Substanzabhängigkeit) diskutiert (Shalev 2001). Dazu gibt es bisher aber keine prospektiven Studien. Immunologische Erkrankungen (dermatologisch, Arthritis, Asthma etc.): Ca. 5 retrospektive Studien liegen vor, die jeweils mehrere Krankheiten untersuchten. Die Befundlage des Zusammenhangs ist recht eindeutig, mit ca. 4/5 der Befunde die einen Zusammenhang belegen und 1/5 der Befunde, die ihn nicht statistisch absichern können. Die Zusammenhänge zwischen PTBS und den Krankheiten war nach dem systematischen Review von Qureshi et al. (2009) folgt signifikant: Arthritis (p = .001), Asthma (p = . 001), Ekzem (p < .05). Zusammenhang von PTBS nach Schädelhirntrauma (SHT): 40 In Review des Institutes of Medicine wurde die Literatur von 1960 bis 2008 gesichtet und hinsichtlich des kausalen Zusammenhangs zwischen Schädelhirntraumata und Langzeitfolgen untersucht. Eine der Kategorien waren psychiatrische Störungsbilder nach Schädelhirntraumata. Differenziert wurden die Studien nach Folgen bei der Zivilbevölkerung und Militär. Zur Beurteilung kamen folgende Kriterien zur Anwendung: Stärke des Zusammenhangs, zeitlicher Auftreten, Dosis-Wirkungsbeziehung, Spezifität, Folgerichtigkeit, biologische und epidemiologische Plausibilität und Analogien (Hill 1984). Als Problem der Studien sehen die Autoren die Überschneidung zwischen dissoziativen Symptomen und Symptomen nach Schädelhirntraumen. In den Studien fand sich bei Vorhandensein von leichtem SHT (Schädelhirntrauma) und PTBS eine intensivere Symptomatik in Bezug auf Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Geräuschempfindlichkeit gegenüber Patienten mit leichtem SHT ohne PTBS. Hinsichtlich des Zusammenhang zwischen leichtem SHT und PTBS in der Zivilbevölkerung sehen gibt es nur einen unzureichenden Zusammenhang, für Soldaten einen begrenzten Zusammenhang zwischen leichtem SHT und PTBS In einer aktuellen prospektiven australischen Studie (Bryant et al) fanden die Autoren die Entwicklung einer PTBS nach leichtem SHT nach 12 Monaten doppelt so häufig im Vergleich zu der Gruppe ohne SHT. 6.4. Therapeutische Überlegung zur Komorbidität Spinazzola et al. stellten fest, dass bei den 34 Studien, die bei der bisherigen Leitlinie der ISTSS (2000) (International Society for Traumatic Stress Studies) berücksichtigt wurden, Patienten mit schweren Komorbiditäten systematisch ausgeschlossen wurden. Aufgrund dieser Studienlage bleiben die folgenden Empfehlungen häufig auf dem Niveau von Expertenwissen und sind nicht wissenschaftlich abgesichert. Empfehlungen der NICE-Guidelines (Pkt 2.3.7) (NICE: National Institute for Health and Care Excellence, brit.): Entsprechend den Befunden von Kessler (1995) und Blanchard (2003) wird bei PatientInnen mit PTBS und Depression eine vorrangige Behandlung der PTBS empfohlen, wenn von einer sekundären Komorbidität auszugehen ist. Es wird davon ausgegangen, dass es in vielen Fällen bei den komorbiden sekundären Störungen der PTBS (z.B. bei Depressionen, Angsterkrankungen, Alkohol- und Substanzmissbrauch) durch traumafokussierte Psychotherapie auch zur Besserung der komorbiden Symptome kommt. So zeigten PatientInnen in einer Behandlungsstudie bei erfolgreicher Behandlung der PTBS, dass sie die vorher komorbide Diagnose einer Major Depression nicht mehr aufwiesen (Blanchard et al. 2003b). Bei PatientInnen mit einer langen, chronischen PTBS-Anamnese und multiplen traumatischen Erfahrungen und Verlusten gehen die Guidelines allerdings davon aus, dass die Depression und andere komorbide Symptomatik ein so schweres Ausmaß annehmen können, dass die Komorbidität vorrangig behandelt werden muss. Patienten können häufig dann erst im 2. Schritt von einer traumafokussierten Herangehensweise profitieren. Z. B. Sucht- und Traumabehandlung müssen miteinander verschränkt werden. Bei Menschen mit PTBS, bei denen die Diagnostik oder genauere Exploration der Traumatisierungen bereits ein hohes Risiko zu Suizidalität und Schädigung von sich und anderen in sich birgt, wird zunächst Krisenmanagement dieses Risikos empfohlen (siehe auch NICE-Guidelines 2.3.7.2. und 2.3.7.3 sowie These 2 zu Affektregulierung und Stabilisierung) 41 Auch bei Menschen mit Drogen und Alkoholabhängigkeit sowie schweren dissoziativen Symptomen und Neigung zu Selbstverletzung empfehlen die Guidelines, dass dieses Problem zunächst vorrangig behandelt werden sollte (siehe NICE-Guidelines 2.3.7.4; siehe auch Pkt. 2:Affektregulierung, Stabilisierung) Am besten untersucht und als erfolgreich bewertet sind integrative Therapieansätze im Bereich des Substanzmissbrauchs (Baschnagel et al. 2006, Morrissey et al. 2005), aber auch bei PTBS und Panikstörung (Hinton et al. 2005). Für die Depression sind die Ergebnisse nicht eindeutig (Dunn et al. 2007). In den meisten Studien zur PTBS- Behandlung, die nicht gezielt auf die Komorbidität eingehen, zählen viele psychischen Störungen, die häufig bei einer PTBS bestehen, als Ausschlusskriterium, was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse stark beeinträchtigt (Spinazzola et al. 2005). Komorbide Störungen werden entsprechend der spezifischen Leitlinienempfehlungen behandelt. 7. Besonderheiten im Verständnis von Traumafolgestörungen 7.1 Individuelle Faktoren für die Entwicklung von Traumafolgestörungen Subjektive Disposition: Die Erwartung des Unerwartbaren Die große Variationsbreite traumatischer Situationen, Situationsfaktoren und Dynamiken trifft auf ein breites Spektrum subjektiver Dispositionen und persönlichkeitstypischer Reaktionsbereitschaft. Diese Wechselbeziehung von Situation, Situationsdeutung und disponierter Handlung ist ein weites Forschungsfeld. Aktuelle Disposition. Hier ist vor allem der Erwartungshorizont des Individuums zu berücksichtigen. Manche Traumata treffen als Schocktrauma das Individuum unvorbereitet und zeitlich überraschend. Dieser zeitliche Überrumpelungseffekt kann als ein eigener traumatogener Faktor betrachtet werden. Gewalterfahrungen wie Folter beispielsweise sind, wenn sie sich über längere Zeit erstrecken, nicht mehr im zeitlichen Sinne überraschend. Sie sind jedoch in einem anderen Sinne ‚unerwartet’ und möglicherweise auch ‚unerwartbar’. Es ist den wenigsten Menschen möglich, sich in ihrer Lebensgeschichte auf jenes Ausmaß von Brutalität und Unmenschlichkeit innerlich einzustellen, das sich bei Folter, politischer Verfolgung und Gewaltverbrechen manifestiert. Überdauernde Dispositionen Die überdauernden Dispositionen können physiologischer, psychischer oder sozialer Art sein. Hierbei ist vor allem die Lebensgeschichte als ‚trauma history’ zu berücksichtigen. Vorausgegangenen traumatische Erfahrungen hinterlassen das autonome Nervensystem in erhöhter Erregungsbereitschaft. Eine traumatische Stressreaktion mit traumatisch dysreguliertem Affektzustand und emotionaler Überflutung tritt hier leichter auf als bei Personen, die entweder in dieser Hinsicht nicht vorgeschädigt sind oder in ihrer Lebensgeschichte protektive Erfahrungen machen konnten. 42 Man unterscheidet terminologisch zwischen protektiven und korrektiven Faktoren. Letztere wirken sich aus bei der Verarbeitung traumatischer Information, sei es während der Reaktionsphase oder im traumatischen Prozess. Hilfreiche soziale Beziehungen bzw. Personen könnten bei der Traumaverarbeitung korrektiv wirken, auch dann, wenn der Verarbeitungsprozess stagniert. In diesem Sinne kann auch die Psychotherapie als korrektiver Faktor betrachtet werden. Protektive Faktoren dagegen entsprechen einer bereits vorhandenen Disposition, einem mitgebrachten Schutzfaktor. Nach Sichtung empirischer Studien wurden folgende Faktoren genannt: Eine dauerhaft gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, Aufwachsen in einer Großfamilie mit kompensatorischen Beziehungen zu den Großeltern und entsprechender Entlastung der Mutter; Ein gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust; Überdurchschnittliche Intelligenz; Ein robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament; Sicheres Bindungsverhalten; Soziale Förderung z. B. durch Jugendgruppen, Schule oder Kirche; Verlässliche unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter, vor allem Ehe- oder sonstige konstante Beziehungspartner; Lebenszeitlich späteres Eingehen ‚schwer lösbarer Bindungen’; Eine geringe Risiko-Gesamtbelastung Risikofaktoren Unter Risikofaktoren verstehen wir belastende Lebensereignisse oder Lebensumstände, die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken eine psychische Störung oder Erkrankung begünstigen. Sie stellen im statistischen Mittel ein ‚Risiko’ für Fehlentwicklungen oder psychische Störungen dar. Traumatische Situationsfaktoren lassen sich auch unter diesen weiten Begriff des Risikos fassen. Allerdings potenziert sich bei ihnen das Erkrankungsrisiko, und es käme einer Verharmlosung und Bagatellisierung gleich, wollten wir etwa fortgesetzte schwere Misshandlung von Kindern und Jugendlichen zum ‚Risikofaktor’ herabstufen. Terminologisch dürfte es also sinnvoll sein, zwischen Risikofaktoren und traumatischen Situationsfaktoren im engeren Sinne zu unterscheiden. Beide Faktorengruppen können allerdings im Sinne einer kumulativen Traumatisierung in fataler Weise zusammenwirken. So wird ein Typ 1-Schocktrauma schlechter verarbeitet, wenn konfliktreiche und in sich schon belastende Familienverhältnisse den Erholungsprozess erschweren oder immer von neuem unterbrechen. Solche konflikthaften sozialen Lebensumstände bleiben normalerweise vielleicht ein ‚subtraumatischer’ Risikofaktor, in der genannten Kombination können sie jedoch zu einer insgesamt traumatischen Lebenssituation beitragen. Umgekehrt schützen wie gesagt protektive Faktoren und Lebensumstände vor Traumatisierung trotz potenziell traumatischer Ereignisse und Situationsfaktoren und verhindern, dass ein traumatischer Erlebnisverarbeitungsprozess in Gang kommt. Neuere Forschung hat ergeben, dass sie die belastenden Faktoren im Leben nach dem Bausteinprinzipe im Sinne einer immer größeren Vulnerabilität addieren. Als Risikofaktoren bzw. potenziell traumatische Situationsfaktoren lassen sich benennen: 43 Niedriger sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie; Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr; Schlechte Schulbildung der Eltern; Große Familien und sehr wenig Wohnraum; Kontakte mit Einrichtungen der ‚sozialen Kontrolle’; Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils; Chronische Disharmonie; Unsicheres Bindungsverhaltung nach dem 12./18. Lebensmonat; Psychische Störungen der Mutter oder des Vaters; Alleinerziehende Mutter; Autoritäres väterliches Verhalten; Verlust der Mutter; Häufig wechselnde frühe Beziehungen; Sexueller und/oder aggressiver Missbrauch; Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen; Ein Altersabstand zum nächsten Geschwister von unter 18 Monaten; Früher: Uneheliche Geburt Aus einer Übersicht über etliche Studien geht weiter hervor, dass Jungen vulnerabler sind als Mädchen. Ferner müssen wir sehr wahrscheinlich von einem ‚nicht-linearen’ Zusammenwirken der einzelnen Risikofaktoren ausgehen. Während die Wirkung eines einzelnen Faktors eher gering ist, erhöht sich bei zwei Faktoren die Wahrscheinlichkeit, dass Entwicklungsstörungen auftreten, um das Vierfache. Wie gesagt, spielen die biologisch angeborene und die biologisch erworbene Disposition eine gewisse Rolle. Die geringste scheint sie bei psychotraumatischen Situationsfaktoren von mittlerem und hohem Schweregrad zu spielen. Neben den genetisch angeborenen Dispositionen rücken erworbene, gleichwohl physiologisch verankerte Dispositionen neuerdings immer deutlicher ins Blickfeld. Dazu gehören einmal die verschiedenen zentralnervösen, neuromuskulären und neurovegetativen Folgen des Traumas, zum anderen in der Kindheit früh erworbene Veränderungen hormoneller und neuroendokriner Regulationssysteme, z. B. eine Dysregulation des Serotoninhaushalts infolge frühkindlicher Deprivation, die für depressive Erkrankungen im Erwachsenenalter disponiert. Politisch brisant wurde diese Frage im Kontext der Entschädigungsverfahren, als Überlebende des Holocaust sich aus heutiger Sicht unzumutbare Fragen über ihre mögliche „prämorbide Störung“ gefallen lassen mussten, die an den psychischen Schwierigkeiten mehr schuld sein sollten als KZ-Haft, Folter und Ermordung von Angehörigen. Den Psychoanalytiker Kurt Eissler veranlassten diese entwürdigenden Verfahren zu der berühmt gewordenen Frage: „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen, um psychisch gesund zu sein?“ (Eissler 1963) 7.2. Bedeutung spezifischer Situationsfaktoren Hier geht es um Situationsfaktoren, die jeder für sich oder in ihrer Kombination sehr wahrscheinlich eine psychotraumatische Wirkung entwickeln. Im Gegensatz zu ‚Stressoren’ handelt es sich hier um Faktoren einer im engeren Sinne ‚traumatischen’ Situation. Arthur H. 44 Green hat in seiner Arbeit mit Traumaopfern über unterschiedliche Desaster, Katastrophen und Gewalttaten hinweg acht Situationsfaktoren ermittelt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Bedrohung für Leib und Leben Schwerer körperlicher Schaden oder Verletzung Absichtlicher Verletzung oder Schädigung ausgesetzt zu sein Konfrontation mit verstümmelten menschlichen Körpern (‚exposal to the grotesque’) Gewaltsamer oder plötzlicher Verlust einer geliebten Person Beobachtung von Gewalt gegen eine geliebte Person oder Informationen darüber Die Information, dass man einem schädlichen Umweltreiz ausgesetzt ist oder war Schuld haben am Tod oder an schwerer Verletzung anderer Diese Faktoren wirken additiv zusammen. Ferner existieren besonders belastende Ergänzungsverhältnisse zwischen ihnen. Den Schweregrad von Folgeerscheinungen im postexpositorischen Zeitraum konnte Green aus dieser Kombinatorik mit überzufälliger Treffsicherheit vorhersagen, was wir als Beleg für den angenommenen Einfluss werten können. Symptome und Stressoren müssen nach Green unabhängig voneinander erhoben und erst dann auf einen korrelativen Zusammenhang geprüft werden. So lassen sich längerfristig immer spezifischere Zusammenhänge zwischen beiden Variablengruppen herausfinden. Erläutern, indem fiktive Beispiele durchgegangen werden. 