Detlev Glanert „Megaris“, Seestück mit Klage der toten Sirene für

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Detlev Glanert
„Megaris“, Seestück mit Klage der
toten Sirene für Orchester und wortlosen Chor (2014/2015, Uraufführung)
RSO Konzertzyklus 4
Do 10. Dezember 2015, 19.30 Uhr
Fr 11. Dezember 2015, 19.30 Uhr
Konzerteinführung jeweils 18.30 Uhr
Stuttgart, Liederhalle, Beethoven-Saal
Gesangssolisten
SWR Vokalensemble Stuttgart
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Dirigent: Stéphane Denève
(Live-Übertragung zeitversetzt ab 20.03 Uhr auf SWR2 am
11.12.2015)
Erstellt von Anja Renczikowski
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Inhalt
I. Detlev Glanert – Komponieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft .............. 3
II. Ein neues Werk entsteht – „Megaris“ .................................................................................... 5
III. Ausführende .......................................................................................................................... 7
Stéphane Denève ................................................................................................................... 7
SWR Vokalensemble Stuttgart ............................................................................................... 9
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR ........................................................................ 10
IV. Quellen / Wo gibt es mehr? ................................................................................................ 11
V. Unterrichtsmaterial .............................................................................................................. 12
Ein Leben in Stichworten ...................................................................................................... 12
Daten zum Werk ................................................................................................................... 14
VI. Unterrichtliche Hinweise..................................................................................................... 15
1. Komponieren heute ......................................................................................................... 15
2. Die von Detlev Glanert in seinem Stück „Megaris“ assoziierten Mythen ........................ 21
3. Die Geschichte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkklangkörper ................................... 27
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I. Detlev Glanert – Komponieren zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft
Neues Material, neuer Stoff, neue Noten, eine neue Aufführung, verheißen ein brandneues
Werk eines Komponisten. Doch die Musikwissenschaft wie die Geschichtsschreibung im Allgemeinen braucht eine Weile, um zu reflektieren und Dinge einzuordnen. Viel vorbereitendes Lesen oder Informationen sammeln fällt weg. Vielleicht gar nicht so schlimm, denn so
steht der unvoreingenommene Höreindruck im Vordergrund. Für alle – für die Zuhörer wie
auch für die ausführenden Musiker und Sänger und natürlich den Dirigenten ist es eine
spannende Premiere. Detlev Glanert ist gerne bei den Proben zu seinen neuen Stücken dabei
und erklärte einmal in einem Interview: „Ich kann auch offen zugeben, dass ich zittere. Denn
eine Uraufführung ist letzten Endes die Übertragung von einer Dimension in die andere.“ Sie
sind wochen-, monate-, jahrelang allein mit sich und dem Notenpapier, und wenn dann wirklich Klang wird, was man sich ausgedacht hat, ist es eine völlig neue Erfahrung. Diesen Vorgang finde ich immer wieder spannend und möchte kleine Fehler am liebsten sofort ausbessern.“ Inzwischen weiß Glanert sehr gut, seine Aufgeregtheit zu verbergen, denn bei so
vielen Werken, die mittlerweile das Licht der Musikwelt erblickt haben, hat sich dabei eine
Gelassenheit breit gemacht.
„Ich bin kein Komponist, der die Vergangenheit zerstört, um seine eigene Welt zu erschaffen“, so Detlev Glanert. Damit zeigt er, dass ihm die Tradition wichtig ist und er diese aber
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auch immer in neue Formen und Kontexte bringen möchte. Die Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ein zentraler Aspekt in seinem Werk. In Deutschland ist
Glanert vor allem durch seine Opernwerke bekannt geworden. Dort verarbeitet er Geschichten aus der Historie oder verwendet literarische Vorlagen, etwa die Kammeroper „Leviathan“ nach Thornton Wildes „Dreiminutenspielen“, die Oper „Der Spiegel des großen Kaisers“, in der ein Kaiser im Jahre 1235 in Palermo Vision von der Zukunft hat. „Caligula“ basiert auf Albert Camus Abhandlung über die Tyrannenherrschaft eines römischen Kaisers und
„Solaris“ – spannend für alle Science-Fiction-Liebhaber – beruht auf dem berühmten Roman
von Stanislaw Lem.
Im Ausland wurde Detlev Glanert in erste Linie durch seine Kammermusik und Orchesterwerke bekannt. Einige Sinfonien hat er geschireben, aber auch Kammersonaten. Der Komponist ist ein Sammler, der auch das Handwerk des Komponierens einfach liebt. Viele Werke
müssen wachsen und so sammelt Glanert Ideen, Eindrücke, und braucht einfach Zeit, sich in
die jeweils neue Klangsprache einzuarbeiten. Manchmal entstehen so im Vorgriff auf das
Musiktheater gern auch einzelne Orchesterwerke, wie etwas das Orchesterstück „Theatrum
bestiarum“, quasi als sinfonische Vorstufe seiner Oper „Caligula“ oder „Fluss ohne Ufer“, das
eine Verbindung zu seiner Oper „Das Holzschiff“ hat. Das passt auch zu seiner Vorstellung
von einer „organischen Musik“. Das eine ergibt sich aus dem anderen. „Ich sehe Musik als
einen Muskel, der aus Emotionen, Konstruktion und Material gemacht ist. Manchmal dominiert eines von ihnen die anderen, manchmal nicht, und dann beginnt er sich zu bewegen.“
So wie ihm aktuelle Themen und Inhalte auf der Musikbühne genauso wichtig sind wie Stoffe
aus der Vergangenheit, so zeigt sich auch seine musikalisch Sprache auf dem Weg zwischen
den Welten, da gibt es festgefügte Formen wie Sonate und Rondo, eine harmonische Sprache, die dann in ein neues, modernes Gewand gekleidet werden. Besonders prägnant ist
auch das organische Wachsen von Motiven und Themen ins seiner Musik.
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II. Ein neues Werk entsteht – „Megaris“
Bildunterschrift:
Odysseus und die Sirenen (Vasenbild ca. 475- 450 v. Chr.)
Der Prozess des Komponierens, so Detlev Glanert einmal, sei eigentlich fantasievoll aber
auch sehr pragmatisch: „Das Ganze zerfällt ganz simpel in zwei Teile. Der erste Teil ist Nachdenken. Denken, denken, denken. Eindrücke sammeln, Strategien überlegen, Fantasie ausbrüten. Der zweite Teil, der eigentliche Schreibprozess, ist ziemlich banal. Ich nehme Stift,
Papier und Tisch, wobei der Tisch das Wichtigste ist. Es sieht aus wie bei einem Beamten.“
Tag für Tag – so beschreibt er weiter – sitzt er am Tisch und versucht in Schrift- bzw. Notenform zu bringen, was er vorher im inneren Ohr gehört habe. Dabei verzichtet er – ganz altmodisch – auf den Computer. Mit der Hand gehe es einfach schneller. Wenn er dann einen
Auftrag für eine Komposition erhält, kommt eines der dramatische Stoffe, die schon längere
Zeit in seinem Kopf oder seinem Notizbuch waren, zum Einsatz. „Musik ist bei mir nie abstrakt, sie ist immer mit Szenischen verbunden“. Der Mythos um Odysseus und die Sirenen
begleitet Detlev Glanert schon seit mehr als zehn Jahren. Zum 70. Orchesterjubiläum des
RSO Stuttgart setzt er diesen Stoff nun musikalisch um. Der Chor kommt hier auf ganz besondere Weise zum Einsatz. Sie verkörpern die Sirenen, die wortlos singen. Ohne Text kommen sie seiner Vorstellung von einem Klagegesang der Sirene Parthenope, die sich – nachdem Odysseus sie überlistet hat – ins Meer und damit in den Tod stürzt, am nächsten.
Doch was war es, das Glanert so faszinierte? Es ist die sagenumwobene Geschichte des
Odysseus, jenem Epos, das aus dem 7. oder 8. Jahrhundert v. Chr. stammt. Unbesiegbar
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schienen bis dahin die Sirenen, jene Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang die
vorbeifahren Schiffer anlockten, um sie dann zu töten. Odysseus gelang es, den schönen
Gesang zu hören und trotzdem nicht Schiffbruch zu erleiden. Er bediente sich eines Tricks,
indem er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verstopfte und sich selbst an den Mast binden ließ. Überlistet von Odysseus müssen die Sirenen den Freitod im Meer suchen. Der leblose Körper der Sirene Parthenope wurde an die Insel Megaris, das heutige Neapel, angeschwemmt.
