Simplexity – weniger Informationen, mehr Möglichkeiten auf dem Weg zum Kunden Prof. Dr. Norbert Bolz Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben das Thema gehört - das klingt rätselhaft. Um Missverständnisse zu vermeiden: Simplexity hat gar nichts zu tun mit der berühmt gewordenen Formel Simplify your life. Sie kennen dieses Versprechen aus vielen Zusammenhängen, von dem einschlägigen Buch, von vielen ähnlichen Büchern: Die Welt ist wahnsinnig komplex, unübersichtlich, wir können uns nicht orientieren, aber es gibt Patentrezepte, mit denen wir diese Komplexität beherrschen können. Ich sage Ihnen in aller Offenheit schon vorab: Das ist Betrug. Immer dann, wenn Sie in der modernen Welt mit einem Patentrezept konfrontiert werden, können Sie sicher sein, betrogen zu werden. Ich will Ihnen bei Gelegenheit dieses Vortrags an einer bestimmten Stelle deutlich machen, warum das so ist, warum das nicht geht, „simplify your life“. Und warum es deshalb sinnvoll ist, sich einen etwas komplexeren Begriff anzugewöhnen und in ihn hineinzudenken, eben den, den ich Ihnen anbiete: „Simplexity“. Der Begriff stammt nicht von mir, es ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus den beiden Begriffsbestandteilen Komplexität und Simplizität, also Einfachheit und Komplexität und offenbar wird da ein Mittelweg gesucht zwischen Komplexität und Simplizität. Ich will Ihnen diesen zentralen Begriff zunächst einmal mit einer paradoxen Formulierung nahebringen und versuchen, Ihnen diese Paradoxie dann plausibel zu machen. Die Paradoxie lautet nämlich – und das drückt Simplexity finde ich sehr schön aus – es gibt nichts Schwierigeres, als etwas so einfach wie möglich zu machen. So einfach wie möglich, diese Formulierung haben viele berühmte Leute auch schon benutzt. Beispielsweise Einstein, der immer gesagt hat, man müsste in der Theorie so einfach wie möglich bleiben, aber nicht einfacher. Das ist schon ein sehr wichtiger Hinweis. Man kann nicht beliebig simplifizieren. In der Vereinfachung stecken auch Gefahren. Einfachheit soll angestrebt werden, aber im Bewusstsein dessen, wie komplex die Sachverhalte sind. Also deshalb meine paradoxe Ausgangsthese: Nichts ist schwieriger, als etwas so einfach wie möglich zu machen oder darzustellen. Das möchte ich Ihnen an zwei ganz simplen Schemata deutlich machen, wo Darstellungsprobleme, die wir alle jeden Tag haben, sich sehr klar vergegenwärtigen lassen. Also Sie alle, wir alle müssen ständig irgendetwas darstellen, etwas klarmachen. Wenn Sie beispielsweise einen Vortrag halten, wenn Sie einen Text schreiben, wenn Sie jemandem etwas beibringen wollen, dann haben Sie immer drei Ziele vor Augen: 1. Ihre Darstellung, Ihre Präsentation soll einfach sein, damit sie nachvollziehbar ist. 2. Sie soll aber auch genau sein und nicht Wischiwaschi und 3. diese Darstellung soll auch allgemein sein, also über den konkreten Anlass hinaus brauchbar. trendbüro So wie Sie von mir mit gutem Recht erwarten, dass das, was ich Ihnen jetzt vortrage, weit über diesen Anlass oder über meine Beispiele hinaus brauchbar ist für Sie. Vollkommen berechtigt diese Erwartung, nur muss ich Ihnen offen gestehen: Niemand kann diese drei Wünsche gleichzeitig erfüllen. Es ist unmöglich, egal worum es geht, gleichzeitig einfach, genau und allgemein zu sein. Deshalb empfehle ich Ihnen, nehmen Sie sich ein Blatt und malen Sie sich etwas ganz einfaches auf, nämlich ein Dreieck. Markieren Sie die drei Ecken des Dreiecks eben mit diesen drei Darstellungserwartungen einfach, allgemein, genau. Meine These ist nun eine ganz simple: Sie haben immer die Wahl, aber Sie müssen eine Wahl treffen zwischen einer dieser drei Seiten des Dreiecks. Wir können das mal kurz durchgehen: Eine Möglichkeit wäre, Sie wählen die Dreiecksseite, die aus genau und einfach gebildet wird. Das klingt ja wahnsinnig attraktiv, nicht? Eine genaue Darstellung und eine einfache Darstellung - das gibt es auch, das ist möglich, beispielsweise im Fernsehen. Im Fernsehen wird meistens etwas sehr einfach dargestellt, zum Beispiel in den Nachrichten. Man zeigt irgendwelche Bilder, Schuldige an irgendetwas – Finanzminister, Terrorist oder jemand in dieser Art. Und es ist einfach, der ist Schuld, das ist sein Name und so sieht er aus. So läuft ja das Fernsehen im Wesentlichen, in der Zeitung etwas gehobener, aber im Prinzip ähnlich. Sie können die Zeitung ganz gut verstehen, sonst würden Sie sie nicht jeden Tag lesen. Nur opfern diese Darstellungen etwas, nämlich diesen dritten Moment, in diesem Falle ist es Allgemeinheit. Das ist übrigens für Zeitungen auch sehr nützlich, dass Allgemeinheit geopfert wird, denn das zwingt Sie, morgen wieder die Zeitung zu kaufen. Weil Sie nämlich von dem, was Sie heute lesen, keinerlei Rückschlüsse ziehen können, auf das, was morgen passiert. Das ist eben auch das schöne Geheimnis von Nachrichten aus aller Welt: Jeden Tag sind sie wieder wahnsinnig interessant, weil man aus denen von gestern fast nichts lernen konnte. Das ist also die eine Möglichkeit, Journalisten nutzen sie. Sie sind genau, sie sind einfach in ihrer Darstellung, aber nicht allgemein. Nehmen wir eine an dere Seite. Nehmen wir die Möglichkeit etwas mit dem Anspruch darzustellen, allgemein zu sein und auch genau. Das klingt vielleicht noch attraktiver. Etwas ist präzise, genau, kein Wischiwaschi und auch allgemein gültig. Das Problem dabei ist, dass es kaum jemand versteht. Das ist die typische Welt der Wissenschaft. Die Wissenschaftler formulieren das, was sie darstellen, was sie beobachten mit einem Allgemeinheitsanspruch. Und es ist auch – zumindest bei guten