7.3. Latenz Wir haben gehört, dass Traumafolgestörungen mit Verzögerung auftreten können. Dabei handelt es sich um das Phänomen der Latenz. Dieses ist mit der Logik der sequentiellen Traumatisierung und mit der Logik des Gewaltaktes selbst eng verbunden: das Phänomen der Latenz. Um psychisch und physisch zu überleben, versucht das Gewaltopfer während der Tat unbewusst, eine Art Wahrnehmungsschutz aufzubauen, der verhindert, dass es sich der vollen Tragweite dessen, was gerade passiert, klar wird. Dies kann insbesondere für das Ausmaß der Lebensgefahr gelten. Die volle Bedeutung, das Ausmaß der Lebensgefahr und damit die volle Wucht des Traumas erfasst das Opfer oft erst viel später. Neben dem typischen Wechsel von Auseinandersetzung und Abwehr kann das Trauma deshalb auch so verlaufen, dass lange Zeit nach dem traumatischen Ereignis gar keine Symptome vorhanden sind, das Opfer die Gewalt scheinbar unbeschadet überstanden hat und erst viel später Symptome auftreten. Traumatherapeuten weisen darauf hin, dass etwaige psychosomatische Beschwerden dann oft nicht mehr mit dem Trauma in Verbindung gebracht werden. Das Trauma kann also über einen kürzeren oder längeren Zeitraum “latent" bleiben. So hob der norwegische Psychiater Leo Eitinger bereits in seinen frühen Untersuchungen zum “Concentration Camp Syndrome“ hervor, dass die norwegischen Überlebenden, die im Prinzip in eine stabile und unterstützende, sie als Helden feiernde Umwelt zurückkehrten, zunächst eine fast euphorische, symptomfreie Phase hatten und erst nach einiger Zeit schwere Symptome entwickelten. Eine erst kürzlich in Israel durchgeführte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass viele Holocaust-Überlebende, die ihr Leben kompetent meisterten, im Alter von außen unerwartet - unter massiven Traumasymptomen leiden (vgl. Landau und Littwin 2000). 45 Von Bedeutung ist für den hier interessierenden Zugang zu kollektivem Trauma, dass das Phänomen der Latenz auf verschiedenen Ebenen sichtbar wird: So wurde etwa auch für die Auswirkungen auf die zweite Generation festgestellt, dass das, was weitergegeben wurde, eher im Bereich einer latenten psychischen Verwundbarkeit als im Bereich einer manifesten Schädigung liegt (vgl. Kapitel I.2 Transgenerationelle Weitergabe, S. 45ff). 7.4. Nachträglichkeit Verwandt mit dem Phänomen der Latenz – in manchen Fällen vielleicht sogar als ihre Ursache verstehbar – ist die bereits von Freud im Zusammenhang mit Trauma konstatierte „Nachträglichkeit“. Er beschrieb, dass Opfer von sexuellem Missbrauch oft deshalb in der Pubertät an Symptomen zu leiden beginnen, weil ihnen die Bedeutung des Erlebten erst durch das Gewahrwerden der eigenen Sexualität bewusst wird. Durch das wachsende Bewusstsein für Sexualität erkennen sie das ursprünglich vielleicht nur diffus als „falsch“ Erlebte nachträglich zutreffend als sexualisiert. Analog kann bei Erwachsenen die Phase der latenten Traumatisierung durch plötzliches Bewusstwerden beendet sein. Bessel van der Kolk und Alexander McFarlane beschreiben die Reaktion einer vergewaltigten Frau, die Monate später erfuhr, dass der gleiche Täter ein weiteres Sexualopfer umgebracht hatte. Erst dann entwickelte sie starke Symptome (McFarlane/van der Kolk, 2000, S. 31). Das Phänomen der „Nachträglichkeit“ illustriert besonders deutlich den Prozesscharakter des Traumas: Das vergangenen Trauma wirkt nicht nur (linear-kausal) auf das gegenwärtige Erleben, sondern das gegenwärtige Leben wirkt auf die traumatische Erinnerung zurück, die Gegenwart verändert die Vergangenheit. Laplanche und Pontalis definieren Nachträglichkeit so: „Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit“ (Laplanche/Pontalis, 1972, S. 313). A. Modell (1990) versteht unter Nachträglichkeit einen „Prozess, bei dem Erinnerungen durch neue Erfahrungen geprüft und modifiziert werden“ (zit. nach Kerz– Rühling, 2000, S. 472). Für das Verständnis von Trauma von besonderer Bedeutung ist, dass nicht das Erlebte allgemein „nachträglich umgearbeitet“ wird, „sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte (Laplanche/Pontalis, 1972, S. 314).“ 7.5. Schuld Da die offizielle Klassifizierung von Trauma als psychiatrische Diagnose im DSM der American Psychiatric Association eng mit der Anerkennung des spezifischen Leidens der Vietnam-Veteranen verknüpft war, wurden die für Vietnam-Veteranen so charakteristischen quälenden Schuldgefühle als eine Form von Intrusionssymptomen in die Traumadiagnose mitaufgenommen. Tatsächlich scheinen zwar Schuldgefühle für die meisten Überlebenden von Gewalterfahrung eine herausragende Rolle zu spielen, jedoch lohnt sich ein differenzierter Blick auf die unterschiedliche psychologische Bedeutung und den je realen Hintergrund. So wird zum Beispiel psychodynamisch argumentiert, dass irrationale Schuldgefühle dazu dienen können, sich die real gegebene völlige Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen, d.h. dass es für das psychische Gleichgewicht leichter erträglich sein kann, schuld gewesen statt völlig ohnmächtig gewesen zu sein. Bereits Sandor Ferenczi verwies auf die besondere Bedeutung, die dies bei Kindern haben kann: Wenn Kindern von einer nahen, geliebten Bezugesperson Gewalt angetan wird, dann ist es für sie oft leichter, die Schuld auf sich zu nehmen (also etwa sich zu Recht bestraft zu fühlen) als - psychisch - die 46 Bezugsperson zu verlieren, d.h. einsehen zu müssen, dass die bis dahin für gut gehaltenen wichtige Bezugsperson sich so schlecht verhalten hat (vgl. Ferenczi 1933). Mathias Hirsch nimmt an, dass dieser paradox anmutende Prozess - nämlich dass das Opfer die Schuldgefühle hat, die der Täter haben sollte - auch charakteristisch für schwere Beziehungstraumata im Erwachsenenalter sein könnte. Er beschreibt ein charakteristisches „traumatisches Schuldgefühl“: „Schwere Gewalt- und Verlusterfahrungen hinterlassen einen Fremdkörper im Selbst, ein Introjekt, das Schuldgefühle verursacht. Das Paradoxon, dass das primär unschuldige Opfer [...] unter schweren Schuldgefühlen leidet, während der Täter weder Schuldgefühle hat noch irgendeine Schuld anerkennt, kann eigentlich nur damit aufgelöst werden, dass das Opfer den Täter lebensnotwendig braucht [...].“ (Hirsch, 2000, S. 457) Hier klingt an, wie komplex bei genauerem Hinsehen das Beziehungsgeschehen ist, das sich zwischen Täter und Opfer entwickelt und das in seiner vielschichtigen Bedeutung zentral für den Inhalt des Traumas ist. Meist übersteigt das Schuldgefühl in seinem Ausmaß jede reale Verantwortung, es kann aber dennoch wichtig sein, den Teil der Verantwortung anzuerkennen, der tatsächlich beim Traumatisierten lag. Herman (1993) weist auf die Tendenz hin, Schuldgefühle zu schnell zu entkräften. Dies helfe jedoch auch den Klienten nicht, da es darum gehe, zwischen dem tatsächlichen Anteil an Verantwortung und der zu Unrecht übernommenen Schuld zu unterscheiden. Allerdings gestaltet sich dies häufig als besonders schwieriger Balanceakt. Fischer warnt in diesem Zusammenhang davor, dass die Frage nach der „Mitschuld“ sehr schnell in Richtung der typischen Abwehrstrategie der Umwelt geht, die - statt das traumatische Leid anzuerkennen und auszuhalten, dass hier jemandem unschuldig etwas Schlimmes zugestoßen ist - allzu schnell dem Opfer die Schuld gibt. Diese Strategie ist als „blaming the victim“-Strategie bezeichnet worden und ist vor allem typisch für den gesellschaftlichen Umgang mit Vergewaltigung (Fischer 1998, S. 181). In Bezug auf die Vietnam-Veteranen war der bezeichnete Balanceakt von besonderer Bedeutung. (Davon mehr im Kapitel „Täter“) Die Schuldfrage lässt sich innerhalb der Dialektik des Traumas dem Pol der Auseinandersetzung zuordnen, wobei diese Art der Auseinandersetzung sehr zwanghaften, quälenden Charakter bekommen kann. So waren viele Holocaust- Überlebende jahrelang von der Erinnerung an eine ganz konkrete Szene gequält, in der sie ihrer Meinung nach anders hätten handeln können. 7.6. Re-Inszenierung und Wiederholungszwang Wenn die Psyche von traumatischen Ereignissen überflutet wird und die Verarbeitungsmöglichkeiten dementsprechend überfordert sind, erfolgt nicht unbedingt eine unmittelbare Reaktion. Stattdessen „merkt“ sich die Psyche die Ereignisse und sucht zu einem späteren Zeitpunkt nach einem Ausdruck für das Trauma, idealtypisch in der Hoffnung, dass es dann bearbeitet werden kann. Bereits Freud selbst war zu der Überzeugung gelangt, dass bestimmte Erinnerungen nicht direkt analysiert werden können, sondern dadurch nach Bearbeitung „rufen“, dass sie in der Übertragungsbeziehung mit dem Therapeuten wiederholt werden (vgl. Freud, 1914). Dieser Vorgang wird auch als „Re-Inszenierung“ bezeichnet, und in Bezug auf Trauma als „Wiederholungszwang“. Dem liegt eine ähnliche Vorstellung zu Grunde, wie dem 47 entwicklungspsychologischen Verständnis vom Spiel der Kinder: Kinder spielen in Rollenspielen häufig Situationen nach, in denen sie sich als ohnmächtig erlebt haben. Im Spiel wird die Beherrschung der Situation wiederhergestellt (vgl. Mertens 1992), die Kinder wollen sich wieder als machtvoll erleben. Der erwachsene Traumatisierte, für den ebenfalls das Erleben der Ohnmacht zentral war, stellt „Szenen“ her oder sucht „Szenen“ auf, die der traumatisierenden Situation ähnlich sind. Man könnte sagen, dass die „Psyche“ diese Situationen herstellt oder sucht, um diesmal - ähnlich den Kindern im Spiel - eine neue, eine bessere Erfahrung zu machen. Dieser Versuch kann jedoch auch scheitern, dann nämlich, wenn der Traumatisierte keine bessere Erfahrung macht, in der Re-Inszenierung nicht „geheilt“, sondern retraumatisiert wird. Man spricht dann von Wiederholungszwang. In der Wiederholung liegt also die Chance der „Heilung“ und gleichzeitig im „WiederholungsZwang“ ihr größtes Hindernis. In einer sehr differenzierten Analyse „Der Umgang mit dem Trauma“, in der Hans Holderegger (1998) die typischen Gefahren einer intensiven therapeutischen Beziehungsarbeit nach dem Trauma beschreibt, illustriert der Autor, wie sich das Phänomen der Re-Inszenierung in der therapeutischen Beziehung auswirkt. In der sich zwischen traumatisiertem Patienten und Therapeuten entfaltenden „Szene“ kann es nicht nur dazu kommen, dass der Therapeut vom Patienten wie der Täter erlebt wird; auch umgekehrt fügt der Patient dem Therapeuten oft unbewusst etwas von dem zu, was er als traumatisch erlebt hat. Dies läuft nicht auf der konkreten Handlungsebene ab, sondern der Patient lässt den Therapeuten in der Beziehungsdynamik (in Ansätzen) Ähnliches erleben. Bei der sogenannten „Traumatophilie“ oder „Addiction to Trauma“ geht es möglicherweise um den Genuss der Ausschüttung von körpereigenen Opiaten (danger thrill). (Szene aus der Deerhunter) Nach Einschätzung Fischers gab es in der Diskussion um das Konzept des Wiederholungszwangs ein der prekären Schuldfrage verwandtes Problem: Im Zusammenhang mit der so genannten Opferforschung wurde anhand des Konzepts der Traumatophilie die Frage diskutiert, ob es eine typische „Opferpersönlichkeit“ gebe, die sich traumatische Erfahrungen systematisch „zuziehe“. Die Diskussion erinnerte dann eher an die oben skizzierte Abwehrstrategie “blaming the victim” (vgl. Fischer 1998). 7.7. Die Spuren des Täters im Opfer Die Gewaltausübung des Täters am Opfer lässt sich aus psychologischer Sicht auch als komplexes Beziehungsgeschehen analysieren. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil bei man-made disasters ein zentraler Schlüssel für das Verständnis des Traumas im Verstehen dieses Beziehungsgeschehens liegt. Was hat sich zwischen Täter und Opfer ereignet? Hier erscheint es besonders schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Hatten Täter und Opfer kaum, nur kurz, oder etwa im Rahmen einer Monate oder Jahre andauernden Haft miteinander zu tun? Der Psychoanalytiker Hirsch versucht trotzdem folgende sehr allgemeine Aussage: „[...] Schwere Traumatisierung bedeutet massive Grenzüberschreitung, ein Einreißen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Täter und Opfer. Der Implantation des Bösen durch den Folterer folgt die Introjektion, das Einrichten einer entsprechenden „tyrannischen Instanz“ im Opfer selbst, die es nun weiter entwertet und schuldig spricht − das Introjekt macht Schuldgefühle.“ (Hirsch 2000, S. 642) 48 Was in der kognitiven Psychologie als “shattered assumptions“, als „erschütterte Annahmen“ bezeichnet wird, kann hier mit Blick auf das Täter-Opfer-Verhältnis differenziert werden: Der Täter dringt durch die Tat in die Innenwelt des Opfers ein, zerstört nicht nur Grundannahmen, sondern insgesamt die psychische Struktur des Opfers. Die ungerechtfertigte Übernahme des Schuldgefühls ist dabei nur ein Teil. In vielen Fällen von man-made disasters (also z.B. bei wiederholter Folterung durch den gleichen Folterer, bei Entführungen und bei wiederholtem sexuellem Missbrauch) ist es für das Opfer lebensnotwendig, sich intensiv mit dem Täter zu beschäftigen, sich partiell mit ihm identifizieren zu können, um ein Stück Kontrolle über die ansonsten von purer Ohnmacht gekennzeichnete Situation zu bekommen. In diesem Zusammenhang wird oft ein weiterer paradoxer Effekt beschrieben, nämlich dass ein unwillkürliches Gefühl der Nähe zum Täter entstehen kann, welches das Opfer jedoch wiederum innerlich in erhöhte Bedrängnis bringt, da es zugleich weiß, dass der Täter sein Gegner bleibt und bleiben muss. 7.8. Rachegedanken Im Vergleich dazu, dass Rache und Rachegefühle in der kulturellen Auseinandersetzung mit Gewalt häufig vorkommen (etwa der elaborierte Racheplan der Hekabe in der griechischen Tragödie oder Kriemhilds Rache im Nibelungenlied) sind Rache und Rachephantasien sehr wenig zum Gegenstand der psychologischen Auseinandersetzung mit Folgen von Gewalttraumata geworden. Wenn Rachephantasien angesprochen werden, dann eher in kurzen Bemerkungen, die nicht näher diskutiert werden. So schreibt der Traumaexperte Martin Bergmann kurz und lapidar: „Ob es uns gefällt oder nicht, die natürliche Reaktion auf ein Trauma ist der Wunsch, anderen dasselbe zuzufügen - nach Möglichkeit natürlich den Tätern, aber wenn dies nicht möglich ist, dann eben anderen.