Für Detlev Glanert hat dieser uralte Mythos durchaus viele Bezüge zur Gegenwart. Auf der
einen Seite die Sirenen – mythisch und verzaubert, auf der anderen Seite Odysseus – aufgeklärt, rational denkend. Er steht aber auch für den Untergang der Natur (verkörpert durch
die zauberhaften Sirenen), bezwungen durch die Kräfte des modernen Kommerzes und Lebensverhältnisse (Odysseus). Letztendlich fühlt sich Glanert auch durch die Vorstellung von
ertrinkenden Sirenen an die toten Körper im Mittelmeer erinnert, also an das Schicksal der
Flüchtlinge, die im Versuch, nach Europa zu kommen, ertranken.
Musikalisch setzt Glanert den textlos agierenden Chor wie die Instrumente des Orchesters
ein – beide, Chor und Orchester, vermischen sich so größtenteils vollkommen.
Das Werk hat drei Teile, wobei jeder Teil mit einem Sologesang beginnt. Leise beginnt es im
Sopran, die sozusagen die motivische Urzelle vorstellt, die im Verlauf des Stückes immer weiter variiert und entwickelt wird. Ein gegensätzliches Motiv ist Odysseus zugeordnet – der die
feindliche Welt darstellt. Wie Chor und Orchester mischen sich auch diese beiden Motive –
kommentieren und zerstören sich gegenseitig. Am Ende bilden sich durch Silbenverschiebungen langsam Fantasieworte bis schließlich am Schluss des Werkes fast der Name der
toten Sirene – „Pa – Te –No – Pe“ zu hören ist. Leise und verhalten enden „Megaris“ mit einem Sopransolo.
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III. Ausführende
Stéphane Denève
Seit September 2011 ist Stéphane Denève Chefdirigent beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Mit Beginn der Spielzeit 2014/15 ist er zudem Principal Guest Conductor des
Philadelphia Orchestra, und von September 2015 an Chefdirigent der Brüsseler Philharmonie
und Direktor des dortigen Centre for Future Orchestral Repertoire (CffOR). Von 2005 bis
2012 war Denève Music Director des Royal Scottish National Orchestra (RSNO) in Glasgow.
International wird Denève als Dirigent von höchstem Rang anerkannt und von Publikum und
Kritik einhellig für seine Auftritte und seine Programme gelobt. Er tritt regelmäßig in international bedeutenden Konzertsälen mit weltweit führenden Orchestern und Solisten auf. Seine
besondere Vorliebe gilt der Musik seiner französischen Heimat, zudem ist er ein leidenschaftlicher Fürsprecher für die Musik der Gegenwart.
Im April 2013 gastierte Stéphane Denève mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des
SWR im Rahmen der 10. Asientournee des RSO in China, Taiwan und Japan. Stéphane
Denève hat aktuell als Gastdirigent in Europa u. a. das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, das Symphonieorchester des BR, die Münchner Philharmoniker, die Wiener Symphoniker, das Orchestra Sinfonica dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia, das London
Symphony Orchestra, das Philharmonia Orchestra, das DSO Berlin und das Schwedische
Radio-Sinfonieorchester geleitet. In Nordamerika hat er 2012 mit dem Boston Symphony
Orchestra sein Debüt in der Carnegie Hall gegeben, mit diesem Orchester verbindet ihn bereits eine langjährige intensive Zusammenarbeit, sowohl in Boston wie auch beim
Tanglewood Festival. Darüber hinaus arbeitet Denève regelmäßig mit den Orchestern in
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Philadelphia, Chicago, Cleveland, Los Angeles und San Francisco zusammen. 2015 gibt er
sein Debüt bei den New Yorker Philharmonikern.
Stéphane Denève pflegt enge Beziehungen zu vielen der weltbesten Solisten wie Jean-Yves
Thibaudet, Leif Ove Andsnes, Yo-Yo Ma, Leonidas Kavakos, Frank Peter Zimmermann, Nikolaj
Znaider, Gil Shaham, Piotr Anderszewski, Emanuel Ax, Lars Vogt, Nikolai Lugansky, Paul
Lewis, Joshua Bell, Hilary Hahn, Vadim Repin und Nathalie Dessay.
Im Bereich der Oper hat Denève Produktionen am Royal Opera House Covent Garden, beim
Glyndebourne Festival, an der Mailänder Scala, beim Saito Kinen Festival, im Gran Teatro de
Liceu, bei der Netherlands Opera, im Théatre La Monnaie und an der Opéra National de Paris
geleitet.
Als Absolvent des Pariser Konservatoriums wurde Denève mit einem ersten Preis ausgezeichnet. Seine Karriere begann er als Assistent von Sir Georg Solti, Georges Prêtre und Seiji
Ozawa. Ihm ist es ein großes Anliegen, die nächste Generation Musiker und Zuhörer zu inspirieren und für klassische Musik zu begeistern. Sehr gerne arbeitet Denève mit jungen Menschen im Rahmen von Musikvermittlungsprojekten zusammen.
Seine erste CD mit dem RSO Stuttgart mit Werken von Francis Poulenc erhielt im Frühjahr
2013 den bedeutenden französischen CD-Preis "Diapason d'Or". Denève war 2012 als Artist
oft he Year der Zeitschrift Gramophone nominiert, seine CD-Einspielungen mit Werken von
Debussy, Roussel, Franck und Connesson sind von der Presse in höchsten Tönen gelobt worden. Im Herbst 2014 erscheint die zweite CD der Gesamtaufnahme aller Orchesterwerke von
Maurice Ravel mit dem RSO Stuttgart.
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SWR Vokalensemble Stuttgart
Das SWR Vokalensemble Stuttgart zählt zu den internationalen Spitzenensembles der zeitgenössischen Musik. Es hat im Lauf seiner Geschichte mehr Uraufführungen gesungen als
jeder andere Chor. Neben der Neuen Musik widmet sich das SWR Vokalensemble den anspruchsvollen Chorwerken älterer Epochen. Das SWR Vokalensemble wurde 1946 als
Kammerchor von Radio Stuttgart gegründet. Es wurde 1971 in Südfunk-Chor Stuttgart und
1998 in SWR Vokalensemble umbenannt. Die Chefdirigenten Marinus Voorberg, KlausMartin Ziegler und Rupert Huber haben das SWR Vokalensemble beziehungsweise den Südfunk-Chor in der Vergangenheit entscheidend geprägt. Seit 2003 ist Marcus Creed künstlerischer Leiter. Seine Interpretationen vereinen Stilsicherheit, Klangschönheit, technische Souveränität und musikalische Lebendigkeit und stoßen bei Publikum und Fachpresse auf große
Zustimmung. Den Großteil seiner Konzerte gibt das SWR Vokalensemble in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz. Aber auch auf den internationalen Konzertpodien und
bei den renommierten Musikfestivals im In- und Ausland ist der Chor ein gern gesehener und
gehörter Gast. Zahlreiche CD-Produktionen des SWR Vokalensembles sind mit hochkarätigen
Preisen ausgezeichnet worden - in jüngster Zeit etwa mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik, dem Echo-Klassikpreis und dem Grand Prix du Disc. Dass auch jungen Menschen die Welt der Vokalmusik und die Lust am Singen und an der eigenen Stimme entdecken, ist dem SWR Vokalensemble Stuttgart ein wichtiges Anliegen. Mit dem Kinder- und
Jugendprogramm SWR Young CLASSIX geben die Sängerinnen und Sänger ihre musikalischen
Kenntnisse und ihre Begeisterung für die Musik an die nächste Generation weiter.
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Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR - gegründet 1945 - ist einer der bedeutendsten musikalischen Botschafter des Landes. Hauptaufgabe ist einerseits die Pflege des großen
klassisch-romantischen Repertoires der sinfonischen Tradition, zum anderen setzt sich das
Orchester mit Nachdruck für die zeitgenössische Musik und selten gespielte Werke und
Komponisten ein. Viele bedeutende Komponisten, darunter Strawinsky, Hindemith, Henze,
Penderecki, Kagel, Ruzicka, Eötvös und Pintscher, haben ihre eigenen Werke in RSOKonzerten dirigiert, weit mehr als 500 Kompositionen hat das RSO Stuttgart bislang uraufgeführt.
