Nah am dramatischen Geschehen

Werbung
Nah am dramatischen Geschehen – Georg
Friedrich Händel als innovativer Wegbereiter
Aus einem Gespräch mit Jonathan Darlington
»Ich kann das einmal kurz anspielen« – Jonathan Darlingtons Hände schweben über der
Tastatur des Cembalos. Wenn es um die kompositorischen Neukreationen Georg
Friedrich Händels in der Oper »Orlando« geht, ist der Dirigent in seiner Begeisterung
kaum zu bremsen. In der Zeit des Barock, in der neben der omnipräsenten Da-capo-Arie
keine andere musikalische Form bestehen konnte, gelang es Händel, die bewährte
Tradition auf neue Wege zu führen. »›Orlando‹ gestaltet sich ganz anders als noch neun
Jahre zuvor ›Giulio Cesare in Egitto‹«, erklärt Darlington. »Es öffnet sich eine vollkommen
neue Welt. Besonders Orlandos Wahnsinns-Szene aus dem zweiten Akt der Oper gilt als
Komposition jenseits aller bestehenden Konventionen.«
Sehr zum Leidwesen seines Starkastraten Francesco Bernardi, genannt Senesino, den
Händel einst aus Dresden abgeworben hatte, schrieb der Komponist für seinen Titelritter
Orlando lediglich drei Da-capo-Arien. Sie erklingen in den Anfangsszenen der Oper, in
denen Orlando noch über seine vollen mentalen Kräfte verfügt. In dem Moment aber, in
dem er angesichts der in einen Baumstamm eingeritzten Namen Angelicas und Medoros
alle Hoffnung auf eine glückliche Zukunft mit der Angebeteten verliert, entrinnt ihm
mit den klaren Strukturen des menschlichen Verstandes auch die formal geschlossene
Arienform. In einer Mischung aus Accompagnato-Rezitativ und Arie »stolpert« er durch
seine Wahnvorstellungen, die sich musikalisch in eindeutigen Brüchen niederschlagen.
Nach einem schnellen Beginn »Ah! stigie larve«, in dem der einst so mächtige Ritter zu
einer agilen instrumentalen Begleitung die »Geister der Hölle« anruft, verfällt er mittels
eines plötzlich einsetzenden Andantes in tiefes Selbstmitleid und düstere Selbstmordfantasien. Schon sieht er sich am Styx, dem Fluss des Todes, auf dem ihn Charon mit
seiner Barke erwartet. Hier wechselt Händel völlig unerwartet in einen 5/8-Takt. »Dieses
originelle, nie dagewesene Ausdrucksmittel spiegelt das Schwanken der Barke aus
Orlandos Fantasie. Die Musik ist nicht mehr an eine vorgeschrieben Form gebunden,
sondern zerfällt gemäß der geistigen Verlorenheit der Figur in scheinbar unzusammenhängende Einzelteile«, führt Darlington aus. »Es ist kein extrovertierter Wahnsinn,
der sich furios und koloraturreich darbietet. Orlandos Verwirrung zeigt sich eher in einer
bedrohlichen Ruhe und Desorientiertheit. Hierfür verwendet Händel eine gleichsam
durchkomponierte Form, die an ein Rondo erinnert. Natürlich war Senesino damit nicht
einverstanden. Nach den Regeln der Gattung standen ihm mindestens fünf Arien zu,
die die ganze Bandbreite an Emotionen abdecken und ihm Gelegenheit zur Präsentation
C a r o l i n a U l l r i c h (Angelica), G a l a E l H a d i d i (Medoro), Tä n z e r i n n e n u n d Tä n z e r
seiner Verzierungskunst bieten sollten. Händel schrieb für die Rolle des Orlando zwar
13 musikalische Auftritte, aber diese bestanden oft nur aus Accompagnato-Rezitativen.
Als er Senesino nun auch in seiner groß angelegten Wahnsinnsszene die Koloraturen
verweigerte, sah dieser seine imposante Bühnenshow gefährdet.«
In der sowieso schon angespannten Situation zwischen Händel und seinem Sänger
– »Händel befand sich immer mit irgendwem im Streit« – war das der berühmte Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen brachte. Senesino wechselte zum konkurrierenden
Londoner Opernhaus, der Opera of the Nobility. Dabei hätte er um seine Führungsposition in der Sängerriege, zumindest was den Stück-Rivalen Medoro betrifft, nicht zu
bangen brauchen. Allein die Stimmlage des Kastraten kennzeichnete Orlando als edlen
Adeligen. War eine Rolle zur damaligen Zeit der hohen, unnatürlichen Männerstimme
zugeschrieben, entstammte sie der Sphäre des höfischen Liebhabers. Dagegen war der
afrikanische Prinz Medoro, zu dem Händel den titellosen Fußsoldaten der Ariosto-Vorlage
machte, bereits bei der Uraufführung mit einem Mezzosopran besetzt. Da Händel sich
meisterhaft darauf verstand, die stimmlichen Vorteile seiner Sänger für die Charakterisierung ihrer jeweiligen Rolle auszuschöpfen, wurde Medoro auf der Grundlage von
Francesca Bertoldis »intimem Mezzosopran« zu einem sensiblen, zarten jungen Mann,
der Orlandos Präsenz nicht schmälern konnte. Gefahr drohte Senesino eher von Seiten
31
Antonio Montagnanas, der zur Uraufführung 1733 die Figur des Zoroastro interpretierte.