“ (Bergmann 1993, S. 20) Bergmann spricht hier von einer “natürlichen Reaktion", deutet aber die Schwierigkeit nur an, diese als solche zu sehen. Judith Herman deutet Rachegefühle im Sinne des oben als ein Kernstück von Trauma beschriebenen Ohnmachtgefühls. Sie sieht in Rachephantasien – interessanterweise ganz analog dazu auch in Vergebungsphantasien – den Versuch, die ohnmächtige Position wenigstens in der Vorstellung zu überwinden und stattdessen, je nachdem, die Macht zu haben, vergeben oder rächen zu können. Der oder die Traumatisierte sucht in der Rachephantasie Erleichterung, findet sie jedoch meistens nicht, da er oder sie, so Herman, häufig in Konflikt mit ihrem Selbstbild komme und sich dann als “Monster" erlebe. Die Bilder der Rachephantasie orientieren sich oft an der ursprünglichen Tat und können deshalb die quälenden Erinnerungen verstärken und Angst auslösen. Für Herman ist das Aufgeben der Rachephantasie deshalb ein Schritt zur Heilung: „Wer seine Rachephantasien ablegt, gibt damit jedoch nicht auch seine Suche nach Gerechtigkeit auf, ganz im Gegenteil: Nun ist die Zeit gekommen, sich wieder mit anderen Menschen zusammenzutun und gemeinsam den Täter für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.“ (Herman 1993, S. 269) Während die Rachephantasien oft einsam sind (da es meist aus Scham schwer fällt, sie mitzuteilen), ist die Suche nach Gerechtigkeit ein potentiell gemeinsames Anliegen. Unter Bezugnahme auf Hannah Arendt, die betont, dass eine verbrecherische Tat die Gemeinschaft bedroht und dass es deshalb um „das Gesetz selbst und nicht um den Kläger“ geht, formuliert Herman eine Idealvorstellung von Genesung: Indem auch das Opfer nach einer Verurteilung 49 des Täters strebt, sieht es diese als Frage des Prinzips an und weniger als die Befriedigung persönlicher Rachegelüste. Dies ermögliche das letztendlich heilsame Gefühl, „an einer wichtigen sozialen Handlung mitzuwirken“ (Herman 1993, S. 301). In vielen „therapeutischen“ Überlegungen ist Rache eine unreife Form der Reaktion auf zugefügtes Unrecht, die in eine reifere Form transformiert werden muss. Dieser Argumentation widerspricht explizit Reemtsma, selber ein Entführungsopfer, der hier den Einfluss des gesellschaftlichen Interesses hervorhebt. Nicht weil es für das Individuum besser ist, sondern weil die Gemeinschaft sich keine subjektive Willkür leisten will, müsse auf die Rache verzichtet werden: „Fairerweise sollte demnach die staatlich verhängte Strafe nicht als geläutertes Substitut der Rache ausgelobt werden. Sie ist nicht das niedrige Bedürfnis in das sozial Akzeptable transformiert. Denn der Rachewunsch ist kein niedriges Bedürfnis, es sollte (als im Individuum fortbestehender Wunsch) nicht verachtet noch geächtet werden.“ (Reemtsma 2002, S. 81) Reemtsmas Plädoyer impliziert auch, dass das Opfer, wenn es von der Rache Abstand nimmt, tatsächlich einen Verzicht leistet. Das sollte auch für den therapeutischen Zuganggelten: Statt im Sinne eines „das tut Ihnen nicht gut“ mögliche durch das Rachebedürfnis verursachte Scham- und Schuldgefühle noch zu verstärken, könnte es dann darum gehen, den Verzicht auf die persönliche Rache als Verzichtsleistung zu benennen und zu würdigen. Sie ist häufig auch die einzige Art der „Vergebung“, die man Opfern abverlangen sollte. Der Traumatisierte als anstrengendes Gegenüber (Aggression, Misstrauen) Von besonderer Bedeutung ist die Auswirkung des Traumas auf Beziehungen auch deshalb, weil im klassischen Verständnis das Trauma in einer weiteren Beziehung, der therapeutischen, „geheilt“ werden soll. So ist z.B. die Erkenntnis hilfreich, dass sich der Hass bzw. die Aggression, die eigentlich dem Täter gelten müsste, sehr häufig auf die Helfer und Helferinnen richten. Dies trifft nicht nur die helfende Therapeutin, sondern diese Dynamik entfaltet sich, da das Trauma als Agens wirksam bleibt, potentiell in jeder nachfolgenden Beziehung. Der Täter ist wie ein unsichtbarer Dritter anwesend, die Beziehungen sind oft von einer starken Destruktivität geprägt. In milderer Ausprägung wird das Gegenüber zumindest erst mal „getestet“. Da es das Opfer als überlebensnotwendig erlebt hat, seinen Mitmenschen nicht zu vertrauen, ist diese von Therapeuten oft als “Test" bezeichnete misstrauische Grundhaltung, wie Reemtsma hervorhebt, eine angemessene neue Überlebensnotwendigkeit. Reemtsma betont jedoch in diesem Kontext auch, dass das Trauma aus dem Opfer keinen besseren Menschen mache, sondern dass der Traumatisierte ein anstrengender, verletzlicher Mitmensch sei. „Wem die normalen Erwartungen dem gegenüber, was er in einem Sozialverband für möglich, wahrscheinlich oder unmöglich halten darf, so gestört worden sind wie dem Opfer extremer Gewalt, der empfindet - posttraumatisch - eine generelle Verstörung, also, alltäglich gesprochen, ein Misstrauen auch gegen diejenigen, die “gar nichts dafür können". So einerseits scheinbar magisch, so ungerecht dieses Affektgemisch auch anmuten mag, es dürfte durch noch so großes pädagogisches Raffinement nicht aus der Menschenwelt zu bringen sein. [...] Der Traumatisierte wird durch sein Trauma nicht besser. Der Umgang mit ihm ist mühsam, sein Verhalten tatsächlich scheinbar grundlos verletzend.“ (Reemtsma 1999, S. 210). 50 7.10. Scham Als Erklärung für das Nichtsprechenkönnen und -wollen vieler Traumatisierter werden häufig massive Schamgefühle angeführt. Scham ist ein zutiefst soziales und sozial geprägtes Gefühl. Es scheint wiederum bei unterschiedlichen Traumatisierungen eine unterschiedlich ausgeprägte Rolle zu spielen. Besonders stark sind Schamgefühle bei Opfern sexueller Gewalt (vgl. Herman 1993) oder sexueller Folter (vgl. Becker 1992). Hier scheinen Opfer das Erlebte sehr oft als etwas zu empfinden, was mit Ekelgefühlen behaftet immer noch an ihnen klebt und das sie vermuten lässt, vom gegenwärtigen Gegenüber als Ekel erregend wahrgenommen zu werden, so als wären sie an dem Erlebten schuld. Lifton (1995) macht Scham aber auch als zentralen Faktor bei den Hiroshima-Überlebenden aus: In diesem Fall besteht die Scham darin, dass ihnen so etwas “passieren konnte" und geht so weit, dass sehr viele nicht zugeben wollen, dass sie zu den Bombenüberlebenden gehören. Dabei ist jedoch nicht endgültig zu entscheiden, inwiefern die Hemmung, über das Erlebte zu sprechen, mehr mit Scham oder mehr mit anderen Schutzmechanismen zu tun hat: Sicher spielt dabei eine Rolle, dass im modernen, aufstrebenden Japan niemand mehr daran erinnert werden will, dass man einmal derartig von den USA gedemütigt wurde. Insofern könnte man auch sagen, dass die Scham der Überlebenden mit der Scham der Gesellschaft korrespondiert. Die britische Historikerin Catherine Merridale (2000) arbeitet in der beeindruckenden Untersuchung “Death and Memory in Russia” heraus, wie schwer es für Opfer des Stalinismus bis heute ist, über das eigene Opfergewordensein oder die Ermordung von Angehörigen zu sprechen. Neben einer andauernden Identifikation mit dem Aggressor wecken auch ihre Beschreibungen den Eindruck einer zu Grunde liegenden großen Scham, Opfer geworden zu sein. 8. Traumaursachen und verschiedene Arten von Traumatisierung 8.1. Mittelbare vs. Unmittelbare Betroffenheit FR 151 Mittelbar von einem traumatischen Ereignis betroffen sind beispielsweise Angehörige direkt betroffener Personen. Auch bei der mittelbaren Traumatisierung finden sich in der Literatur verschiedene terminologische Vorschläge. Manchmal wird der Ausdruck „Mitbetroffene“ verwendet, was zum Beispiel auf Angehörige von Opfern sexueller Gewaltdelikte zutrifft. Diese sollen den Opfern zwar nicht gleich gesetzt werden. Der Ausdruck kann aber auf die enorme emotionale Belastung der Angehörigen aufmerksam machen. Bei der Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg (transgenerationelle oder intergenerationale Weitergabe) wird bisweilen der Ausdruck sekundäre Traumatisierung benutzt. Diese Vorgänge wurden beobachtet an Holocaustopfern, die auf verschiedenen Wegen ihre traumatische Erfahrung an die zweite Generation weitergeben. Vor allem wenn über die extreme Belastung in der Familie nicht gesprochen wird, kann es zu sekundären oder auch ‚tertiären’ Traumatisierung späterer Generationen kommen. GvK: Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass Traumatisierung über epigenetische Veränderungen weitergegeben wird. Wenn z. B. durch Kriegserlebnisse ständig große Angstzustände erzeugt werden, verändert sich vermutlich die Epigenetik und eine erhöhte Angstbereitschaft oder Vulnerabilität kann weitervererbt werden. 51 Der Ausdruck „sekundäre Traumatisierung“ wird auch mit Bezug auf Traumahelfer verwendet. Damit wird die emotionale Belastung bezeichnet, der diese oft ausgesetzt sind. Das gilt für Katastrophenhelfer auf Intensivstationen, Polizeibeamte und psychologische Heilberufe. Deswegen ist in diesen Tätigkeitsbereichen eine gute Supervision umso wichtiger. 8.1 Trauma wegen von der Natur oder von Menschen verursachten Desastern Autoren, die mit Opfern massiver Gewalt arbeiten (Becker, Brainin) kritisieren, dass nicht unterschieden wird zwischen natürlichen Unglücksfällen und von Menschen erzeugter Gewalt: Sie weisen darauf hin, dass durch die sehr allgemein gehaltene Trauma-Definition die Spezifika der Gewaltanwendung aus dem Blick geraten. Judith Herman und andere haben deshalb eine eigene Traumadiagnose für Gewaltopfer vorgeschlagen: das Viktimisierungssyndrom. In der Auseinandersetzung mit extremer und massenhafter Gewaltanwendung wird jedoch deutlich, dass auch diese Diagnose zu grob bleibt. Innerhalb der Diagnose „Trauma als Folge von Gewalt“ sind folgende Unterscheidungen zu treffen: Ist das Opfer im engeren Sinne „nur“ Opfer geworden oder gibt es eine komplizierte Verschränkung von Opfer- und Tätergewordensein? Klassisches Beispiel hierfür sind die Vietnamveteranen, die aufgrund der spezifischen Konstellation einerseits enorme Wut auf einen Staat verspürten, der sie in diesen absurden Krieg geschickt hatte, andererseits unter quälenden Schuldgefühlen litten. Die für Traumata u. a. charakteristische Erschütterung des Weltbildes besteht dann zu großen Teilen darin, dem eigenen Weltbild und der eigenen Moral nicht entsprochen zu haben. In den Traumafolgen und in den Perspektiven der Aufarbeitung bedeutet dies einen wichtigen Unterschied zu Opfern, die in keiner Weise zu (Mit-) Tätern wurden. Lässt sich die traumatische Sequenz an einer einzigen Szene festmachen oder handelt es sich um eine kumulative Traumatisierung, die über Wochen, Monate oder gar Jahre andauerte? Das eine bezeichnen wir nach einer von Leonore Terr 1995 eingeführten Terminologie als Typ-1-Trauma, das andere als Typ-2-Trauma. Ein Trauma vom Typ-1 liegt vor, wenn es sich um ein kurzes, akutes und begrenztes traumatisches Ereignis handelt, bei dem spätestens nach dem Geschehen selbst sozialer Beistand, Schutz und Hilfe durch andere gegeben ist. Die Opfer können in der Regel mit nahestehenden Personen oder Helfern über das Ereignis sprechen, beispielsweise nach Unfällen, Naturkatastrophen oder kriminellen Überfällen. Diese Art von Trauma hat oft ihre Ursache in Naturkatastrophen. * Dagegen spricht man von einem Trauma Typ-2, wenn Menschen wiederholte, länger andauernde und schwere Bedrohungen und/oder Gewalt durch andere Menschen erleiden müssen, z.B. bei längeren Geiselnahmen, Kriegshandlungen und Verfolgungen. Die häufigsten Traumatisierungen vom Typ-2 ereignen sich in Deutschland jedoch im Rahmen sogenannter familiärer Gewalt und hier wiederum in Form von emotionalen, physischen und sexuellen Missbrauchshandlungen während der Kindheit. Diese Art von Trauma ist also von Menschen verursacht. Die Frage nach dem Typ der Traumatisierungist für die therapeutische Bearbeitung natürlich von entscheidender Bedeutung, worauf in der entsprechenden Literatur erst in jüngster Zeit 52 hingewiesen wird: Konfrontative Methoden wie die des schnellen Debriefing nach einem traumatischen Erlebnis (siehe unten S. 25 Fußnote 7) scheinen - wenn überhaupt - nur bei kurzen, konkreten traumatischen Sequenzen geeignet. Die Folgen einer lang anhaltenden, kumulativen Traumatisierung sind komplexer, vor allem auch in den hier interessierenden langfristigen Auswirkungen auf soziale Beziehungen und in der Interdependenz mit dem sozialen Gefüge. Die letztgenannten Formen der Traumatisierung haben für die Opfer besonders schwerwiegende Folgen. Insbesondere frühe Gewalt- und sexuelle Missbrauchserfahrungen sowie emotionale Vernachlässigungen verursachen schwere Schäden in der nachfolgenden Persönlichkeitsentwicklung. Da diese Traumata tabuisiert und schambesetzt sind, werden sie oft jahrelang verschwiegen. Eine Rolle spielen auch die Absichten der Täter. Wurde mit der Tat ein politisches Ziel verfolgt? War es Zufall, dass gerade diese Person oder Personengruppe zum Opfer wurde oder war die Tat gezielt gegen sie gerichtet? Handelt es sich um eine gezielte Tat, dann ist des Weiteren zu unterscheiden, ob eine genozidale Absicht zugrunde lag oder eine nur auf einzelne Personen bezogene Straf- oder Erpressungsabsicht, z.B. im Zusammenhang von Kriegsmaß- nahmen. Leo Eitinger (1964) konnte innerhalb des vermeintlich gleichen Traumas „KZ-Haft“ den Unterschied zwischen jüdischen und norwegischen Häftlingen herausarbeiten. Da die jüdischen Häftlinge zur Vernichtung bestimmt waren, waren bereits während der KZ-Haft ihre Überlebensschancen ungleich geringer, die “Traumafolgen" bei den Überlebenden in vielerlei Hinsicht komplexer und schwer wiegender. Verhältnis zwischen Täter und Opfer Eine traumatische Situation wird für die Betroffenen komplexer, wenn der Täter zugleich eine enge Beziehungsperson, ein Vertrauter des Opfers ist. FR schlagen für diese Konstellation den Begriff des Beziehungstraumas vor. Im Englischen wird sie auch betrayal trauma, also Verratstrauma genannt. Die trau matisch bedingte Orientierungsstörung, die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses ist in diesem Falle äußerst nachhaltig, da das Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen generell erschüttert werden kann. Von den Eltern misshandelte Kinder leiden unter dieser Konstellation ebenso wie Opfer sexueller Gewalterfahrung durch Freunde, Bekannte oder den Ehepartner. Auch sexuelle Übergriffe oder Gewalthandlungen in Psychotherapie und psychiatrischer Behandlung geschehen durch den eng vertrauten Therapeuten und lösen insofern ein Beziehungstrauma aus. Langfristige, kumulative Beziehungstraumen nehmen bisweilen die Form Double-bind-Situationen an. Zum Beziehungstrauma kommt hier ein Orientierungstrauma hinzu, da das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der eigenen Kognitionen untergraben wird. Dieses Vertrauen in die eigenen Kognitionen wird übrigens auch in vielen lügenhaften Situationen untergraben und ist insofern ein großes, aktuelles Thema. Traumatische Situationen enden nicht nach der objektiven Zeit und nicht per se schon dann, wenn das traumatische Ereignis vorüber ist. Unter subjektiven und inter-subjektiven Gesichtspunkten enden sie, vor allem wenn sie von Menschen verursacht werden, erst dann, wenn die zerstörte zwischenmenschliche und ethische Beziehung durch Anerkennung von Verursachung und Schuld wiederhergestellt wurde. Zeit allein heilt nicht alle Wunden. 