Pro Saison spielt das RSO rund 80 Konzerte in Stuttgart und im Sendegebiet des SWR; es gastiert in nationalen und internationalen Musikzentren und weltweit bei Festspielen, darunter
seit über 50 Jahren bei den Schwetzinger SWR Festspielen. Ergänzt wird die Konzerttätigkeit
durch zahlreiche Studioproduktionen für Radio und Fernsehen sowie für den Tonträgermarkt. Auf dem Label SWRmusic sind die Ergebnisse der Arbeit aus Gegenwart und Vergangenheit umfangreich dokumentiert und mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet
worden, u. a. mit dem ECHO Klassik 2012, mehrmals mit dem "Preis der Deutschen Schallplattenkritik" und mit dem französischen "Diapason d'or".
Die Förderung junger Künstler gehört zum Selbstverständnis des Radio-Sinfonieorchesters
Stuttgart. Konzerte mit internationalen Preisträgern und die RSO Orchesterakademie der
Musikhochschule Stuttgart stehen beispielhaft für dieses Tätigkeitsfeld. Ein ganz zentrales
Anliegen des RSO ist die Erschließung anspruchsvoller Musik für ein junges Publikum. Mit
dem auf Nachhaltigkeit angelegten Musikvermittlungsprogramm SWR Young CLASSIX bietet
das RSO ein umfangreiches und vielfältiges Angebot für alle Altersstufen und Publikumsschichten. Innovative Formate wie z. B. "Mittagskonzerte" sprechen neue Publikumsschichten an.
Seit der Saison 2011/12 ist der Franzose Stéphane Denève Chefdirigent beim RadioSinfonieorchester Stuttgart des SWR. Er ist damit Nachfolger von Sir Roger Norrington, der
seit 1998 in gleicher Position das RSO Stuttgart leitete und nun Ehrendirigent des RSO ist.
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IV. Quellen / Wo gibt es mehr?
Weblinks:
Nähere Informationen zu Detlev Glanert findet man im Internet auf der Seite des Verlages
Boosey & Hawkes unter: www.boosey.com
Hörtipps:
Da es sich um eine Uraufführung handelt, liegt „Megaris“ noch nicht in einer kommerziellen
CD-Produktion vor. Der Deutsche Musikrat hat Detlev Glanert in seiner Edition „Zeitgenössische Musik“ mit einigen CDs bedacht. Hier kann man einen guten Einblick in das Werk des
Komponisten bekommen.
Seine Oper „Caligula“ ist bei Oehms erschienen mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester, dem Chor und der Oper Frankfurt unter der Leitung von Markus Stenz. Das WDR
Sinfonieorchester Köln hat unter dem Dirigat von Semyon Bychkov sein Orchesterwerk
„Theatrum bestiarum“ aufgenommen (AVIE).
Literatur:
Neugier wecken auf die Musik Detlev Glanerts möchte das vor einigen Jahren erschienene
Buch über den Komponisten, das von Stefan Drees herausgegeben wurde. Darin finden sich
vor allem Aufsätze und Reflexionen des Komponisten zu seinen eigenen Werken, aber auch
über Komponistenkollegen oder über das Theater und die Oper. Dazu gibt es einige Aufsätze
zu Glanerts Opern- und Kammer- wie Orchesterwerk:
Neugier ist alles: Der Komponist Detlev Glanert
Herausgegeben von Stefan Drees, Wolke Verlag, Hofheim 2012
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V. Unterrichtsmaterial
Ein Leben in Stichworten
1960: Am 6. September wird Detlev Glanert in Hamburg-Bergedorf geboren.
1972: Erste Kompositionsversuche und erster Instrumentalunterricht.
1981: Glanert beginnt sein Studium, das ihn u. a. zu Diether de la Motte, Günter Friedrichs
und Frank Michael Beyer führen wird. Außerdem studiert er für vier Jahre bei Hans Werner
Henze in Köln.
1985: Glanerts 1. Sinfonie op. 6 wird uraufgeführt.
1986: Teilnahme an den Sommerkursen in Tanglewood. Premiere des Orchesterwerks
„Aufbruch“; konzertante Uraufführung der Kammeroper „Leviathan“ nach Thornton Wilder
(szenische UA Hamburg 1991).
1987: Glanert erhält das Bachpreis-Stipendium der Hansestadt Hamburg.
1988: Stipendium des Berliner Senats für Berliner Künstler in der Türkei. Die „Vier Fantasien
für Klavier“ werden erstmals öffentlich gespielt.
1989: Manfred Trojahn leitet die Uraufführung von „Mahler/Skizze“ op. 20. Glanert wird
ständiger Mitarbeiter des „Cantiere Internazionale d’arte“ in Montepulciano (Italien) und
Leiter der dortigen Musikschule, unter anderem gibt er hier Kompositionsunterricht
(bis 1993).
1990: Uraufführung der Passacaglia aus der Oper „Leyla und Medjnun“ für fünf Bläser,
Schlagzeug, Harfe, Klavier und Streichquintett. Drei Gesänge aus „Carmen“ von Wolf
Wondratschek (Sinfonie Nr. 2) für Bariton und großes Orchester.
1992: Vier Lieder nach Graffiti-Texten für Sopran und Ensemble.
1993: Die zweiaktige Oper „Der Spiegel des großen Kaisers“ wird in Mannheim uraufgeführt.
Dafür erhält Glanert den Rolf-Liebermann-Opernpreis.
1995: Zwei weitere Kammeropern nach Wilder werden in Bremen uraufgeführt: „Der Engel,
der das Wasser bewegte“ und „Der Engel auf dem Schiff“. Weiteres Werk: „Gestalt“, Kammersonate Nr. 2 für Flöte, Klarinette, Klavier, Schlagzeug, Violine, Viola, Violoncello und
Kontrabass.
1996: „Miserere“ für gemischten Chor a cappella. Die „Musik für Violine und Orchester“
op. 3 wird in Darmstadt uraufgeführt.
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1997: Uraufführung des Orchesterwerks „Katafalk“ in Mannheim.
1999: Die Oper „Joseph Süß“ wird am 13. Oktober in Bremen uraufgeführt.
2000: Kompositionskurse und Workshops in Melbourne und Jakarta.
2001: Glanerts komische Oper „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ nach Grabbes
Schauspiel wird am 2. Februar in Halle uraufgeführt. Für dieses Werk erhält Glanert im November den Bayerischen Theaterpreis.
2003: „Composer in Residence“ in Mannheim.
2004: Glanert bearbeitet die „Vier ernsten Gesänge“ von Brahms für Bariton und Orchester.
2005: Uraufführung von „Theatrum bestiarum“ in London. „Composer in Residence“ in
Sapporo.
2006: Im Juli findet die britische Erstaufführung seiner „Vier Präludien und ernste Gesänge“
bei den BBC Proms statt, am 7. Oktober die Uraufführung seiner neuen Oper „Caligula“ mit
Markus Stenz am Pult an der Oper Frankfurt. Das Libretto stammt von dem Schriftsteller
Hans-Ulrich Treichel, nach dem Theaterstück von Albert Camus. Ab dem 30. November ist
diese Produktion auch an der Kölner Oper zu erleben.
2008/2009: „Composer in Residence“ beim WDR Sinfonieorchester Köln
2009 - 2011: künstlerischer Leitung des Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano
ab 2011: für 10 Jahre Hauskomponist des Concertgebouw Orchesters
Detlev Glanert lebt seit 1987 in Berlin.
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Daten zum Werk
Detlev Glanert: Megaris – Sestück mit Klage der toten Sirene (2014-2015)
Entstehung: Der Komponist hat sich im Interview (Anhang) zur Entstehung seines Werkes
geäußert.
Uraufführung: 10.12.2015 Liederhalle, Beethoven-Saal, Stuttgart
SWR Vokalensemble Stuttgart / Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR /
Stéphane Denève
Widmung: Die Komposition ist dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zu seinem
70-jährigen Bestehen gewidmet.
Besetzung
mixed chorus(min.6.6.6.6);
3(II=afl,III=picc).2(II=corA).2.bcl.2.dbn–4.2.3.1–
timp.perc:t.bells/glsp/gong/crot/susp.cym/sizzle cym/Chin.cym/tgl/5tom-t/
5tpl.bl/plate gong/tam-t/whip/SD/BD–2harp–cel–strings(16.14.12.10.8).