Wissenschaftlern – präzise und genau. Aber sie opfern im Allgemeinen dann doch die Verständlichkeit, kaum jemand kann es nachvollziehen. Bei den meisten Wissenschaftlern ist es mittlerweile so, dass man schon die Kollegen in der Welt suchen muss, die den Artikel überhaupt noch verstehen können. Das Problem ist in diesem Bereich also schon sehr weit fortgeschritten. Sie sehen, es klingt zunächst attraktiv, allgemein und genau zu sein, es führt aber alltagspraktisch sehr schnell in eine Sackgasse. Was bleibt schließlich noch übrig? Man könnte allgemein und einfach formulieren. Klingt auch wahnsinnig attraktiv, wäre für Sie vielleicht das Interessanteste und auch das gibt es. Leute, die einfach formulieren mit Allgemeinheitsanspruch – Politiker beispielsweise. Würden sie es nicht machen, könnten sie keine einzige Stimme abholen, sie dürfen ja um keinen Preis unverständlich sein, sie müssen unbedingt von jedem verstanden werden und sie müssen auch zumindest so tun, als würde das, was sie sagen, allgemeinverbindlichen Anspruch haben. Aber auch sie opfern dabei etwas, nämlich Genauigkeit. Denken Sie nur an Wahlkampfreden, da wird es besonders evident, man muss da auf Genauigkeit verzichten. Und ich muss Ihnen auch das Geständnis machen, dass Vorträge – so wie meiner beispielsweise – im Grunde auch auf dieser Seite des Dreiecks angesiedelt sind. Das muss man einräumen, das geht gar nicht anders und wenn Sie ein weiteres Beispiel haben wollen, das genau da platziert ist, dann sind es auch die berühmten Sachbücher, die ja auch sehr beliebt sind, weil sie einfach sind, weil sie verständlich sind. Aber ich hab Ihnen dieses Dreieck kurz skizziert, um Ihnen deutlich zu machen, dass Sie immer etwas opfern müssen. Sie kriegen es niemals zusammen. Das Ideal der Darstellung ist unerreichbar. Nun, das hat jetzt unmittelbar lebenspraktische Konsequenzen für Sie alle und das können Sie sich beim zweiten Schema deutlich machen, das genauso simpel ist. Es besteht nämlich aus vier Feldern, die durch zwei variable Paare gebildet werden. Ich gehe von folgendem Problem aus, für das simplify your life ja das Patentrezept verspricht: Nämlich das Problem, dass unsere Welt sich ständig wandelt, und immer komplexer wird. Das ist unser Ausgangsproblem – keine Maus beißt daran einen Faden ab. Die Frage ist, mit welchen Strategien gehen wir jetzt an eine derart wandelbare und komplexe Welt heran, um erfolgreich mit ihr umzugehen, um sie zu meistern. Es gibt im Grunde vier Strategien, die Sie sich sehr einfach konstruieren können, wenn Sie von den folgenden zwei variablen Paaren ausgehen: Sie können entweder dynamisch oder statisch verfahren, das ist immer eine Alternative, und Sie können einfach oder komplex vorgehen, also mit einer einfachen Verfahrensweise oder mit einer komplexen Verfahrensweise. Jetzt schauen Sie sich einfach mal diese vier Felder an, die dadurch gebildet werden - einfach und komplex auf der einen Seite und auf der anderen Seite dynamisch und statisch. Wir haben es mit einer unüberschaubaren, hochkomplexen Welt zu tun. Klingt es nicht wahnsinnig verlockend, wenn jemand sagt „Ich habe eine Strategie, die statisch ist und einfach.“? Das klingt doch toll und in der Tat ist das eigentlich auch die Strategie, die für alle Menschen immer wieder die verlockendste ist. Das ist nämlich die Strategie des Patentrezeptes, die Strategie der Zauberformel wie etwa simplify your life. Im Grunde ist es die Domäne der Weisheit und deshalb hat Weisheit aus allen möglichen Ecken der Welt auch Konjunktur. Warum? Weil die Sprüche der Weisen offensichtlich für jede Lebenssituation brauchbar sind. Sie sind meistens 1.000, 1.500 Jahre alt, aber aus irgendwelchen Gründen sollen sie Ihre Probleme heute noch lösen. Da gibt es beispielsweise Marcia Valley für Frauen oder mit Platon zum Geschäftserfolg, das haben Sie alle schon gesehen. Ich will nicht behaupten, dass alles Unsinn ist, was darin steht, weil wirklich auch ein paar echte Marcia Valley-Zitate drin sind, die in der Tat interessant sein können, aber es ist natürlich absurd zu glauben, dass man sich mit solchen Patentrezepten in einer modernen Welt orientieren kann. Ich sage das in aller Offenheit, weil ich Sie so einschätze, dass Sie da sowieso darüberstehen. Ich sage das praktisch nur, um das Schema auszufüllen. Denn das ist eine Lösung, die so simpel ist, dass es Ihr Niveau und Ihre Intelligenz unterbietet – das können wir schon mal wegstreichen. Bleiben noch drei weitere Felder. Wie wäre es, wenn wir auf diese verdammt unübersichtliche Welt reagieren würden mit einer Strategie die statisch ist, aber komplex. Das gibt es auch, das sind beispielsweise sehr tiefschürfende Theorien oder Philosophien. Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen an der Universität mal Kontakt gehabt mit Philosophie, dann werden Sie es bestätigen können: Welche Philosophie Sie sich auch immer aneignen wollen, Sie müssen sehr viel arbeiten. Es kostet oft Jahre, um eine Philosophie wirklich zu verstehen. Es lohnt sich meistens, denn am Ende haben Sie sich ein komplexes Gedankengebäude angeeignet, mit dem man sich scheinbar durch das ganze Leben hindurch die Welt zurechtlegen kann. Wenn Sie das mal probiert haben mit irgendeiner Philosophie – egal mit welcher, Hegel, Kant, Schopenhauer, was auch immer – dann haben Sie doch auch die Erfahrung gemacht, dass es nicht richtig funktioniert, dass diese Philosophien offenbar doch auch an ihre Zeit gebunden sind und dass es nicht so ohne Weiteres möglich ist, obwohl man so wahnsinnig viel nachgedacht hat, sie auf die Gegenwart anzuwenden. Sie sind eben nicht dynamisch