53 Viermehr muss eine qualitativ veränderte Situation entstehen, die die traumatischen Bedingungen überwindet und einen qualitativ neuen Anfang erlaubt. Bei dieser Auflösung und Überwindung von traumatischen Situationen sind Schuldanerkennung, Wiedergutmachung, aber auch Fragen von Sühne und Strafe von Bedeutung. Die Problematik, die das Trauma aufwirft, kann ein Mensch nicht allein bewältigen. Traumatische Situationen und die Verarbeitungs- und Selbstheilungsversuche der Betroffenen haben wesentlich eine soziale Dimension. Das traumatisierte Individuum ist kein isoliertes Einzelwesen, sondern um einen zunächst paradox klingenden Begriff zu verwenden, ein ‚individuelles Allgemeines’, d.h. die konkrete Realisation jener allgemeinen menschlichen Möglichkeiten, sozialen Absprachen, Lebensprinzipien und Lebenswerte, an denen wir alle teilhaben, so dass ihre Verletzung letztlich uns alle als eine eigene Möglichkeit betrifft. Für das Trauma der Betroffenen, ihre traumatische Reaktion, den sich entwickelnden Prozess, den Heilungsverlauf oder weitere traumatische Sequenzen ist nun von wesentlicher Bedeutung, wie sich die Allgemeinheit zum individuellen Elend der Traumatisierten verhält. Unterliegen diese der gesellschaftlichen Verdrängung, Ausgrenzung oder gar Missachtung, weil sie durch ihr Leiden an die ‚Katastrophe’ erinnern, so ist für sie die traumatische Situation noch keineswegs beendet. Entscheidend ist, ob wir im traumatischen Leid unserer Mitmenschen das ‚allgemeine menschliche Wesen’ in seiner konkreten Ausformung erkennen oder darin nur einen zwar bedauerlichen, statistisch aber durchaus ‚erwartbaren’ Einzelfall sehen. Wichtig ist auch die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Bereichen, in denen das Weltbild traumatisierter Menschen erschüttert wurde. Psychotraumatologisch ist das von Bedeutung, wenn wir die Auswirkungen von Naturkatastrophen und Katastrophen mit menschlicher Verursachung miteinander vergleichen wollen. Im einen Fall wird unser pragmatisches, im anderen unser kommunikatives Realitätsprinzip mehr oder weniger nachhaltig erschüttert oder infrage gestellt. Das pragmatische Realitätsprinzip bezieht sich auf den sachlich-gegenständlichen Umweltbereich, über dessen Funktionieren wir Kenntnisse zu haben und den wir hinreichend kontrollieren zu können glauben. Das kommunikative Realitätsprinzip zeichnet sich durch das Kriterium der sozialen „Wechselseitigkeit“ aus. Dahinter steht die Annahme, dass der andere mich und mein Weltverhältnis ebenso antizipieren kann wie ich das seine, was im Umgang mit Sachobjekten natürlich nicht der Fall ist. 8.3.FrühkindlicheTraumatisierung Wir haben schon gehört, wie verheerend sich frühkindlicher Missbrauch auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung auswirken kann. DV Als die klassische Trias früher Traumatisierung werden in der Literatur üblicherweise Vernachlässigung, körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch genannt. Am intensivsten erforscht dürfte die körperliche Misshandlung sein, da diese bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA thematisiert und zu ersten Meilensteinen der Forschung führte. In den späten 70er und 80er Jahren geriet dann im Gefolge der internationalen Frauenbewegung der sexuelle Missbrauch von Kindern in den Blick der Öffentlichkeit und dominierte lange Zeit den öffentlichen wie den wissenschaftlichen Diskurs. Die Vernachlässigung war ursprünglich eher als ein Nebenaspekt des Themas der körperlichen Misshandlung gesehen worden, dies vor allem, weil sie meist unauffällig geschieht und zumindest zunächst kaum sichtbare Spuren hinterlässt. Sie wurde erst wieder in den 90er Jahren Thema der „Abuse“-Forschung, jetzt ergänzt durch das Wissen um emotionale Formen der Vernachlässigung. 54 Unter zeitlich-entwicklungspsychologischem Gesichtspunkt ist es im ersten Lebensjahr wohl – neben körperlicher Misshandlung - die physische und emotionale Vernachlässigung, die in einem fundamentalen Mangel an sensorischen Erfahrungen besteht und die „möglicherweise der destruktivste und zugleich am wenigsten verstandene Aspekt der Kindesmisshandlung (ist).“ (Perry et al., 1998, S. 284). Im zweiten und dritten Lebensjahr sind es dann v. a. die körperlichen Misshandlungen, die traumatisierend wirken. Anders, als man spontan vermuten würde, liegt die höchste Misshandlungsrate bei Kindern im Alter zwischen 0 und 3 Jahren, und in den USA ist mehr als die Hälfte der Todesfälle in diesem Alter auf Misshandlungen zurückzuführen (National Center on Child Abuse and Neglect, 2000, zit. nach Schore, 2007, S. 169). Dagegen ist der sexuelle Missbrauch, sofern er ohne Penetration und physische Gewalteinwirkung erfolgt, im Säuglings- und Kleinkindalter möglicherweise, was die pathologischen Folgen für das Kind betrifft, als weniger schwerwiegend einzuschätzen. Die mit dieser Form von Missbrauch zusammenhängenden Vorgänge sind nämlich für das Kind aufgrund seines kognitiven und emotionalen Entwicklungsstands in ihrer Bedeutung nur eingeschränkt erfassbar und fallen daher tendenziell „mangels kognitiver Wahrnehmungsmöglichkeiten ins ‚affektive Nichts.’“ (Riedesser et al., 2003, S. 12). Sexuelle Übergriffe in späteren Jahren (die Mehrzahl der sexuellen Missbrauchshandlungen findet zwischen drei und dreizehn Jahren statt, vgl. Wetzels, 1997, S. 156), wenn Generations- und Geschlechtergrenzen sowie moralische Kategorien (Über-Ich) etabliert sind, wenn Schuldund Schamgefühle sowie Loyalitätskonflikte erlebbar sind, wirken der klinischen Erfahrung von PraktikerInnen nach wesentlich destruktiver. Hier beweist sich die Abhängigkeit der pathogenen Wirkung eines Traumas vom Lebensalter und dem kognitiv-emotionalen und sozialen Entwicklungsniveau. Neben diesen drei klassischen Misshandlungsformen ist in den letzten Jahren das Miterleben häuslicher Gewalt (Kindler & Werner, 2005) in den Blickpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Ein Stiefkind der „Abuse“-Forschung ist nach wie vor die emotionale und seelische Mißhandlung von Kindern („Niederbrüllen“, „Nicht mit dem Kind reden“ etc., vgl. Bussmann, 2002), dies sicherlich vor allem deshalb, weil hier die Grenze zwischen noch normalem und traumatisierendem Erziehungsverhalten besonders schwer zu ziehen ist (Behl et al., 2003). Ein weiteres Ergebnis jüngerer Forschung ist die wichtige Erkenntnis, „daß das gleichzeitige, überlagernde Auftreten verschiedener Formen der Kindesmisshandlung sehr viel häufiger ist als das Erleiden einer einzigen Misshandlungsform.“ (Deegener, 2005, S. 52). Vor allem in klinischen Studien wurde immer wieder die multiple Viktimisierung von kindlichen Misshandlungsopfern belegt (Mullen, 1997; Silverman et al., 1996; Zanarini et al., 1997). Es ist davon auszugehen, daß v. a. Misshandlung und Vernachlässigung i. d. R. Hand in Hand gehen. Risikofaktoren aus der Kindheit: 55 Weitere ätiologische, zwischenmenschliche Faktoren bei der Entstehung von Traumafolgestörungen sind laut Fischer und Riedesser Übersozialisation durch einen übermäßig strengen, rigiden und einengenden Erziehungsstil. Ebenso wirkt sich aber Untersozialisation mit einem ‚Laissez-faire’ Erziehungsstil negativ aus, der zu wenig oder auch einseitig normative Strukturierung ermöglicht und so zu einem Mangel an Empathie, Normenverständnis und Verständnis für die ‚Wechselseitigkeit’ sozialer Beziehungen führt, die den Kern des kommunikativen Realitätsprinzips bildet 8.4. Häufung traumatischer Ereignisse oder Umstände Wir haben schon davon gesprochen, dass sich belastende Ereignisse addieren und zu einer 56 Vulnerabilität beitragen. Wir haben auch schon von Typ-1 und Typ-2-Trauma gehört. Fischer und Riedesser nennen das auch Mono- und Polytramatisierung (von griechisch polys = vielfach vs. Griechisch monos = einmalig). Die von Lenore Terr 1995 vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Typ I vs Typ II-Traumatisierungen deckst sich hiermit annäherungsweise und hat sich durchgesetzt. Typ I-Trauma bezeichnet ein einmaliges überwältigendes Vorkommnis (‚one single blow’), Typ II sich längerfristig hinziehende traumatische Umstände. Bei Polytraumatisierung wirken verschiedene traumatische Ereignisse bzw. Umstände entweder simultan oder sukzessiv zusammen und vervielfältigen so gegenseitig ihre Auswirkung auf das betroffene Subjekt. Für den Vorgang einer zeitlich sukzessiven Polytraumatisierung werden in der Literatur zwei unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen, kumulative und sequentielle Traumatisierung. Der Begriff des kumulativen Traumas nach Masud Khan (1963) bezeichnet eine Abfolge von traumatischen Ereignissen oder Umständen, die jedes für sich subliminal (unterschwellig) bleiben können, in ihrer zeitlichen Abfolge und Häufung jedoch die restitutiven Kräfte des Ich so sehr schwächen, dass insgesamt eine oft sogar schwer traumatische Verlaufsgestalt entsteht. Immer von neuem wird die ‚Erholungsphase’ unterbrochen. Die ständige Wiederholung durchbricht die Abwehrbarriere und hinterlässt tiefe Spuren im Persönlichkeitssystem. Viele Beziehungstraumata sind durch ihren Wiederholungscharakter diesem Typus der Traumaentstehung zuzurechnen. 8.5. Sequentielle Traumatisierung Hans Keilson hat diese Form der wiederholten und sich über einen längeren Zeitraum hinstreckenden Traumatisierung beschrieben und ist zu sehr interessanten Erkenntnissen gelangt. Er war selbst ein Überlebender der Shoa, dessen Eltern in Birkenau umgebracht wurden. Im Jahr 1934 wurde gegen den Mediziner und Lehrer in Deutschland ein Praxis- und Publikationsverbot ausgesprochen. Er emigrierte 1936 in die Niederlande, wo er sich im Jahre 1943 einer Widerstandsgruppe anschloss, die ihm schon in dieser Zeit die psychologische Betreuung jüdischer Waisenkinder, die ihre Eltern aufgrund der NS- Verfolgung verloren haben, anvertraute (vgl. Vorwärts 1997 und Keilson 1979). Nach dem zweiten Weltkrieg fungierte Keilson als Berater jüdischer Kriegswaisenorganisationen in den Niederlanden, ab 1967 war er Mitarbeiter der kinderpsychiatrischen Universitätsklinik in Amsterdam. Im Rahmen seiner psychotherapeutischen und beratenden Tätigkeit mit jüdischen Kriegswaisen führte Keilson von 1967 bis 1978 eine Längsschnittstudie über die Auswirkungen der Verfolgung des NS- Terrors auf jüdische Kinder durch. Dabei bediente er sich eines deskriptiv- klinischen und eines quantifizierend statistischen Verfahrens. In einer follow- up Untersuchung wurden die nun erwachsenen Kriegswaisen „rund 25 Jahre nach dem Ende des Krieges“ (ebd. S. 48) zusätzlich retrospektiv zu ihrer Biographie und Bewertung ihrer Verarbeitung ihrer Erlebnisse befragt. Keilson ging der Frage der alterspezifischen Traumatisierung von Kindern nach. Er untersuchte unterschiedliche Auswirkungen der belastenden Lebenssituationen dieser Kinder unter Berücksichtigung ihres Entwicklungsstandes. Die Einteilung der unterschiedlichen Entwicklungsstände erfolgt nach psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten. Dieser Frage wird hier nicht weiter nachgegangen, sondern es werden die Keilson’schen traumatischen Sequenzen als Vorbild für eine Verallgemeinerung vor allem für den Bereich der psychosozialen Arbeit mit Flüchtlingen dargestellt. In der Untersuchung Keilsons wird der Versuch unternommen, in psychologisch- psychiatrischen und psychosozialen Begriffen die Schäden und das Leid der Kinder zu beschreiben, die im Zuge der Okkupation der Niederlande in den Jahren 1940 57 1945 dem antijüdischen Terror ausgesetzt waren und diese als Vollwaisen überlebten, sei es in den Verstecken, sei es in den Konzentrationslagern“ (ebd. S. 2). Dieses Phänomen ist nicht nur als individueller Verlust der Eltern, sondern als Gruppenphänomen der planmäßigen, gezielten Vernichtung der jüdischen Gruppe als eine „traumatische Gesamtsituation“ (ebd. S. 2) zu fassen. Dabei spielte das subjektive Verhalten zu der jüdischen Bezugsgruppe eine nur untergeordnete Rolle . Der direkte gesellschaftliche Bezug der Verfolgung der jüdischen Gruppe in einem spezifischen historisch- politischen Kontext ist für Keilson zentral. Eine individuelle Betrachtung der Einzelschicksale hieße, die Lebenslagen der Untersuchten „miss[zu]verstehen“ (ebd. S. 55). Mit dem Verständnis der Lebensereignisse der jüdischen Kriegswaisen als man-made desaster wird „zugleich die psychologische und die historischpolitische Dimension des Verfolgungsgeschehens“ (ebd. S. 54) beschrieben. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges lebten in den Niederlanden 2041 jüdische Kriegswaisen, die Krieg und Verfolgung in Europa überlebt hatten, und 401 sog. ‚indische’ Waisen, die aus der ehemaligen Kolonie Niederländisch- Indien aus japanischen Konzentrationslagern in die Niederlande zurückkehrten. Für all diese Kinder mussten bis zur Volljährigkeit Entscheidungen „hinsichtlich der Vormundschaft und des zukünftigen Erziehungsmilieus getroffen werden“ (ebd. S. 5). Zur Klärung dieser Fragen wurden in sog. ‚Streitfällen’ „ausführliche psychiatrische Gutachten, meist von Child Guidance Clinics und der sozialpsychiatrischen Abteilung der jüdischen Waisenorganisation“ (ebd. S. 10) verfasst. ‚Traumatisierungen’ erlebten die von Keilson betreuten und untersuchten Kinder in verschiedenen Situationen. Keilson betonte, dass die Traumatisierung der Kinder auch nach Kriegsende weiterging, als die Zeit der Verarbeitung anbrach und aus unterschiedlichen Bedingungen die traumatischen Erlebnisse doch nicht verarbeitet werden konnten. Von historisch kontextualisierten „traumatischen Situationen“ (ebd. S. 61) ausgehend, definiert er drei Sequenzen: Erste Sequenz „Das einzigartige Charakteristikum der damaligen Situation war, dass nicht die Selbstinterpretation dieser Gruppe oder die Interpretation des Einzelnen bezüglich seiner Zugehörigkeit letzthin dessen Verhalten in einer bestimmten- in diesem Fall drohendenSituation reguliert, sondern die Interpretation anderer, fremder Individuen oder Mehrheitsgruppen über das Schicksal der Angehörigen der jüdischen Gruppe entschied.