Dauer: ca. 20 Minuten
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VI. Unterrichtliche Hinweise
1. Komponieren heute
Die Schüler könnten sich mit der Frage auseinandersetzen, was sie von einer Komposition,
deren Uraufführung sie erleben, erwarten? Was ist anders als ein Werk von Bach, Beethoven
oder Mozart zu hören. Wie soll so ein Werk klingen? Ist es „zeitgemäß“ noch für ein großes
Sinfonieorchester und einen Chor zu komponieren? Wie geht der Komponist vor? Was würden die Schüler sich von einem neuen Stück erhoffen?
1.a)
Detlev Glanert äußert sich selbst zu seinem neuen Stück „Megaris“:
Innovation braucht Tradition - Was die „Klage der toten Sirenen“ mit Kulturpolitik zu tun
hat
Als Stéphane Denève mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, ein Stück für Orchester und
wortlosen Chor zu schreiben, hat mich das sofort interessiert, weil es ein interessanter Widerspruch in sich ist. Ein Widerspruch allerdings, der in der französischen Musik seit Claude
Debussy Tradition hat. Die Musik hat da nicht die Aufgabe, sich zu Worten zu verhalten, sondern umgekehrt: die menschliche Stimme wird instrumental eingebettet und Teil der
„musica pura“ des Orchesters.
„Megaris“ ist der griechische Name einer Insel vor Neapel, an die der tote Körper der Sirene
Parthenope angeschwemmt worden sein soll. Odysseus, der listenreiche Held des Homer
hatte sich mit einem Trick der Macht des Sirenengesangs entzogen und hatte damit die
Sirenen zutiefst beleidigt. Und einem mythischen Naturgesetz zufolge muss sich eine gekränkte Sirene oder Seejungfrau umbringen – sie haben sich ins Meer gestürzt und sind ertrunken. Was mich an dieser Thematik gereizt hat ist nicht nur der Aspekt der beleidigten
Natur - vernichtet durch Odysseus, den Adorno in seiner „Dialektik der Aufklärung“ als ersten Vertreter des bürgerlichen Bewusstseins bezeichnet, einen Vorläufer des Kommerzmenschen – sondern auch das entsetzliche Bild der toten Körper im Mittelmeer.
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Das SWR Vokalensemble ist ja spätestens seit den 80er Jahren berühmt unter den Komponisten meiner Generation durch seinen starken Akzent auf neue Musik und Uraufführungen,
deshalb habe ich mich sehr gefreut, dieses Werk für einen so phantastischen Chor schreiben
zu können. Dennoch halte ich mich vom reinen Stimmexperiment fern, weil ich für
„Megaris“ den reinen Gesang nutzen wollte, die gezogene menschliche Gesangsstimme ohne verschleiernden Text.
Auch hier kommt wieder ein Aspekt der Tradition ins Spiel, denn dass es diesen Chor und
dieses Orchester überhaupt gibt, basiert auf der Tradition der Kulturförderung – und dass sie
mir als Komponist für die Umsetzung meiner Partituren zur Verfügung stehen, ist eine wunderbare Konsequenz aus dieser Tradition.
Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der der Bereich der Kultur inklusive aller Bibliotheken 0,8% des Bruttosozialproduktes ausmacht – und dieser sehr kleine Luxus hat aus
meiner Sicht seine Berechtigung und Notwendigkeit, wenn wir unsere Kunst weiterführen
wollen. Alle Orchester und Theater sind in Deutschland historisch gesehen von den Höfen
erhalten worden und nachfolgend durch das Bürgertum, durch Städte, Länder und Staat, bis
heute. Wenn wir diese Art von komplizierter Kunst, die wir da betreiben, weiter führen, weiter entwickeln möchten, müssen wir uns diese Art von „Luxus“ erhalten.
Das gilt insbesondere für die Rundfunkchöre und Rundfunkorchester. Sie sind damals nach
dem Krieg ausschließlich mit dem Ziel gegründet worden, Neues aufzunehmen – ein Ziel, das
beim SWR ja zum Glück sehr hoch gehalten wird.
Es ist klar: Jedes Orchester, jedes Theater, das geschlossen wird, wird nie mehr geöffnet
werden und das gilt auch für unsere großen Chöre. Insofern haben wir eine merkwürdige
Situation, denn Bewahren ist ja ursprünglich das genuin Konservative. Aber wir Komponisten
müssen diese Orchester und Chöre bewahren, damit wir Neues schaffen können: alle Komponisten sind existentiell auf die Musiker und Sänger angewiesen, um ihre Musik zu Gehör
zu bringen, erst dann beginnt die Existenz von Musik und der eigentliche Rezeptionszyklus.
Musik ist eine Luftkunst, wie György Ligeti mal gesagt hat: Musik ist nichts als schwingende
Luftsäulen. Musik entsteht in unserem Kopf. Was wir da auf unsere Notenlinien schreiben,
sind nichts als Bewegungen für Münder, Lungen, Arme, Finger, es sind kleine Bewegungsanweisungen, Choreographien. Das was dann klingt, existiert vorher gar nicht. Erst die Aufführung selbst erweckt ein Stück zum Leben, erst dann weht ein Geist. Insofern ist Musik die
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abstrakteste aller Künste. Ein Musiker ist etwas fundamental anderes als ein Galerist oder
ein Buchverleger. Musiker sind die Anwälte und Verkünder eines sehr abstrakten und wunderbaren Gedankens. Deshalb brauchen wir sie.
1.b)
Auszüge aus dem Aufsatz „Entwurf von Sprachlandschaften. Zur Musik Detlev Glanerts“
von Klaus Angermann
„Es hat mal jemand behauptet, die Musik ließe sich unterscheiden in Kopf-, Herz- und
Bauchmusik. Darf ich in Anspruch nehmen, alle drei zu wollen?“ Die Musik von Detlev
Glanert verbindet kompositorische Disziplin mit dramatischer Expressivität, strenge musikalische Form mit assoziativer Bildhaftigkeit. Exzessiver Ausdruck und formale Verbindlichkeit
aber vereinigen sich in der Qualität des Gestische, in der Sprachlichkeit der Musik, in der
auch Tradiertes – längst totgeglaubt – wieder neue Ausdruckskraft erlangt. Der Rückgriff auf
die Tradition, insbesondere auf die der großen sinfonischen Musik des späten 19. und frühen
20. Jahrhunderts, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, in einer konservativen Ästhetik befangen zu sein, die sich dem Bewusstseinsstand eines großen Teils des Hörerpublikums willfährig anpasst. Gewiss, Glanerts Musik such nicht das schockierend Unbekannte, wirkt vielmehr
äußerst suggestiv und verschmäht dabei weder Wohlklang noch Pathos, freilich auch nicht
das Wilde und Ungezügelte. Und dennoch würde es die Eigenart seiner Werke gründlich verfehlen, ihm in die Schublade eines Traditionalisten zu pressen.
(…) Nach den Komponisten befragt, die ihn am meisten geprägt haben, nennt Glanert ohne
zu Zögern zwei Namen: Gustav Mahler und Maurice Ravel, deren Spuren sich in seinen Werken allenthalben auffinden lassen. An Mahler fasziniert Glanert die alle Grenzen sprengende
Expressivität und die formale Gestaltungskraft, die auch das Disparate zusammenfügt und
ihm dennoch das Recht auf eigene Identität nicht bestreitet. Bei Ravel hingegen ist es die
klangliche Raffinesse, das Duftend-Sinnliche und die kalkulierte Künstlichkeit, unter deren
Oberfläche es oft bedrohlich brodelt. Die Farbigkeit des Klanglichen und die Einprägsamkeit
der Gesten sind für Glanert die Voraussetzungen für eine Musik, deren Verständnis nicht nur
Experten gewährt ist. Mit seinem Lehrer Hans Werner Henze teilt er das Gefühl für die gesellschaftliche Verantwortlichkeit des Komponisten, dem die Klarheit der Formulierung –
allerdings nicht um jeden Preis – ein Anliegen ist.