genug. Streichen wir also auch Philosophie, weil die meisten von Ihnen ohnehin wohl gar keine Zeit haben, um Philosophie zu studieren. Bleiben noch zwei Felder. Eins wird gebildet durch dynamisch und komplex. Sie werden es nicht glauben, das ist das, was meine Kollegen Ihnen anbieten. Sie sollen auf eine wahnsinnig unübersichtliche, hochkomplexe wandelbare Welt selber dynamisch und komplex reagieren. Klingt toll, oder? Die Wissenschaftler nennen so etwas coping, also praktisch Aug in Aug und eins zu eins die Komplexität der Welt mit dem eigenen Handeln und Entscheiden abbilden. Embrace complexity ist eine Formel meiner Kollegen - großartig, umarme die Komplexität. Klingt zu schön, um wahr zu sein. Wenn das ginge, wäre es die Lösung aller Probleme, aber wir als Menschen sind prinzipiell unfähig, eins zu eins auf die Komplexität der Welt zu reagieren. Das geht einfach nicht, so schön es klingt. Es bleibt ein Traum von Wissenschaftlern. Ich habe diese ganze Thematik jetzt ein bisschen holzschnittartig zugespitzt, natürlich um für das letzte Feld zu werben, das jetzt noch übrig bleibt: dynamisch, aber einfach. Und auch das gibt es: die Heuristik. Sie kennen das eigentlich sehr gut, vielleicht nicht alle unter diesem Begriff. Heuristik ist im Grunde nichts anderes als eine Ansammlung von Faustregeln und wenn Sie so eine Art Werkzeugkasten mit Faustregeln haben, können Sie sich tatsächlich dynamisch und flexibel in einer hochkomplexen, wandelbaren Welt orientieren. Warum die Heuristiken, also die Faustregeln, allen anderen Strategien überlegen sind, das ist eine weit reichende, aber für mich sehr zentrale These. Um Simplexity zu erläutern muss ich Ihnen jetzt endlich ein paar Beispiele bringen. Ich habe Sie ja bisher nur überhäuft mit Begriffen, Kombinationen, Feldern und kleinen Strukturen – jetzt endlich Beispiele für Faustregeln, mit denen Sie Ihren Alltag bewältigen. Ich gebe Ihnen zunächst einmal eine Faustregel mit einem Beispiel, dass Sie als Großstadtbewohner nachvollziehen können: Sie suchen einen Parkplatz. Nehmen wir mal an, Sie fahren mit Ihrem Partner in die Stadt und wollen irgendetwas besichtigen. Sie sind 1.000 m vor dem Ziel Ihres Ausfluges und da ist ein Parkplatz. Nehmen Sie den oder nehmen Sie ihn nicht? 1.000 m – relativ weit – Sie fahren weiter, würde ich sagen. Noch ein bisschen weiter kommt aber kein Parkplatz. Jetzt sind Sie schon vor dem Museum und denken, ach so schlimm war das ja auch nicht, fahren wir wieder zurück, der Parkplatz war ja eigentlich ganz gut. Aber Sie wissen natürlich, was passiert ist. Sie fahren zurück und der Platz ist besetzt. Also mir ist das, als ich Student in Berlin war, praktisch jedes Mal passiert, wenn ich abends von der Uni gekommen bin. Am Ende findet man 2 km entfernt von der eigenen Wohnung einen Parkplatz, ist wütend, stellt das Auto dort ab, läuft nach Hause und in dem Augenblick wird vor der Haustür ein Parkplatz frei. Ich glaube, das haben wir alle schon erlebt. Nun werden Sie sagen, mein Gott, wie trivial. Ich gebe Ihnen Recht, das ist wahnsinnig trivial, aber es genügt schon, um Ihnen das Entscheidende deutlich zu machen: Dieses Problem - wie finde ich einen Parkplatz oder welchen Parkplatz soll ich nehmen - können Sie logisch nicht lösen! Oder wenn Ihnen das mit dem Parkplatz vor dem Museum zu blöd ist, ein anderes realistisches Beispiel: Parkplatzsuche auf dem Köln-Bonner Flughafen. Wenn Sie da Ihr Auto abstellen wollen, in welche der acht Etagen fahren Sie rein und suchen los? Also das ist schon ein ernst zu nehmendes Problem. Aber ich weiß, dass ist für Sie zu trivial. Deshalb springe ich von diesem einfachen Beispiel zu einem anspruchsvolleren, bei dem Sie mir hoffentlich Recht geben, dass das eigentlich alle Menschen interessieren müsste, nämlich Partnerwahl. Was überlegt man, bevor man heiratet oder sich sonst irgendwie nachhaltiger engagiert? Ich weiß, das ist etwas aus der Mode gekommen, aber Sie wissen worum es geht. Um etwas intimere Bindungen mit Folgen. Also, wie macht man das, wie findet man einen Partner? Das ist auch eine Frage der Heuristik. Die sagt dann, teste einfach mal 30 Frauen, merk dir die beste und die nächste, die du triffst und die besser ist, als die bisher Beste, die heiratest du. Falls Ihnen die Zahl unrealistisch erscheint: Das hängt natürlich auch mit der eigenen Attraktivität zusammen, man muss da realistisch überlegen und es vielleicht bei zehn belassen oder bei fünf. Aber das Prinzip ist dasselbe: Probiere mal ein paar, merke dir die Beste und die Nächstbessere, das ist die Richtige und die heiratest du, da engagierst du dich. Allerdings suchen die Frauen natürlich auch – das ist übrigens das, was die Sache komplex macht. Ein Parkplatz sucht keine Autos, nur Autos suchen Parkplätze, aber bei Partnersuche suchen beide. Das macht das Ganze so komplex, dass man sich zumindest als Statistiker ernsthaft wundern muss, dass es überhaupt funktioniert. Und weil es überhaupt funktioniert, muss es eine Lösung dafür geben. Die Lösung ist eben genau wie beim Parkplatz suchen die Heuristik, also eine Faustregel – probiere dreißig aus oder zwölf oder fünf und die nächste, die besser ist, die heiratest du. Ich weiß, was Sie jetzt einwenden. Sie werden sagen, na ja, beim Parkplatzsuchen, da mag es ja so sein, aber ich weiß aus meiner eigenen Geschichte, dass es bei meiner Frau oder bei meinem Mann ganz anders war. Das ist aber kein Einwand, denn was wollen Sie mir sagen? Sie wollen mir sagen, bei mir war es anders, denn ich habe nicht irgendein Kalkül angestellt oder eine Faustregel angewandt, sondern ich war verliebt und bin es