“ (ebd. S 36) Ähnliches kann über Flüchtlinge heute gesagt werden, nämlich dass die Selbstinterpretation über die Gruppenzugehörigkeit im Krieg oder auch als Flüchtling eher unwesentlich ist im Vergleich zu Fremdzuschreibungen und deren konkrete Auswirkungen. Zeitlich umfasst die erste traumatische Sequenz die Anfangsphase der Verfolgung, die deutsche Besetzung der Niederlande mit dem beginnenden Terror gegen die jüdische Minderheit. Sie enthielt alle Ängste der Besetzung der mit dem Abbröckeln des Rechtsschutzes und mit dem Tragen des gelben Sternes beginnenden und sich immer schärfer anlassenden Verfolgung (kumulierend in den Razzien und den Deportationen); den Angriff auf die Integrität der Familie, der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz, die Ghettoisierungen, die ängstliche Erwartungshaltung der kommenden Untaten, das plötzliche Verschwinden von Angehörigen, Bekannten, Freunden, Spiel- und Schulkameraden“ (ebd. S. 56f). Zusammenfassend bezeichnete Keilson diese Sequenz als eine „panische Auflösung der eigenen vertrauten Umgebung“ (ebd. S. 57). Zweite Sequenz Die zweite traumatische Sequenz beginnt mit der direkten Verfolgung, der Trennung von den 58 Eltern und dem Verstecktsein bzw. der Konzentrationslagerhaft und endet mit der Befreiung von den deutschen Besatzern und dem Ende des Krieges. Eltern und Kinder werden in dieser Periode deportiert. Die jüdischen Kriegswaisen halten sich in Konzentrationslagern oder im Versteck auf. Die Belastungen in dieser Zeit „enthalten neben der direkten Lebensbedrohung, der Rechtlosigkeit ihrer Situation, dem Ausgeliefertsein an eine feindliche Umgebung, die im stressorischen Sinn zu verstehenden Dauerbelastungen wie Entbehrung, Hunger, Krankheit; ferner eindeutig die psychologischen Erlebnisqualitäten der ‚generellen Bedrohlichkeit’, wie Zermürbung, Infragestellung und Vernichtung mitmenschlicher Verhaltensweisen [...] durch die Konfrontation mit der brutalen Macht, dem Grauen und dem Tod“ (ebd. S. 57). Die Belastungen in dieser Phase setzen sich für die Kinder aus zwei Dimensionen zusammen, der aktuellen Kriegssituation sowie der Pflegekindschaft der ‚Versteckten’. Dritte Sequenz Die dritte traumatische Sequenz beginnt schließlich in der Nachkriegsperiode mit all ihren Schwierigkeiten der Wiedereingliederung. Sie ist gekennzeichnet durch die „Rückkehr aus der Rechtlosigkeit in rechtlich gesicherte und bürokratisch geordnete Zustände“ (ebd. S. 58). „Maßnahmen hinsichtlich der Vormundschaft und hinsichtlich ihrer weiteren Unterbringung [...] bedeuteten neue Eingriffe in das Leben der Kinder aus der stark dezimierten jüdischen Bevölkerungsgruppe. Die Waisenschafts- und Vormundschaftsproblematik war unlösbar verbunden mit der Konfrontation mit der Modalität des Todes der Eltern“ (ebd. S. 58). „Das ‚Auftauchen’ oder ‚Zurückkehren’ geschah in eine andere Welt, als die, die man verlassen hatte. Das Ende der Lebensbedrohung, der Beginn der Rehabilitationsmaßnahmen, der Versuch der Aufarbeitung der entstandenen Schäden und Lücken führte nur zu oft zu einer Verstärkung der Konfrontation mit den erlittenen Traumata und dadurch zu neuen Schädigungen“ (Keilson 1979, S. 58). Auch „Trauer und Schuldgefühl der Überlebenden“ (ebd. S. 78) tauchen meist erst in der dritten Sequenz auf. Von vielen der untersuchten jüdischen Kriegswaisen wurde in der Follow- Up- Untersuchung immer wieder die dritte traumatische Sequenz „als die eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens bezeichnet, und zwar nicht nur ihrem subjektiven Ermessen nach, sondern auch aufgrund objektiv aufzeigbarer Kriterien“ (ebd. S. 58). Im Idealfall sollten die Kinder aus einem Zustand der „Passivität, Duldung, des Mit- sichgeschehen- Lassens“ (ebd. S. 70) in eine Lage versetzt werden, in der „auf einmal an ihre Aktivität, ihre Initiative, ihre Entschlusskraft und an ihren Einsatz appelliert wurde“ (ebd.). Häufig dominierte insbesondere im Zusammenhang mit sorgerechts- und vormundschaftsrechtlichen Entscheidungen „das Gefühl des Ausgeliefertseins an Instanzen, die über Wohl und Wehe der Kinder gebieten“ (ebd. S. 76f). In der Nachuntersuchung wiesen die befragten Erwachsenen „die Nachkriegsperiode als die schwierigste Phase der extremen Belastungssituation an“ (ebd. S. 73). Diese sei auch die entscheidende Phase für den weiteren Werdegang der Betroffenen. Nicht die Qualität und Quantität der Erlebnisse in der ersten oder der zweiten Sequenz erwies sich als ausschlaggebend für eine erfolgreiche Verarbeitung der Erlebnisse, sondern die Lebensbedingungen in der Nachkriegsperiode. Die von Keilson definierten Sequenzen für jüdische Kriegswaisen sind auf die Erfahrungen von Krieg, Verfolgung, politischen Repressionen und Flucht heutiger Flüchtlinge verallgemeinerbar. Beide Gruppen- die jüdischen Kriegswaisen wie heutige Flüchtlingekönnen als sequentiell traumatisiert gefasst werden. Unter Einbezug der unterschiedlichen 59 historischen Situationen scheint für beide Gruppen die Bestimmung unterschiedlicher belastender Sequenzen sinnvoll, um ihre Leiden und Erlebnisse konzeptionell fassbar zu machen. Insbesondere die dritte Keilsonische Sequenz der Zeit nach der unmittelbaren Verfolgung ist für Flüchtlinge insgesamt strukturell ähnlich bestimmbar, wie für die von Keilson untersuchten jüdischen Kriegswaisen. Für beide Gruppen besteht nach den Erlebnissen unmittelbarer existenzieller Bedrohung die äußere und belastende Notwendigkeit der Klärung ihres rechtlichen Status auch mittels klinisch- fachlicher Begutachtung, wie die Aufgabe, nach ihren Erlebnissen von extremen Leid, weiter leben zu müssen. Die Keilson’sche Forderung des Einbezuges der spezifischen Kontexte der jüdischen Kriegswaisen und der für eine Gruppe in einer spezifischen historischen Situation gefassten Sequenzen, kann durch den Einbezug strukturell ähnlicher Prämissen, Gründe bzw. Zusammenhänge auch für andere Gruppen fruchtbar gemacht werden. Das psychische Befinden wird nicht isoliert oder abstrakt mit äußerlichen Lebensereignissen verbunden dargestellt, sondern in einem je konkreten gesellschaftlichen Kontext situiert. Das Keilson’sche Konzept richtet den Blick auf den Prozess der Lebensbedingungen, der nicht mit einem konkreten ‚traumatischen Ereignis’ erschöpfend beschrieben ist, auch nicht mit der Abfolge von ‚traumatischen Ereignissen’ während der Verfolgungszeit. Bedeutsam ist, dass der Nachkriegszeit, dem Umgang in der Nachkriegszeit mit dem Erlebten, aber auch dem gesellschaftlichen Umgang mit den Überlebenden Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das gilt für damals wie für heute. Sequentielle Traumatisierung bedeutet, Trauma nicht als einen einmaligen Vorgang zu denken, sondern als einen langen Prozess mit verschiedenen Phasen bzw. verschiedenen traumabezogenen Sequenzen. Diesem neuen Konzept von „Trauma als Prozess“ liegt insofern ein radikal anderes Verstehen von Trauma zu Grunde, als nun nicht mehr ein traumatisches Ereignis, sondern eine Abfolge von Trauma zugrunde, als nicht mehr ein Ereignis, sondern eine Abfolge von Ereignissen betrachtet wird. Damit wird die Rede von einem „post“-traumatischen Syndrom eindeutig irreführend, da aufeinander folgende traumatisierende Ereignisse und die Entwicklung von Traumasymptomen eine Einheit darstellen. Auch das unterstreicht den Prozesscharakter von Traumatisierungen und der Entwicklung von Traumafolgestörungen. Inzwischen verweisen auch andere Traumaforscher auf den Prozesscharakter, indem sie zum Beispiel ganz allgemein von der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der „postexpositorischen Phase“ (vgl. z.B. Fischer, 1998) sprechen. Entscheidend für die Entwicklung psychischer Schwierigkeiten ist also nicht nur, wie grausam das Trauma an sich war, sondern immer auch wie es unmittelbar danach und später weiterging. Diese Ergebnisse sind von enormer Bedeutung sowohl für die individuelle Traumatherapie als auch für die Reflexion kollektiver Prozesse. Die Aufmerksamkeit des Gegenübers allgemein wie auch des Therapeuten, der das Leiden des Opfers verstehen will, richtet sich meist intuitiv fast nur auf das, was in der ersten traumatischen Sequenz geschah („Wenn ich weiß, was dir vom Täter angetan wurde, kann ich dich besser verstehen“). Das Konzept von Trauma als Prozess und der sequentiellen Traumatisierung ist vor allem deshalb revolutionär, weil es alle „mit in die Pflicht nimmt“, die mit dem Opfer zu tun hatten und haben, auch nach der Traumatisierung. Dies ist unmittelbar von politischer Bedeutung, wenn es etwa um Flüchtlingspolitik geht: Zur Heilung des Traumas kann die aufnehmende Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten; es besteht jedoch die erhebliche Gefahr der Re-Traumatisierung, wenn beispielsweise Befragungen durch die Polizei (oder andere Konfrontationen mit ihr) der 60 ursprünglichen traumatischen Szene stark ähneln. David Becker formuliert es so, dass es in Keilsons Verständnis von Trauma also nicht nur um die Aufarbeitung vergangener Verbrechen gehe, sondern um die „fortgesetzte Relevanz der sozialen Umwelt, auch viele Jahre später noch“ (Becker, 2001c). 8.6. Komplexe posttraumatische Belastungsstörung Wikipedia: Als komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) wird ein psychisches Krankheitsbild bezeichnet, das sich infolge schwerer, anhaltender Traumatisierungen (z. B. Misshandlungen oder sexueller Missbrauch, Kriegserfahrung, Folter, Naturkatastrophen, physische oder emotionale Vernachlässigung in der Kindheit, existenzbedrohende Lebensereignisse) entwickeln kann. Es kann sowohl direkt im Anschluss an die Traumata als auch mit zeitlicher Verzögerung (Monate bis Jahrzehnte) in Erscheinung treten. Im Unterschied zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist es durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen gekennzeichnet, die über einen längeren Zeitraum bestehen bleiben. Der Begriff Komplexe PTBS (engl. Complex PTSD, C-PTSD) wurde für dieses Krankheitsbild erst 1992 durch die amerikanische Psychiaterin Judith Herman eingeführt und ist im deutschen Sprachraum bislang noch nicht vollständig etabliert. Der Begriff geht zurück auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Definition und den diagnostischen Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die 1980 in der dritten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSMIII) der American Psychiatric Association (APA) publiziert wurden. Die diagnostischen Kriterien der PTBS konzentrierten sich auf Symptome, die bei Kriegsteilnehmern beobachtet worden waren und eigneten sich nicht dazu, auch die Störungsbilder zu beschreiben, die bei missbrauchten Kindern beobachtet werden konnten. Insbesondere eigneten sich die PTBSKriterien nicht zur Diagnostik von psychischen Problemlagen, die sich etwa als Spätfolgen des Kindesmissbrauchs im Jugend- und Erwachsenenalter entwickelten. Basierend auf den daraufhin von der DSM-Arbeitsgruppe der APA initiierten Felduntersuchungen ließ sich ein komplexeres Krankheitsbild identifizieren, das im Gefolge besonders schwerer oder wiederholten bzw. langanhaltenden Traumatisierungen wie psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalterfahrungen, aber auch bei Kriegs- und Foltererfahrungen oder Entführungen entsteht und als „Störung durch Extrembelastung, nicht anderweitig bezeichnet“ („Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified“ (DESNOS), Anhang DSM IV) begrifflich gefasst wurde. Diese Kategorie sollte nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe in der nächsten Überarbeitung des DSM als „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ neu gefasst und aufgenommen werden. Das ist aber weder im DSM-IV, noch im DSM-V geschehen. Ein sehr ähnliches Krankheitsbild wird, wie wir gesehen haben, in der ICD-Diagnose F62.0 „Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ beschrieben. Nach den klinischen Beschreibungen und diagnostischen Leitlinien der ICD-10 „sollen“ die „späten chronischen Folgeerscheinungen von verheerenden Belastungen, d. h. die, die sich erst Jahrzehnte nach der belastenden Erfahrung entwickeln, […] unter F 62.0“ (übersetzt aus dem Englischen) klassifiziert werden.