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Kalkül und Ausdruckskraft zielen gleichermaßen auf Deutlichkeit und Verständlichkeit. Jedoch ist sich Glanert dabei bewusst, dass der ungebrochene Rückgriff auf Traditionen, z.B.
auf die Gattung der Sinfonie, heute problematisch ist, da allgemein verbindliche musikalische Sprach- und Formregelungen nicht mehr existieren. Es bleiben häufig nur noch Bruchstücke übrig, die aus dem ehemaligen Zusammenhang gelöst erscheinen. Einst Sinnträger
innerhalb eines kommunikativen Systems treten diese nun wie isolierte Chiffren auf – irritierende, körperhafte Zeichen, die fremd und vertraut zugleich sind. Der Zeichenkörper emanzipiert sich in Glanerts Musik aus dem ursprünglichen Funktionszusammenhang und wird zur
unmittelbaren Geste. Die Gesten erwecken Assoziationen an Bekanntes, das nun aber unter
neuartigem Blickwinkel und wie von ferne gesehen wird. Durch ein gewissermaßen
collageartiges Gestaltungsprinzip – Glanert bezieht sich hierbei auf Charles Ives, Bernd Alois
Zimmermann und Henze – offenbaren Chiffren bislang verborgene Inhalte, indem sie imaginäre Landschaften eine neue Heimat finden.
Sämtliche Werke Glanerts stellen Schauplätze dar, Szenarien, die Erinnerungen wachrufen,
indes aber nicht in ihnen aufgehoben sind. Wenn Glanert seine Musik als Sprache bezeichnet, so meint er damit keineswegs die Etablierung eines sprachlichen Systems, sondern den
Entwurf von Sprachlandschaften, die den Hörer zu einer Reise auffordern. Totgeglaubte Zeichen beginnen nun wieder direkt zu sprechen; aus dem Trümmerschutt wachsen seltene
Pflanzen hervor und erwecken im Beobachter zugleich ein Gefühl von Fremdheit und Geborgenheit.
Aus: Neugier ist alles: Der Komponist Detlev Glanert
Herausgegeben von Stefan Drees, Wolke Verlag, Hofheim 2012, S. 133-134.
1.c)
Auszüge aus dem Aufsatz „Meine musikalische Fantasie funktioniert über das Optische“
Ein Porträt des Komponisten Detlev Glanert
von Egbert Hiller
„Musik ist Theater, imaginierend, nicht realistisch“ – diese Worte von Detlev Glanert verweisen nicht nur auf eine Affinität zum Musiktheater, sondern sie deuten im Umkehrschluss
auch an, dass er seine Orchester – und Kammermusik in gleiche Horn stößt, ja, das eine
Grenzlinie zwischen Theater- und Konzertmusik, zumindest was seine künstlerischen Impulse
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und Inspirationsquellen anbelangt, kaum zu ziehen ist. Zu prägenden musikalischen Kindheitserlebnissen gerieten freilich die ersten Besuche im Opernhaus: „Die erste Oper, die ich
in meinem Leben gesehen habe, da war ich elf, war Die Zauberflöte von Mozart, und ich fand
das alles wunderbar und richtig; die nächste hieß Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann, und der Schock war gigantisch. Ich fand alles falsch, alles verkehrt, und ich war ungeheuer aufgewühlt; da bin ich dann fünfmal hingegangen, und seitdem liebe ich das Stück
unendlich.“
Auch hinsichtlich des eigenen Schaffens – frühe Kompositionsversuche unternahm er als
Zwölfjähriger – kreisten seine (musikalischen) Gedanken von Anbeginn um das Musiktheater, ja, die Oper habe seine „Kompositionswut erst richtig befördert“, obwohl eigene Ansätze
zunächst über den Entwurf nicht hinaus kamen oder wieder verworfen wurden. Solcherart
geriet das Musiktheater zur Zielvorstellung, zur Vision, und Glanert wählte den Umweg über
andere Gattungen, um sich ihm anzunähern – was freilich nicht heißt, dass es sich bei seiner
Instrumentalmusik nicht um vollwertige und eigenständige Werke handelt, zumal auch für
sie dieselben harten Maßstäbe gelten: „Wenn man anfängt zu komponieren und nur ein
Mindestmaß an Kritikfähigkeit hat, schmeißt man mehr weg, als man da lässt.“ Nicht in den
Mülleimer wandert indes Leviathan, eine Kammeroper nach Thornton Wilder von 1985-86
(mit einer Spieldauer von gerade mal 18 Minuten), die erste Musiktheater-Arbeit, die vor der
strengen Instanz dieser seiner Selbstkritik Bestand hatte. (…) Und die für das jeweilige Werk
ausgewählte Materialkonfiguration ergibt sich aus dem „Sujet“ selbst, das Kompositionsprinzip wird sozusagen für jedes Stück neu definiert und hängt unmittelbar vom inspirativen
Ausgangspunkt ab: „Meine ganze musikalische Fantasie, egal ob bei absoluter Musik oder
Musiktheater, funktioniert über das Optische. Es sind aber nicht unbedingt konkrete Dinge,
die mich anregen, sondern mehr Zustände, Gesten, Szenen oder Farben. Wichtig ist natürlich
das Beobachten von Menschen, aber auch aus Wolkenformationen kann man ein zutiefst
menschliches Drama herauslesen.“ (…)
Auch für Glanert ist die Kluft zwischen Innen- und Außenwelt ein zentrales Schaffensmotiv.
Am stärksten zur Geltung kommt dies in seinen Bühnenwerken, deren, trotz durchaus heterogener Sujets, übereinstimmender Grundgedanke die Kollision des Einzelnen mit dem Kollektiv und mithin das stets brisante Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist. Und ganz wie es der repräsentativen, zur Identifikation einladenden und dabei
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Emotionen und seelische Regungen eben ins Theatralische überhöhenden Kunstform Oper
entspricht, fokussiert Glanert extreme, archetypische Charaktere, die über sich selbst hinausweisen und Schlaglichter auf den Zustand der Welt im Allgemeinen und auf gesellschaftliche Konflikte und menschliche Schwächen (und Abgründe) im Besonderen werfen: „Alle von
mir gewählten Stoffe besaßen bislang einen Bezug auf mich, meine Existenz, meine Zeit und
meine Mitmenschen. Das Historische dieser Stoffe lässt gleichsam nur deren Metaphorik
hervortreten.“
Aus: Neugier ist alles: Der Komponist Detlev Glanert
Herausgegeben von Stefan Drees, Wolke Verlag, Hofheim 2012, S. 180-183.
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2. Die von Detlev Glanert in seinem Stück „Megaris“ assoziierten Mythen
2.a) Odysseus und die Sirenen
Freunde, nicht einem allein noch zweenen gebührt es zu wissen,
Welche Dinge mir Kirke, die hohe Göttin, geweissagt.
Drum verkünd ich sie euch, daß jeder sie wisse, wir mögen
Sterben oder entfliehen dem schrecklichen Todesverhängnis.
Erst befiehlt uns die Göttin, der zauberischen Sirenen
Süße Stimmen zu meiden und ihre blumige Wiese.
Mir erlaubt sie allein, den Gesang zu hören; doch bindet
Ihr mich fest, damit ich kein Glied zu regen vermöge,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen.
Fleh ich aber euch an und befehle die Seile zu lösen:
Eilend fesselt mich dann mit mehreren Banden noch stärker!
Also verkündet' ich jetzo den Freunden unser Verhängnis.
Und wie geflügelt entschwebte, vom freundlichen Winde getrieben,
Unser gerüstetes Schiff zu der Insel der beiden Sirenen.
Plötzlich ruhte der Wind; von heiterer Bläue des Himmels
Glänzte die stille See; ein Himmlischer senkte die Wasser.
Meine Gefährten gingen und falteten eilig die Segel,
Legten sie nieder im Schiff und setzten sich hin an die Ruder;
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen.
Aber ich schnitt mit dem Schwert aus der großen Scheibe des Wachses
Kleine Kugeln, knetete sie mit nervichten Händen,
Und bald weichte das Wachs, vom starken Drucke bezwungen
Und dem Strahle des hochhinwandelnden Sonnenbeherrschers.
Hierauf ging ich umher und verklebte die Ohren der Freunde.
Jene banden mich jetzo an Händen und Füßen im Schiffe,
Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen,
Setzten sich dann und schlugen die graue Woge mit Rudern.
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Als wir jetzo so weit, wie die Stimme des Rufenden schallet,
Kamen im eilenden Lauf, da erblickten jene das nahe
Meerdurchgleitende Schiff und huben den hellen Gesang an:
Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier!
Lenke dein Schiff ans Land und horche unserer Stimme,
Denn hier steurte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Eh' er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet;
Und dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser wie vormals.