vielleicht immer noch. Das ist Ihre Antwort auf die Frage, wie Sie zu Ihrer Frau oder Ihrem Mann gekommen sind: Sie waren verliebt. Warum ist das kein Einwand zu alledem, was ich Ihnen bisher vorgetragen habe? Ganz einfach und das ist eine der zentralen Thesen: Gefühle sind selbst Heuristik! Gefühle sind gewissermaßen fest verdrahtete Faustregeln und jedes Mal, wenn Sie mit einem starken Gefühl in sich eine Entscheidung treffen, dann folgen Sie eigentlich einer uralten Faustregel, die so alt ist, dass sie praktisch in Ihnen fest verankert ist. Diese Gefühle, die Sie natürlich nicht immer in die richtige Richtung führen, sind so stark, dass sie alle anderen Kalküle schlagen und dass sie alle anderen Formen von Rationalität in den Schatten stellen. Gerade dafür ist die Liebe auch ein wunderbares Beispiel. Liebe als Gefühl ist eigentlich gar kein Problem, sondern es ist die Verliebtheit. Das kann man vor allem bei Jugendlichen, wo diese Heuristik, diese Faustregel, besonders hart zuschlägt, am deutlichsten ablesen. Verliebtheit ist - glaube ich - das stärkste Gefühl, das es überhaupt gibt – vielleicht noch stärker als Hass und Sie alle kennen verliebte Menschen. Wenn man selbst verliebt ist, kann man es schlecht beobachten, aber bei verliebten Menschen ist charakteristisch, dass sie jedem Vernunftgrund unzugänglich sind. Das haben Sie sicher schon bemerkt. Zum Beispiel beim Versuch, jemandem der unglücklich verliebt ist – meistens ist das ja der Fall – zu sagen „Ach, es gibt so viele tolle Frauen, oder so toll ist die doch gar nicht, jetzt mach dich nicht verrückt ...“. Man spricht an eine Wand, ich glaube die Erfahrung haben Sie auch alle schon mit unglücklich Verliebten gemacht. Dieses Gefühl ist so stark, es setzt alles andere außer Kraft und das ist bei starken Gefühlen insgesamt der Fall. Ich erzähle Ihnen das aus der Perspektive, dass Sie die Differenz zwischen Gefühl und Vernunft vergessen und die Vorstellung fallen lassen, Gefühle seien das Gegenteil von Nachdenken. Gefühle sind Faustregeln, mit denen das Nachdenken gesteuert wird. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus der Praxis des Redens, sei es vor Ihnen oder sei es vor meinen Studenten. Wenn ich mit Ihnen rede, kann ich Ihnen ja zum Glück in die Augen sehen – manchmal ist der Raum abgedunkelt, dann wird es echt schwierig – aber ich kann Sie anschauen und kann sehen, wie sehr Sie sich langweilen. Das kann man sehr gut erkennen und wenn man das sieht – also ich hoffe, ich erlebe das kaum mehr, aber manchmal passiert das eben doch – dass sich die Leute langweilen, was mache ich dann – und das macht natürlich jeder gute Redner: Er streut einen Witz ein. Haben Sie das schon mal beobachtet bei Rednern, also bei richtig guten Rednern? Jedes Mal dann, wenn der Spannungsbogen zusammenbricht oder wenn die Leute anfangen zu gähnen oder zu tuscheln, dann bringen die einen Witz. Warum? Weil man dann an die Gefühle appelliert, sie lachen dann oder sie sind praktisch in einem anderen Register und man kann sie dann wieder ansprechen. Das ist im Grunde eine wahnsinnig simple Technik und wenn man jemandem Reden beibringt ist es fast das erste, was man lernt: Merk dir ein paar Witze, die du immer dann einstreuen kannst, wenn die Leute den Faden verlieren oder einzuschlafen drohen. Das ist aber ein gutes Beispiel, wie Gefühle funktionieren, verstehen Sie? Sie schalten um, denn wenn Sie sich langweilen – bei meinem Vortrag beispielsweise – denken Sie an etwas ganz anderes, Sie denken an etwas Lustvolles beispielsweise, Sie wandern also von einem Register des Denkens in ein anderes und das wird ausgelöst durch ein starkes Gefühl. Langeweile ist nämlich auch ein starkes Gefühl und so funktionieren alle Gefühle. Gefühle sind die Gangschaltung des Denkens, sie schalten das Denken von einem Gang in den nächsten, und so kommen Sie von philosophischen Gedanken zu lustvollen Gedanken oder zu geschäftsmäßigen Gedanken oder was auch immer. Ihr Denken wird von Gefühlen umgeschaltet und derjenige, dem es gelingt, an diesen Gefühlen herumzumanipulieren, dem gewissermaßen eine Emotion oder ein Design gelingt, wie ich das nennen möchte, der beherrscht mehr oder minder die Gedanken der Menschen, der Kunden, der User. Und das ist natürlich der absolute Triumph, wenn es Ihnen gelingt, in den Kopf der Kunden, der Bürger, der User einzudringen und diese Denkprozesse ein bisschen zu leiten. Darauf komme ich natürlich auch gleich noch mal zu sprechen. Aber das ist das Wesentliche an den Heuristiken. Heuristiken sind Faustregeln, diese Faustregeln stehen uns nicht nur zur Verfügung im Sinne von expliziten Kalkülen, sondern wir haben sie gerade auch in uns selber fest verdrahtet in Form von Gefühlen und deshalb sollten Sie vor den Gefühlen keine Angst haben. Ohne Gefühle kann man überhaupt nicht vernünftig denken. Es gibt wahrscheinlich keinen einzigen Gedanken, der nicht von Gefühlen begleitet ist. In den Gefühlen selber steckt ein Denken, ein konzentriertes Denken. Wir müssen uns diese Gefühle zu Nutzen machen und wir müssen sie auch würdigen. Ich komme damit zu meinem zweiten Fremdwort, das ich Ihnen anbieten will neben „Simplexity“. Es ist ein Fremdwort, das ich dem Nobelpreisträger Herbert Simon verdanke, nämlich „Satisficing“. Satisficing, das kommt von Wörtern wie satisfaction, das heißt eigentlich, jemanden zufriedenstellen, etwas, das zufriedenstellend ist. Der Sinn von satisficing besteht darin, dass es ein polemischer Gegenbegriff ist. Nicht etwa dazu, unbefriedigt zu sein, das wäre ja trivial, sondern zu dem Begriff Optimierung. Das Gegenteil von satisficing, also