[3] Im Rahmen einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung können im Verlauf der 61 Erkrankung eine Vielzahl von Symptomen auftreten. Legt man die diagnostischen Kriterien zugrunde, mit denen die sehr ähnliche DESNOS beschrieben wurde, lassen sich die Symptome aber sechs übergeordneten Bereichen zuordnen: I. Veränderungen in der Regulation von Affekten und Impulsen (Affektregulation, Umgang mit Ärger, autodestruktives Verhalten, Suizidalität, Störungen der Sexualität, exzessives Risikoverhalten) II. Veränderungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein (Amnesien, zeitlich begrenzte dissoziative Episoden und Depersonalisationserleben) III. Veränderungen der Selbstwahrnehmung (geringe Selbstwirksamkeit, Stigmatisierung, Schuldgefühle, Schamhaftigkeit, Isolation und Bagatellisierung, Verlust des Selbstwertgefühls) IV. Veränderungen in Beziehungen zu anderen (Unfähigkeit anderen Personen zu vertrauen, Reviktimisierung, Viktimisierung anderer Personen) V. Somatisierung (Gastrointestinale Symptome, chronische Schmerzen, kardiopulmonale Symptome, Konversionssymptome, sexuelle Symptome) VI. Veränderungen von Lebenseinstellungen (Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Verlust früherer stützender Grundüberzeugungen) Es kann sogar zu einer Aufspaltung der Persönlichkeit in verschiedene Persönlichkeitsanteile kommen, der sogenannten Persönlichkeitsspaltung oder „struktureller Dissoziation“ )Huber. Im ICD-10 werden etwas andere und weniger genaue Symptome beschrieben. Dort ist es erforderlich, dass mindestens zwei der folgenden Persönlichkeitsänderungen beschrieben werden: - feindliche oder misstrauische Haltung (=IV im DSM) sozialer Rückzug (=III) andauerndes Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit (das ggf. mit einer gesteigerten Abhängigkeit von anderen, der Unfähigkeit, negative oder aggressive Gefühle zu äußern, oder anhaltenden depressiven Symptomen einhergehen kann) (=VI) andauerndes Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung ohne äußere Ursache (das ggf. zu Gereiztheit oder Substanzmissbrauch führen kann) andauerndes Gefühl der Entfremdung (anders als die anderen zu sein), ggf. verbunden mit dem Gefühl emotionaler Betäubung. (=III?) Die beschriebene Symptomatik darf vor dem traumatischen Ereignis nicht vorhanden gewesen sein und nicht durch eine andere psychische Störung (z. B. Depression) bedingt sein. Die beschriebene Persönlichkeitsänderung muss seit mindestens zwei Jahren bestehen. Im Falle einer vorangegangenen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sollte eine anhaltende Persönlichkeitsänderung nur angenommen werden, wenn die PTBS vorher mindestens zwei Jahre lang erfüllt war (das heißt, die Diagnose erfordert hier mindestens zwei Jahre PTBS plus mindestens zwei Jahre Persönlichkeitsänderung). Unter anderem wegen der nicht abschließend geklärten Überschneidungen mit anderen psychischen Krankheitsbildern existieren nur wenige Erkenntnisse über die Prävalenz der komplexen PTBS. 62 9. Weitere Traumatisierungsarten 9.1. Retraumatisierung Mit dem Begriff der Retraumatisierung sind Zustände des Betroffenen gemeint, in denen eine erneute Erinnerung an das traumatische Ereignis direkt zu einer Symptombelastung führt. Retraumatisierungen können auch hervorgerufen werden in juristischen oder polizeilichen Kontexten, durch häufige Betrachtung des traumatischen Ereignisses in Filmen sowie durch Medienaktivitäten gegenüber Opfern. Techniken der Traumakonfrontation sind jedoch eindeutig von einer Retraumatisierung zu unterscheiden, da die therapeutische Traumakonfrontation gewollt, geplant und in einem sicheren Setting mit dem Ziel der Verarbeitung des Vergangenen durchgeführt wird. Allerdings können vorschnelle Traumakonfrontationen bei nicht ausreichender Stabilisierung bzw. bei einem unsensiblen Vorgehen des Therapeuten zu einer Retraumatisierung führen und den Behandlungserfolg gefährden oder gar zu einer anhaltenden Dekompensation beitragen. Bereits in „friedlichen Zeiten”, jenseits kollektiver Gewalt, gerät die konventionelle juristische Praxis in Konflikt mit den Anforderungen eines traumasensiblen Umgangs mit den Opfern. Sobald ein „Trauma” in der Form einer Anzeige gegen eine Straftat artikuliert wird, wird das Opfer zugleich zum Objekt des Rechtssystems. Es geht dann nicht mehr primär um die Bedürfnisse des Opfers, sondern die Tat wird zu einem eigenen Anliegen des Staates. Dieser verfolgt dabei verschiedene Ziele, von denen sich eines, nämlich das Ziel der Strafverfolgung und Verurteilung, besonders massiv auch auf das Opfer auswirkt. Das Opfer wird in Verfolgung dieses Ziels zum Zeugen, dessen Aussage nun nach den Kriterien einer Zeugenaussage kritisch bewertet werden muss; es muss sich daher den entsprechenden Methoden, etwa dem Kreuzverhör unterwerfen. Art, Ziel und Logik von Vernehmungen widersprechen in vielen Aspekten den aus der Traumatheorie bekannten Bedürfnissen des Opfers nach Sicherheit und Wiederherstellung der eigenen Würde. So werden kritische Nachfragen (oft zu Recht) als Misstrauen erlebt und können im Extremfall zu einer Retraumatisierung führen. Das Gleiche gilt für Interviews im Asylverfahren, wo schon geringfügige Widersprüche in der Aussage zu Ablehnung führen können. Dabei sind lückenhafte Erinnerungen eine bekannte Traumafolge. Bei Wahrheitskommissionen dagegen stehen andere Ziele im Vordergrund, so dass sie Zeugen mit einer anderen Logik anhören können. Da es nicht um die Strafverfolgung einzelner Täter geht, kann das Opfer seine Geschichte so erzählen, wie es sie erlebte, seine Bedürfnisse passen eher zum Anliegen der Wahrheitskommission, die Geschichte rekonstruieren will. Heilsam wirkt dabei im Idealfall die Erfahrung, dass einem geglaubt wird, dass das Erlebte öffentlich anerkannt wird. Minow (1998, S. 60) zitiert in diesem Zusammenhang Pumla Gobodo-Madikizela, die als Psychologin für die Menschenrechtskommission arbeitete. Für das Opfer sei es wichtig, von offizieller Seite zu hören “you are right, you were damaged, and it was wrong”. In diesem Sinne kann eine Wahrheitskommission die oben beschriebene Funktion erfüllen, das Erlebte als Unrecht zu benennen statt als Unglück, das einem widerfuhr (vgl. S. 55ff). 9.2. Tätertraumatisierung Ruppert: „ Von der Täterseite her gibt es auch eine Selbsttraumatisierung. Denn auch Täter haben eine gesunde Psyche, die sie nicht loswerden und die die Realität sieht. Deswegen entstehen Scham, schlechtes Gewissen etc. Wenn man mit diesem Bewusstsein weiterlebt, 63 hält man das nur schwer aus. Ein Täter braucht also auch Überlebensstrategien. Er muss also die Erinnerung an die Signale des Opfers wegschließen, also einen inneren Kokon bauen. Die Wirkung davon ist zu sagen, dass man es nicht war oder nichts passiert ist oder es nicht so schlimm war, also zu verleugnen, zu minimieren oder auf Nebenschauplätze abzulenken. Täter haben ein Bedürfnis, sich möglichst öffentlich als unschuldig darzustellen, wenn möglich als Philantrop, Politiker, Wohltäter etc. Täter sind in ihrem brüchigen Selbstbewusstsein schnell beleidigt und gekränkt. Jeder Anlass von Beleidigung wird ganz groß aufgebauscht, um sich als Opfer darstellen zu können. Ähnlich wie die Opfer verstecken sich die Täter auch gern hinter einem Wir: wir Österreicher, unsere Familie etc. Trauma ist zudem mit Aufgabe der Identität verbunden. Man muss meine Identität so lange aufgeben, wie man Täter ist. Denn man muss versuchen, nicht der zu sein, der man ist. Dann kann man auch nicht mehr die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Dann kann man auch entsetzliche Befehle und Anordnungen erteilen, ohne sich verantwortlich zu fühlen. Entschuldigungen nach dem II .Weltkrieg lauteten häufig sinngemäß: Ich habe ja nur Befehle ausgeführt. Das eigene Ich, die eigene Identität aufzugeben und sich hinter einem kollektiven Wir zu verstecken ist trotzdem eine der fatalsten Täterstrategien, weil sie den Kern der Persönlichkeit aushöhlen. Im Falle einer solchen psychischen Fragmentierung haben die eigenen Gefühle keinen Bezugspunkt mehr. Täter können durchaus sentimental sein, aber das flippt hin und her. Hitler hatte aggressive Ausbrüche, war larmoyant, wütend, aber es schwankte stark und hatte keine Folgen. Dann nimmt ein Täter gern Medikamente, Rauschmittel oder agiert aus. Feinde ergeben sich immer. Als Mensch sind Täter nicht wirklich präsent, sondern in ihren Verleugnungs- und Überlebensstrategien verstrickt.“ Häufig vermischen sich Täter- und Opfersein. (Kühner) In Bezug auf die Vietnam-Veteranen war der bezeichnete Balanceakt von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen anderen kollektiven Traumata handelt es sich beim kollektiven wie beim individuellen US-amerikanischen Vietnamtrauma um ein „Tätertrauma“, dessen Leitsymptome durch reale Mit-Verantwortung für Grausamkeiten verursacht sind. In der kollektiven Traumabearbeitung geht es deshalb vor allem um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Verantwortung und Schuld. Durch ihre Aktivitäten forderten die Veteranen diese Auseinandersetzung ein, die bis dahin kaum stattfand und gewannen auf diesem Wege einen Teil ihrer Selbstachtung zurück. Der amerikanische Psychiater Robert Lifton nannte sein Buch über die Veteranen “Neither Victims nor Perpetrators”. Die Soldaten in Vietnam seien von ihrem Staat für einen ungerechten und grausamen Krieg instrumentalisiert worden, insofern also Opfer, innerhalb dieses Opferseins jedoch auch zu Tätern in diesem Krieg geworden. Lifton hat in seiner Arbeit mit Selbsthilfegruppen ein Konzept entwickelt, das helfen sollte, die meist lähmende Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld umzuwandeln: das der “animating guilt” (Lifton, 1973). Lifton sah, dass er den Vietnam-Veteranen die Schuld nicht ausreden konnte, da sie tatsächlich auch schuldig geworden waren. Es musste deshalb darum gehen, diese Schuldgefühle in etwas Lebendig-Machendes zu verwandeln, von der Lähmung zum Handeln zu kommen. In diesem Zusammenhang ist außerdem der Hinweis von Shay (1994) bedeutsam, der bei kriegstraumatisierten Vietnam-Veteranen einen Verstoß gegen geschriebene oder ungeschriebene Regeln als wichtigen Faktor für die Entwicklung schwer wiegender Symptome feststellte. Den Schuldgefühlen liegt also unter Umständen auch ein Versagen vor der eigenen Moral zugrunde. Als quälende Sequenz, an der sich für sie Schuldgefühle festmachten, tauchten bei vielen Veteranen nicht vietnamesische Opfer, sondern die Bilder 64 von Kameraden auf, für deren Tod sie sich mitverantwortlich fühlten (vgl. S. 88). (Courage under fire) Die amerikanische Sozialarbeiterin Noemi Noka Zador berichtet (1995) von ihrem in der klinischen Arbeit mit Veteranen gewonnen Eindruck, dass diejenigen am längsten und am schwersten leiden, die real schwere Grausamkeiten begangen hatten: „Es ist, als ob sich der Veteran nicht von der Erkenntnis erholen kann, dass er etwas Unverzeihliches mit realen, entsetzlichen und irreversiblen Folgen getan hat. Obwohl viele Veteranen schon Jahre von Psychotherapie und psychopharmakologischer Behandlung hinter sich haben, beklagen sie sich immer noch darüber, hoffnungslos und demoralisiert zu sein und ihre Leben als sinnlos zu empfinden... Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die Fähigkeit ein Leben zu leben, in dem Erlösung ein zentrales Thema ist, eine essenzielle und unerlässliche Komponente im Heilungsprozess darstellt.“ (“It is as if the veteran cannot recover from the realization that he committed an unforgivable act with real, horrifying and irreversible consequences. Although many of them have been through years of psychotherapy and psychopharmacological treatment, they still complain of being hopeless, demoralized and that their lives are devoid of meaning. (...) I have become more and more convinced that the ability to live a life where redemption is a central theme is an essential and indispensable component of their healing process” (Zador 1995, S. 18). In Übereinstimmung mit anderen Autoren sieht Zador das zerstörte Gefühl für die eigene Integrität, das Gefühl, so sehr vor den eigenen Wertmaßstäben und dem eigenen Selbstbild versagt zu haben, als zentralen Faktor für das so lang andauernde starke Leiden an. Zador macht hier auf einen Aspekt von Traumatisierung aufmerksam, der für ein transkulturelles Verständnis von Trauma von besonderer Bedeutung sein könnte: Die Veteranen haben vor den eigenen kulturell geprägten Wertmaßstäben versagt. So arbeitete der mozambiquische Anthropologe Victor Igreja für eine traumatisierte Region in Mozambique heraus, dass der entscheidende Faktor der durch den Krieg erzwungene Bruch mit spezifischen religiös-kulturellen Vorstellungen war (Igreja et al, 2002, vgl. S.137). Mit Blick auf sehr verschiedene Kontexte nennt Mary de Young “cultural bereavement” als zentralen traumatisierenden Faktor. Er fügt eine interessante Interpretation hinzu: “His feeling badly makes it possible for him to maintain the one thing that gives him some sense of integrity - his conscience”. Sich schlecht zu fühlen ermöglichte es ihm, das eine aufrechtzuerhalten, das ihm ein Gefühl von Integrität gab – sein Gewissen. (Zador 1995, S. 19). Der amerikanische Psychiater Chaim Shatan selbst spricht statt von Integrität von Selbstachtung und hebt den kollektiven Aspekt gelungener Heilungsversuche hervor: „Das heilsamste Mittel, ihre Selbstachtung wieder zu finden, ist für diese Männer, den Sinn des Lebens neu zu entdecken in der Verbundenheit ihres eigenen Ichs als Individuum mit dem Leben noch ungeborener Generationen. Und mehr als alles andere dient diesem Genesungsprozess das Bewusstsein, dass viele andere dasselbe Anliegen haben” (Shatan 1981, S. 290). Die Beschäftigung mit den Tätern des Holocausts war und ist besonders schwierig, weil deren Taten so monströs und außerordentlich beschämend für die Nachkommen waren. Gudrun Brockhaus vermutet, dass sich nichtjüdische Deutsche oft auf Grund eigener „biographischer 65 Verstrickungen“ gegen alle Versuche wehren, sich der Täterseite in irgendeiner Weise psychologisch verstehend anzunähern. Wahrscheinlich gilt für kollektive Traumata insgesamt und nicht nur im Kontext des Holocaust, dass Versuche, der Täterperspektive Raum zu geben und „die Täter zu verstehen“, Kontroversen auslösen: Ist es unerlässlich, um die Vergangenheit zu verstehen? Oder setzt es ein falsches Signal, Tätern so viel Raum für rationale Erklärungen zu geben, wie Kritiker der südafrikanischen Wahrheitskommission formulieren (vgl. S. 106) Ob dieses „Verstehen der Täter“ Entlastungsdiskurse bedient bzw. im Sinne der Entlastung instrumentalisiert werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab (z.B.: Wie klar grenzen sich die Zuhörer/Autoren ab? Wie viel Öffentlichkeit bekommen die Täter dadurch?). Für das hier interessierende Thema ist festzuhalten, dass im Sinne der Traumadynamik jede Annäherung an die Täterseite potentiell einen Angriff gegen das Opfer darstellt. 