Uns ist alles bekannt, was ihr Argeier und Troer
Durch der Götter Verhängnis in Trojas Fluren geduldet,
Alles, was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde!
Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen
Fühlt' ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,
Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese.
Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perimedes,
Legten noch mehrere Fesseln mir an und banden mich stärker.
Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser,
Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme.
Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes
Von den Ohren das Wachs und lösten mich wieder vom Mastbaum.
(Homer: Odyssee, XII. Gesang, Vers 154 - 200.)
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2.b) Der Parthenope-Mythos
Parthenope, die Schutzgöttin von Neapel, deutet warnend auf den Vesuv
Der Mythos der homerischen Sirene Parthenope markiert den Beginn der Stadtgeschichte
Neapels. Nach der von Homer geschilderten glücklichen Durchfahrt des Odysseus durch die
gefahrvollen Wasser vor der campanischen Küste sollen sich die ungeachtet ihres becircenden Gesangs glücklosen Sirenen [...] ins Wasser und damit zu Tode gestürzt haben. Der
Leichnam Parthenopes, einer der drei Sirenen, sei dann in der Bucht am Fuße des Vesuvs
angeschwemmt worden. Zur besonderen Kultstätte des toten Mischwesens geriet jener Ort,
an dem ihm am Eingang zum Hafen ein monumentales Grabmal errichtet worden zu sein
scheint. Um dieses Grab herum bildete sich rasch eine neue Stadt - wahrscheinlich die im
7. Jahrhundert v. Chr. von Cumae aus gegründete Palaeopolis, die, stetig wachsend, im
5. Jahrhundert v. Chr. östlich um die Neustadt, „Nea Polis“ (= Neapel) erweitert wurde.
„Parthenope“ war demnach der antike Name der Stadt Neapel. Mit ihm verband sich zudem
die Legende, Athen sei an der Gründung der Stadt beteiligt gewesen. Ein Kult um die Sirene
ist allerdings erst für das Jahr 433 oder 432 v. Chr. nachweisbar: Der attische Flottenführer
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Diotimos soll mit seinen Schiffen bei Neapel gelandet sein und Parthenope, wohl in deren
Funktion als Stadtgöttin, geopfert sowie, mit der Ausrichtung eines Fackellaufs zu ihren Ehren, eine in der Folge jährlich wiederholte Tradition begründet haben. Dieser früheste
dokumentierbare Kontakt fiel damit in die Ära des Perikles und unterstrich so, aus neuzeitlicher Perspektive, die Rolle Neapels als Partner des mutterländisch griechischen Zentrums.
Bereits im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. setzt auch die Umwidmung Parthenopes von der
unheilvollen Sirene in die fruchtbare, wohltätige Nymphe ein - ein Vorgang, der in Übereinstimmung mit den geistigen Tendenzen des politisch erstarkten Athen zu stehen scheint. Die
homerische Grundlage der antiken Herleitungsgeschichte weicht nun der Behauptung, die
drei Sirenen seien Töchter des Flussgottes Acheloos, entsprungen aus seiner Liebe zu einer
der drei Musen (Terpsichore, Melpomene oder Calliope), und erklärt sie somit zu milden und
wohltätigen Wesen: Nymphen.
Gerade in römischer Zeit sollte Parthenope zunehmend an Bedeutung gewinnen - Ovid besingt sie, Vergil erklärt sie zu seiner Muse. [...] Die legendäre Grabinschrift des Vergil, die von
dem Sterbenden selbst diktiert worden sein soll, lautete: „MANTUA ME GENUIT, CALABRI
RAPUERE TENET NUNC. PARTHENOPE, CECINI PASCUA, RURA, DUCES.“ Und Plinius bekräftigt
Namen und Herleitung der Stadt: „[...] litore autem Nea-polis Chalcidensium et ipsa,
Parthenope a tumulo sirenis appellata [...].“
In nachantiker Zeit scheint das Wissen um die Herkunft der legendären Stadtgründerin zunehmend verlorengegangen zu sein. Der Kult wurde offenbar unterdrückt zugunsten der
Suche nach einer neuen Genealogie der „Stadtpatronin“. Dass das Wissen um die homerische, mythische Herleitung Parthenopes und nicht zuletzt auch ihr Griechentum im Neapel
der Anjou nicht mehr gängig war, erhellen die „Croniche de la inclita Cità de Napole“, die als
„Cronaca di Partenope“ berühmt gewordene Schilderung der Golfstadt und ihrer Geschichte
aus dem 14. Jahrhundert. Darin wird Parthenope als „junges Mädchen, unverheiratet und
jungfräulich“ bezeichnet, als „Tochter des Königs von Sizilien, die, mit einer Vielzahl von
Schiffen nach Baiae gekommen, zufällig an diesem Ort erkrankte und verstarb.“ [...] Diese
Umdeutung der mythischen Stadtgründerin Neapels zu einer sikulischen Prinzessin - und das
in einer Quelle, die als verlässliches Zeugnis dessen gilt, was im Neapel der Anjou vor allem
hinsichtlich der antiken Gründungslegenden der Stadt geglaubt wurde - könnte durchaus
auch im Zusammenhang stehen mit der durch das Haus Anjou verfolgten Abgrenzung gegen
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die griechische Ableitungstradition Neapels, die sich nicht zuletzt in der angiovinischen Berufung des eigenen Hauses auf einen trojanischen Ursprung artikuliert.
Zu einer nicht zuletzt auch an weitgehender antiquarischer Verlässlichkeit orientierten Wiederbelebung der parthenopaeischen Herleitung der Stadt und des Reiches sollte es so erst
unter den Aragonesen kommen, und zwar unmittelbar nach der Eroberung der Stadt zu Beginn der vierziger Jahre des 15. Jahrhunderts. Die Regentin Neapels am Anfang dieses Jahrhunderts, Johanna II., Erbin des Hauses Anjou-Durazzo, hatte Alfonso V. von Aragon 1420 in
ihrem Machtkampf gegen den von Rom, also von Papst Martin V., unterstützten Ludwig III.
von Anjou um Hilfe gerufen und ihn als Dank zum Erben des neapolitanischen Throns bestimmt. Dieses Legat blieb freilich nicht unangefochten. 1421 eroberte der Spanier Neapel
erstmals vorübergehend, er sollte die Stadt aber erst nach rund zwei Jahrzehnten eines erbitterten Erbfolgekrieges endgültig einnehmen und ihr König werden.
Alfonso, der den Kult um Parthenope um die Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem Königreich wieder aufleben ließ, wird gemeinhin als eigentlicher Protagonist der „Humanisierung“ Neapels gewürdigt. [...] Die Wiederbelebung des antiken Gründungsmythos von
Neapel sollte ihm dazu dienen, eine „kulturelle Genealogie“ zu rekonstruieren, als deren
Bewahrer und legitimer Erbe sich Alfonso dem Volk und der lokalen Aristokratie des eroberten Königtums empfahl. Tatsächlich verbarg sich hinter der Aufgabe der aragonesischen Erblande und der Etablierung eines neuen eigenen Königreiches im südlichen Italien Alfonsos
ambitionierte dynastische Strategie. Um seinem einzigen, aber illegitimen Sohn, Ferrante,
die Thronfolge zu sichern, war er gezwungen, die spanischen Erblande seinem Bruder, dem
späteren Juan II., zu überlassen. Dagegen konnte er in Neapel, das er im Jahre 1442 aus eigener Kraft René d'Anjou entrissen und erobert hatte, die Thronfolge ohne Rücksicht auf
weitere familiäre Ansprüche regeln. [...]
Indem Alfonso den Neapolitanern ihre eigene Geschichte restituieren sollte, reklamierte er
für sich selbst gleichwohl keine eigene genealogische Traditionslinie, in die er etwa auch seinen Sohn und ersehnten Thronerben in der Folge einzugliedern beabsichtigte, sondern empfahl sich vielmehr als Erneuerer und Bewahrer einer städtischen Identität, die anzuerkennen
er ohnehin gezwungen war. Dieses politisch motivierte Projekt, das sich die griechische Vergangenheit und philhellenische Tradition Neapels zunutze machen sollte, zielte daher auf
einen humanistisch inspirierten Erneuerungsgedanken, der eine Sozialdisziplinierung verfolg25
te und die usurpierte Macht durch lokale Identifikationsangebote sichern helfen sollte. Zugleich erlaubte der Rekurs auf Parthenope dem neuen Herrscherhaus, mit den geistigen und
künstlerischen Tendenzen der anderen Höfe und Stadtstaaten der Apenninhalbinsel kongenial zu korrespondieren und zu konkurrieren. Es war allerdings ein Unternehmen, das durchaus auch die Gefahr der Verselbständigung in sich barg. Wenn die Aragonesen am Ende des
Jahrhunderts von anderen Fremdherrschern verdrängt wurden, dann erweist sich diese Strategie zuletzt als gescheitert. Das städtische Selbstbewusstsein Neapels aber wird in der Folge
nicht unerheblich von dem während der Herrschaft der Aragonesen wiederbelebten und
beförderten Kult um Parthenope und sein Griechentum insgesamt bestimmt bleiben.
aus: Andreas Beyer: Parthenope. Neapel und der Süden der Renaissance. Berlin: Deutscher
Kunstverlag 2000. S. 17 - 20.
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3. Die Geschichte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkklangkörper
Detlev Glanert schrieb seine Komposition zum 70-jährigen des Radio-Sinfonieorchesters des
SWR. Wie lange gibt es schon Radio-Sinfonieorchester, -Chöre und Big Bands? Was steckt
dahinter und wie sieht es momentan aus? Was unterscheidet ein RundfunkSinfonieorchester von einem städtischen Orchester oder anderen Orchestern?
3.a)
Geschichte der Rundfunkklangkörper
Die ersten deutschen Rundfunkklangkörper entstanden mit der Einführung des Rundfunks in
Deutschland in den 20er Jahren. Zu einer flächendeckenden Gründung und Verbreitung kam
es allerdings erst nach dem 2. Weltkrieg durch die Gründung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. Durch den Kultur-, Bildungs- und Unterhaltungsauftrag, den die Sender wahrnehmen sollten, kam es zur Etablierung und Ausdifferenzierung der Rundfunkklangkörper
(sowohl räumlich-regional als auch funktional vom großen Sinfonieorchester über kleinere
Rundfunkorchester bis hin zu Chören und Tanzorchestern bzw. Bigbands). Im Gegensatz zur
Konzentration auf das klassisch-romantische Repertoire anderer (traditioneller) Kulturorchester zeichnet sich das Repertoireprofil der Rundfunkklangkörper durch weniger bekannte und vor allem durch die Neue bzw. Zeitgenössische Musik aus. Der gestiegene Wettbewerb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten seit der Einführung des dualen Rundfunksystems einerseits als auch die Konkurrenz der Orchester untereinander führen dabei zu
einem größeren Legitimationsdruck gegenüber der Öffentlichkeit.
Der Musikwissenschaftler Andreas Möllenkamp hat eine Hausarbeit über die Geschichte der
Rundfunkorchester verfasst, die im Internet zugänglich ist:
www.cultiv.net/cultranet/1154700910OrchesterRundfunk.pdf
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3.b) Gerald Mertens hat sich ebenfalls zur Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
für die deutsche Orchester- und Musikkultur Gedanken gemacht:
"Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Musik." So kurz und bündig könnte man in
leichter Abwandlung der Einleitungssätze des Johannesevangeliums das historische Verhältnis des Rundfunks zu seinen Klangkörpern zusammenfassen. Der geschichtliche Rückblick auf
die Entwicklung des deutschen Rundfunks und seiner Klangkörper vermittelt einen intensiven Eindruck von seiner besonderen Bedeutung für die Musikkultur – bis in unsere Zeit.
Erste Gründungswelle
Der 29. Oktober 1923, acht Uhr abends, wird allgemein als die Geburtsstunde des wohl ältesten deutschen Rundfunkklangkörpers beschrieben. An diesem Tag übertrug die RadioStunde AG, Sendestelle Berlin, erstmals live ein Konzert und gab damit den entscheidenden
Anstoß für die Gründung eines sinfonischen Rundfunkorchesters, in diesem Falle des heutigen Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB). In den – anfänglich noch überschaubaren –
täglichen Sendezeiten wechselten sich Livedarbietungen mit dem Abspielen von Schellackplatten ab. Mit Ausweitung des Sendebetriebs wurde jedoch sehr bald der Bedarf an
verfügbarem Musikrepertoire immer größer.
Die Aufnahme des Sendebetriebs durch weitere regionale Rundfunkanbieter seit dem Frühjahr 1924, so z. B. die Mitteldeutsche Rundfunk AG (MIRAG), Leipzig, die Deutsche Stunde in
Bayern GmbH, München, die Südwestdeutscher Rundfunkdienst AG, Frankfurt/Main, die
Nordische Rundfunk AG, Hamburg, Süddeutsche Rundfunk AG, Stuttgart usw., beförderte in
der Folgezeit die erste Gründungs- bzw. Übernahmewelle von eigenen Rundfunkklangkörpern in Deutschland. Die Wurzeln des heutigen MDR Sinfonieorchesters Leipzig reichen
sogar bis in das Jahr 1915 zurück. Ursprünglich als „Orchester des Konzertvereins“ in Leipzig
gegründet, wurde es 1924 durch die MIRAG als Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig übernommen. Ähnlich war es auch beim heutigen hr-Sinfonieorchester, welches 1929 von der
Stadt Frankfurt/Main noch als „Frankfurter Sinfonie-Orchester“ unter dem Dirigenten Hans
Rosbaud firmierte und dann für den täglichen Sendebetrieb übernommen wurde. Doch nicht
nur Orchester, sondern auch eigene Chöre wurden gegründet. Der Berliner Funk-Chor, heute
Rundfunkchor Berlin, entstand ebenfalls bereits im Frühjahr 1925.
Von Anfang an mussten die Rundfunkorchestermusiker und -chormitglieder ein sehr breites
und täglich wechselndes Repertoire auf technisch hohem Niveau beherrschen, da nach
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extrem kurzer Proben- und Vorbereitungszeit immer live übertragen wurde. Konzerte mit
Musik aller Epochen, konzertante Opern, Operetten, Oratorien, die Begleitung von Gesangsund Instrumentalsolisten, Kammermusik, aber auch Hörspielmusiken gehörten zum selbstverständlichen Aufgabengebiet dieser spezifischen rundfunkeigenen Klangkörper. Geeignete
Sendesäle, Orchester- und Chorräume, eigene Notenarchive wurden geschaffen.
Auch die Verbreitung zeitgenössischer Musik ist mit der Entwicklung der Rundfunkklangkörper untrennbar verbunden. Die Listen der Archivaufnahmen vieler Rundfunkorchester
der 1920er und 1930er Jahre bis in die Neuzeit lesen sich wie das Who’s Who einer ganzen
Komponistengeneration. Vor allem traten Komponisten als Dirigenten eigener Werke auf.
Nur als Beispiel mag wiederum das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin dienen: Igor Strawinsky, Hans Pfitzner, Richard Strauss, Werner Egk und viele andere erhielten Gelegenheit, ihre
Kompositionen einzustudieren und zur (Ur-)Aufführung zu bringen. 1931 zählte man im gesamten Deutschen Reich zehn Rundfunkorchester unterschiedlicher Größe und sieben Chöre.
„Drittes Reich“
Wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Rundfunk
am 15. Februar 1933 durch Erlass des Reichskanzlers Adolf Hitler dem Reichsministerium für
Volksaufklärung und Propaganda unterstellt, welches unter der Leitung von Joseph Goebbels
stand. Dies hatte auch für die Musikproduktion der Rundfunkklangkörper im ganzen Deutschen Reich tief greifende Folgen. Komponisten und Werke des „nationalen Erbes“ von Bach,
Mozart, Beethoven, Bruckner und Wagner standen im Mittelpunkt. Die Musik „entarteter“
und verfemter Komponisten wurde aus dem Spiel- und Sendebetrieb verbannt. Die Rundfunkklangkörper spielten eine überaus wichtige Rolle in propagandistisch aufgezogenen
Beethoven- und Bruckner-Zyklen sowie bei musikalischen Monumentalsendungen. Die
nationalsozialistische Ideologie hatte rasch erkannt, wie sie auch die sinfonische Musik deutscher Komponisten im Rundfunk für ihre Zwecke einsetzen konnte. Besonders selektierte
Musik ausländischer Komponisten wurde nur noch als Alibi der Weltoffenheit gespielt und
produziert.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs stieg auch die Produktion und der Einsatz von gehobener
Unterhaltungs- und Tanzmusik in „bunten Abenden“, Wunschkonzerten, Volksmusik29
sendungen usw. Während die kriegsbedingt verfügte Schließung aller öffentlichen Theater
zum 1. September 1944 das Musikleben faktisch zum Erliegen und viele der verbliebenen
Musiker der Opern- und Sinfonieorchester zum Kriegseinsatz brachte, produzierten die
Rundfunkklangkörper bis zum Schluss weiter. Nur so ist es zu erklären, dass bereits zehn
Tage nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 18. Mai 1945 Beethovens neunte Symphonie durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Großen Sendesaal an der Masurenallee aufgeführt werden konnte. Auch der Neuanfang des Rundfunks
nach dem Krieg war also wiederum vor allem geprägt durch Musik.