davon, zufriedenstellende Lösungen produzieren, ist optimieren. Und jetzt kommt meine zweite Paradoxie, nämlich die Paradoxie zu sagen, es gibt etwas, das besser ist als das Beste, nämlich etwas gut genug zu machen! Ich hoffe, das klingt für Sie paradox genug und Sie sind ein bisschen neugierig auf die Auflösung dieser Paradoxie. Es gibt etwas, was besser ist, als das Beste und das, was besser ist als das Beste, ist gut genug, nämlich satisficing. Ich will deshalb noch mal anknüpfen an das, was wir gerade über die Gefühle gesagt haben. Wo spielen Gefühle für Sie eine riesengroße Rolle? Ich würde sagen, gerade da, wo es wirklich interessant wird, nämlich beim Entscheiden. Es gibt Leute, die von sich selbst sagen, nachdem sie eine Entscheidung getroffen haben und zur Rechenschaft gezogen werden, diese Entscheidung habe ich aus dem Bauch gefällt. Vielleicht haben Sie das selber schon mal so empfunden oder sogar gesagt. Was Sie damit meinen, ist genau dies, dass diese Entscheidungen nicht am Ende von Informationsverarbeitungsprozessen gestanden haben, sondern dass diese Entscheidungen praktisch durch Gefühle produziert worden sind. Wiederum möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich keinen Widerspruch sehe zwischen Informationsverarbeitung und gefühlsmäßiger Entscheidung. Es gibt keinen Unterschied zwischen Emotion und Kognition, so wie man sich das früher vorgestellt hat. Das ist ein überholtes Denken. Interessant ist nun, wie diese gefühlsmäßige Entscheidung zusammenhängt mit Informationsverarbeitungsprozessen, denn Sie alle sind ja nicht nur erfolgreiche Geschäftsleute, sondern Sie sind auch aufgeklärte, gebildete Menschen und es ist Ihr Stolz, es ist Ihr berechtigter Stolz, sich selber einzureihen in die Tradition der Aufklärung. Sie haben von sich ein aufgeklärtes Selbstverständnis, Sie sind vernünftige Menschen, Sie geben nicht irgendwelchen irrationalen Regungen nach, sondern Sie denken erst mal nach, nehmen Informationen auf und verarbeiten sie. Richtig, selbstverständlich, sonst wären Sie nicht hier, sonst wären Sie nicht so weit gekommen. Natürlich verarbeiten Sie Informationen und nehmen Informationen ernst und wichtig, aber meine These ist, am Ende von Informationsverarbeitungsprozessen hat noch niemals eine Entscheidung gestanden, noch niemals. Und auch diese These ist so extrem, dass wir sofort Beispiele brauchen, die Sie hoffentlich nachvollziehen können. Das setzt allerdings voraus, dass Sie sich erinnern, wie es war, als Sie eine Abschlussarbeit angefertigt haben. Die meisten von Ihnen werden das gemacht haben in Form einer Diplomarbeit, Magisterarbeit, Dissertation, irgendetwas in dieser Art. Irgendwann einmal muss man eine Abschlussarbeit machen oder Sie müssen irgendein Thema bewältigen und eine Präsentation darüber machen. Es ist ja immer wieder dasselbe Problem. Und jetzt versuchen Sie sich daran zu erinnern, wie Sie damit fertig geworden sind: Sie sind damit fertig geworden, nicht weil Sie fertig waren im sachlichen Sinn der Informationsverarbeitung, sondern aus folgenden Gründen: 1. Ihr Vater wollte Ihnen nicht noch mehr Geld für Ihr Studium geben 2. Ihr Professor hatte keine Geduld mehr mit Ihnen 3. Sie hatten einfach keine Nerven mehr weiterzumachen. Und in all den Fällen konnten Sie dann den Schlusspunkt setzen – dann waren Sie fertig, nicht etwa, weil es nichts mehr zu Lesen gegeben hätte über Ihr Thema. Es hätte noch 1.000 Bücher gegeben, die Sie unbedingt hätten lesen müssen, um Ihr Thema zu verarbeiten, aber die Ignoranz hat eben geholfen. Sie haben sich irgendwann gesagt, so genau will ich es gar nicht wissen. Wenn Ignoranz für Sie unangenehm klingt – ich meine das ganz positiv, aber ich weiß, dieser Begriff hat irgendwie einen schlechten Klang – können Sie es auch anders nennen, grobe Körnung beispielsweise. Ist ja genau dasselbe. Man will es gar nicht so genau wissen und nur deshalb konnten Sie zu einer Entscheidung kommen. Jede Entscheidung, die Sie in Ihrem Leben getroffen haben, war nicht das Resultat von Informationsverarbeitung. Sondern im Gegenteil das der Unterbrechung von Informationsverarbeitung. Das heißt, der Grund Ihrer Entscheidung war der fabelhafte Mut, aufzuhören, mehr wissen zu wollen. Und dafür wird man eigentlich bezahlt. Sie alle sind ja in leitenden Positionen, Sie sind Manager oder so etwas in dieser Art, Führungspersönlichkeiten und die Tatsache, dass Sie so viel Geld verdienen erklärt sich nicht daraus, dass Sie mehr Informationen verarbeiten als andere, das stimmt wahrscheinlich auch tatsächlich nicht. Sondern es liegt daran, dass Sie diesen fabelhaften Mut des Entscheidens haben. Übrigens Schumpeter, dem Sie sicher mehr trauen als mir, der große Ökonom Schumpeter hat genau dadurch den Unternehmer definiert. Schumpeter hat gesagt, nicht neue Ideen zu haben, machen den Unternehmer aus. Ich persönlich, Norbert Bolz, hab jeden Tag 1.000 Ideen, aber ich bin nur Beamter geworden. Nicht neue Ideen machen den Unternehmer aus, sondern der Mut, irgendeine Idee auf dem Markt durchzusetzen, das ist das eigentlich Entscheidende. Es geht um den Mut der Unterbrechung von Informationen und nicht um die Informationsverarbeitung selber und das macht glaube ich den tiefen Sinn der Formel Satisficing aus. Nämlich zu sagen, gut genug, genug gelernt, genug Informationen verarbeitet, ist sehr viel besser als das Beste. Es gibt übrigens bei uns in der Uni – aussterbend allerdings – auch den Typus dessen, der Informationen aus einem Ethos der Wissenschaftlichkeit heraus bis ans Ende zu verarbeiten versucht, das ist der Gelehrte. Der Gelehrte ist jemand, der sich immer sagt: „Oh, soll ich jetzt veröffentlichen, was ich erarbeitet habe? Nein, es gibt ja noch das und das und das und das, was ich auch noch lesen muss.