9.3. Transgenerationelle Traumatisierung Transgenerationelle Weitergabe als Brücke zwischen kollektivem und individuellem Trauma Als Erklärung dafür, warum man bei “man-made-disasters“ oft schwer wiegende Langzeitfolgen feststellt, bietet sich ein Konzept an, das sich innerhalb der psychologischen Trauma-Diskussion in den letzten 20 Jahren zunehmend etabliert hat: das Konzept der Trauma-Weitergabe von einer Generation zur nächsten. Diese Vorstellung entstand, als erstmals Kinder von Holocaust-Überlebenden verstärkt in den Blick der Forschenden gerieten. In den ersten wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema gab es eine erstaunlich hohe Übereinstimmung in der Beschreibung von Schwere und Besonderheit psychischer Belastungen, unter denen Nachkommen von Holocaust-Überlebenden leiden. Sie ähnelten zudem den bereits vorher festgestellten Belastungen der Eltern. Die meisten Reflexionen über die „Weitergabe des Holocaust“ entstanden aus den Erfahrungen, die PsychotherapeutInnen, zumeist PsychoanalytikerInnen, mit Nachkommen von Überlebenden sammelten, aufzeichneten und in der Fachwelt im Austausch mit anderen zur Diskussion stellten (dies vor allem in den letzten Jahren, vgl. z.B. Lilian Opher Cohn et al., 2000). Aber auch so genannte repräsentative systematische Untersuchungen an „nichtklinischen“ Populationen (also Menschen, die sich nicht in Therapie begeben hatten) wurden durchgeführt. In einer Art Metaanalyse der ersten Publikationswelle stellt Miriam Rieck (1991) insgesamt übereinstimmende Darstellungen der Eltern-Kind-Beziehung (emotional kühl und zugleich übermäßig beschützend) und der Familienatmosphäre (deprimierend und misstrauisch) fest. So seien etwa die Geschwisterbeziehungen oft von heftigen Streitereien geprägt. Charakteristisch für diejenigen Nachkommen, die sich in Psychotherapie begeben hätten, seien Depressionen, Apathie und Schuldgefühle gewesen, oft als Ausdruck spezifischer Schwierigkeiten im Separations- und Individuationsprozess: Jegliche Form von Loslösung und Trennung sei für die Eltern psychisch so sehr mit der Gefahr der Endgültigkeit verknüpft, dass den Kindern auch als jungen Erwachsenen der Ablösungsprozess sehr schwer falle. Viele Kinder nähmen in der Familie den Platz eines verstorbenen Kindes ein (äußerlich sichtbar indem sie dessen Namen bekommen) und seien dadurch schwer belastet. Die Kinder könnten jedoch solche und andere Belastungen schwer artikulieren, da sie ihre eigenen Schwierigkeiten am vergangenen Leiden der Eltern mäßen und diese von jeglicher Belastung verschonen wollten. 66 Im Zentrum der Erklärungen für diese Phänomene standen Überlegungen zum Zusammenhang von Phantasie und Realität: Autoren wie Martin Bergmann, Milton Jucovy und Judith Kestenberg (1982) nahmen an, „dass die unbeschreiblichen Holocaust-Erlebnisse der Eltern jede kindliche Phantasie überschreiten und dadurch die Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität unmöglich machen“ (zit. nach Miriam Rieck 1991, S. 134). Trotz der großen Übereinstimmung verschiedener Studien konnten repräsentative Erhebungen keinen deutlichen Effekt, allenfalls Trends nachweisen. Die Wirkung, die von der Weitergabe der Verfolgungserfahrung ausgeht, liegt vermutlich eher in einer besonderen Verletzlichkeit, die sich erst in Extremsituationen zeigt. In diese Richtung weist etwa eine in Israel durchgeführte Untersuchung, mit der Zahava Solomon (1995b) zeigen konnte, dass in einer Gruppe von Soldaten, die Traumasymptome entwickelten, die Kinder von Verfolgten des NS-Regimes eine ausgeprägtere Störung mit einer größeren Zahl von Symptomen aufwiesen. Zudem nahmen die Symptome innerhalb von drei Jahren bei Nachkommen von Nicht-Verfolgten ab, nicht jedoch bei den Kindern von NSOpfern, und dies obwohl sie vor Antreten des Militärdienstes als gesund und dienstfähig eingestuft worden waren. Denkbar wäre, dass epigenetische Veränderungen im Gehirn weiter vererbt werden. Brainin, Ligeti und Teicher geben eine Darstellung der so genannten zweiten Generation, die sich wenig an pathologischen Kriterien orientiert, sondern die Prägung dieser besonderen Generation als angemessene Reaktion auf die „Pathologie der Wirklichkeit“ des Nationalsozialismus analysiert: „Bei dieser Generation wird noch viel deutlicher, dass es keine generalisierbaren Ergebnisse in Bezug auf psychopathologische Entwicklungen gibt. Was man wohl als gemeinsames Moment dieser Generation feststellen kann, ist ein Gefühl für die Präsenz der Ereignisse während des Krieges sowie das Gefühl, einer gesellschaftlichen Randgruppe anzugehören. [...] In den Phantasieinhalten, die um Verfolgung und Massenmord zentriert sind [...] liegt die Besonderheit. Eine Schwierigkeit für die Kinder der Verfolgten besteht darin, dass dieser Phantasieinhalt für ihre Eltern die Realität der Vernichtung war.“ (Brainin/Ligeti/Teicher 1986, S. 65) Außerdem sehen es die zitierten Autoren als Gemeinsamkeit dieser Generation an - vor allem wenn sie in Deutschland oder Österreich lebt - der nicht-jüdischen Umwelt, dem Staat und der Gesellschaft gegenüber besonders misstrauisch zu sein. Dieses Misstrauen werde sehr oft von den verfolgten Eltern übernommen und ist eines der deutlichsten Phänomene transgenerationeller Weitergabe. Brainin, Ligeti und Teicher (ebd.) weisen an dieser Stelle auf die Angemessenheit dieses Misstrauens hin: Zentrale Erfahrung der Elterngeneration war, dass zu viel Vertrauen unter Umständen tödlich war und dass vor allem diejenigen überlebten, die früh genug misstrauisch wurden und emigrierten. In diesem Sinne verschwimmen hier die Grenzen zwischen einer an die nächste(n) Generation(en) auch bewusst weitergegebenen Einsicht in die Notwendigkeit der Wachsamkeit und einem unwillkürlicheren, unter Umständen quälenden Grundmisstrauen in die Welt. Ein weiteres Spezifikum der zweiten Generation lässt sich als nachvollziehbare Reaktion der Kinder auf das Leiden der Eltern verstehen: Viele Kinder von Überlebenden haben den sehr starken Wunsch, das Leiden der Eltern ungeschehen zu machen, wieder gutzumachen oder zumindest in der Phantasie - zu rächen. 67 Auch in Deutschland ist in den letzten Jahren viel über transgenerationelle Traumatisierung diskutiert worden. Zumindest ist einiges von dem Schrecken, dem Terror und der Hilflosigkeit über die Erziehung weiter vermittelt worden. Auswirkungen auf der Täterseite Versucht man die Langzeiteffekte eines kollektiven Traumas mit dem Konzept der transgenerationellen Weitergabe besser zu verstehen, dann liegt die Frage nahe, ob sich das Konzept der transgenerationellen Weitergabe auch auf die Rolle der Täter und Zuschauer anwenden lässt. Einer der ersten, die sich systematisch mit dieser Frage beschäftigten, war der israelische Psychologe Dan Bar-On, der in den 80er Jahren begann, Interviews mit Kindern von Nazi-Tätern zu führen. Bar-On fragte sich im Hinblick auf die unmittelbare Nachkriegszeit: „Was bedeutet auf der Seite der Täter Normalität? [...] In der Nachkriegsgesellschaft konnten die Menschen funktionieren, sich um ihre eigene physische Existenz kümmern, ohne sich andauernd um die Vergangenheit zu kümmern. Das bedeutet jedoch auch, dass die weniger unmittelbaren psychischen Prozesse - das Betrauern der Toten, das Durcharbeiten der Hilflosigkeit und Aggression, die Neufassung des eigenen moralischen Selbst, die Wiederherstellung von Vertrauen in sich selbst und andere - auf bessere Zeiten verschoben werden mussten. Bessere Zeiten, das hieß [...] dass diese Durcharbeitungsprozesse auf die folgenden Generationen verschoben wurden.” (Bar-On 1996, S. 20) Mit dieser Darstellung bietet Bar-On eine wohlwollende Formulierung („sie konnten funktionieren....“) der Grundthese, welche die Reflexionen um die zweite Generation durchzieht: Die „Weitergabe“ besteht vor allem in dem, was in der ersten Generation gewissermaßen fehlte. Am deutlichsten zeigt sich dies für die fehlenden Schuld- und Schamgefühle, die von der Tätergeneration erschütternd selten artikuliert wurden. Bis in die dritte Generation (vgl. Rommelspacher, 1994) ist das Grundgefühl vieler Nachkommen von Widerspruch und Verwirrung gekennzeichnet: Kinder und Enkel erfahren häufig erst außerhalb der eigenen Familie über die Realität des Holocaust, spüren zwar deutlich die Beteiligung der eigenen Familie an den Verbrechen, werden jedoch mit „glatten Entlastungsgeschichten“ abgespeist. Das Gefühl für diesen Widerspruch zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Erzählung der Familie kann verschiedene Ausdrucksformen finden, etwa typische Alpträume, die verdecktes Verbrechen symbolisieren. Weil nicht klar wird, worauf sich das Unbehagen konkret bezieht, bleiben auch die Scham- und Schuldgefühle häufig diffus. Vor allem das offene oder verdeckte Festhalten der Eltern an nationalsozialistischen Idealen kann für die Nachkommen zu einer ausgeprägten „Scham-Anfälligkeit“ führen sowie zu einer „mangelnden Fähigkeit, innerlich zu den eigenen Wertvorstellungen zu stehen und sie nachhaltig zu vertreten“ (ebd.). Die Unmöglichkeit, sich mit dem Ich-Ideal der Eltern oder Großeltern positiv identifizieren zu können, kann auch als Deformation einer unbeschwerten Erzähltradition zwischen den Generationen bezeichnet werden, wie dies z.B. der Psychoanalytiker Sammy Speier (1988) herausgearbeitet hat. Die Identifikation mit den von früher erzählenden Großeltern gerät irgendwann in die Krise, in Konflikt mit dem, was Kinder oder Jugendliche von diesem „Früher“ zu begreifen beginnen. 68 Zusätzlich kompliziert wird dieser Prozess häufig durch das Gefühl, sich zum Teil dennoch mit den Großeltern zu identifizieren. Diese Identifikationen können umso mehr Schuldgefühle hervorrufen. Die deutsche Psychoanalytikerin Almuth Massing (1988, S. 55) spricht von „nationalsozialistischen Identitätsanteilen“ und dem Fortbestehen „nationalsozialistischer Weltbilder“, der deutsche Psychologe und Philosoph Jürgen Müller-Hohagen (1993, S. 26-27) von einer „Komplizenschaft über Generationen", für die er als zentralen Faktor die „Identifikation mit der Macht“ sieht. Diese Mechanismen werden öffentlich vor allem im Hinblick auf rechtsradikale Jugendliche diskutiert, denen jene übernommenen Identitätsanteile und die bewusste Pflege nationalsozialistischer Weltbilder zugeschrieben werden. Für das Verständnis der Prägung weiterer Generationen ist es jedoch wichtig, sich auch subtilere Mechanismen, etwa im Sinne einer weitgehend unbewussten Identifikation vorzustellen. Man könnte hier von einer „heimlichen Faszination“ sprechen. Die deutsche Soziologin und Psychoanalytikerin Gudrun Brockhaus diskutiert dieses Phänomen gerade im Hinblick auf Nachkommen, die sich bewusst von der Ideologie der Eltern abgrenzen und diese heimliche Faszination besonders stark verleugnen müssen. Sie spricht von der „verleugneten Angst vor der Anziehungskraft des Faschismus“ (1997, S. 139), die die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zutiefst präge. Die dargestellten Mechanismen gelten in unterschiedlicher Ausprägung vermutlich für einen sehr großen Teil der Nachkommen sowohl von Tätern als auch von Zuschauern. Besonders verschärft stellten sich diese „kollektiven Schwierigkeiten“ jedoch für viele Täter-Kinder im engeren Sinne. Als PsychotherapeutInnen ab Mitte der 80er Jahre zunehmend für die transgenerationalen Folgen der NS-Täterschaft sensibilisiert wurden, konnten viele bis dahin unerklärbare Symptome verstanden werden. Es gehe um etwas Schreckliches, das in einen “hineingelegt worden” sei, fasst Brockhaus die Erkenntnisse verschiedener Autoren zusammen (Brockhaus, 1997, S. 162). Tilman Moser spricht von „Dämonischen Figuren“, die die Patientinnen in sich trügen und berichtet: „Es ging um Leere, Sinnlosigkeit, ein Gefühl der Unstimmigkeit des eigenen Lebens, der Nicht-Authentizität, der Vergeblichkeit menschlicher Beziehungen“ (Moser 1993, zit. nach Brockhaus, 1997, S. 162). Das erinnert stark an das, was Shatan von den Vietnam-Veteranen berichtete. Die Debatte zur „Täter-Opfer-Parallelisierung“ und Differenzierungsversuche Je mehr über die Folgen auf Täterseite nachgedacht wurde, desto mehr tauchte die Frage auf, inwiefern die transgenerationelle Weitergabe auf beiden Seiten ähnliche Phänomene hervorbringe. Diese Fragestellung mündete in hitzig geführte Debatten. Manche ForscherInnen betonten, wie sehr die Kinder von Tätern und Mitläufern ebenfalls unter den Folgen des Holocaust litten und wiesen auf mehrere Parallelen zum Leiden der Opferkinder hin. Es entstand eine Debatte über Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit der Folgen des Holocaust für Täter- und Opfernachkommen. Die Dynamik solcher Debatten ist inzwischen selbst Gegenstand psychologischer Reflexionen geworden. So beobachtet der deutsche Psychoanalytiker Kurt-Grünberg eine symbolische Täter-Opfer-Umkehrung. Dort wurde von jüdischer Seite formulierte Kritik an einer bestimmten Form der Auseinandersetzung so rezipiert, dass die jüdischen Kritiker mit (vernichtenden) Nazi-Verfolgern gleichgesetzt wurden (vgl. Grünberg 1997). Im Bezug auf transgenerationelle Weitergabe bemühen sich einige Autoren im Kontext dieser Debatte um sorgfältige Differenzierungen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen, da 69 sich analoge Differenzierungen möglicherweise auch auf andere „kollektive Traumata“ übertragen lassen (vgl. auch S. 76ff und S. 110). Ängste Die deutsche Soziologin Gabriele Rosenthal führte mit ihren Mitarbeitern in einer breit angelegten Studie ausführliche narrative Interviews jeweils mit den Mitgliedern von drei Generationen. Dabei stellten sie fest, dass auch die Täter-Kinder mehr als zunächst angenommen, nicht nur von Schuldgefühlen, sondern auch von Ängsten bestimmt seien. „Die Nachkommen von Nazi-Tätern schützen sich davor, die grausamen Handlungen, die mangelnden Schuldgefühle, die Gefühlskälte und den immer noch bestehenden Rassismus und Antisemitismus ihrer nächsten Bezugspersonen wahrnehmen zu müssen. Und sie versuchen, sowohl Schuldgefühle als auch die Angst abzuwehren, von den Großeltern oder Eltern ermordet zu werden bzw. als lebensunwert eingestuft zu werden. [...] So hatte z.B. die Tochter eines Euthanasiearztes in ihrer Kindheit diese Angst vor ihrem Vater und verheimlichte aus diesem Grunde ihre Kurzsichtigkeit (Rosenthal/Bar-On 1992). Als Kind hatte sie miterleben müssen, wie der Vater ihren jüngeren Bruder als Baby in einen Swimmingpool warf, um dessen von ihm angezweifelte 'Reinrassigkeit' zu testen“ (Rosenthal 1997, S. 20). Ängste können wie in diesem Beispiel traumatische Qualität haben. Sowohl die Angst der Täter-Kinder als auch die der Opfer-Kinder kann existentiell sein. Rosenthal arbeitete jedoch heraus, dass die Ähnlichkeiten meist auf der Oberfläche bestehen: die „latenten Tiefenstrukturen“ und die Funktionen unterscheiden sich stark. So differenziert sie ganz konkret am Beispiel der Angst: „Die Angst, ermordet zu werden, finden wir bei Kindern und Enkeln sowohl von Tätern als auch von Überlebenden. Vernichtungsängste von Kindern und Enkeln von Tätern beziehen sich meist auf die unbewusste Phantasie, von den eigenen Eltern ermordet zu werden (vgl. Kestenberg/Kestenberg 1987; Rosenthal/Bar-On 1992), während die potentielle Bedrohung, die Kinder von Überlebenden spüren, eher eine allgemeine Angst vor der außerfamiliären und der nichtjüdischen Welt ist.