Zweite Gründungswelle
Die Dezentralisierung und der Wiederaufbau demokratischer Rundfunkstrukturen durch die
Militärverwaltungen der Alliierten führte in allen vier Besatzungszonen und in Berlin zu einer
zweiten, flächendeckenden Gründungswelle und Restrukturierung von Rundfunkklangkörpern, so beispielsweise am 15. November 1946 mit der Bildung des „RIAS-SymphonieOrchesters“ (heute Deutsches Symphonie-Orchester, Berlin). Weitere Klangkörper entstanden am Sitz der jeweiligen neuen Rundfunkanstalten und Sender, so u. a. in Köln, Stuttgart,
Freiburg, Baden-Baden, Kaiserslautern. Der große Bedarf an Tanz- und Unterhaltungsmusik
in der Nachkriegszeit führte auch zur Gründung bzw. Übernahme von Bigbands sowie zur
weiteren Ausdifferenzierung zwischen den großen Sinfonieorchestern und den Rundfunk(Unterhaltungs-) orchestern.
Ihr Auftrag lag unverändert in der Füllung des täglichen Programms, wozu die Schallplattenindustrie zu jener Zeit noch nicht in der Lage war, im Aufbau und in der Aufarbeitung der in
der Nazizeit zerschlagenen Musikkultur und in der Förderung von Neuer Musik. Die Weiterentwicklungen der Aufnahmetechnik und der Konservierung von Musikaufnahmen führten
seit den 1950er Jahren auch zu Veränderungen im Arbeitsalltag der Rundfunkklangkörper.
Immer mehr Werke wurden bei reinen Studioproduktionen für den späteren Einsatz im Programm erarbeitet und begannen die Archive zu füllen. Im Durchschnitt einer Saison eines
Rundfunk-Sinfonieorchesters wurde nur noch etwa ein Drittel aller gespielten Werke in öffentlichen Sinfoniekonzerten aufgeführt, übertragen oder mitgeschnitten, so deutlich überwogen die Studioproduktionen.
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Nach den Jahren der nationalsozialistischen Gängelung, Unterdrückung und Verdrängung
der Neuen und zeitgenössischen Musik erlebte diese parallel mit dem Aufbau der Rundfunkklangkörper einen großen Aufschwung. Dem Erziehungs- und Bildungsauftrag des öffentlichrechtlichen Rundfunks folgend fällt der Blick in die Konzertprogramme und Produktionslisten
– vor allem der Rundfunk-Sinfonieorchester seit Ende der 1940er Jahre – auf zahlreiche Uraufführungen, deutsche Erstaufführungen und Ersteinspielungen. Namen wie Hindemith,
Honegger, Skrjabin, Milhaud, Henze, Hartmann, Toch, Zimmermann u. v. a. tauchen hier
regelmäßig auf. Aber auch die Entwicklung des Komponisten Karlheinz Stockhausen hätte
ohne das Engagement des Rundfunks so nicht stattgefunden. In der Nachkriegszeit trug
Stockhausen als Leiter des elektronischen Studios des WDR über zwanzig Jahre lang wesentlich dazu bei, Köln zu einem bedeutenden Zentrum der Neuen Musik aufzubauen. Viele
Kompositionsprinzipien, die Stockhausen entwickelte, waren bahnbrechend und stilbildend
für die folgenden Komponistengenerationen. Über die Jahrzehnte haben das WDR Sinfonieorchester Köln und der WDR Rundfunkchor Köln mehrere Werke von Stockhausen uraufgeführt, die der WDR als Kompositionsauftrag an ihn vergeben hatte.
Nach der deutschen Wiedervereinigung und Gegenwart
Nach den zwei Gründungswellen von Rundfunkklangkörpern im Anschluss an die beiden
Weltkriege kam es im unmittelbaren Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung
seit 1990 zu gravierenden Einschnitten, Strukturveränderungen und Abwicklungen. Vor allen
Dingen die Klangkörper an den Standorten des Rundfunks der DDR in Ost-Berlin und Leipzig
sowie des RIAS in West-Berlin waren davon betroffen. Aber auch die Klangkörper der alten
Bundesländer blieben nicht gänzlich verschont. 1992/93 fusionierten aus Kostenerwägungen
in Frankfurt das Sinfonieorchester und das Rundfunkorchester des Hessischen Rundfunks;
2007 wurde das Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks, Saarbrücken, mit dem
SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern zur „Deutschen Radiophilharmonie“ zusammengelegt. Bei den Chören mussten vor allen Dingen das SWR-Vokalensemble Stuttgart und der
Hamburger NDR-Chor Stellenstreichungen hinnehmen. Der im Jahr 2004 entwickelte Plan
des Bayerischen Rundfunks, sein beliebtes und durch neue Programmideen, vor allem in der
Kinder- und Jugendarbeit, profiliertes Münchner Rundfunkorchester aufzulösen, scheiterte
am großen Widerstand von Politik und Öffentlichkeit.
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Aktuell arbeiten in Deutschland bei den Rundfunkanstalten der ARD und in der RundfunkOrchester und -Chöre GmbH Berlin 13 Sinfonie- und Rundfunkorchester, sieben Chöre und
vier Bigbands. Die Arbeitsweise der Klangkörper hat sich in den vergangenen Jahren erneut
deutlich verändert: Die Musikproduktion im Studio ist deutlich in den Hintergrund getreten,
die Archive mit eigenen Aufnahmen vergangener Jahrzehnte sind gut gefüllt und stehen in
der täglichen Nutzung in Konkurrenz mit der Sendung digitaler kommerzieller Tonträger von
Orchestern und Ensembles aus aller Welt. Dennoch sind die deutschen Rundfunkklangkörper
unverzichtbar: Sie sind Botschafter ihrer Anstalt und der dahinter stehenden Länder und
Rechtsträger. Durch ihre Auftrittstätigkeit in Konzerten im Sendegebiet, national und international, sowie Liveübertragungen und Sendungen von Livemitschnitten sind sie zu einem
wesentlichen Kulturfaktor in Deutschland, aber auch darüber hinaus geworden.
Mittlerweile scheint sich die strukturpolitische Situation für alle Klangkörper deutlich stabilisiert zu haben; das ARD Jahrbuch 2007 widmet den Klangkörpern und der eigenen Musikproduktion einen Schwerpunkt. Durch die Gebühren-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestärkt, haben die Verantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
offenbar erkannt, dass sowohl in der Diskussion mit der Europäischen Kommission in Brüssel
als auch mit den Ministerpräsidenten der Länder der Betrieb eigener Klangkörper und die
eigene Musikproduktion ein gewichtiges Argument für die Aufrechterhaltung der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Gebühren ist. Wo kommunale und staatliche Orchester bei ihrer teilweise risikolosen Programmpolitik verstärkt auch an die Erhöhung
von Eigeneinnahmen denken, genießt der Rundfunk unverändert das Privileg, aufgrund seiner Gebührenfinanzierung eben nicht zwanghaft auf die Quote schielen zu müssen, sondern
im Rahmen der Musikproduktion mit eigenen Klangkörpern gerade auch das randständige,
zeitgenössische oder vergessene Repertoire zu berücksichtigen und zu fördern. Die Donaueschinger Musiktage, die Wittener Tage für neue Kammermusik, „Das alte Werk“ und viele
andere Reihen und Festivals in ganz Deutschland sind ohne den Einsatz der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten und ihrer Klangkörper nicht vorstellbar. Diesen kulturellen
Reichtum gilt es zu bewahren.
Gerald Mertens: Am Anfang war die Musik. Die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die deutsche Orchester- und Musikkultur. In: das Orchester Jg. 2008, Heft 11,
S. 26-29.
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