“ Gelehrte erkennen Sie daran, dass sie unglaublich wenig veröffentlichen, fast gar keine Bücher und wenn mal einen Aufsatz, dann in irgendeiner völlig abgelegenen Zeitschrift, die höchst selten von einem Gelehrten gelesen wird. Das macht einen Gelehrten aus: Dass er Wissenschaft viel ernster nimmt als unsereins. Er sagt, die Informationsverarbeitung ist noch nicht zu Ende und deshalb kann ich jetzt noch nicht veröffentlichen. Also: Mit jedem Buch, mit jedem Aufsatz, den Sie schreiben, haben Sie gesagt: „Jetzt reicht es, jetzt muss die Ignoranz walten, mehr will ich nicht wissen.“ Und wie sie das nennen, grobe Körnung oder wie auch immer, ist dann fast zweitrangig. Satisficing heißt also: Gut genug, viel genug, ist besser als das Beste. Satisficing ist überall da, wo Menschen im Spiel sind, besser als Optimierung. Wir haben einen Fetisch aufgebaut um diesen Begriff der Optimierung. Optimierung funktioniert nur in technischen Zusammenhängen. Technische Zusammenhänge kann und soll man natürlich optimieren, aber überall da, wo Menschen im Spiel sind, ist die Optimierungserwartung sinnlos und man muss sich vor Augen führen, dass es etwas besseres gibt als dieses Optimierungsbestreben. Nämlich das satisficing – etwas gut genug zu machen. Der schon erwähnte Herbert Simon, der diesen tollen Begriff satisficing geprägt hat, hat zu diesem Thema auch eine wunderbare Formel gebracht, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte und ich verspreche, sie sofort zu übersetzen. Er sagte nämlich „ A wealth of information creates a poverty of attention“, d. h. auf Deutsch: Ein Reichtum an Information erzeugt eine Armut an Aufmerksamkeit. Ich halte diese Einsicht für genial und für brillant und es trifft genau unser Hauptproblem, das Hauptproblem des 21. Jahrhunderts, nämlich, dass keine Ressource knapper ist, als die menschliche Aufmerksamkeit. Gerade weil wir in einer Welt der unendlich vielen Informationen, der unendlich vielen Optionen und Möglichkeiten leben, werden wir tagtäglich – das ist der Normalfall – permanent überfordert durch dieses viel zu viel an Chancen, Möglichkeiten, Optionen, Informationen. Und alles dreht sich darum, wie man auf eine intelligente Weise zu weniger kommt. Das heißt also, wenn Sie dem folgen wollen, können wir daraus das Fazit ziehen: Unser Hauptproblem heute ist nicht Informationsmangel – das war früher in goldenen Zeiten mal der Fall, da hat uns Information gefehlt, da brauchte man eigentlich nur in die Bibliothek zu gehen oder in eine Datenbank und sie sich holen, da konnte man das Problem lösen. Bei uns ist es genau umgekehrt, würde ich sagen. Uns fehlt es nicht an Informationen, sondern uns fehlt es an Orientierung. Our problem ist confusion, not ignorance – wir sind konfus, wir sind orientierungslos, nicht uninformiert, uns fehlt es nicht an Wissen. Und wenn das so ist, dass unser Problem Orientierungslosigkeit ist und nicht etwa Informationsmangel, dann hilft uns mehr Information nicht weiter. Glauben Sie mir, es fällt mir schwer, diesen Satz zu denken und auszusprechen. Na ja, mittlerweile hab ich ihn ein paar Mal ausgesprochen und er fällt nicht mehr ganz so schwer, aber als ich mir das zum ersten Mal klar gemacht habe, ist mir verdammt schwer geworden. Denn ich bin ja jemand, der davon lebt, anderen Leuten Information zu übermitteln, nämlich als Lehrer in einer Universität. Wenn man einsieht, dass Menschen primär konfus und orientierungslos sind und dass in Situationen von Konfusion Information nicht weiterhilft, sondern diese Konfusion sogar steigert, dann muss man zu ganz neuen Strategien kommen und die will ich Ihnen abschließend noch andeuten. Wie gesagt, versuchen Sie, das mal zu denken. Ich weiß, das ist schmerzhaft, denn das widerspricht wieder unserem aufgeklärten Selbstverständnis. Früher war es einfach so, wenn jemand blöd war – blöde Menschen gibt es ja weiß Gott wie Sand am Meer – wenn Sie auf einen Blödmann gestoßen sind, dann haben Sie sich immer vorstellen können: Dem fehlt es einfach an Information, wenn der mal das und das lesen würde oder wenn er mir mal eine Stunde zuhören würde, dann könnte ich ihn schon aufklären und ihm das erläutern. Das war die Vorstellung von Aufklärung: Volkshochschulen für alle oder alle an die Uni oder irgendetwas in dieser Art – würde man nur die Pforten des Wissens und der Information öffnen, gäbe es gar keine Probleme mehr. Information at your fingertips, wie das jetzt im Internet-Zeitalter heißt, das Weltwissen ist nur ein Mausklick weit entfernt, alle können alle Information der Welt zappen, also gibt es gar keine Probleme mehr. Umgekehrt wird ein Schuh draus – das ist das Problem. Das Problem liegt gerade darin, dass die Information allgegenwärtig ist, aber dass wir in dieser allgegenwärtigen Information orientierungslos sind. Jetzt kommt die Pointe. Bitter für alle Aufklärer und im Übrigen auch für die Politiker, die ständig mit konfusen Leuten konfrontiert sind: Konfusion produziert Angst. Wenn jemand konfus ist und Sie geben ihm mehr Information, wächst seine Konfusion und damit seine Angst. Schrecklich, nicht wahr? Es gibt 1.000 sehr gute Beispiele dafür. Ich habe das damals in Nordrhein-Westfalen hautnah mitverfolgt mit der PVC-Industrie. Können Sie sich an das Problem noch erinnern? Die Panik, die es damals gab überall im Land – alles ist verseucht und es muss alles raus. Die PVC-Industrie hat scheinbar sehr intelligent, auf jeden Fall sehr aufgeklärt reagiert und hat Bürgerforen – Chatrooms würde man heute sagen – eingerichtet, Informationsbroschüren verteilt und sogar unser damaliger Ministerpräsident hat sich öffentlich für die PVC-Industrie ausgesprochen. Er hat gesagt, das ist alles unbegründete Panik. Wissen Sie, was das Resultat all dieser tollen Bemühungen um Aufklärung war? Die Leute wurden nur noch panischer, sie wurden noch ängstlicher! Die Atomindustrie hat übrigens genau dasselbe Problem immer gehabt und hat es bis zum heutigen Tag, die mauern nicht, sondern informieren, informieren, informieren und die Leute werden immer wahnsinniger. Das ist das Problem. Wenn das so ist: Information hilft nicht weiter, sondern steigert das Problem der Konfusion und genau das ist unser zentrales Problem als Bürger, als User, als Kunde – wie kann man das Problem dann lösen? Wenn nicht Information die Lösung ist, dann – so meine Abschlussthese – lautet die Lösung „Faszination“. Es macht keinen Sinn, die Menschen zu informieren, sondern man muss sie faszinieren. Und um Ihnen diese ja auch sehr starke und weit reichende These plausibler zu machen, einige Beispiele. Hoffentlich aus Feldern, die Sie gut nachvollziehen können. Das eine Feld ist die Politik, das zweite Feld sind die Massenmedien und das dritte natürlich Ihre Welt, die Wirtschaft. Ich möchte da vor allem die Konsumgüterindustrie ins Zentrum stellen. Also es geht darum, die Aufmerksamkeit der Kunden, der Bürger, der User, die knappste aller Ressourcen im 21. Jahrhundert zu binden, zu faszinieren. Das kann man nicht durch Information, das ist die Ausgangsthese. Politik genauso wie Massenmedien haben das längst gelernt. Wie fasziniert also die Politik unsere Aufmerksamkeit? Man muss sich zunächst einmal klar machen – ich glaube, die Politiker sind schon alle gegangen, da kann ich das sagen – es wäre zunächst einmal eigentlich ganz plausibel, dass sich kein Mensch für Politik interessiert. Eigentlich ist es ja erklärungsbedürftig, dass sich die Leute überhaupt für Politik interessieren. Denn es wäre angesichts der einen Stimme, die man alle vier Jahre hat, viel vernünftiger sich um etwas anderes zu kümmern, aber irgendwie schafft es die Politik. Die haben eine ganz tolle Technik entwickelt, Aufmerksamkeit zu faszinieren: Sie erfinden Probleme. Die Politik erfindet Probleme, natürlich vor dem Hintergrund dessen, dass sie schon die Lösungen parat hat, die sie dann praktisch mit ihrem Parteiticket der Wählerschaft vorhält. Sie werden noch niemals irgendein Problem benannt gefunden haben, von keinem Politiker, für das er nicht die Lösung gehabt hätte. Ist Ihnen das schon aufgefallen? Das deutet sehr stark darauf hin, dass die Lösung früher da war, als das Problem und das wiederum wäre der Beweis dafür, dass alle Probleme erfunden sind. Mir fehlt es ein bisschen an Zeit, um Ihnen diese These ganz plausibel zu machen, aber meiner Meinung nach gibt es überhaupt keine Probleme in der Welt. Alle Probleme sind erfunden. Das heißt aber nicht, dass sie irrelevant sind. Ein Beispiel, weil ich weiß, es fällt schwer, das zu glauben, wenn man das zum ersten Mal hört, aber ich gebe Ihnen mal ein Beispiel, wo es mir klargeworden ist. Ich habe früher schon als Student in Berlin gelebt, das war noch vor dem Fall der Mauer natürlich und wir haben immer Fußball vor dem Reichstag gespielt – das durfte man damals noch. Wenn wir Pech hatten, kamen im Winter gigantische Schwaden von diesen Braunkohleöfen über die Mauer auf unseren Fußballplatz und wir haben oft um Luft gerungen, das war grauenhaft. Das war die Zeit, die Älteren unter Ihnen werden sich noch erinnern, wo in Westdeutschland permanent Smogalarm ausgelöst wurde: Können Sie sich daran noch erinnern, dass man dann plötzlich nicht mehr Autofahren sollte oder so etwas? Und das irre war, bei uns in Berlin gab es überhaupt keinen Smogalarm und das hat uns dann doch fasziniert. In Westdeutschland ständig Smogalarm und bei uns kriegt man kaum Luft und es ist nie Smogalarm. Die Lösung war folgende: Die Berliner Stadtregierung hatte beschlossen, die Alarmwerte einfach zu verdoppeln, denn sonst hätte man jeden Tag Smogalarm auslösen müssen. Man hat einfach die Werte verdoppelt mit der Folge, dass wir kein Problem hatten. Jeder Grenzwert ist ein wunderbares Beispiel. Wenn man einen Grenzwert definiert, erzeugt man ein Problem. Das letzte Mal haben Sie das vielleicht mit Feinstaub mitgekriegt. Ich wusste gar nicht, dass es Feinstaub gibt und jetzt weiß ich plötzlich, dass ich schon unendlich lange damit gequält worden bin und dass da ein Riesenproblem ist. Das ist die tolle Idee der Politik, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich zu machen, so dass wir uns für die Politiker interessieren und uns dann mit dieser einen Stimme zufrieden geben, die wir alle vier Jahre haben. Die Massenmedien haben eine andere Technik, die haben ja dasselbe Problem, Aufmerksamkeit zu faszinieren, denn man könnte ja auch etwas anderes machen, als fernsehen. Nun, wie machen die das? Die haben eine andere Technik, nämlich Skandal und Sensation. Falls Pressevertreter hier sein sollten und sich hier melden würden, würden sie sagen, dass das überhaupt nicht stimmt. Skandal und Sensation interessiert uns nicht, wir wollen die Menschen nur aufklären und informieren und nur diese sogenannte yellow press, die Bildzeitung, die mit uns sowieso nichts zu tun hat, die machen das. Aber der Rest der Journalisten, der macht das nicht. Nun, da muss ich dann doch einen Schritt zur Seite treten und sagen, von außen betrachtet nehme ich das ganz anders wahr. Es geht fast nur um Sensationen und Skandale – Oettinger wäre jetzt ein