“ (Rosenthal 1997, S. 20) Schweigen und Verschweigen Ähnliches gilt für das in vielen Täter- und Opferfamilien festgestellte Phänomen, dass zwischen den Generationen sehr wenig über die Vergangenheit gesprochen wurde. „Überlebende wollen mit ihrem Schweigen den Kindern Belastungen ersparen und sich anderen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen nicht zumuten. Ein Großvater oder eine Großmutter oder Eltern, die an den Nazi-Verbrechen beteiligt waren, schützen dagegen mit ihrem Schweigen und darüber hinaus mit ihrem Leugnen in erster Linie sich selbst vor Anklage und Verlust von Zuneigung.“ (Rosenthal 1997, S. 19) Hinter dem oberflächlich gleichen Phänomen „Schweigen“ verbirgt sich also eine völlig andere Psychodynamik (vgl. dazu auch Grünberg, 1997). Überhaupt manifestiert sich das Thema Schweigen sowohl auf kollektiver als auch auf individueller bzw. familiärer Ebene. So ist häufig von einer Mauer des Schweigens zwischen den Generationen die Rede (Bar-On, 1996) oder vom kollektiven Schweigen in Deutschland nach dem Holocaust (z.B. Schittenhelm, 1996). Aber zunehmend wird auch darauf hingewiesen, dass Schweigen ganz unterschiedliche Gründe und Bedeutungen haben kann (vgl. S. 52). 70 10. Allgemeine Regeln für die Traumatherapie Wilson (1989) hat einige Regeln für Traumatherapien formuliert die auf einen breiten Konsens unter Traumatherapeuten und -Forschern beruhen. Die Kommentare dazu stammen von Riedesser und Fischer: 1) Nicht beurteilende (non judgemental) Akzeptierung des Opfers. Traumaopfer fühlen sich oft in ihrem Traum gefangen wie in einer Falle Sie beteuern dass niemand sie verstehen kann, dann jemand anderer, auch nicht der Therapeut, ihre Erfahrungen geteilt hat gelingt es den Kliniker, sich von den eigenen Abwehrtendenzen wie zum Beispiel Opfer Beschuldigungen oder Kritik wegen wirklichen Fehlverhaltens des Opfers oder anderen Gegenübertragungsreaktionen innerlich freizumachen, Inhaltlich Signale verdeutlichen, dass er bereit ist, die Geschichte zu hören. In manchen Fällen, Es anders war extrem Traumatisierung wie bei extrem Traumatisierung wie bei Folteropfern, ist es sinnvoll, bestimmte Punkte des unsagbaren direkt und selbstverständlich anzusprechen, nicht infrage formulierter Zentren gerichtet, sondern mit einer Bemerkung, in der der Therapeut erkennen lässt dass er von solchen Vorkommnissen weiß. Sexuelle Folter beispielsweise willst auf unerträgliche Schamgefühle aus, die so gemindert werden können. Zweitens Absatz 2) Sofortige Intervention und die Beschaffung von Hilfe unterstützen den Erholungsprozess. Traumaopfer benötigen dringend so viel soziale, psychische und ökonomische Hilfe wie möglich, um ein Grund Gefühl von Sicherheit wiederherstellen zu können. 3) Erwartung massiver Gegenübertragungsreaktionen. Traumatherapeuten müssen sich auf massive eigene Gefühlsreaktionen und oft nur schwer kontrollierbare Handlungstendenzen einstellen. 4) Die Bereitschaft, sich testen zu lassen. Traumaopfer haben oft jedes Vertrauen in zwischenmenschliche Hilfe und Zuverlässigkeit verloren. Bevor sie sich einem neuen Menschen anvertrauen, unterziehen sie diesen einer Reihe von Tests, die entscheiden sollen, ob er das Vertrauen verdient für die Hilfe, die er anbietet. Der Kliniker, der Traumaopfer behandelt, muss offen sein, ehrlich und in einer angemessenen Weise seine Gedanken und Gefühle mitteilen (self-disclosure), ohne die Grenzen der Abstinenz zu verlieren und sich in Gegenübertragungs Reaktionen zu verstricken. 5) Übertragung ist in der Traumatherapie ein Prozess der Wiederaufnahme von Beziehungen (re-bonding) und ist insofern auf das Trauma bezogen. Übertragung wird als ein Prozess gesehen, dramatisch gestörte Beziehungen wieder aufzubauen. Bei sozialen Traumata ist hier vor allem die Überwindung von Misstrauen und der Wiederaufbau der Fundamente des kommunikativen Realitätsprinzips erforderlich Ein therapeutisches Arbeitsbündnis wird aufgebaut beziehungsweise verstärkt, wenn der Therapeut die aus der traumatischen Erfahrung stammenden Beziehungstests aushält. 6) Ausgehen von der Hypothese, dass traumatische Belastungssymptome durch das traumatischen Ereignis hervorgerufen werden. Am Ausgangspunkt der Traumatherapie stets zunächst die Vermutung, dass die gegenwärtigen Symptome und Stressreaktionen durch die erlebte traumatische 71 Situation hervorgerufen und bedingt sind. Unter diesen Voraussetzungen kann die Patientin sich angenommen fühlen und sich auf die traumatische Erlebnisverarbeitung einlassen. Erst wenn das aktuelle Trauma durchgearbeitet ist, kann die Patientin auch Zusammenhänge mit früheren traumatischen Ereignissen und der Lebensgeschichte bearbeiten. Die theoretisch zu erwartende Disposition zu traumatischen Reaktionen aufgrund früherer Traumatisierung darf nicht von der aktuellen traumatischen Erfahrung ablenken. Im Zentralen Traumatischen Situationsthema sind ja ohnehin die lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen mit dem aktuellen Trauma verschränkt. Von daher ist beim Durcharbeiten des aktuellen Traumas implizit immer auch die lebensgeschichtliche Vorerfahrung mit angesprochen. Nach unserer klinischen Erfahrung ist es günstig, wenn die Therapeutin es der Patientin überlässt, lebensgeschichtliche Zusammenhänge in die gegenwärtige Traumaverarbeitung einzubeziehen. Dies geschieht oft spontan, wenn die Patientin sich eine gewisse Distanz zum aktuellen Trauma erarbeiten konnte. 7) Information über die Natur und die Dynamik von traumatischen Reaktion ist ein Bestandteil der Traumatherapie. Ochberg formulierte 1993 drei Prinzipien der Traumatherapie: Normalität; Kooperation und Wiederermächtigung des Patienten sowie Individualität. Nach dem Prinzip der Normalität sollten die Betroffenen die postexpositorischen Symptome als normale Folgeerscheinungen einer anomalen Situation vermittelt werden. In Verbindung mit dem Prinzip der Individualität besagt dies, dass der Therapeut die individuelle Variante der Patienten akzeptieren und ihr verständlich machen sollte. 8) Traumatische Ereignisse können in jedem Lebensalter zu Veränderungen der Ichund Identitätsentwicklung führen. Sie können normale Entwicklungsprozesse beschleunigen, verlangsamen, verhindern, unterbrechen, so zum Beispiel zu einer Unterbrechung zwischen prätraumatischer und posttraumatische Identität und Selbstverständnis führen. In der Literatur hinaus eine posttraumatische Selbststörung beschrieben Posttraumatic Self Disorder, PTsfD), die entsteht, wenn die soziale Umwelt nicht genügend empathisch auf dramatische Verletzungen reagiert. Zu den Folgen gehören narzisstische Wut und Verletzlichkeit, geringe Selbstachtung, Entfremdungsgefühle, paranoide Vorstellungen, Fantasien von Rache und Vergeltung sowie hohe Sensibilität gegenüber unemphatischem Verhalten. Parson beschrieb 1988 dieses Syndrom an kriegstraumatisierten Vietnamsoldaten, die sich nach Kriegsende von ihrer sozialen Umgebung und der Gesellschaft vernachlässigt fühlten. Hierbei handelt es sich um ein sekundäres Symptombild, das aus dem häufig zu beobachten, wenig einfühlsamen Umgang mit Traumaopfern entsteht. Die erschütternde traumatische Erfahrung kann aber auch von sich aus die Kontinuität des Selbstgefühls unterbrechen. 9) Verwerfung, Spaltung und Formen von Dissoziation gehören zu den Abwehrmechanismen, die einem psychischen Trauma folgen. Es ist notwendig, das Traumatherapeuten auf solche Abwehrreaktionen eingestellt sind, die in den traditionellen Abwehrkonzepten eher vernachlässigt wurden. All diese Mechanismen können zu einer dauerhaften Persönlichkeitsveränderung führen. Auch das so genannte Verdoppeln (Doubling) (R. J. Lifton 1993, die Tendenz nach schweren Traumata eine neue Identität auszubilden, die wie in Winnicotts Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Selbst der neuen Situation anscheinend besser angepasst ist, sollte als eine der regelmäßigen Folgen schwerer Traumatisierung erwartet werden. 72 10) Selbstbehandlungsversuche durch Alkohol oder Drogen sind verbreitet bei psychotraumatischen Belastungssyndromen. Es ist durchaus normal, dass Patienten die extreme Belastung durch Alkohol und andere Drogen zu mildern suchen, um den extremen Erregungszustand des autonomen Nervensystems in erträglichen Grenzen zu halten. Traumatherapeuten sollten hierfür Verständnis haben, jedoch ein Alkoholismus-und Drogenbehandlung in den Behandlungsplan einbeziehen. Der übermäßige Gebrauch von Betäubungsmitteln ist der Traumaverarbeitung nicht förderlich.Der übermäßige Gebrauch von Betäubungsmitteln ist der Traumaverarbeitung nicht förderlich. 11) Die erfolgreiche Transformation der traumatischen Erfahrung kann die Entwicklung von positiven Charakterzügen zur Folge haben. Der Kampf um die Reformulierung und Transformation des Traumas kann nach Wilson zu Charakterzügen führen wie Redlichkeit, Integrität, Sensibilität für andere und starke Bemühungen um Gleichheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Interesse an geistigen Werten. Eine solche Entwicklungsmöglichkeit anzudeuten, ohne den Patienten zu einer so genannten „Sinnfindung“ zu drängen, kann ihm helfen, aus der Traumafalle herauszufinden. 12) Soziales Engagement und Sprechen über das Trauma fördern den Entwicklungsprozess. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass das Sprechenkönnen über das Erlebte, Darstellung der eigenen Gefühle und auch ein soziales Engagement von Traumatisierten in Prävention und Hilfe für andere Traumatisierte in sich hilfreich und heilsam für den Erholungsprozess sein können. Grundsätzlich erleichtert auch die Möglichkeit, anderen Betroffenen zu helfen, die eigene Traumaverarbeitung. 13) Die Transformation des Traumas ist ein lebenslanger Prozess. Auch wenn im Rahmen einer Psychotherapie die traumatische Erfahrung erfolgreich durchgearbeitet werden konnte, so bleibt bei den Betroffenen eine lebenslange Erschütterung zurück. 14) Physische Aktivität ist indiziert. Über die angesprochenen Themen hinaus ist für Traumapatienten physische Aktivität wichtig, etwas Sport oder körperliche Arbeit, um die physiologische Stressreaktion abzubauen. Spazieren gehen oder Bergsteigen können dazu beitragen, den Zirkel von Grübeln, Wiedererleben der traumatischen Erfahrung oder Abstumpfung und Rückzug zumindest zeitweilig zu unterbrechen. Die tägliche physische Aktivität sollte einen rituellen Charakter erhalten. Aus der interkulturellen vergleichenden Forschung ist bekannt, dass Kulturen zu allen Zeiten Rituale zur Bekämpfung und Dämpfung von Traumafolgen entwickelt haben, hier möglichst auch im Gruppenkontakt. 15) Ernährungsfragen sind zu beleuchten. Ernährungsfragen sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil Traumapatienten in ihrer emotionalen Bedrängnis sich oft durch Essen, Trinken oder die Einnahme von Drogen, wie etwa Alkohol, zu trösten suchen. Während Drogen-und Alkoholprobleme in der ärztlichen Praxis auch gegenwärtig schon Beachtung finden, ist die Aufmerksamkeit weniger auf andere Ernährungs- und Trinkgewohnheiten gerichtet. 16) Nikotin- und Koffeingenuss steigern die Erregung. 73 Um einen Zustand von apathischem Rückzug zu bekämpfen, greifen Traumapatienten häufig zu Nikotin und entwickeln bisweilen eine Koffeinabhängigkeit, die mit Angstanfällen, Ruhelosigkeit, Nervosität, Erregtheit, Schlaflosigkeit, gastrointestinalen Störungen, Herzarrythmie, Erschöpfungszuständen und psychomotorischer Unruhe einhergeht. Diese Symptome sind den traumabedingten Angstzuständen oft sehr ähnlich und können sich mit ihnen verbinden. Gesundheitsschädliche Ernährungsgewohnheiten können sich nach einem traumatischen Erlebnis so sehr verstärken, dass Gesundheitsrisiken zu der seelischen Belastungen hinzukommen. Einige Forscher betonen die Gefahr, die in einem exzessiven Gebrauch von Zucker, Fett und Koffein liegt. Ein erhöhter Genuss von Zucker und mit Zucker verarbeiteten Esswaren kann in Verbindung mit der Stressreaktion zu ungünstigen Schwankungen des Blutzuckerspiegels führen und zu einer entsprechenden physiologischen und psychischen Symptomatik. Gesättigte Fettsäuren, wie sie tierische Fette und einige pflanzliche Fette aufweisen wie Palmenund Kokosnussöl sind in vielen Fertiggerichten enthalten und werden in FastfoodRestaurants angeboten, so in Chips oder Tom Fritsch. Erhöhter Fettgenuss steigert den Fettgehalt des Blutes und damit das Risiko einer Herz-und Kreislauferkrankung. 17) Soziale Integration fördern Um die soziale Integration von Traumapatienten zu fördern, kommen sehr unterschiedliche therapeutische Settings und soziale Gruppen in Betracht, zum Beispiel die Familie, Selbsthilfegruppen oder soziale Dienste. Die Familie kann eine wertvolle Hilfe zur Überwindung von Traumatisierung sein, allerdings nur dann, wenn die Familienstruktur günstig ist. Es gibt einige Kriterien für ein bei der Traumaverarbeitung hilfreiches Familienmilieu. Die traumatische Situation wird von den Familienmitgliedern klar gesehen und nicht verleugnet; das Problem wird von der Familie getragen und nicht dem Opfer zugeschrieben; das Vorgehen ist eher lösungsorientiert als auch Schuldzuschreibung gerichtet; es besteht Toleranz; ein zugewandtes und gefühlvolles Klima unter den Familienmitgliedern; offene Kommunikation; großer Zusammenhalt; die Familienrollen sind eher flexibel als rigide; es werden Ressourcen auch außerhalb der Familie benutzt; es gibt keine Gewalt und es werden keine Drogen genommen. Familientherapie kann Ressourcen mobilisieren und einen helfenden und schützenden Rahmen für die Traumaverarbeitung bereitstellen. Ein extrem ungünstiges Familienmilieu stellt allerdings eine Kontraindikation für Familientherapie dar. In diesem Falle sollte nach geeigneten sozialen Kontakten außerhalb der Familie Ausschau gehalten werden. 74