Um die Qualität dieser »tiefen, starken Stimme, die auch ungewöhnlich weich klingen
konnte« auszunutzen, schrieb Händel für ihn eine Rolle, die alle bisherigen Konventionen
der Basspartien sprengte. Bis dato kam dem Bass in der opera seria lediglich die
Diener- oder Soldatenfigur zu, eine Nebenrolle also, die nie mehr als ein oder zwei Akte
umfasste. Ihm nun den omnipräsenten Zauberer zuzugestehen, der die Ordnung und
Vernunft personifiziert, während der Starkastrat vom vorbildlichen Weg des Ruhmes in
den Wahnsinn abgleitet, war ein gewagtes Novum.
Ein Novum, das Senesino augenscheinlich als Angriff auf seine Person verstand. Doch
Händel ging es nie darum, seinen langjährigen Mitarbeiter in die Flucht zu schlagen.
Sein Ziel war ein dramatisches Komponieren entlang des Handlungsgeschehens. Der
Wahnsinn Orlandos wirkt sich folglich nicht nur auf die formale Ariengestaltung der
Titelfigur aus, sondern beeinflusst auch die Instrumentation der ganzen Oper. Von dieser
Tatsache zeigt sich Jonathan Darlington immer wieder aufs Neue erstaunt: »Wenn wir
noch einmal den Vergleich zu ›Giulio Cesare‹ ziehen, fällt auf, wie viel intimer Händel
sein Orchester im ›Orlando‹ besetzte. Er begnügte sich bei der Uraufführung mit 24
Streichern, zwei Cembali, einer Laute und drei Fagotten. Die Hörner erklingen nur in
einer Nummer, die Blockflöten in zweien. Dadurch entsteht ein sehr konzentrierter,
nach innen gerichteter Klang.« An die Stelle von instrumentaler Größe setzte Händel
außergewöhnliche Töne. Es war für den Komponisten ein großes Glück, in seinem
Konzertmeister Pietro Castrucci einen innovativen Instrumentenbauer gefunden zu
haben. Castrucci entwickelte eine besondere Form der Violine, die den vielsagenden
Namen »violetta marina« trug. Ähnlich wie bei der viola d’amore, die heutzutage anstelle
der nicht mehr existierenden violetta marina eingesetzt wird, handelte es sich bei ihr
um eine Altgeige, die mit zusätzlichen Resonanzsaiten ausgestattet war. Wenn im dritten
Akt des »Orlando« die Titelfigur nach ihrer Arie »Già lo stringo« in tiefen Schlaf versinkt,
wird sie in die sanften Klänge der ungewöhnlichen Violenform eingehüllt, ergänzt durch
das Pizzicato der Celli. »Es ist eine Atmosphäre, die den Zuhörer in eine andere Welt
entführt. Harmonisch befinden wir uns an dieser Stelle in Es-Dur«. Sofort schlägt
Jonathan Darlington den Akkord auf dem Cembalo an. »Eine Tonart, die zwar als heroisch, aber auch als sehr sehnsuchtsvoll gilt.« Nach kurzem Überlegen fährt er fort:
»Mit jeder Farbe, jeder Harmonie und sogar mit den Stellen, an denen er der strengen
ABA-Form der Da-capo-Arie treu bleibt, folgt Händel der psychologischen Entwicklung
der Figuren. Die Arie der Angelica ›Se fidel voi ti creda‹ – um ein Beispiel zu nennen –
konfrontiert in den beiden Teilen A und B zwei unterschiedliche Aussagen, dargestellt
durch zwei gegensätzliche Harmonien. Der A-Teil, in dem Angelica Orlando auffordert,
seine Liebe zu beweisen, steht in G-Dur. Mit ›Finchè regni nel mio petto, il sospetto‹
(›Solange der Verdacht mein Herz beherrscht‹) des B-Teils erfolgt zunächst der Wechsel
in die Paralleltonart e-Moll, um am Ende der Phrase im harmonischen Nichts zu enden.
Es gibt kein Ziel – die Hoffnung, die Angelica in Orlando weckt, kann sich nie erfüllen.
Diese Doppelbödigkeit wird bereits im ersten Takt des Arienvorspiels deutlich, der durch
die unmittelbare Nachbarschaft von G-Dur und e-Moll die zermürbende Spannung der
Arie einleitet.« Darlington ist jetzt nicht mehr aufzuhalten: »Sei es durch ein Terzett, das
es bei ›Giulio Cesare‹ noch nicht gab, ein Duett, in dem Rhythmus, Form und Melodie
gleichsam in der Auflösung begriffen sind, oder die neuartige Sängerdisposition, bestehend aus fünf Figuren mit übergeordnetem Zauberer – Händel nutzt alle Mittel, um seine
Figuren und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zu charakterisieren. Dabei gelingt
es ihm, die formalen Möglichkeiten der Gattung maximal auszudehnen.« Kurz muss
Jonathan Darlington Luft holen, dann kehrt er zum Cembalo zurück: »Soll ich weitererzählen?«
Valeska Stern
33
Herunterladen