wunderbar aktueller Fall. Das ist natürlich Gold wert für die Presse, für die Seriöse genau wie für die andere. Die Möglichkeit, ein Gesicht, einen Namen und eine kleine einfache Geschichte mit einer simplen Zurechnung zu verbinden – der Mann muss 10 fertiggemacht werden – etwas Schöneres als einen Skandal, eine Sensation gibt es für die Massenmedien einfach nicht. Deshalb ist der Idealzustand für die Massenmedien der Krieg, es gibt nichts Besseres für die Massenmedien. Das hat mit Zynismus von meiner Seite nichts zu tun. Jeder, der realistisch über Massenmedien nachdenkt – meine eigenen Kollegen von den Medienwissenschaften würden mir da sicher zustimmen – sieht nach kurzer Betrachtung, dass in der Tat die Massenmedien durch Sensation und Skandal genau diese Leistung erzeugen, Aufmerksamkeit zu faszinieren. Nun, die Wirtschaft wäre natürlich schlecht beraten, von den Massenmedien zu lernen und ständig Skandale und Sensationen zu erzeugen und die Wirtschaft kann sich auch nicht der politischen Taktik bedienen, nämlich ständig Probleme zu erfinden. Die Wirtschaft muss also eine andere Technik entwickeln, um die knappe Ressource Aufmerksamkeit zu faszinieren und zu fokussieren. Das tut Sie meines Erachtens mit fortschreitendem Erfolg in den letzten Jahren, indem sie die Produkte, die sie verkauft oder auf den Markt bringt, mit einem spirituellen Mehrwert versieht. Das ist meines Erachtens die Art und Weise, wie die Aufmerksamkeit der Kunden heutzutage fasziniert werden kann. Das wäre einen eigenen Vortrag wert, denke ich – was spiritueller Mehrwert genau und im Einzelnen besagt. Ich will Ihnen nur Symptome nennen, die Sie leicht nachvollziehen können. Wenn heute Produkte auf den Märkten angeboten werden, auf ganz soliden Konsumgütermärkten, dann wird gar nicht mehr die sachlich-technische Produktqualität primär angepriesen, sondern es wird mit diesem Produkt einhergehend eine Art Lebensphilosophie verkauft. Nehmen Sie mal etwas, wo es scheinbar rein um Technik geht, ein gutes deutsches Auto. Wenn heute ein gutes deutsches Auto verkauft wird, wird gar nicht mehr oder nur noch am Rande über die Technik geredet, sondern über Gefühle. Audi-Werbung „We believe the only way to build a car is with our soul, the soul of audi” – toll, oder? Ein Auto wird mit der Seele gebaut, nicht mit Technik oder Industrierobotern, sondern mit unserer Seele, mit der Seele von Audi. Schon vor zehn, fünfzehn Jahren sagte Porsche „Lassen Sie uns heute nicht über Technik reden, reden wir über Gefühle“. Warum? Porsche, da braucht man ja nur den Namen hinschreiben, ist sowieso klar, die Technik ist die beste, die es gibt, warum soll man da noch groß drüber reden, ist doch uninteressant, das sachlich-technische ist „taken for granted“. Nicht etwa, dass die Leute sich schlechte Produkte andrehen lassen würden. Sie gehen prinzipiell davon aus, dass das, was in Deutschland, in Europa angeboten wird, sachlich-technisch hervorragend ist. Auf dieser Ebene gibt es konkurrierende Produkte zu ähnlichen Preisen und die Frage, warum kaufe ich X und nicht Y, lässt sich nicht mehr beantworten mit diesem rationalen, ingenieursmäßigen Hinweis auf die sachlich-technische Produktqualität. Das ist die bittere Lektion, die die Wirtschaft hat lernen müssen. Bitter deshalb, weil jeder, der etwas auf den Markt bringt, stolz ist auf das eigene Produkt und gerade auf seine sachlich-technische Qualität. Wie bitter muss es für jeden ordentlichen Ingenieur sein, sich von seiner Marketingabteilung sagen zu lassen, okay, prima, tolles Produkt, aber so verkauft sich das nicht, wir müssen das ganz anders verkaufen, nämlich mit einem spirituellen Mehrwert, mit einer Lebensphilosophie, die mit diesem Produkt einhergeht. Wenn Sie mir das nicht glauben, glauben Sie es vielleicht der Financial Times, die schon vor 1 ½ Jahren einen wunderbaren Artikel gebracht hat unter diesem Titel „Philosophy brands“ – Philosophie-Marken. Das heißt nicht etwa, Philosophien, die zu Markenartikeln geworden sind, obwohl es das mittlerweile auch gibt. Gemeint ist tatsächlich, dass Marken als Lebensphilosophien auftreten und sich das verkauft. Body Shop hat das als einer der Allerersten erkannt und lassen Sie mich schließen mit einem Beispiel, das mir persönlich immer sehr imponiert hat: Die sehr Alten unter Ihnen werden sich erinnern an die Kultmarke der 70er Jahre, an Harley Davidson. Die hatten auch schon eine Lebensphilosophie, Easy Rider hieß die. Diese Lebensphilosophie Easy Rider musste dann den Niedergang dieser grandiosen Kultmarke erleben. 11 Die Firma hat so reagiert, dass die ganze Führungsmannschaft ausgewechselt wurde. Und man hat es in unfassbar kurzer Zeit geschafft, dieses Motorrad Harley Davidson wieder an die Spitze der Weltproduktion zu führen. Alle wollten wissen, wie habt ihr das gemacht, das ist ja eine fantastische Leistung, wie habt ihr das gemacht. Übrigens: Leute, die sich für Technik interessieren, MotorradFreaks, behaupten immer wieder, man könnte für das gleiche Geld viel bessere Motorräder von anderen Anbietern kriegen. Ich kann das nicht beurteilen, aber ich höre das so häufig, da scheint etwas dran zu sein. Das nur in Klammern, es macht die Sache nur interessanter, wenn es so ist. Die Antwort bestand im Wesentlichen aus einem einzigen Satz: „Wisst Ihr, wir haben einfach aufgehört, Motorräder zu verkaufen – wir verkaufen jetzt nur noch eine Lebensphilosophie und gratis gibt es ein Motorrad dazu“. Das ist spiritueller Mehrwert, damit fasziniert man die Aufmerksamkeit der Leute und so wird man erfolgreich wirtschaften. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld!